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INDIANA UNtVERSITY
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INDIANA UNIVERSITY
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INTERNATIONALE
MONATSSCHRIFT
(für WISSENSCHAFT, KUNST UND TECHNIK
*
BEGRÜNDET VON FRIEDRICH ALTHOFF
HERAUSGEGEBEN VON MAX CORNICELIUS
BAND XI • 1917
1
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-AG'UND DRUCK B.G.TEUBNER IN LEIPZIG UND BERLIN
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137789
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*
ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES ÜBBRSETEUNG8RBCHTES, VORBEHALTI
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INDIANA UNIVERSITY
INHALTSVERZEICHNIS.
L Mitarbeiter.
Prot
$ palte
49
725
Axpnsteln, Ph., Oberlehrer,
_ Dr., Berlin,
Die Selbstkritik der Engl&nder
in ihrer Literatur. 337. 481
Bahn, Karl, Generalmajor a.D„ Auer¬
bach (Hessen),
Die Seeschlacht am Skagerrak am
31. Mai 1916.
Benrubi, J., Privatdozent a. d. Univ.,
Dr., Gent
CHbt es eine nationale Philoso¬
phie? .
J-, Deutschland im Urteil des Aus¬
landes froher und jetzt.383
—, Neutrale Stimmen. Amerika —
Holland—Norwegen—Schweden —
Schweiz.763
Bitterauf, Theodor, Univ.-Prof. Dr.,
München,
Umrisse der Weltpetttik.... 1403
Braun, Fritz, Prot, Dt-Eylau,
Zur Geschichte der deutschen
Kolonie in Konstantinopel . . 745
B Arger, Richard, Oberrealschuldhrek-
tor, Dr., Kattowitz,
Germanistenwünsche.397
C, M- Rudolf Kjeliens neuestes Bach 1149
Cohn, Jonas, Univ.-Prot, Dr., Frei-
bürg i. B.,
Goethes Anschauung vom sitt¬
lichen Leben.951
D e g e r i n g, Hermann, Prof. Dr., Biblio¬
thekar an der Kgl. Bibliothek, Berlin,
Französischer Kunstraub in
Deutschland 1794—1807 ....
Dibelius, 'Wilhelm, ord. Univ.-Prof.,
Dr., Bonn,
Die Sinn Feiner in Irland . . .
Dick, Emst, Dr., Basel,
I George Meredith als Kritiker eng¬
lischer Zustande.1381
D i e 1 s, Hermann, ord. Unlv.-Prot, stän¬
diger Sekretär der Kgl. preuB. Aka¬
demie der Wissenschaften, Geh.
Oberregierungsrat Dr. theol. et
phiL, Berlin,
Ein antikes System des Natur¬
rechts .
Drabeim, H., Prof. Dr.,
Der Rhein-Donau-Kanai und der
alte Handelsweg nach Indien. .
1
1409
81
637 I
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Gck igle
Spalte
Erben, W. , ord. Univ.-Prot Dr.,
Innsbruck,
Zur Wiedereinfflhruag der Som¬
merzeit .1275
Fahr, Beruh., ord. FroL a. d. Teste).
Hochschule, Dresden,
Charles Dickens im Uchte der
neuesten Forschung..609
Fischer, P. D., Wirkt Geh. Bat, Dr.,
Bedb,
Aus den Schützengraben . . . 38b
—, Zwei Brüder. Feldpostbriefe und
Tagebuchblütter. I .Bündchen Gott-
hold v. Rohden. II. Bündchen
Heinz v. Rohden.766
Gercke, Alfred, ord. Unlv^ProL, Dr.,
Breslau,
Neue Lieder der Seppho und des
Alkaios .. 593
—, Unser tügbch Brot.894
Gronau, Geoig, Dr., Direktor der
Kgl. GemftklegaRerie, Cassel,
Die Verluste der Casseler Galerie
in der Zeit der französischen
Okkupation 1806-1813 . . 1063. 1195
Gunkel, Hermann, ord. Univ.-Prof.,
Dr. theol. et phil., Gießen,
Die Politik der Propheten . . . 423
Hamann, Richard, ord. Univ.-Prot,
Dr., Marburg,
Deutsche und französische Kultur
und Kunst.195
Harnack, Adolf von, ord. Univ.-Prof.
u. Generaldirektor der KgL Biblio¬
thek, Mitglied der Kgl. preuB. Aka¬
demie der Wissenschaften, Wirkl.
Geh. Rat, Dr. theol., jur., med.,
phil., Berlin,
. Die Reformation. 4281
Hashagen, Justus, Privatdozent a.
d. Universität, Prof. Dr., Bonn,
Romanischer Imperialismus . . 675
Heincke, Fr., Direktor der KgL Bio¬
logischen Anstalt auf Helgoland,
Prof. Dr.,
Die internationale Meereefor-
schung vor und nach dem Kriege 565
Heiß, Hanns, ord. Prof. a. d. Tecbn.
Hochschule, Dr., Dresden,
Der vlümische Anteil an der fran¬
zösischen Literatur.287
a*
Original frem
INDIANA UNtVERSITY
VII
Inhaltsverzeichnis
vrn
Spalte
Herre, Paul, ord. Univ.-Prof. Dr.,
Leipzig,
Die Großmacht Deutsche Betrach¬
tungen Ober Ausdruck, Begriff
und Wesen. 533. 675
Horn, Wilhelm von, Regierungsrat,
Königsberg,
Die staatlichen Maßnahmen zur
Wiederherstellung der Landwirt¬
schaft in der Provinz Ostpreußen 463
Hurwicz, E., Dr.,
DieVolkshochschulen in Schweden 889
Jostes, Franz, ord. Univ.-Prof., Dr.,
Mönster i. W.,
Guido Gezelle.. 155. 397
Klatt, Willibald, Oberlehrer, Prof.
Dr., Berlin-Steglitz,
Pädagogik und Politik .... 1255
Laquer, B„ Sanitätsrat, Wiesbaden,
Becker, C. H., Das türkische Bil¬
dungsproblem .. 253
—, Wilhelm Merton. Reden von Bür¬
germeister Voigt u. Stadtrat Prof.
Dr. Stein, gehalten bei der Ge¬
dächtnisfeier der Stadt Frankfurt
a. M., 2. Jan. 1917 . .V ... 766
Maync, Harry, ord. Univ.-Prof., Dr.,
Bern,
Gräfin Elise von Ahlefeld im Leben
' Lützows und Immermanns. .101. 229
—, Ernst von Wildenbruch im Lichte
seiner und unserer Zeit.... 1423
Meinecke, Friedrich,ord. Univ.-Prof.,
Mitglied der Kgl. preuß. Akademie
der Wissenschaften, Geh. Regie-
, rungsrät, Dr., Berlin,
Reich und Nation seit 1871. . 907.1097
Meinertz, Max, ord. Univ.-Prof., Dr.,
Münster i. W.,
Der Apostel Paulus und der Kampf 1115
Morf, Heinrich, ord. Univ.-Prof., Mit¬
glied der Kgl. preuß. Akademie der
Wissenschaften, Geh. Regierungs-
rat, Dr., Berlin,
Miguel de Cervantes.257
Oldenberg, H., ord. Univ.-Prof. Dr.,
Göttingen,
Eine indisch-französische Dich¬
tung .1267
—, Ein neues Werk über den Bud¬
dhismus .1406
Pohlenz, Max,. Universitätsprofessor
Dr., Göttingen,
Ein antiker. Dichter im Krieg . . 1503
Spalte
Pr e.i s i gk e, Univ.-ProtDr.,Heidelberg,
Nahrungsmittelämter im alten
Ägypten.371
Roth; E., Oberbibliothekar a. d. Uni¬
versitätsbibliothek, Prof. Dr., Halle,
Die Getreidenahrung im Wandel ,
der Zeiten.. 1021
Sachse, Arnold, Geh. Regierungs¬
und Schulrat, Dr., Hildesheim,
DieKriegsmaßnahmender preußi¬
schen Unterrichtsverwaltung . . 1153
Scholz, Heinrich, Privatdozent a. d.
Universität, Dr., Berlin,
Der Sinn der deutschen Geistes-
geschickte.1213
Spranger, Eduard, ord. Univ.-Prof.
Dr., Leipzig,
Vota innem Frieden des deutschen
Volkes.129
—, Denkschrift über die Einrichtung
der Auslandsstudien an den deut¬
schen Universitäten.1025
—, Shaftesbury und wir.1477
S t e i n m a n n, Ernst, Prof.Dr., München,
Die Plünderung Roms durch Bo¬
naparte .641. 819
Stemplinger, Eduard, Prof. Dr.,
München,
Ein deutscher Irrlehrer des Aus¬
lands .377
St übe, Rudolf, Oberlehrer, Prof. Dr.,
Leipzig,
Die Dichterin der neuen Türkei 1533
Tobler, Friedr., Univ.-Prof. Dr.,
Münster,
Rohstoffkunde und Auslandsstu¬
dien . 885
Walzel, O., ord. Prof. a. d. Techn.
Hochschule, Dresden,
Wölfflins „Kunstgeschichtliche
Grundbegriffe“.699
Wechßler, Eduard, ord. Univ.-Prof:
Dr., Marburg,
Französische Geistesart und ihre
Formen.. . » 1239. 1363
Wiegand, Friedr., ord. Univ.-Prof.,
Dr. theol. et phil., Greifswald,
Mission und Kolonisation . . . *975
Wolff, Max J., Prof. Dr., Berlin,
Shakespeare als Künstler des
Barocks.995
Zechlin, E., Dr., Geh. Staatsarchivar,
Posen,
W. S. Reymont, Die polnischen
Bauern.509
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INDIANA UNIVERSITY
Inhaltsverzeichnis
X
IX
II. Abhandlungen
Spalte
Ahlefeld, Gräfin Elise von, im Leben
LQtzows und Immermanns. Von
Harry Maync.101. 229
Alkaios, Neue Lieder der Sappho und
des. Von Alfred Gercke .... 593
Auslandsstudien an den deutschen
Universitäten, Denkschrift Ober die
Einrichtung der. Von Ednard Spren¬
ger.1025
Auslandsstudien, Denkschrift des
preußischen Kultusministeriums
Ober die Förderung der .... 513
Auslandsstudien, Die, im preußischen
Landtag. 769. 897
Auslandsstudien, Pädagogische. . . 1280
Auslandsstudien, Rohstoffkunde und.
Von Friedr. Tobler.885
Bedcer, C. H., Das türkische Bildungs-
Problem. Von B. Laquer .... 253
Bonaparte, Die PlOnderung Roms
durch. Von Emst Steinmann . 641. 819
Buddhismus, Ein neues Werk Ober
den. Von H. Oldenberg.1406
Casseler Galerie, Die Verluste der,
in der Zeit der französischen Okku¬
pation. 1806-1813 . 1063. 1195
Cervantes, Miguel de. Von Heinrich
Hoif.257
Denkschrift des preußischen Kultus¬
ministeriums Ober die Förderung-
der Auslandsstudien.513
Denkschrift Ober die Einrichtung der
Auslandsstudien an den deutschen
Universitäten. Von Eduard Spranger 1025
Deutsche und französische Kultur und
Kunst. Von Richard Hamann. . . 195
Deutschen Geistesgeschichte, Der Sinn
der. Von Heinrich Scholz .... 1213
Deutschen Kolonie in Konstantinopel,
Zur Geschichte der. Von Fritz Braun 745
Deutschland im Urteil des Auslandes
früher und — jetzt. Von J. B. . . 383
Dichter, ein antiker, im Krieg. Von
Max Pohlenz.1503
Dichtung, Eine indisch-französische.
von H. Oldenberg.1267
Dickens, Charles, im Lichte der neue¬
sten Forschung. Von Bernhard Fehr 609
Engländer, Die Selbstkritik der, in
ihrer Literatur. Von Ph. Aronstein 337. 481
Englischer Zustände, George Meredith
als Kritiker. Von Emst Dick . . . 1381
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und Mitteilungen.
Spalte
Französische Geistesart und ihre For¬
men. Von Eduard Wechßler . 1239. K363
Französischer Kunstraub in Deutsch¬
land 1794—1807. Von Hermann
Degering. 1
Frieden, Vom inneren, des deutschen
Volkes. Von Eduard Spranger . . 129
Geistesgeschichte, Der Sinn der deut¬
schen. Von Heinrich Scholz . . . 1213
GermanistenwGnsche. Von Richard
Bürger.357
Getreidenahrang, Die, im Wandel der
Zeiten. Von E. Roth.1021
Gezelle, Guido. Von Franz Jostes 155. 397
Goethes Anschauung vom sittlichen
Leben. Von Jonas Cohn .... 951
Großmacht, Die. Deutsche Betrach¬
tungen Ober Ausdruck, Begriff und
Wesen. Von Paul Herre . . . 533. 675
Imperialismus, Romanischer.Von Justus
Hashagen . ,.875
Indisch-französische Dichtung, Eine.
Von H. Oldenberg.1267
Irrlehrer, Ein deutscher, des Auslands.
Von Stemplinger.. . 377
Kjellöns neuestes Buch. Von M. C. 1149
Kolonisation, Mission und. Von Fried'
rieh Wiegand.975
Konstantinopel, Zur Geschichte der
Deutschen in. Von Fritz Braun . . 745
Kriegsmaßnähmen, Die, der preußi¬
schen Unterrichtsverwaltung. Von
Arnold Sachse.1153
Kultur und Kunst, Deutsche und fran¬
zösische. Von Richard Hamann . . 195
„Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“,
Wölfflins. Von O. Walzel .... 699
Kunstraub, Französischer, in Deutsch¬
land. Von Hermann Degering . . 1
Lieder, Neue, der Sappho und des
Alkaios. Von Alfred Gercke . . . 593
Maßnahmen, Die staatlichen, zur Wie¬
derherstellung der Landwirtschaft
in der Provinz Ostpreußen. Von
Wilhelm v. Hom.463
Meeresforschung, Die internationale
vor und nach dem Kriege. Von Fr.
Heincke.565
Meredith, George, als Kritiker eng¬
lischer Zustande. Von Emst Dick 1381
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INDIANA UNIVERSITY
Inhaltsverzeichnis
XI
Spalte
Merton, Wilhelm, Reden von Bürger¬
meister Voigt und Stadtrat Prof. ,
Dr. Stein, gehalten bei der Gedächt¬
nisfeier der Stadt Frankfurt a. M.
2. Jan. 1917. Von B. Laquer . . . 766
Mission und Kolonisation. Von Frie¬
drich Wiegand.975
NahrungsmittelämtA im alten Ägyp¬
ten. Von Preisigke.371
Nationale Philosophie, Gibt es eine?
Von J. Benrubi.725
Naturrechts, Ein antikes System des.
Von Hermann Diels. 81
Neutrale Stimmen. Amerika—Hol¬
land — Norwegen — Schweden —
Schweiz. Von J. B.763
Ostpreußen, Die staatlichen Maßnah¬
men zur Wiederherstellung der
Landwirtschaft in der Provinz. Von
Wilhelm von Horn.463
Pädagogik und Politik. Von Willibald
Klatt.1255
Paulus, Der Apostel, und der Kampf.
Von Max Meinertz.1115
Philosophie, Gibt es eine nationale?
Von j. Benrubi 725
Politik, Die, der Propheten. Von Her¬
mann Gunkel.423
Politik, Pädagogik und. Von Willibald
Klatt.1255
Propheten, die Politik der. Von Her¬
mann Gunkel.423
Reformation, Die. Von Adolf von
Hamack..1281
Reich und Nation seit 1871. Von
Friedrich Meinecke. 907. 1097
Reymont, W. S., Die polnischen Bau¬
ern. Von E. Zechlin.509
Rhein-Donau-Kanal, Der, und der alte
Handelsweg nach Indien. Von H.
Draheim.637
Rohstoffkunde und Auslandsstudien.
Von Friedr. Tobler.885
Roms, Die Plünderung, durch Bona-
parte. Von Ernst Steinmann . 641. 819
xn
Spalte
Sappho, Neue Lieder der, und des
Alkaios. Von Alfred Gercke . . . 593
Schützengraben, Aus den. Von P. D.
Fischer.385
Schweden, Die Volkshochschulen in.
Von E. Hurwicz.889
Selbstkritik, Die der Engländer in
ihrer Literatur. Von Ph. Aronstein 337.481
Shaftesbuiy und wir. Von Eduard
Spranger.1477
Shakespeare als Künstler des Barocks.
Von Max J. Wolff.995
Sinn Feiner, Die, in Irland. Von Wil¬
helm Dibelius.1409
Skagerrak, Die Seeschlacht am. Von
Karl Bahn. 49
Sommerzeit, Zur Wiedereinführung
der. Von W. Erben.1275
Technisch - wissenschaftliche Unter¬
suchungen, Vermittlungsstelle für . 1023
Türkei, Die Diditerin der neuen. Von
Rudolf Stübe..1533
Unser täglich Brot. Von A. Gercke . 894
Unterrichtsverwaltung,DieKriegsmaß'
nahmen der preußischen. Von Ar¬
nold Sachse.1153
Verluste, Die, der Casseler Galerie in
der Zeit der französischen Okku¬
pation 1806—1813. Von Georg Gro¬
nau .. . . 1063. 1195
Vermittlungsstelle für technisch-wis¬
senschaftliche Untersuchungen . . 1023
Vlämische Anteil, Der, an der franzö¬
sischen Literatur. Von Hanns Heiß 287
Volkshochschulen, Die, in Schweden.
Von E. Hurwicz.889
Weltpolitik, Umrisse der. Von Theodor
Bitterauf. 1403
Wfldenbruch, Ernst von, im Lichte
seiner und unserer Zeit. Von Harry
Maync.1423
WölfÜins .Kunstgeschichtliche Grund¬
begriffe“. Von O. Walzel .... 699
Zwei Brüder. Feldpostbriefe und Tage'
buchblätter. I. Bändchen Gotthold
v. Rohden. II. Bändchen Heinz v.
Rohden. Von P. D. Fischer . . . 766
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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
11. JAHRGANG _ HEFT 1 _ 1. OKTOBER 1016
Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807.
Von Hermann Degering.
I.
In den ersten Sturmjahren der Fran¬
zösischen Revolution hatten die „Pa¬
trioten“ mit fanatischem Eifer gegen
alles das gewütet, was mit dem ver¬
haßten Königtum irgendwie zusammen-
hing, und hatten dabei in Schlössern.
Kirchen und Klöstern unersetzliche
Werke der Kunst und Literatur ver¬
nichtet. Als der Konvent am 11. August
1792 die Abschaffung des Königtums
beschloß, fiel der Pöbel von Paris über
die Denkmäler her, welche in den öf¬
fentlichen Garten und Platzen, auf den
Straßen und Brücken von Paris die ruhm¬
reichen Zeiten des französischen König¬
tums zu verherrlichen bestimmt waren,
stürzte sie um und zerschlug sie und ver¬
nichtete damit die besten und reifsten
Werke, welche die französische Pla¬
stik je geschaffen hatte. Ein schüch¬
terner Versuch, im Konvente gesetzge¬
berische Maßnahmen zu treffen, dieses
vandalische Treiben in geordnete Bah¬
nen zu bringen, führte nur zu dem Be¬
schlüsse, die Zeichen des Königtums
und der Feudalitat zu entfernen und sie
durch Denkmale der Freiheit zu ersetzen.
Statt einer Eindämmung also gewisser¬
maßen eine Sanktionierung des Vandalis¬
mus. der sich bald nicht mehr auf die
öffentlichen Denkmalerbeschrankte, son¬
dern auf Werke der Kleinkunst Übergriff.
Diesem Aufsatz, der auch den gleich¬
zeitigen französischen Raub von Werken
deutscher Wissenschaft behandelt, werden
weitere folgen. Die Red.
Gemälde, Plastiken, Porzellan, Gold-
und Silbergerate, Handschriften und
Bücher, welche mit einem königlichen
oder adeligen Wappen geschmückt oder
mit einer Widmung an fürstliche oder
adelige Personen versehen waren, fie¬
len in Massen damals der Vernichtung
anheim. Ja, selbst das königliche Druck-
Privileg oder die Erwähnung des Kö¬
nigs oder eines Herrn vom Adel in der
Vorrede eines Buches genügten für
manche Eiferer als Vernichtungsgrund.
Oft genug diente aber dieser patrioti¬
sche Eifer nur als Deckmantel für Dieb¬
stahl und Unterschlagung, und in gro¬
ßen Mengen sind damals Kunstwerke,
Handschriften und Bücher aus den be¬
schlagnahmten Bezitzungen der Emi¬
granten oder verurteilter Anhänger des
Königtums ins Ausland und nament¬
lich nach England für Spottpreise ver¬
kauft worden.
Schon am 1. Oktober 1793 hatte frei¬
lich der Konvent ein Verbot erlassen,
Kunstwerke unter dem genannten Vor¬
wände fernerhin zu zerstören, zu be¬
schädigen oder von ihrem Stande und
Aufbewahrungsorte zu entfernen, aber
das half vorderhand nicht viel, denn
namentlich in den Provinzen küm¬
merte man sich nicht sonderlich um
die gesetzgeberischen Massenfabrikate
des Konvents, und so wurde dort kräf¬
tigst weiter zerstört, geplündert und
gestohlen, besonders an solchen Kunst¬
werken und Literaturschätzen, welche
bequeme Handelsobjekte waren.
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3
Hermann egering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807
4
Bereits seit der Mitte des August
1792 war das Comitfe d’instruction
publique damit beauftragt, von den be¬
schlagnahmten Museen, Sammlungen
und Bibliotheken Verzeichnisse anzu¬
fertigen und ihre Erhaltung zu über¬
wachen. Es war ermächtigt worden, zu
diesem Zwecke geeignet erscheinende
Personen sich anzugliedern, welche zu
der Ausführung dieser Arbeiten gewillt
seien. Am 19. Dezember 1793 wurde für
diese Aufgabe dann eine besondere
Commission temporaire des arts ge¬
bildet. Sie veröffentlichte bald darauf
einen ausführlichen Arbeitsplan, der
sich nicht auf die Pariser Sammlungen
beschränkte, sondern auch die der Pro¬
vinz in seinen Bereich zog. Als dann
durch die Erfolge ihrer Armeen im
Jahre 1794 den Franzosen faktisch die
Herrschaft über Belgien, die Nieder¬
lande und die Rheinprovinzen zufiel,
dehnten sie, obgleich sie angeblich als
Befreier vom Tyrannen joch kamen, den
Machtbereich der Commission tempo¬
raire auch auf diese Gebiete aus. Ihre
Aufgabe, die eigentlich nur darin be¬
stand, die beschlagnahmten Kunst¬
sammlungen und Bibliotheken an den
Orten, wo sie sich befanden, zu inven¬
tarisieren und in geeigneten Aufbewah¬
rungsorten sicher unterzubringen, er¬
weiterten sie zugleich aber schon Ende
Januar 1794 für diese neuen Gebiete
(Worms, Speier, Mainz) dahin, die Ge¬
genstände für Frankreich und speziell
für die Pariser Sammlungen zu beschlag¬
nahmen und wegzuführen. In Frankreich
selbst war davon bisher kaum'die Rede
gewesen, und nur aus der nächsten Um¬
gebung von Paris, z. B. aus Versailles
und St-Denis, waren einige Kunstgegen¬
stände und Handschriften nach Paris
gekommen. Jetzt aber nahmen die Kom¬
missare aus diesen eroberten Ländern an
Kunstwerken und literarischen Schät¬
zen alles, was ihnen nur des Weg-
schleppens wert erschien, für Paris in
Beschlag. Man betrachtete das näm¬
lich französischerseits sofort als eine
bequeme Gelegenheit, die Schädigun¬
gen, welche die französische Kunst
durch den eigenen Vandalismus erlitten
hatte, durch die Plünderung der erober¬
ten Länder auszugleichen. Um Phrasen,
dieses völkerrechtswidrige und mit den
eigenen pathetischen Freiheits- und
Gleichheitsbeteuerungen im ärgsten Wi¬
derspruch stehende Verfahren zu ent¬
schuldigen, war man nicht verlegen.
Daß inzwischen im eigenen Lande wei¬
ter gegen Kunst und Wissenschaft mit
Zerstörung, Diebstahl und Unterschla¬
gung gefrevelt wurde, tat der Freude
am Raube keinen Abbruch. „Plus que
les Romains, plus que Dfemfetrius Po-
liorcfete. nous avons le droit de dire
qu’en combattant les tyrans, nous pro-
tfegeons les arts. Nous en recueillons
les monuments, möme dans les con-
trfees oü pfenfetrent nos armfees victorieu-
ses. Outre les planches de la fameuse
carte de Ferrari, vingt-deux caisses de
livres et einq voitures d'objets sdenti-
fiques sont arrivfees de la Belgique.
On y trouve les manuscrits enlevfes ä
Bruxelles dans la guerre de 1742, et
qui avaient fetfe rendus par stipulation
expresse du traitfe de paix en 1749. La
Rfepublique acquiert par son oourage
ce qu’avec des sommes immenses Louis
XIV ne put jamais obtenir, Crayer, Van-
dyck et Rubens sont en route pour
Paris, et l’fecole Flamande s’felfeve en
masse pour venir omer nos musfees.“
Der so redete, war der ehemalige Bi¬
schof von Blois Grfegoire, und die Sätze
sind entnommen aus der ersten seiner
großen Reden gegen den Vandalismus,
die er im Convente am 31. August 1794
hielt und in deren weiteren Verfolg
er auch schon seine beutegierige Phan-
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5 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807
6
tasie Ober die Alpen schweifen ließ:
„Certes, si nos armöes victorieuses p6-
nfetrent en Italie, Tenlfevement de
l'Apollon du Belvödfcre et de l’Hercule
Famäse serait la plus brillante con-
quöte. C’est la Gr6ce qui a d6cor6
Rome, mais les chefs-d’oeuvre des R6-
publiques grecques doivent-ils döoorer
le pays des esclaves? La R6publique
frangaise devrait 6tre leur dernier do-
midle.“ So weit war man nun freilich
noch nicht, aber bald sollte nun auch deut¬
sches Gebiet die Faust Frankreichs spüren.
Ende Oktober trafen die französi¬
schen Raubkommissare, welche die
Commission temporaire zu der Nord-
annee und der Sambre-Maas-Armee
beordert hatte, auch auf deutschen
Boden ein und begannen hier ihre
unheilvolle Tätigkeit auszuüben. Was
gerade diese ersten Beraubungen nach
allen noch vorhandenen Aufzeich¬
nungen und Nachrichten kennzeichnet,
ist die maßlose Willkür, mit der die
Kommissare auftraten. Unter Berufung
auf eiiv Dekret des Wohlfahrtsaus¬
schusses plünderten sie nicht nur Kir¬
chen und Klöster, sondern auch öffent¬
liche Sammlungen und Bibliotheken
sowie die Häuser von Privatpersonen
(Emigranten) aus, ohne bei ihrem
Vorgehen auch nur äußerlich durch
Ausstellung von Quittungen den An¬
schein einer gesetzlichen Handlung auf¬
rechtzuerhalten. Wie sie vorgingen,
mag man aus einigen Beispielen er¬
sehen. Ich wähle dabei ausdrücklich
nur amtliche an und von französischen
Behörden ausgestellteZeugnisse, welche
doch aus begreiflichen Gründen sicher¬
lich die Vorgänge eher zu milde als
mit Übertreibung schildern. Wir haben
solche in ausgedehntem Maße gerade
für die Stadt, welche besonders hart
von den französischen Plünderungen
betroffen worden ist, für Köln.
Hier hat nämlich im Jahre 1796 der
Nachfolger der ersten Raubkommission,
namens Keil, zu Beginn seiner eigenen
Tätigkeit durch ein Schreiben vom
6. Oktober 1796 die städtischen Behör¬
den von Köln aufgefordert, festzustel-
len, was von französischen Kommis¬
saren bis dahin an Kunst- und Litera¬
turschätzen beschlagnahmt und nach
Paris geschafft worden sei. Der Muni¬
zipalverwalter Heinberg erließ darauf¬
hin am 9. Oktober 1796 eine öffentliche
Aufforderung, Berichte über diese Vor¬
gänge einzureichen und Listen dessen,
was genommen war, aufzustellen. Die
eingegangenen Berichte, 11 an der Zahl,
sind uns bei den französischen Verwal¬
tungsakten im Historischen Archiv der
Stadt Köln im Original erhalten.
Es geht aus diesen folgendes hervor:
Am 5. November 1794 begaben sich
die Herren Le Blond, Bibliothekar der
Bibliothek der vier Nationen (Biblio-
th&que Mazarine), Faujas de St-Fond,
Professor der Geologie, und Thouin,
Professor des Ackerbaus, in Beglei¬
tung des Sekretärs des Repräsen¬
tanten des Volkes Frööne zu dem
Gebäude des ehemaligen Jesuitenkol¬
legs und forderten auf Grund einer von
den Volksrepräsentanten Joubert und
Haussmann unterschriebenen Vollmacht
Eintritt in die Bibliothek, der ihnen ge¬
währt wurde: „A peine", fährt der
Berichterstatter fort, „furent-ils entrös
qu’ils prirent de tous les emplacemens
les meilleurs livres, entre autres il y
avait des Bibles 53 Tomes ou volumes
avec un manuscrit höbreu du 13e sifecle
6crit sur parchemin qui avoit 6t6 6va-
lu6 par des experts ä 2000 florins.
L’on prit tous les oeuvres philosophi-
ques de Kircher, de Lanis etc. Presque
tous les oeuvres historiques, gfeographi-
ques et philologiques et ceux de la ju-
risprudence, Signalement (1) beaucoup
1 *
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Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807
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de l’empire romain furent sortis de
leurs emplacements, ervcore nombre
d’autres qui traitent des langues et des
arts libäraux. Ils les jetferent par terre
de maniäre que le matin du premier
jour il y avait un tas de plus de 200
cahiers. 11 fut donc impossible de dres-
ser un regtstre de ce& livres-lä ; en sor-
tant ils mirent les scelläs sur l'enträe de
la Bibliothfeque et y ätablirent encore
une garde.
Le möme aprös-midi et les jours sui-
vans l’on continua de la mäme fagon,
ce qui dura pendant troii semaines,
jusqu’ä ce que dans la suite ces livres
successivement amassäs avec le cata-
logue furent chargäs sur quatre cha-
riotb ä quatre chevaux chacun et trans-
portfes ä la maison de Geyr malgri les
ridamations les plus fondäes qu’alors
le magistrat avoit presentes au reprä-
sentant du peuple Fräcine dans cette
af faire.“
Weiter wird dann aufgezahlt:
1. die Wegnahme der großen Samm¬
lung von Kupferstichen und Handzeich¬
nungen» in 208 Heften insgesamt 33062
Blatter umfassend,
2. eine Sammlung antiker Münzen,
3. eine Sammlung von Marmorarten,
4. eine Sammlung von Gold- und Sil¬
berbarren und -klumpen und eine
Sammlung von Edelsteinen, die zum
Teil geschnittene waren,
5. eine Sammlung von Versteine¬
rungen,
6. eine Muschelsammlung,
7. eine Sammlung kleiner Antiqui¬
täten, wie Vasen, Urnen, Lampen, Pe¬
naten u. dgl.
Der Berichterstatter, Administrator
des Jesuitenkollegs St. J. Huertgen,
fügt nochmals hinzu, daß Le Blond auch
hier jedesmal die Türen versiegelt habe
und daß es infolgedessen ganz un¬
möglich gewesen sei, ein genaueres
Verzeichnis der weggenommenen Sa¬
chen anzu fertigen. Die erwähnten Re¬
klamationen, die der Magistrat der
Stadt sowohl in betreff der Bibliothek
als auch der Museumsstücke bei dem
Volksrepräsentanten Fröcine einreichte,
blieben völlig ergebnislos, ebenso wie
eine Deputation in Paris wohl ihre
Wünsche sogar im Konvente selbst
Vorbringen durfte, aber nur Phrasen
undTiraden 1 ) dafür eintauschen konnte,
ohne nachher auch nur ein Stück der
geraubten Schätze zurückzuerhalten.
Aus dem Zeughause, über dessen
Ausplünderung der Artilleriehauptmann
Jos. Otto ein genaues Tagebuch geführt
hat, wurden eine große Anzahl alter
Kanonen, Mörser und Feldschlangen
weggeführt, obwohl sie keinerlei Kriegs-
wert besaßen, sondern nur Museums¬
stücke waren. Auch brach man drei
römische Grabsteine aus den Wänden
und schleppte sie nach Paris. Dem
Sarkophag des Vitalis drohte das¬
selbe Schicksal, doch verschob man
des Gewichtes wegen den Trans¬
port auf spätere Zeit, und dabei
blieb es dann.
Das Hauptraubstück aus Köln war
aber das Rubensbild aus der Peters¬
kirche, welches am 19 Vend. An 3
(10. Oktober 1794) von dem französi¬
schen Kommissar Pinet weggenommen
wurde. Aus der Kirche St. Gereon nahm
man eine antike Säule, die an der lin-
1) Moniteur univ. An 3 no. 183. Le Prä¬
sident: Le peuple frangais ressemble point
ä ces conquärans farouches pour qui la
guerre n’est qu’un moyen d’asservir les
hommes. II n’a pris les armes que pour d£-
fendre son indäpendance attaquäe par tous
les tyrans de l’Europe.... La Convention
fera examiner vos räclamations, la loyautä
frangaise vous garantit que la däcision sera
conforme aux principes de justice qui sont
la base de ses dälibärations.
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DIE KULTUR DER GEGENWART
IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. PAUL HINNEBERG
VERLAG VON B. G. TEUBNER IN LEIPZIG UND BERLIN
Die „Kultur der Gegenwart“, für den weiten Umkreis aller Gebildeten bestimmt, soll in
gemeinverständlicher, künstlerisch gewählter Sprache aus der Feder der geistigen Führer
unserer Zeit eine systematisch aufgebaute, geschichtlich begründete Gesamtdarstellung unserer
heutigen Kultur darbieten. Das Werk vereinigt eine Zahl erster Namen aus allen Ge¬
bieten der Wissenschaft und Praxis, wie sie kaum ein zweites Mal in einem anderen
literarischen Unternehmen irgendeines Landes oder Zeitalters vereint zu finden sein wird.
Von Teil III Abt. VII „Naturphilosophie und Psychologie“ erschien Band i:
NATURPHILOSOPHIE
UNTER REDAKTION VON
GEH. REG.-RAT Dr. CARL STUMPF, PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT BERLIN
BEARBEITET VON
dr. ERICH BECHER
PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT MÜNSTER
[X u. 427 Seiten.] Lexikon-8. f T^i in Leinwand gebunden M. 16.—,
1914. Preis geheftet M. 14.—, nT in Halbfranz gebunden M. 18.—
Die Naturphilosophie soll aus dem von den Naturwissenschaften erarbei¬
teten Erkenntnismaterial ein einheitliches Gesamtbild der Natur schaffen. Bei
dieser umfassenden Vereinheitlichung drängen sich weitreichende Voraus¬
setzungen des Naturerkennens auf, deren systematische Untersuchung die
Aufgabe der Naturerkenntnistheorie bildet.
Die Naturerkenntnistheorie stellt so den grundlegenden Teil der Natur¬
philosophie dar. Die Untersuchung jener Voraussetzungen (Annahme einer
allgemeinen Naturgesetzmäßigkeit, die Realität der Außenwelt usw.) fordert
abstrakte Gedankengänge, die aber durch zahlreiche Beispiele dem Ver¬
ständnis nahegebracht werden. Die fundamentale Wichtigkeit jener Vor¬
aussetzungen für unsere ganze Natur- und Welterkenntnis verleiht einer
kritischen Untersuchung derselben ein lebhaftes Interesse, sobald einmal der
Blick auf diese Fragen hingelenkt worden ist.
Die vorliegende Naturerkenntnistheorie führt zu dem Ergebnis, daß wir
an der Realität und der Erkennbarkeit der Außenwelt festhalten dürfen. Da¬
mit ist die Grundlage für ein Gesamtbild der Natur geschaffen, das im zweiten
Hauptteil zur Darstellung gelangt Zunächst wird der Aufbau der Körper¬
welt bis zu den kleinsten Strukturelementen, die zurzeit bekannt sind, den
Elektronen, betrachtet. Dann ist die Frage zu erörtern, ob es vielleicht außer
der wahrnehmbaren Materie noch andere körperliche Realitäten gibt, ob et¬
wa die gegenwärtig viel umstrittene Ätherannahme zu Recht besteht. Nach-
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dem so das beharrende körperliche Sein besprochen wurde, wendet sich
die Untersuchung dem körperlichen Geschehen zu. Sie prüft die kinetische
Naturauffassung, die alle körperlichen Vorgänge als Bewegungen betrachtet;
sie entwickelt die Umgestaltung dieser Naturauffassung vom mechanischen
Naturbild zur Elektrokinetik.
Die Lebewesen, als eine durch eigentümliche Merkmale ausgezeichnete
Gruppe von Naturdingen, erfordern eine besondere Betrachtung. Sie bringt
die für die Weltanschauung so wichtigen Fragen nach Herkunft, Entwick¬
lung und Wesen des Lebens zur Sprache.
Die Fülle der behandelten Probleme mag man aus der unten folgenden
Inhaltsübersicht ersehen.
INHALTSÜBERSICHT
Einleitung. Aufgabe der Naturphilo¬
sophie. Aus der Geschichte der Naturphilo¬
sophie. Vorläufige Bestimmung des Begriffes
Natur. Naturwissenschaft und Naturphilosophie.
Naturerkenntnistheorie. Aufgabe der Er¬
kenntnistheorie, insbesondere der Naturerkennt¬
nistheorie. Methode der Erkenntnistheorie. Vor¬
läufige Festlegung und Kritik vorwissenschaft¬
licher und wissenschaftlicher Realitätsvoraus¬
setzungen. Feststellung der immanenten Grund¬
lagen und Rechtfertigung transzendenter Vor¬
aussetzungen. Die Voraussetzung des Erinne¬
rungsvertrauens. Die Regelmäßigkeitsvorausset¬
zung. Erkenntnistheoretische Rechtfertigung der
Regelmäßigkeitsvoraussetzung. Die Gesetzmäßig¬
keitsvoraussetzung. Dingbegriff und Substanz¬
begriff. Der Kausalbegriff und die einschlägigen
Voraussetzungen. Die Voraussetzung einer realen
Außenwelt. Möglichkeit, Charakter und Grenzen
der Außenweltserkenntnis. Die Voraussetzung
einer Körperwelt. Körper nnd Kräfte. Unkör¬
perliche bewußtseins-transzendente Realitäten.
Der Naturbegriff. Schluß.
Gesamtbild der Natur.
Struktur und Bausteine der gewöhn¬
lichen Körper. Einleitung. Makrostruktur
und Mikrostruktur der Körperwelt. Unhaltbar¬
keit prinzipieller Einwändc gegen die Mikro¬
strukturhypothesen. Allgemeine Begründung der
physikalischen MQlckulartheorie. Molekular¬
theorie der Aggregatzuständc. Kinetische Gas-
theoric. Größenverhältnisse in der Welt der
Moleküle. Die chemische Molekular- und Atom-
theoric. Fortsetzung. Gewichtsverhältnisse bei
chemischen Verbindungen (Stöchiometrie). Kri¬
tisches zur chemischen Molekular- und Atom¬
theorie. Die Elektronentheorie. Fortsetzung.
Elektroncntheorie der Elektrizität mit sich füh¬
renden Strahlen. Die Struktur der Atome und
ihre elektrischen Bausteine. Fortsetzung. Elek¬
trische Theorie der Materie. Schwierigkeiten der
Elektronentheorie und der elektrischen Theorie
der Materie. Ergebnis. Die naturwissenschaft¬
liche Erkenntnis der Materie und ihrer Bausteine.
Problematische körperliche Realitäten
im „leeren“ Raume. Der Äther der ela¬
stischen Lichttheorie. Die elektromagnetische
Lichttheorie und ihre Ätherlehre. Die Faraday-
Maxwellsche Theorie und die Elektronentheoric.
Äther und Elektronen. Kritik der Ätherlehre.
Die sogenannten Feld-,,Zustände“ des Äthers
als selbständige stoffartige Realitäten. Prüfung
der Synthese von Emissions- und Wellentheorie
des Lichtes sowie der Stofftheorie des elektri¬
schen und magnetischen Feldes.
Das Geschehen an den unbelebten Kör¬
pern. Allgemeinere Motive und Argumente für
die kinetische Naturauftassung. Empirische Be¬
gründung der einzelnen kinetischen Hypothesen.
Elimination von Qualitäten aus dem Naturbild
durch kinetische und Strukturtheorien. Spezielle
Ausgestaltungen der kinetischen Naturauffassung.
Mechanische und kinetisch-elektrische Auffassung.
Die lebenden Körper und das Lebens¬
geschehen. Die charakteristischen Merkmale
der Lebewesen, Einteilung der Lebewesen.
Die Abstammungslehre. Die Herkunft der älte¬
sten irdischen Lebewesen. Die Triebkräfte der
Entwicklung der Arten. Zweckmäßigkeitsent¬
wicklung und Beseelung. Psychovitalismus.
Kritische Betrachtung von Einwänden gegen
den Vitalismus. Metaphysischer Abschluß des
Naturbildes. Literaturverzeichnis. Namenregister.
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Die Kultur der Gegenwart: Naturphilosophie 3
Aus: DIE GESCHICHTE DER NATURPHILOSOPHIE
Die Naturphilosophie der letzten Jahrzehnte. Auch in der Zeit
der entschiedenen Verachtung aller Philosophie hat die naturphilosophische
Arbeit nie ganz geruht. Die großen naturwissenschaftlichen Errungenschaften Die natur
des vorigen Jahrhunderts brachten ihr neue, kräftige Antriebe. Der Aufbau ^genst
organischer Verbindungen aus unorganischen Stoffen durch die Chemiker (zu- de* xix
nächst Wöhlers Synthese des Harnstoffes) riß eine Schranke zwischen der humlrr
lebendigen und toten Natur ein und gab einen Anstoß zum Kampfe zwischen
Vitalismus (vgl. S. 14,197) und Mechanismus in der Biologie. Das Gesetz von
der Erhaltung der Energie verband und vereinheitlichte die verschiedenen Teil¬
gebiete der Physik und fernerhin auch anderer Naturwissenschaften. Der
Entropiesatz legte Schlüsse auf das zukünftige Geschick unserer Welt nahe.
Dann kam, von Darwin siegreich durchgeführt, der Entwicklungsgedanke, in
Verbindung mit der Zuchtwahllehre — von D. Fr. Strauß als erstes Kind der
heimlichen Ehe zwischen Philosophie und Naturwissenschaft begrüßt.
Alles dies drängte die Naturforscher zur Naturphilosophie hin, wenn sieNouesAufs
es auch selbst nicht Wort haben wollten. Die Philosophen, die nach dem Zu- p d " o ^ p
sammenbruch der spekulativen Systeme gerade der Naturphilosophie gegen¬
über sehr zurückhaltend blieben, näherten sich ihr doch von der Wissenschafts¬
lehre, von der Erkenntnistheorie her, die nach dem Bankrott der nachkantischen
Metaphysik vielen, insbesondere den Neukantianern, als die eigentlich zentrale»
!
Aus: ERKENNTNISTHEORETISCHE RECHTFERTIGUNG
DER REGELMÄSSIGKEITSVORAUSSETZUNG
Erklären und Verstehen kann also nicht weiter reichen, als die Regel¬
mäßigkeit des Wirklichen reicht. Ein plötzlich in mein Bewußtsein herein¬
brechendes lautes Geräusch wird verständlich, wenn ich es als regelmäßige
Wirkung einer außerbewußten Ursache, etwa des Fallens eines Brettes, auf¬
fasse. Die Annahme, daß alles Wirkliche sich Regeln fügt, ist Voraussetzung
der Verständlichkeit desselben. Wer mutig daran gehen will, die Welt ver¬
stehen und erklären zu lernen, muß voraussetzen, daß sie bis in die kleinsten
Einzelheiten unter Regeln steht. Jede Ausnahme von einer Regel bleibt
unverständlich, solange sie sich nicht als Erfüllung einer Regel erweist Soll
das Wirkliche im Prinzip ganz erklärbar sein, so muß jeder Durchbruch
einer Regel selbst die Bestätigung einer anderen Regel darstellen, die über
der durchbrochenen Regel steht, weil sie das Durchbrechen derselben be¬
herrscht; die Regelmäßigkeit des Gesamtwirklichen muß eine absolut strenge
sein, so daß wir von einer Gesetzmäßigkeit sprechen dürfen, sofern dies Wort
strenge Regelmäßigkeit bedeutet. — So nennt Windelband die (kausale)
Gesetzmäßigkeit oberste logische Voraussetzung für die Möglichkeit, den Zu¬
sammenhang unserer Erfahrungswelt erfolgreich zu erklären.
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Die Kultur der Gegemrart: Naturphilosophie
In der Notwendigkeit für weite Erkenntnisgebiete und wichtige Er¬
kenntnisinteressen liegt eine Rechtfertigung der Regelmäßigkeitsvoraus¬
setzung, die sie der Willkür entzieht Die Regelmäßigkeitsvoraussetzung
kann so wenig bewiesen werden wie die Voraussetzung der Erinnerungser¬
kenntnis. Aber beide sind notwendig für das Erkennen, wie es in Wissen¬
schaft und Leben vorliegt. Die Erkenntnistheorie kann diese letzten Vor¬
aussetzungen nicht beweisen; wer dies von ihr fordert, verlangt Unmögliches.
Aber indem sie die letzten Voraussetzungen unseres Erkennens ans Licht
bringt und zeigt, was diese in ihrer Gesamtheit für dasselbe leisten, kann
die Erkenntnistheorie deren Unentbehrlichkeit für unser Erkennen und unsere
Wissenschaft dartun. Das entzieht die Voraussetzungen der Willkür und
muß zur Rechtfertigung dienen.
Aus: DER KAUSALBEGRIFF UND DIE EINSCHLÄGIGEN
VORAUSSETZUNGEN
ler Kausal- Unter diesen Umständen liegt der Gedanke sehr nahe, daß im Fortschritt
^ Funktion! *^ er Wissenschaft der Kausalbegriff durch den Funktionsbegriff zu ersetzen
'«griff m sei. Dies wird gegenwärtig vielfach im Anschluß an Mach und unter dem
rsetzen? Einfluß empiristisch gesinnter Philosophen wie Comte gefordert In der Tat,
wo eine unvollkommenere Wissenschaft nur lehren konnte, daß der elek¬
trische Strom als Ursache eine mit seiner Intensität steigende Erwärmung
des Leitungsdrahtes bewirkt, da bietet auf Grund ihrer Fortschritte die Physik
später im Jouleschen Gesetz eine Funktion, eine Formel an, die genau sagt,
wieviel Wärme produziert wird, wie Stromstärke und Widerstand in Rech¬
nung zu setzen sind. Die Funktion scheint die provisorische Angabe über
den Ursache-Wirkungszusammenhang in vorteilhaftester Weise zu ersetzen,
ablehnend* Indessen handelt es sich hierbei nicht um eine Elimination des Kausal-
eantwortong begriffes zugunsten des Funktionsbegriffes, sondern nur um eine exakte Be-
«*ser Frage. ° ° °
Stimmung des Kausalzusammenhanges durch Benutzung der Funktion.
Aus: STRUKTUR UND BAUSTEINE DER GEWÖHNLICHEN
KÖRPER
Die Elektronentheorie. Die Molekular- und Atomhypothese, wie
wir sie bisher dargestellt haben, bildete bis vor nicht allzu langer Zeit den
wesentlichen Inhalt der Mikrostrukturlehre. Zwar wurde sie durch mancher¬
lei Hilfshypothesen ausgebaut; es sei nur der Dissoziationshypothesen ge¬
dacht, die besagen, daß manche Moleküle von Dämpfen (z. B. beim Salmiak)
und von gelösten Stoffen (z. B. beim Kochsalz in wässeriger Lösung) in
kleinere Atomkomplexe oder Atome zerfallen; so zerfallen etwa Kochsalz¬
moleküle (— Chlomatriummoleküle) im Wasser in Chloratome und Natrium-
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Die Kultur der Gegenwart: Naturphilosophie
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atome, denen überdies entgegengesetzte elektrische Ladungen zugeschrieben
werden (elektrolytische Dissoziation; die elektrisch geladenen Molekülbruch¬
stücke, Atome oder Atomkomplexe, heißen Ionen). Aber die Atome der
chemischen Elemente blieben die letzten Bausteine, über die nur vage Ver¬
mutungen hinausführten, obwohl im Laufe der Zeit einige Tatsachen zu¬
sammenkamen, die deutlich verrieten, daß die Atome keine strukturlosen
Ureinheiten, sondern Gebilde von kompliziertem innerem Bau sein müssen*
Erst die Lehre von der atomistischen Struktur der Elektrizität, die Elektronen¬
theorie, führte hier weiter. Sie hat eine Fülle von Erscheinungen unter gleich¬
artige Gesichtspunkte gebracht und erklärt, und sie hat einen Einblick in
den inneren Bau der Atome eröffnet, der bereits heute, wo noch gar vieles
im unklaren liegt, eine prinzipielle, epochemachende Erweiterung der Mikro¬
strukturlehre bedeutet
Aus: DAS GESCHEHEN AN DEN UNBELEBTEN KÖRPERN
Wird in der Gegenwart die kinetische Naturauffassung durchgefuhrt, so
sind diese Verhältnisse zu berücksichtigen. Die alte Mechanik beherrscht
nicht alle Bewegungen. Eine allgemeine kinetische Naturauffassung kann
keine mechanische Auffassung mehr sein. Wenn alle Stoffe (vom Äther und
von den Feldstoffen sei hier abgesehen) aus Elektrizitätspartikelchen be¬
stehen, so werden alle Bewegungen von der Elektrizitätsbewegungslehre,
von der Elektrodynamik (dies Wort im weitesten Sinne genommen) beherrscht
An Stelle der kinetisch-mechanischen Naturauffassung der einen oder an¬
deren Art tritt die kinetisch-elektrodynamische oder kürzer die kinetisch-Kinetisch-,
elektrische Naturauffassung. Sie besagt: Alles Naturgeschehen ist Be- tn a a ' f ^ 3 Na
wegung elektrischer Ladungen, die den Gesetzen der Elektrodynamik
gehorcht. Diese kinetisch-elektrische Auffassung des Natur-Geschehens
bildet die Ergänzung zur elektrischen Auffassung des Natur-Seins, zur elek¬
trischen Hypothese der Materie, welche besagt: Die ganze Natur ist aus
elektrischen Ladungen, aus Elektrizitätspartikelchen, aufgebaut.
Aus: DIE LEBENDEN KÖRPER UND DAS LEBENSGESCHEHEN
Zweckmäßigkeiten der Form und der Struktur sowie der Funktion gibt
es auch bei toten Dingen, z. B. bei Maschinen, und diesen sind darum auch
die Lebewesen vielfach verglichen worden. Immerhin bestehen bedeutsame
Unterschiede. Die Zweckmäßigkeit der Maschine geht auf den menschlichen
Erbauer zurück und dient in erster Linie diesem, während die Zweckmäßig¬
keit eines Lebewesens in erster Linie ihm selbst und der Erhaltung und Ver¬
breitung seiner Art dient. Doch ist dies weniger durchschlagend; denn es
gibt auch zweckmäßige Einrichtungen an Maschinen, die direkt der Erhal-
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Die Kultur der Gegenwart: Naturphilosophie
tung der Maschinen selbst dienen, wie z. B. das Sicherheitsventil einer Dampf¬
maschine, welches die Explosion des Kessels verhindert. Wesentlicher ist
ibständige der folgende Unterschied: Das Lebewesen mit seiner Zweckmäßigkeit ent¬
wichen” ste ht selbständig aus den Anlagen einer Eizelle; die Maschine aber ent-
kmäßigen. wickelt sich nicht aus einem Keime kraft der inneren Fähigkeiten desselben,
sondern sie wird von einem Erbauer, dem Menschen, zusammengesetzt. Diese
Fähigkeit des Lebendigen, aus eigener Kraft sich zu entwickeln und zweck¬
mäßig zu gestalten, tritt auch in der Regeneration zerstörter Teile zutage.
Ein Wurm kann den abgebissenen Kopf neubilden; aber keine Maschine
vermag selbständig ein abgerissenes Rad am rechten Orte neu hervorzu¬
bringen. Die selbständige Entwicklung und Neubildung des Zweckmäßigen
ist charakteristisch für die lebende Natur. Daraus ergibt sich bereits, daß
eine eingehendere Betrachtung der organischen Zweckmäßigkeit die Ent¬
stehung des Zweckmäßigen notwendig berücksichtigen muß. Darum fragen
wir erst nach der Entstehung der Organismen, ehe wir auf das Teleologie¬
problem, auf die Zweckmäßigkeitsfrage, genauer eingehen. . . .
Der Psycholamarckismus ist im Grundgedanken dem Darwinschen Se¬
lektionsprinzip nahe verwandt. Das tritt deutlich hervor, wenn wir ersteren
noch etwas weiter fassen, als es bisher geschehen ist: Zufällig entstehe et¬
was Zweckmäßiges, oder etwas bereits am Organismus Vorhandenes finde
zufällig zweckmäßige Verwendung. Nach psycholamarckistischer Lehre emp¬
findet die lebende Substanz den Vorteil, und sie hält das zufällig Zweck¬
mäßige darum gedächtnismäßig fest; sie steigert es womöglich. Wenn da¬
gegen etwas Zweckloses entsteht, so wird es nicht von der lebenden Sub¬
stanz gedächtnismäßig fixiert oder gar gesteigert; es kommt daher nicht zur
Ausgestaltung. Ebenso rechnet die Darwinsche Selektionslehre mit der zu¬
fälligen Entstehung des Zweckmäßigen. Nach Darwin wird dasselbe jedoch
nicht durch Wahrnehmung und Gedächtnis ausgelesen und festgehalten, son¬
dern durch den Daseinskampf ausgesiebt; das Zwecklose und Zweckwidrige
verschwindet, weil seine Träger im Leben nicht bestehen können. Wie bei
Probierreaktionen unter vielem Ungeeigneten zufällig Zweckmäßiges auf-
tritt, so auch bei den Unterschieden, welche Geschwister aufweisen. Wenn
die Natur die Nachkommen eines Individuums oder Paares verschieden aus-
fallen läßt, so ist das sozusagen auch ein Probieren. Was dabei an Zweck¬
mäßigem herauskommt, kann durch den Daseinskampf oder durch Verspüren
und Verhalten ausgesondert werden.
Das Festhalten wertvoller Änderungen geschieht nach der Darwinschen
Hypothese durch Vererbung, nach der psycholamarckistischen zunächst
durch das Gedächtnis der lebenden Substanz, weiterhin dann auch durch
e Vererbung Vererbung. Dieser Unterschied fällt aber fort, wenn wir mit der Mneme-
rs'cbetnung lehre die Vererbung als Gedächtniserscheinung betrachten. Ein Organismus
sjnemeiebre“) babe eine neue Reaktion erlernt und behalte sie vermöge seines Gedächt¬
nisses; wenn nun diese Reaktion
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Inhaltlich verwandte Bände der Kultur der Gegenwart:
Erkenntnistheorie: A. Riehl. II. Metaphysik: W. Wundt III. Naturphilosophie: W. Ostwald. IV". Psychologie:
H. Ebbinghaus. V. Philosophie der Geschichte: K. Eucken. VI. Ethik: Fr. Paulsen. VII. Pädagogik:
W. Münch. VIU. Ästhetik: Th. Lipps. — Die Zukunftsaufgaben der Philosophie: Fr. Paulsen.
Allgemeine Geschichte der Philosophie.
Geh. M. 14.—, in Leinwand gebunden M. x6.—, in Halbfranz gebunden M. 18.—
Inhalt: Einleitung. Die Anfänge der Philosophie und die Philosophie der primitiven Völker: W. Wundt.
A Die orientalische (ostasiatische) Philosophie. L Die indische Philosophie: H. Oldenberg. 1 L Die chinesische
Philosophie: W. Grube. HL Die japanische Philosophie: T. Inouye. B. Die europäische Philosophie (und die
islamisch-jüdische Philosophie des Mittelalters). I. Die europäische Philosophie des Altertums: H. v. Arnim. II. Die
patristische Philosophie: CI. Baeumker. UI. Die islamische und die jüdische Philosophie des Mittelalters: J. Gold-
ziher. IV. Die christl Philosophie des Mittelalters: CLBaeumker. V. Die neuere Philosophie: W.Windelband.
Phircitr Redaktion von E. Warburg. Mit xo6 Abbildungen. [X, 762 S.] Lex.-8. 19x4. (Teil HI, Abt. UI,
riiyolK. Bd. f ) Geh. M. 22.—, geb. M. 24.—, in Halbfranz geb. M. 16 . —
Inhalt: l. Mechanik. Die Mechanik im Rahmen der allgemeinen Physik. Von E. Wiechert 2. Akustik.
Historische Entwicklung und kulturelle Beziehungen. Von F. Auerbach. 3. Wärmelehre. Thermometric. Von
E.Warburg. Kalorimetrie. VonL.Holborn. Entwicklung der Thermodynamik. Von F. H enning. Mechanische
and thermische Eigenschaften der Materie in den Aggregatzuständen. Von L. Holborn. Umwandlungspunkte, Er¬
scheinungen bei koexistierenden Phasen. Von L. Holborn. Wärmeleitung. Von W. Jäger. Wärmestrahlung.
Von H.Rubens. Theorie der Wärmestrahlung. Von W. Wien. Experimentelle Atomistik. Von E. Dorn. Theo¬
retische Atomistik. Von A. Einstein. 4. Elektrizitätslehre. Geschichte der Elektrizität bis zum Siege der
Faradayschen Anschauungen. Von F. Richarz. Die Entdeckungen von .Maxwell und Hertz. Von E. Lecher.
Die Maxwellsche Theorie und die Elektronentheorie. Von H. A. Lorentz. Ältere und neuere Theorien des Magne¬
tismus. Von R. Gans. Die Energie degradierender Vorgänge im elektromagnetischen Feld. Von E. Gnmlich.
Die drahtlose Telegraphie. Von F. Braun. Schwingungen gekoppelter Systeme. Von M. Wien. Elektrisches
Leitungsvermögen. Von H. Starke. Die Kathodenstrahlen. Von W. Kaufmann. Die positiven Strahlen. Von
E. Gehrke und O. Reichenheim. Röntgenstrahlen. Von W. Kauf mann. Entdeckungsgeschichte und Grund¬
tatsachen der Radioaktivität. Von J. Elster und H. GeiteL Radioaktive Strahlungen und Umwandlungen. Von
St. Meyer und E. v. Schweidler. 5. Lehre vom Licht. Entwicklung der Wellenlehre des Lichtes. Von
0 . Wiener. Neuere Fortschritte der geometrischen Optik. Von O. Lummer. Spektralanalyse. Von F. Ex ne r.
Struktur der Spektrallinien. Von E. Gehrcke. Magnetooptik. Von P. Zeeman. 6. Allgemeine Gesetze und
Gesichtspunkte. Über das Verhältnis der Präzisionsmessungen zu den allgemeinen Zielen der Physik. Von E. War¬
burg. Prinzip der Erhaltung der Energie und die Vermehrung der Entropie. Von F. Hasenöhr 1 . Prinzip der
kleinsten Wirkung. Von M. Planck. Die Relativitätstheorie. Von A. Einstein. Phänomenologische und ato-
mistische Betrachtungsweise. Von W. Voigt. Verhältnis der Theorien zueinander. Von M. Planck.
Chemie, allgemeine Kristallographie und Mineralogie.
Rinne. Mit 53 Abbildungen. [VH u. 650 S.] Lex.-8. 1913. (Teil UI, Abt. 1 H, Bd. 2.) Geh. M. x8,—, in Leinwand
geb. M. 20.—, in Halbfranz geb. M. 22.—
Inhalt: Entwicklung der Chemie von Robert Boyle bis Lavoisier (1660—1793). Von E. v. Meyer. Die Ent¬
wicklung der Chemie im 19. Jahrhundert durch Begründung und Ausbau der Atomtheorie. Von E. v. Meyer. An¬
organische Chemie. Von C. En gl er und L. WÖhler. Organische Chemie. Von O. Wallach. Physikalische Chemie.
Von R. Luther und W. Nernst. Photochemie. Von R. Luther. Elektrochemie. Von M. Le Blanc. Be¬
ziehungen der Chemie zur Physiologie. Von A. Kos sei. Beziehungen der Chemie zum Ackerbau. Von fO. Kellner
und R. Immendorf. Wechselwirkungen zwischen der chemischen Forschung und der chemischen Technik. Von
O. N. Witt Allgemeine Kristallographie und Mineralogie. Von Fr. Rinne.
Astronomie. Redaktion von J. Hartmann. (Teil HI, Abt. HI, Bd. 3.) [Unter der Presse.]
Inhalt: Anfänge der Astronomie, Zusammenhang mit der Religion. Von F. Boll. Chronologie und Kalender¬
wesen. Von F. K. Ginzel. Zeitmessung. Von J. Hartmann. Astronomische Ortsbestimmung. Von L. Ambro nn.
Erweiterung des Raumbegriffs. Von A.v. F 1 otow. Mechanische Theorie des Planetensystems. Von J. v. Hepperger.
Physische Erforschung des Planetensystems. Von K. Gr aff. Die Physik der Sonne. Von E. Pringsheim. Die
Physik der Fixsterne. Von f F. W. Ristenpart. Das Sternsystem. Von H. Kobold. Beziehungen der Astronomie
zu Kunst und Technik. Von L. Ambronn.
A ll/ynm/iino PiAlnmo Redaktion von +C. Chun und W. Johannsen. Unter Mitarbeit von A.
Allgemeine DlOlOgie. Günthart. Mit 1x5 Abbildungen. [XI u. 691 S.] Lex.-8. 1914. (Teil HI,
Abt IV, Bd. x.) Geh. M. 21.—, geb. M. 23.—, in Halbfranz geb. M. 25.—
Inhalt: Zur Geschichte der Biologie von Linnfe bis Darwin. Von E. RadL Die Richtungen der biologischen
Forschung mit besonderer Berücksichtigung der zoologischen Forschuugsmethoden. Von A. Fischei. Die Unter¬
suchungsmethoden des Botanikers. Von O. Rosenberg. Zur Geschichte und Kritik des Begriffes der Homologie.
Von H. Spemann. Die Zweckmäßigkeit Von O. zur Strassen. Die allgemeinen Kennzeichen der organisierten
Substanz. Von W. Ostwald. Das Wesen des Lebens. Von W. Roux. Lebenslauf, Alter und Tod des Individuums.
Von W.Schleip. Protoplasma; Zellenbau, Elementarstruktur, Mikroorganismen, Urzeugung. Von +B. Lidforss.
Durch Licht verursachte Bewegungen der Chromatophoren. Von G. Senn. Mikrobiologie. Von M. Hartmann.
Entwicklungsmechanik tierischer Organismen. Von E. Laqueur. Regeneration der Tiere. Von H. Przibram.
Regeneration und T ranspiantation im Pflanzenreich. Von E. B a u r. Fortpflanzung im Tierreiche. Von E. Godlewski.
Fortpflanzung im Pflanzenreiche. Von P. Claußen. Periodizität im Leben der Pflanze. Von W. Johannsen. Glie¬
derung der Organismenwelt in Pflanze und Tier. Wechselbeziehungen zwischen Pflanze und Tier. Von O. Porsch.
Hydrobiologie (Skizze ihrer Methoden und Ergebnisse). Von P. BoysenJensen. Experimentelle Grundlagen der
Deszendenzlehre, Vererbung, Variabilität, Kreuzung, Mutation. Von W. Johannsen.
Abstammungslehre, Systematik, Paläontologie, Biogeographie-
Redaktion von R. Hertwig und R. v. Wettstein. Mit 112 Abbildungen* [X u. 61t S.] Lex.-8. 1913. (Teil IH,
Abt IV, Bd. a.) Geh. M. 20.—, in Leinwand geb. M. 22.—, in Halbfranz M. 24.—
Inhalt: Die Abstammungslehre. Von R. Hertwig. Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung
des Systemj der Tiere. Von L. Plate. Das System der Pflanzen. Von R. v. Wettstein. Biogeographic. Von
A. Brauer. Pflanzengeographie. Von A. Engler. Tiergeographie. Von A. Brauer. Paläontologie und Paldo-
zoologie. Von O. AbeL Paläobotanik. Von W. J. Jong raans. Phylogenie der Pflanzen. Von R. v. Wettste in.
Phylogenie der Wirbellosen. Von K. Hei der. Phylogenie der Wirbeltiere. Von J. E. V. Boas.
2., durchgesehene Aufl. [X u. 435 S # ] Lex.-8. 1908. (Teil I, Abt. VI.)
i illltJoVjpillC, Geh. M. xo.—, in Leinwand geb. M. 12. —, in Halbfranz geb. M. X4.—
1 Das Wesen der Philosophie: W. Dilthey. Die einzelnen Teilgebiete. I. Logik und
Systematische
Inhalt: Allgemeine
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•• ■ y*
Allgemeine Übersicht von Teil in der Kultur der Gegenwart
Die mathematischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Kultur¬
gebiete. [19 Bände.]
Lex.-8. Geheftet und in Leinwand gebunden. In Halbfrans gebunden jeder Band M. a.— mehr.
(* erschienen: I, x. I, a. 1 , 3. III, x. HI, a. IV, x. IV, a. IV, 4. VII, 1; + unter der Presse III, 3. IV, 3,1. V.
* 1 . Abt. Die math.Wissenschaften. (1 Band.)
Abteilungsleiter und Raudredakteur: F. Klein. Bearb.
von P. Stickel, H. E. Timerding, A. Voß, H. G. Zeuthen.
5Lfgn. Lex.-8. ♦LLfg. (Zeuthen). [IVU.95S.] 191a. Geh.
M. 3.— •H.Lfg. (Voß u. Timerding.) [Ivo. x6xS.j 1914.
Geh. M. 6.— *IIL Lfg. (Voß.) [VI u. 148 S.] 19x4.
Geh. M. 5.-
II. Abt. Die Vorgeschichte der modernen
N aturwissenschaften u. d. Medizin. (1 Band.)
Bandredakteure: J. Ilberg und K. Sudhoff. Bearb. von
F.Boll, S.Günther, LL. Hetberg, M.Hoefler, J. Ilberg,
E. Seidel, K. Sudhoff, K.Wiede iu ann u.a.
III. Abt. Anorgan. Naturwissenschaften.
Abteilungsleiter: E. Lecher.
♦Band 1. Physik. Bandredakteur: E. Warburg. Mit¬
arbeiter siehe umstehende Anzeige. Mit xo6 Abbild.
[XU.762S.] 1914. M. 22.—, M. 24.—
♦Band 2. Chemie, allgemeine Kristallographie
und Mineralogie. Baudredakteur: E. v. Meyer u.
Fr. Rinne. Mitarbeiter siehe umstehende Anzeige.
Mit S 3 Abb. [XIV u. 663 S.] 1911. M. x8.—, M. 20.—
fBana 3. Astronomie. Bandredakteur: J.Hartmann.
Mitarbeiter siehe umstehende Anzeige.
Band 4. Geonomie. Bandredakteure: f I.B.Messer¬
schmitt und H. Benndorf. Mit einer Einleitung von
F. R. Helmert. Bearbeitet von H. Benndorf, f G.H.
Darwin, O. Eggert, S. Finsterwalder, E. Kohlschütter,
H. Mache, A. Nippoldt.
Band 5. Geologie (einschließlich Petrographie).
Bandredakteur: A Rothpletz. Bearbeitet von A. Ber-
geat, J. Königsberger, A. Rothpletz.
Band 6. Physiogeographie. Bandredakteur: E.
Brückner, x. Hälfte: Allgemeine Physiogeographie.
Bearbeitet von E. Brückner, S. Finsterwalder, J. v.
Hann, f O. Krümmel, A. Merz, E. Oberhummer u. a.
2. Hälfte: Spezielle Physiogeographie. Bearbeitet von
E. Brückner, W. M. Davis u. a.
IV. Abt. Organische Naturwissenschaften.
Abteilungsleiter: R. v. Wertstem.
♦Band x. Allgemeine Biologie. Baadredakteure:
|C. Chun und W. Johannsen. Unter Mitwirkung von
A. Günthart Mitarbeiter siehe umstehende Anzeige.
Mit 1x5 Abb. [XI u. 691 S.] 1914. M. 21.—, M. 23.—
•Band 2. Zellen- und Gewebelehre, Morphologie
u. Entwicklungsgeschichte, x. Botanischer TeiL
Bandred.: f E. Strasburger. Bearb. von W. Benecke
und fE. Strasburger. Mit 135 Abb. [VI u. 328 S.]
19x3. M. xo.—, M.12.—. 2. Zoologischer Teil. Band¬
redakt.: O. Hertwig. Bearb. von E. Gaupp, K. Heider,
O. Hertwig, R. Hertwig, F. Keibel, H. Poll. Mit 413
Abb. [VI u. 538 S.] 19x3. M. 16.—, M. x8.—
Band 3. Physiologie u. Ökologie, fl. Botan.Teil.
Bandredakteur: G. Haberlandt. Bearbeitet v. E. Baur,
Fr. Czapek, H. v. Guttenberg. II. Zoolog. Teil.
Bandredakteur und Mitarbeiter noch unbestimmt.
•Band 4. Abstammungslehre, Systematik, Paläon¬
tologie, Biogeographie. Bandredakteure: R.
Hertwig und R. v. Wettstein. Mitarbeiter siehe um¬
stehende Anzeige. Mit 112 Abbildungen. [IX, 620 SJ
X914. M. 20.—, M. 22.—
fV. Abt. Anthropologie einschl. naturwissen-
schaftl. Ethnographie. (l Bd.) Bandredakteur:
G. Schwalbe. Bearb. von E. Fischer, R. F. Graobner,
M. Hoerues, Th. Mollison, A. Ploetz, G. Schwalbe.
VI. Abt. Die medizin. Wissenschaften.
Abteilungsleiter: Fr. v. Müller.
Band x. Die Geschichte der modernen Medizin.
Bandredakteur: K.Sudhoff. Bearb. von M.Neubörger,
K. Sudhoff n. a. Die Lehre von den Krankheiten.
Bandredakteur: W.His. Mitarbeiter noch unbestimmt.
Band 2. Die medizin. Spezialfächer. Bandredakt:
Fr. v. Müller. Bearbeitet von K. Bonhoeffer, E.Bumm,
A. Czerny, R. E. Gaupp, K. v. Hess, A. Hoche,
Fr. Kraus, W. v. Leube, L. Lichtheim, H. H. Meyer,
O. Minkowski, R. Müller, L. A. Ne iss er, W. Oder,
E. Payr, M. Wilma.
Band 3. Beziehungend. Medizin zum Volks wohl. <
Bandredakteur: M.v.Gruber. Mitarb. noch unbestimmt
VH. Abt. Naturphilosophic u. Psychologie.
Band x. Naturphilosophie. Baudredakteur: CStumpf.
Bearb. v. E. Becher. [XU.427S.] 1914. M. 14. —, M.16.—
*Band 2. Psychologie. Bandredakteur: C. Stumpf.
Bearbeitet von C. L. Morgan und C. Stumpf.
VIII. AbL Organisation der Forschung u. des
Unterrichts. (I Band.) Bandrodakteur:AG utzmer.
Bestellzettel.
Bei der Buchhandlung
bestellt der Unterzeichnete fest — zur Ansicht — aus
Die Kultur der Gegenwart. Herausgegeben von Professor PaulHinneberg.
(Verlag von B.G.Teubner in Leipzig und Berlin.)
Naturphilosophie (Teil in, Abt Vn, Bd. 1.) [X u.427 S.] Lex.-8.
1914. Geh. M. 14.—, in Leinw. geb. M. 16.—, in Halbfr. geb. M. 18.—
Ferner folgende Bände:
Teil I, Abt VI: Systematische Philosophie.
Geh. M. 10.— ♦)
Teil III, Abt 1 U, Bd. x: Physik. Geb. M. 22.—
Teil III, Abt IV, Bd. 1: Allgemeine Biologie.
Geh. M. 2I .-
Teil 1, Abt V: Allgemeine Geschichte der
Philosophie. Geh. M. 14.—
..Teil in, Abt. III, Bd. 2 : Chemie. Allgemeine
Kristallographie und Mineralogie. Geb.
M. 18.—
..Teil UI, Abt IV, Bd. 4: Abstammungslehre,
Systematik, Paläontologie, Biogeographie.
Geh. M. 20.—
Ort und Adresse:
Name und Stand:
♦) In Leinwand gebunden erhöht sich der Preis jedes Bandes um M. 2.—, in Halbfranz um M. 4.—
(Das Nichtgewünschte gefL durchzustreichen.)
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INDIANA UNfVERSITY
9
Hermann Degering, Französischer
ken Seite des Einganges gestanden
batte. St. Maria in Capitol büßte ein
Grabmal des heiligen Arnulphus, nach
anderen eines (Bischofs?) Adolphus, in
Mosaik ein, das angeblich aus dem
10 . Jahrhundert, nach einer erhaltenen
Zeichnung zu urteilen jedoch aus spä¬
terer Zeit (13. Jahrhundert), stammte.
Beim Ausbrechen ging es in Stücke,
die in den obengenannten Sarkophag
des Vitalis im Geyerschen Hause ge¬
packt wurden, um mit ihm zusammen
nach Paris verschickt zu werden. Ob
sie später allein nach dort geschafft
wurden, steht nicht fest, jedenfalls aber
sind sie verschwunden. Die Bibliothek
des Klosters St. Pantaleon wurde um 32
Bände Druckschriften und 2 Handschrif¬
ten beraubt, derenVerzeichnis im Berichte
enthalten ist Auch hier wird hervor-
gehoben, daß der Kommissar die Ab¬
gabe einer Quittung verweigerte. Das
Kloster St. Martin büßte dem Bericht
zufolge 10 Handschriften und circa
30 Druckwerke, meist Inkunabeln, ein.
Aus St Johann und Cordula wurde ein
Folioband mit den Briefen und Trak¬
taten des Hieronymus genommen. Die
Augustiner verloren ihren kostbaren
Blaeuschen Atlas in 16 (14?) Bänden mit
Goldpressung und eine Anzahl weite¬
rer wertvoller Drucke. Ein genaues Ver¬
zeichnis des Weggenommenen zu ge¬
ben, ward auch hier verweigert. Am
20. November wurden aus dem Karme¬
literkloster 16 ältere Drucke wegge-
nommen. Am bedeutendsten war neben
dem Raub aus der Jesuitenbibliothek
wohl der Verlust des Karthäuserklo-
sers, welches nach der Liste minde¬
stens 158 Werke, darunter etwa 35
Handschriften verlor. Auch hier wurde
die Abgabe einer Quittung verweigert
and die Anlage eines genauen Verzeich¬
nisses des Entführten seitens der Be¬
raubten unmöglich gemacht.
Kunstraub in Deutschland 1794—1807 1 0
Ich habe diese Dinge absichtlich et¬
was ausführlicher behandelt, um we¬
nigstens an diesen aktenmäßig beleg¬
baren Beispielen das brutale, jeglicher
Rechtsform hohnsprechende Verfahren
der Franzosen deutlich vor Augen treten
zu lassen.
Die Sammlungen des ehemaligen Je-
suitenkollegs, welche nach Aufhebung
des Ordens 1763 in den Besitz der Stadt
übergegangen waren, standen als öffent¬
liche, der Wissenschaft und Kunst die¬
nende Sammlungen unter völkerrecht¬
lichem Schutze und hätten, wie das
auch in den oben erwähnten Eingaben
an die Volksrepräsentanten und an den
Nationalkonvent mehrfach energisch be¬
tont wurde, nicht angetastet werden
dürfen. Die Wegnahme der Bibliothe¬
ken der Kirchen und Klöster und ihrer
Kunstschätze war aber gleichfalls eine
flagrante Verletzung des geltenden Völ¬
kerrechts, dessen Schutz sie als Pri¬
vateigentum beanspruchen durften. Die
Klöster waren nämlich zu der Zeit die¬
ser Beraubungen nicht nur nicht aufge¬
hoben (das geschah bekanntlich erst
1802), sondern nicht einmal in Zwangs¬
verwaltung genommen, sie bestanden
vielmehr in vollem Umfange zu Recht.
Das wird dadurch bestätigt, daß die
Franzosen selbst sie vermögensrecht¬
lich zu den Kriegskontributionen und
Einquartierungslasten in ganz erhebli¬
chem Maße heranzogen. Man muß
auch bedenken, daß die Franzosen 1794
zunächst noch gar nicht daran dach¬
ten, die Rheinprovinz dauernd zu be¬
setzen, da eine solche Besetzung einem
feierlich verkündeten Grundsätze ihrer
Verfassung widersprach. Diese ersten
Beraubungen können deshalb auch kei¬
neswegs als Verwaltungsmaßregeln an¬
gesehen werden, sondern nur als Macht¬
handlungen des Siegers, und als solche
haben die Kommissare und der Kon-
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INDIANA UNfVERSITY
11 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 1 2
vent sie auch selbst angesehen und
wiederholt bezeichnet.*)
Bei den meisten Kölner Klöstern
fehlte auch ein anderer Grund, der da¬
mals so gern den Franzosen als Vor¬
wand für Plünderungen dienen mußte,
nämlich der, daß sie von ihren Insas¬
sen verlassen und somit als Verlassen¬
schaft von Emigranten zu betrachten
seien. Als solches angeblich herren¬
loses Gut sind damals auch Hemd¬
schriften und Bücher aus dem Besitze
der Grafen von Blankenheim, der Met¬
ternich, der Gymnich und Belderbusch
in die Nationalbibliothek zu Paris ge¬
kommen. Auch die kurfürstliche Bi¬
bliothek im Schlosse zu Bonn wurde
unter diesem Vorwände geplündert,
und nicht nur der Bücher, sondern so¬
gar der Bücherschränke von rotem Ma¬
hagoniholze mit Goldverzierung be¬
raubt. Sie wurden auf zwölf Wagen
verladen und standen, wie ein Chro¬
nist in Bonn (Handschr. d. Stadtbibi,
zu Bonn) berichtet, längere Zeit am
Martinswall, ehe sie die Reise nach
Paris antraten.
Überhaupt waren die Kunsträube¬
reien der Franzosen von 1794—1807
nicht wie frühere derartige Handlungen
im Dreißigjährigen Kriege und in den
Kriegen Ludwigs XIV. rein militärische
Ausschreitungen, an denen es natürlich
auch damals nicht gefehlt hat, sondern
sie waren vielmehr ein wohlorganisier¬
tes, und was die Auswahl der ausfüh-
renden Personen, wie auch was deren
Ausrüstung und Instruktion anbetraf,
wohl vorbereitetes staatliches Unter¬
nehmen. Bereits die ersten Kommissare
2) Napoleon, der die völkerrechtliche An¬
fechtbarkeit dieses Vorgehens wohl erkannte,
gebrauchte deshalb die Vorsichtsmaßregel,
sich den Besitz der geraubten Kunstwerke
nachträglich durch besondere Paragraphen
der Friedensverträge zu sichern.
hatten sich, wie man leicht aus den
Dingen erkennen kann, die sie genom¬
men haben, in den älteren Reisewerken,
wie: Voyage des deux B6n6dictins und
Gerckens Reisen in Deutschland, und
anderen Beschreibungen der Kunst¬
werke und der Literalien genau unter¬
richtet, und wußten sehr genau Be¬
scheid darüber, was sie in den einzel¬
nen Klosterbibliotheken zu suchen hat¬
ten. Gelegentlich ließen sie sich durch
ihre Quellen wohl auch auf falsche Spu¬
ren leiten. So haben sie hartnäckig in
dem Franziskanerkloster zu Köln nach
Autographen des Joh. Duns Scotus ge¬
sucht und wollten daselbst durchaus
sein Grab öffnen, weil sie argwöhnten,
daß die Mönche dieselben darin ver¬
steckt hätten. Außerdem bekamen die
Kommissare aber auch von Paris aus
bestimmte Anweisungen, was sie suchen
sollten. Die Commission temporaire des
arts hatte aus ihrer Mitte einen beson¬
deren Ausschuß von vier Mitgliedern
gewählt, welcher die Aufgabe hatte,
alle Nachrichten über hervorragende
Kirnst- und Literaturschätze in den er¬
oberten und noch zu erobernden Ge¬
bieten zu sammeln und sie den ausge¬
sandten Kommissaren mitzuteilen. Auch
die Museen und Bibliotheken von Pa¬
ris machten auf Dinge aufmerksam, de¬
ren Erwerbung sie wünschten. Eine
solche Suchliste der Nationalbibliothek,
hat sich in der Universitätsbibliothek
Bonn gefunden.
Wenn wir aber die Namen derjeni¬
gen durchgehen, die von dem fran¬
zösischen Konvente bzw. später von
dem französischen Ministerium, erst
dem republikanischen, dann dem kai¬
serlichen, mit dieser Aufgabe betraut
worden sind, so finden wir darunter
Männer von hohem wissenschaftlichen
Ruf wie Andr6 Thouin, Mitglied des In¬
stituts und Professor am naturhisto-
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Original frum
INDIANA UNIVERSITY
13 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 1 4
rischen Museum, Faujas de St-Fond,
Professor der Geologie, Le Blond, dem
Leiter der nachmaligen Bibliothek Ma-
zarin, der sich durch verschiedene
Schriften über Münzen, Medaillen und
geschnittene Steine einen Namen ge¬
macht hatte, de Wailly, der als Sprach¬
forscher durch Schriften über die
deutsche und über die französische
Sprache bekannt war. Sein Buch über
die letztere war damals bereits in
zehn Auflagen erschienen. Unter den
späteren ist der Direktor der fran¬
zösischen Staatsarchive Arm. Gaston
Camus hervorzuheben, der beson¬
ders die Archive bereiste und über seine
Reise ein umfassendes Buch geschrie¬
ben hat, das auch ins Deutsche über¬
setzt ist Vor allem aber ist Vivant
Denon zu nennen. Denon, der einer
Adelsfamilie in Chälons-sur-Saöne ent¬
stammte, war unter dem an eien r&gime
zunächst einige Jahre in diplomatischen
Diensten in Petersburg und Neapel tä¬
tig, vertauschte dann aber das Hand¬
werk des Diplomaten mit dem des Ma¬
lers und Kupferstechers. Beim Aus¬
bruch der Revolution in Italien weilend,
wurde er auf die Liste der Emigranten
gesetzt und seiner Güter verlustig er¬
klärt. Die Fürsprache des Malers David,
der dem Wohlfahrtsausschüsse ange¬
hörte, rettete ihn, als er trotzdem nach
Frankreich zurückkehrte. Später wurde
er durch Josephine Beauhamais mit Na¬
poleon bekannt gemacht und begleitete
ihn auf der Expedition nach Ägypten.
Das große Prachtwerk über das Land
der Pharaonen, das noch heute zu den
geschätztesten Werken seiner Art zählt,
befestigte ihn in der Gunst Napoleons,
der ihm zwei Jahre nach der Rück¬
kehr aus Ägypten die Leitung der kai¬
serlichen Museen übertrug. In dieser
Stellung fiel ihm dann 1807 die Auf¬
gabe zu, die umfassenden Räubereien
in Berlin, Kassel, Wolfenbüttel und
Schwerin in Napoleons Aufträge aus¬
zuführen. Weniger bekannt als Ge¬
lehrte, aber darum nicht weniger un¬
heilvoll in ihrer Wirksamkeit als Kom¬
missare, sind Keil und Maug6rard ge¬
wesen; ersterer ein Deutscher, der es
bis zum öffentlichen Ankläger bei dem
republikanischen und kaiserlichen Ge¬
richte in Köln brachte, letzterer ein
ehemaliger Benediktiner aus Metz, der
seit 1792—1802 ständig in Deutschland
geweilt hatte, aber auch bereits vorher
viel in Deutschland gereist war und
hier mit Handschriften und Inkunabeln
einen lebhaften, nicht immer einwand¬
freien Handel getrieben hatte. Seiner
Bekanntschaft mit van Praet, dem Di¬
rektor der Druckschriftenabteilung der
Nationalbibliothek, verdankte er diese
Berufung als Raubkommissar seitens
der französischen Regierung. Van Praet
war auch zweifellos über die moralische
Unzuverlässigkeit Maugörards unterrich¬
tet, aber wir werden sehen, daß es mit
seiner eigenen durchaus nicht besser be¬
stellt war, so daß wir uns nicht wundem
dürfen, daß er daran keinen Anstoß nahm.
Sachlich war aber auch sicherlich kaum
jemand besser als Maug6rard ausge¬
rüstet, in den bereits zweimal von den
Franzosen ausgeplünderten Kirchen und
Klöstern den letzten Rest des Wertvollen
an Kunst- und Literaturschätzen her¬
auszusuchen, da er eben Übung und
Erfahrungen auf diesem Gebiete besaß,
wie kaum ein zweiter. Was Maug6rard
an Kunstschätzen genommen hat, ist
leider nicht im einzelnen festzustellen,
doch läßt z. B. der Umstand, daß er
Prümer Reliquien seinem Heimatorte
Auz6ville schenkte, vermuten, daß der
dazugehörige Reliquienschrein von ihm
einen anderen Weg gewiesen bekam;
auch die Entführung des Potentinus-
schreines aus Steinfeld wird wahr-
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Original frnm
INDIANA UNfVERSITY
15 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 1 6
scheinlich auf seine Rechnung gestellt
werden dürfen. Über die Bücher und
Handschriften, die er entführte, sind
wir aber ziemlich genau unterrichtet, da
uns der größte Teil seiner Quittungen
darüber erhalten ist. Diesen Quittungen
zufolge hat er aus Trier und Umge¬
bung, wo er vom 30. Oktober 1802 bis
Ende Juni 1803 weilte, eine große An¬
zahl von Handschriften und Inkunabeln
nach Paris geschickt. Es müssen 152
Handschriften und 254 Inkunabeln bzw.
andere seltene Bücher gewesen sein,
denn die uns erhaltenen Listen über
seine Sendungen aus Koblenz-Bonn,
Köln und Aachen setzen mit der Num¬
mer 153 bei den Handschriften und mit
der Nummer 255 bei den Büchern ein.
Der gesamte literarische Raub Maug6-
rards aus der Rheinprovinz belief sich
nach Ausweis der letzten, d.h. der Aache¬
ner Liste vom 9. Brum. An 12 (28. Okt.
1803), auf 644 Inkunabeln und 176 Hand¬
schriften. Hierzu kommen aber dann
noch 84 Handschriften aus Echternach,
die er am 26. Dezember 1803, d. h. also
nach der Abfassung der Aachener
(Roerdep.) Liste, in Luxemburg be¬
schlagnahmte und nach Paris sandte,
ferner 10 Werke (8 Inkunabeln und 2
Handschriften), welche ihm am 27. Ja¬
nuar 1804 aus der Bibliothek der Zen¬
tralschule in Köln ausgehändigt wer¬
den mußten, und eine Anzahl von Hand¬
schriften und Büchern, die er im Mai
1804 von Mainz aus nach Paris schickte.
Ein Irrtum Traubes und anderer ist es
aber, wenn sie annehmen, daß unter
dieser Mainzer Sendung die berühmte,
1815 nur durch einen glücklichen Zu¬
fall wieder zurückgewonnene Trierer
Adahandschrift gewesen sei. Diese war
nämlich bereits drei Jahre vorher mit
3 anderen Handschriften und 68 St.
Maximiner Urkunden aus Mainz, wo¬
hin sie von den Mönchen 1792 in Si¬
cherheit gebracht war, von Fischer, dem
Bibliothekar der Zentralschule, nach
Paris geschickt worden. Dieser hat,
um sich in Paris Liebkind zu machen,
mehr seine Aufgabe darin gesucht, die
ihm anvertraute Bibliothek ihrer grö߬
ten Schätze zugunsten der Pariser Na¬
tionalbibliothek zu berauben, als für
eine ordentliche Verwaltung und Ord¬
nung zu sorgen. Durch ihn ist auch
ein großer Teil der Pariser Gutenberg¬
sachen, wie z. B. die aus Mainzer
Einbänden ausgelösten Donatfragmen-
te, Medizinalkalender und Ablaßbriefe,
nach Paris gelangt.
Ein weiterer recht herber Verlust ist
deutschem Lande von Maugferard ver¬
ursacht durch die Übersendung von 15
außerordentlich kostbaren Handschrif¬
ten und 223 Drucken (jedoch ist es mög¬
lich, aber nicht wahrscheinlich, daß
diese Zahlen in die oben angegebenen
einzurechnen sind), die er aus Metz
im November 1802 3 ) nach Paris schik-
ken ließ, und die jetzt die prächtigsten
Stücke der Pariser Schausammlung
bilden.
Die Maugörardsche Brandschatzung
war die letzte, aber sicherlich nicht die
bedeutendste, welche die Rheinprovinz
über sich ergehen lassen mußte, um die
Pariser Bibliotheken und Museen mit
deutschem Gute zu bereichern; denn
zweifellos war die erste Plünderung von
1794/5 weit ergiebiger gewesen, und
insoweit hat Delisle 4 ) am Ende recht,
wenn er behauptet, daß der Erfolg von
Maug6rards Sendung nicht den Erwar¬
tungen entsprochen habe, die man in
Paris daran geknüpft hatte. Immerhin
war sie für die Rheinlande eine herbe.
3) So Delisle aus den Akten, während
Morteuil und nach ihm Traube fälschlich
1803 angeben.
4) L. Delisle, Le Cabinet des manuscrits
de la bibliothöque nationale II (1874) p. 35.
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17 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 18
Heimsuchung, welche die Präfekten
vergeblich abzuwenden, zu vereiteln
und zu hindern versuchten. In unmittel¬
barem Anschluß an diesen letzten Raub¬
zug für die Pariser Sammlungen er¬
folgte aber noch eine weitere; bedeu¬
tende Schädigung der Rheinprovinz an
ihren literarischen Gütern. Zur Vorbe¬
reitung der Maug6rardschen Sendung
hatte man nämlich die Reste der ausge-
plünderten Klöster und Kirchenbibliothe-
ken durch besondere Kommissare durch¬
sehen, inventarisieren und unter Siegel
legen lassen. Man hatte die Absicht,
das Wertvolle dieser Reste den Bi¬
bliotheken bei den Zentralschulen in
Koblenz, Bonn und Köln zu überweisen
und auch einige andere Bibliotheken
bei den Regierungsstellen damit zu be¬
gründen. Zur Ausführung dieser Ab¬
sicht ist es aber nur in ganz beschränk¬
tem Maße gekommen. Besonders ge¬
naues Material in dieser Hinsicht liegt
für das Roerdepartement vor. In die¬
sem Bezirk hat ein gewisser Schoene¬
beck, der zweiter Bibliothekar an der
Zentralschule in Köln war, die Be¬
stände verzeichnet und versiegelt, und
seine Berichte und Listen liegen vor.
Dieselben sind mit einer in Anbetracht
der Schnelligkeit und Umstände, unter
denen die Aufnahme vor sich gehen
mußte, erstaunlichen Sorgfalt und mit
guter Sachkenntnis gearbeitet. Was
Schoenebeck in 26 Kloster- und Kir¬
chenbibliotheken und -archiven, unter
denen die von Kalkar, Kamp, Kleve,
Gaesdonk, Gladbach, Marienbaum und
Xanten besonders reichhaltig waren,
verzeichnet hat beläuft sich auf 7883
Werke, darunter 337 Handschriften,
767 Inkunabeln und 74 Urkunden. Ehe
aber die Überführung dieser Reste,
nachdem aus ihnen noch Maug6rard
seine Auswahl für die Nationalbiblio¬
thek in Paris getroffen hatte, nach Köln,
von einigen wenigen Ausnahmen ab¬
gesehen, stattfinden konnte, wurde die
Bibliothek der Zentralschule in Köln
geschlossen und die Reste der Kloster¬
bibliotheken, die Schoenebeck für diese
Zentralschule versiegelt hatte, von
der Domänenverwaltung beschlagnahmt
und schnell verkauft. Ebenso ging es
mit den Klosterbibliotheken in Köln
selbst. Was davon meist mit dem Wal-
rafschen Nachlaß an die jetzige Stadt¬
bibliothek gekommen ist, sind ganz
kümmerliche Reste im Vergleich zu
dem, was einst vorhanden war und
verlorengegangen bzw. in alle Winde
zerstreut ist, namentlich an älteren
Druckwerken und Handschriften, denn
die Auswahl, welche in der Zeit von
1797 bis 1802 mit den übriggebliebenen
Resten der alten Jesuitenbibliothek ver¬
einigt wurde, hatte auf den historischen
und antiquarischen Wert der Bücher
wenig Rücksicht genommen, sondern
war nur nach dem ödesten Augenblicks-
nutzungswert für die mäßigen Ziele der
Zentralschulen geschehen. Und so
kommt es denn, daß die Stadtbibliothek
in Köln nur ganz geringe Trümmer des
Reichtums der alten Klosterbibliotheken
aus Köln und Umgebung aufweisen
kann und daß von den alten Hand-
schriftenbeständen dieser Klöster im hi¬
storischen Archive der Stadt nur ver¬
hältnismäßig recht wenig zu finden ist
So sind z. B. von dem Karthäuserklo¬
ster kaum 20 Handschriften dort, wäh¬
rend die Bibliothek des Klosters vor
ihrer Ausplünderung, wie aus dem hand¬
schriftlichen Kataloge von 1748 zu erse¬
hen ist, einen Besitzstand von fast 600
Handschriften aufwies, die nun in alle
Winde zerstreut sind. Ein großerTeil ge¬
rade dieser Klosterbibliothek ist später
durch das Lempertzsche Antiquariat ge¬
gangen und in die Hände des Marbur-
ger Professors L. van Eß gekommen.
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19 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 20
von ihm aber 1824 nach vergeblichen
Verhandlungen mit dem Ministerium in
Berlin Ober einen Ankauf für Bonn oder
Berlin an Sir Thomas Philipps in Chel-
tenham weiterverkauft worden. Von
dorther ist aber durch Ankauf auf den
Londoner Auktionen in den letzten Jah¬
ren eine Reihe von Stücken nach Berlin.
Bonn und Köln zurückgekommen. Mit
den anderen Klosterbibliotheken der
Stadt verhält es sich nicht viel anders.
Auch sie sind so gut wie vernichtet und
namentlich ihre Handschriften und In¬
kunabeln meist verschwunden. Von der
reichen Bibliothek von St. Martin, von
der Legipontius (Ziegelbauer), wie er
ausdrücklich hervorhebt, aus einer grö¬
ßeren Anzahl 162 Handschriftenbände
aufzählt, sind ca. 45 in der Stadtbi¬
bliothek, ein paar andere in der Pfarr-
bibliothek von St. Martin bzw. in dem
Priesterseminar zu Köln, die übrigen
sind, soweit sie nicht 1794 und 1803
nach Paris verschleppt sind, zerstreut
oder der Vernichtung anheimgefallen.
So geht es nun aber durch die ganze
Rheinprovinz hindurch, so in Aachen,
in Brauweiler, in München-Gladbach,
in Kamp, in Brühl, in Knechtsteden, in
Marienbaum, in Prüm, in Steinfeld, in
Koblenz, in Boppard, in Xanten und in
zahlreichen anderen Orten. Von nicht
weniger als 78 Klosterbibliotheken las¬
sen sich urkundliche Nachweise bei-
bringen, daß die Franzosen aus ihnen
literarische Schätze entführt haben.
Zweifellos sind aber noch mehr Orte
von ihnen heimgesucht worden, nur
schweigen eben die Akten. Was in
Bonn an Klosterbibliotheken vom Bi¬
bliothekar Krupp zusammengebracht und
im Schlosse aufgestellt war, davon hat
zuletzt Maugörard 33 meist Maria-Laa-
cher Handschriften und 37 Inkunabeln
ausgewählt und nach Paris geschickt,
von denen die Handschriften 1815 alle
zurückverlangt und auch zurückgekom¬
men sind, während die Inkunabeln meist
in Paris verblieben sind. Alles übrige
ist 1811, wie der oben erwähnte Bonner
Chronist berichtet, verauktioniert und
um ein Spottgeld an Hökerfrauen ver¬
kauft. Ihnen kaufte der Kölner Anti¬
quar Spieß die Sachen sofort wieder ab
und ließ sie nach Köln schaffen. Der
Chronik zufolge waren es. 14 Wagen
voll Bücher. In Koblenz ging es nicht
so schlimm. Was dort an Resten nach
Maugörards Auswahl, die 2 Handschrif¬
ten und 116 Inkunabeln umfaßte, ver¬
blieben war, ist 1818 an die Bonner Uni¬
versitätsbibliothek gekommen.
Verhältnismäßig am glimpflichsten
ist noch Trier davongekommen, ob¬
wohl natürlich auch dort mit der Zer¬
streuung großer Teile der Bibliotheken
der Abteien von St. Maximin und St
Martin, worüber wie über dem Ver¬
schwinden eines großen Teiles des Ar-
chives von St. Maximin und St. Paulin
ein mystisches Dunkel schwebt ein
ganz beträchtlicher Schaden durch
französische Schuld angerichtet ist
In betreff Triers liegen die Verhält¬
nisse überhaupt recht eigenartig. Nach
Morteuils bestimmten, genau datierten
(13 Floröal und 26 Flor. An XI) Anga¬
ben, die zweifellos auf Einsicht der Pa¬
riser Akten beruhen, sind aus Trier im
Mai 1803 von Maugörard 4 Kisten mit
Handschriften und Büchern an die Na¬
tionalbibliothek geschickt Das würde
eine ganz erhebliche Anzahl von Bän¬
den gewesen sein und könnte wohl den
obengenannten 152 Handschriften und
254 Inkunabeln entsprechen. Nun sind
aber 1814 von Trier aus durch Wytten-
bach, der zur Zeit der Maugörardschen
Beschlagnahmen in Trier bereits der
Bibliothek Vorstand, also darüber si¬
cherlich Bescheid wußte, immer nur
3 Handschriften für dieselbe reklamiert
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21 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 22
worden» von denen sie zu guter Letzt zu¬
sammen mit 368 Urkunden auch 2, d. h.
die Adahandschrift und die Ludlibur-
gensia von Wiltheim, wiedererhalten
hat, wahrend die aus Ehrenbreitstein
stammende Handschrift der Briefe des
Petrus de Vineis an die Königliche Bi¬
bliothek in Berlin gekommen ist. An¬
dererseits befinden sich aber auf der
Trierer Stadtbibliothek heute, wie man
aus ihren Katalogen und besonders aus
dem handschriftlichen von Wyttenbach
und Laven 1831 angefertigten Verzeich¬
nisse der Handschriften, von dem die
Königliche Bibliothek eine Abschrift be¬
sitzt, ersehen kann, eine größere An¬
zahl, wenn auch wohl kaum die statt¬
liche Zahl von 152 Handschriften (von
den Inkunabeln läßt sich leider eine
solche Feststellung nicht machen),die
den Stempel der Pariser Nationalbi¬
bliothek tragen, also einmal dort gewe¬
sen sein müssen. Es können das meines
Erachtens also nur die von Maug6rard
genommenen Handschriften sein, wel¬
che die französische Regierung wohl
auf Reklamation der Stadtverwaltung
zurückgegeben hat. Irgendwelche Ak¬
tenstücke haben sich freilich in Trier
darüber nicht ausfindig machen lassen.
Ober einen Präzedenzfall gegenüber den
Beschlagnahmungen des obengenann¬
ten Kommissars Keil, der im Jahre
1797 212 Werke aus der Bibliothek des
Kollegiums zu Trier ausgewählt hatte,
berichten Akten der Stadtbibliothek zu
Trier dahin, daß Keil seine Beute bis
auf 40 Druckwerke, die Wyttenbach
dann 1815 vergeblich reklamiert hat,
auf Anordnung des Ministers wieder
herausgeben mußte.
Es ist bemerkenswert, daß die wie¬
derholte Ausplünderung der Rheinpro¬
vinz durch die Sendboten des franzö¬
sischen Konvents, durch die Volksreprä¬
sentanten, durch die Kommissare des
Komitees des öffentlichen Unterrichts
und der Commission temporaire desarts
und wie sie sich sonst noch nennen moch¬
ten und schließlich durch die Agenten
des französischen Ministeriums in den
Kreisen der französischen Präfektur- und
Arrondissementsverwaltung der vier
Provinzen eine lebhafte Mißbilligung
fand, die sich in mannigfachen Vorstel¬
lungen und Reklamationen gegen die
Pariser Anordnungen geltend machte.
Übereinstimmend weisen Jean-Bon de
St-Andr6 in Mainz, Shee in Trier und
Mechin in Aachen darauf hin, .daß das
ständig wiederholte Wegführen von
Kunst- und Literaturschätzen aus ihren
Verwaltungsgebieten zu einem das gei¬
stige Leben, Kunst und Wissenschaft
schwer schädigenden Zustande daselbst
geführt hätten, für den sie zum Teil so¬
gar mit scharfen Worten ihrerseits jede
Verantwortung ablehnen. Wiederholt
wird von ihnen wenigstens ein Ersatz
für die Wegnahme der Handschriften
und Inkunabeln durch neuere Werke,
bzw. für die Kunstwerke durch Ab¬
güsse und Abbildungen gebeten. Zu
wiederholten Malen haben die Kolle¬
gien der Zentralschulen und anderer
Unterrichtsanstalten Wunschlisten zu
diesem Zwecke bearbeiten müssen. Nir¬
gends ist aber jemals ein derartiger
Ersatz wirklich von Paris aus geleistet
worden. Es wird in den erwähnten Re¬
klamationen der Präfekten mehrfach
darauf hinge wiesen, daß die Kommis¬
sare bei der Wegnahme wohl einen
solchen Ersatz versprochen hätten, daß
diese Versprechungen bisher aber stets
unerfüllt geblieben seien.
Mit der Sendung Mauggrards von 1803
und 1804 scheinen, wie gesagt, aus der
Rheinprovinz zum letzten Male literari¬
sche Schätze nach Paris gewandert zu
sein, und auch mit dem Wegführen von
Kunstschätzen ist es von da ab im
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23 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 24
großen und ganzen vorbei. Wenigstens
sind mir nur noch Akten über eine
Sammlung von Glasgemälden des 16.
Jahrhunderts in Köln, aus den nieder*
gerissenen Kirchen stammend, bekannt,
deren Übersendung • der französische
Minister durch ein Schreiben vom 6.
Therm. an 12 (25. Juli 1804) verfügt.
Die Versendung nach Paris scheint vom
Präfekten hintertrieben zu sein, aber
die Gläser sind trotzdem verschwunden.
Man darf nun aber nicht denken,
daß an den Resten, welche von den
Klosterbibliotheken nach 1804 noch üb¬
riggeblieben waren, nicht mehr viel zu
verlieren war. Um nur ein Beispiel her¬
auszugreifen, so ist in den Schoene-
beckschen Aufnahmen des Klosters Ma¬
rienbaum ein Exemplar der 42zeiligen
Bibel in 2 Bänden aufgeführt mit der
genauen Wiedergabe einer Schenkungs¬
eintragung, durch welche sich aus Sey-
mour de Ricd’s Katalog der Mainzer
Drucke feststellen läßt, daß sich dieses
Exemplar heute in einer amerikanischen
Bibliothek befindet. Nach Seymour de
Ried a. a. O. S. 33 ist es aber im
Februar 1814 in Paris aus dem Nach¬
laß von Pierre Henry Larcher zur Ver¬
steigerung gelangt. Wie ist es aber
nach Paris gelangt? Ist es glaublich,
daß ein Kenner wie Maug6rard, durch
dessen Hände so viele Gutenbergdrucke
gegangen sind, ein solches Stück über¬
sehen haben sollte, dessen Wert Schoe-
nebeck in seiner Liste ausdrücklich her¬
vorhebt? Ich möchte eher vermuten,
daß Maugörard das Werk unterschla¬
gen und seinerseits an Larcher ver¬
kauft hat. Nach den Kölner Akten hat
ihn Schoenebeck wegen solcher Dinge
(Verkauf von Handschriften, die er für
die BibliothCque Nationale beschlag¬
nahmt hatte, an den Baron Hübsch in
Köln) bei dem Präfekten Mechin ver¬
klagt, und auch an anderen Orten, wie
Mainz, Koblenz, Trier und Metz, hat
man ihn stets mit schlecht verhehl¬
tem, ja manchmal mit unverhohlenem
Mißtrauen und Argwohn empfangen
und behandelt. Eine Handschrift aus
Brühl (Trithemius Historia monasterii
Sponhemensis), die er nach seiner Quit¬
tung in Aachen als Msc. Nr. 164 für die
Bibliothöque Nationale beschlagnahmt
hat, ist nicht dorthin gekommen. Sie
ist 1842 von der Königlichen Bibliothek
in Berlin aus dem Lempertz(Heberle)-
schen Antiquariat in Köln erworben,
in dessen Lagerverzeichnisse Nr. VIII
sie im Anhang als Nr. 6 verzeichnet
steht. Maugörard hat sie also nicht
abgeliefert, denn an der Identität der
beiden Stücke ist gar kein Zweifel möglich.
Der Krieg 1806/7 hat dann den nord¬
deutschen Staaten neue große Verluste
an Kunstwerken und Literaturschätzen
gebracht. Sie erstreckten sich aber nicht
so wie die früheren Räubereien im
Rheinlande in die Breite. Wohl ist
manches Privateigentum und Kirchen¬
gut auch damals abhanden gekommen,
aber damit hat der französische Staat an
sich nichts zu tun; das sind Einzel¬
vergehen einzelner Personen, wie sie
wohl in jedem Kriege Vorkommen und
auch bei der strengsten Manneszucht
nicht völlig vermeidbar sind. Der Staat,
und das hieß damals Napoleon, nahm
nur im großen und vom öffentlichen
Staatseigentum bzw. vom Privateigen¬
tum der Fürsten, mit denen er im
Kriege stand oder, wie im Fall Hessen,
mit denen er im Kriegszustand zu sein
plötzlich für gut befand: hier aber auch
um so gründlicher. So beschränken sich
denn die damaligen Beraubungen im
ganzen und großen auf die fürstlichen
Sammlungen und Schlösser. Berlin,
Potsdam und Charlottenburg, Braun¬
schweig, Salzdahlum und Wolfenbüt¬
tel, Kassel und Wilhelmshöhe und end-
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25 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 26
lieh Schwerin wurden von Denon in
Napoleons Aufträge gründlichst aus¬
geplündert, andere Orte blieben ver¬
schont, und es sind nur Einzelheiten,
die außerdem weggeschleppt wurden,
wie die geflüchteten Kirchensilber von
Münster, Paderborn, Halberstadt und
Quedlinburg, die bei der Eroberung
von Magdeburg den Franzosen in die
Hände fielen, oder das Memlingsche
Bild aus Danzig und der Altar des
Krodo aus Goslar. Die Bibliotheken
blieben damals im allgemeinen unbe¬
rührt, mit Ausnahme von Wolfenbüt-
tel, das dafür freilich um so gründ¬
licher gebrandschatzt wurde und wo
es sich aber auch der Mühe lohnte. Die
Berliner Bibliothek, in der zu jener
Zeit noch nicht viele Seltenheiten zu
finden waren, blieb .unangetastet, eben¬
so Göttingen und Hannover; aus der
Kasseler Museumsbibliothek scheint,
nach einem Briefe Wilhelm Grimms zu
urteilen, auch Einiges genommen zu
sein, um dessen Wiedererlangung man
sich 1814 bemüht zu haben scheint;
aber Akten haben davon, abgesehen
von solchen über ziemlich belanglose
Entwen dringen französischer Baubeam¬
ten, nicht ermittelt werden können.
Was aus der Bibliothek im Schlosse
Wilhelmshöhe genommen war, scheint
1814 zurückgebracht zu sein. Sonst
sind an Büchern und Handschriften
nur ein paar Stücke aus Potsdam und
Charlottenburg genommen und aus den
Stadtbibliotheken zu Elbing und Danzig.
Die Stadt(Gymnasial)bibliothek in Thom,
die nach der Schlacht bei Eylau schleu¬
nigst zu Lazarettzwecken ausgeräumt
werden mußte, verlor bei dieser Gele¬
genheit einige hundert Werke, von de¬
nen einige seltene Polonica nach Paris
gekommen zu sein scheinen.
Der Raub an Kunstwerken war aber
dafür um so bedeutender. Wir sind
aber diesen Räubereien gegenüber in
einer besseren Lage als bei den rheini¬
schen Sachen, denn hierbei ging alles,
von Kleinigkeiten, welche französische
Generale und ihre Bedienung privatim
nahmen, abgesehen, in einer gewissen
Ordnung und unter Abgabe von Quit¬
tungen vor sich. Die Quittungen sind
alle noch wohlerhalten und geben uns
über die wesentlichen Stücke genaue
Auskunft und haben sie gegeben, als
man sich 1814 und 1815 um ihre Rück¬
gabe bemühte. Daher ist denn auch
von diesen Sachen, wenigstens was
das alte Königreich Preußen anbe¬
trifft, das meiste 1814 und 1815 zurück-
erlangt. Aber Hessen und Braunschweig
haben ganz erhebliche Einbußen an
Kunstsachen, besonders an Gemälden,
erlitten.
II.
Ich wende mich nun zu den Rückfor¬
derungen dieser entführten Kunst- und
Literaturschätze in den Jahren 1814/15
und 1815/16 und ihren Erfolgen.
Bereits unmittelbar, nachdem aus den
Rheinlanden die Raubkommissare 1794
ihre Beute weggeschleppt hatten, ja
zum Teil noch bevor diese ihren Weg
nach Paris angetreten hatte, bemüh¬
ten sich die betroffenen Städte, wie
Aachen und Köln, in Paris bei dem
Konvente und bei den Ministerien, die¬
jenigen Dinge zurückzuerhalten, auf
welche die Volksmeinung den größten
Wert legte. So versuchte Köln, das
Rubensbild, die Sammlungen der Je¬
suiten an Kupferstichen, Münzen, Na¬
turalien und Handschriften und die al¬
ten Geschütze und Waffen sowie die
römischen Grabsteine aus dem Arsenal
zurückzuerlangen. Diese Bemühungen
waren aber vergeblich. Einige echt
französische Phrasen waren, wie ge¬
sagt, däs einzige, was die Abgesandten
der Stadt aus dem Konvente mit heim-
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27 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 28
brachten. Spätere Versuche beim Be¬
such des Kaisers Napoleon in Köln,
wenigstens das Rubensbild wiederzu¬
erhalten, scheiterten an Denons Wider¬
stände. In Aachen hatte man dagegen
einen kleinen Erfolg, indem man eine
Brunnenfigur Karls des Großen und
eine Holzfigur, die angeblich ebenfalls
Karl den Großen darstellte und früher
in den Prozessionen mitgeführt war,
zurückerhielt. Die Säulen und sonsti¬
gen Kunstgegenstände vom Dom, wie
den Pinienzapfen, die Bärin und den
Proserpinasaricophag, die Bilder von
Rubens und Diepenbeck aus der Fran¬
ziskaner- und Kapuzinerkirche, die Ur¬
kunden und Handschriften des Stadt¬
archivs reklamierte man vergeblich.
Von 140 Urkunden, welche der Staats-
archivar Camus 1802 auswählte und
Maug6rard 1803 beschlagnahmte, wur¬
den aber 51 auf die Reklamation der
Stadt in Aadhen belassen. Trier hatte
bereits 1796 einen Erfolg, indem Keil
vom Ministerium in Paris angewiesen
wurde, unter 212 Werken, die er aus
der Bibliothek der Trierer Zentralschule
ausgewählt und für die Biblioth&que
Nationale bestimmt hatte, eine engere
Auswahl zu treffen, die seinen Raub auf
40 Werke ermäßigte. Auch von den von
Maug6rard in Trier weggenommenen
Handschriften und Inkunabeln scheint
wenigstens ein Teil, wie wir bereits
oben erwähnt haben, aus Paris auf Re¬
klamation zurückgegeben zu sein. Das
sind aber nur Kleinigkeiten gegenüber
dem, was alles 1794—1804 aus den
Rheinlanden weggenommen ist.
Von dem, weis in den Kriegsjahren
1806/1807 aus den norddeutschen Staa¬
ten entführt worden ist, ist natürlich
vor 1814 kaum eine Reklamation mög¬
lich gewesen. Nur die Königliche Aka¬
demie der Wissenschaften machte unter
A.v. Humboldts Vermittlung gleich 1807
vergeblich den Versuch, die ihr ge¬
nommenen Kupferplatten für den Druck
von Landkarten, auf deren Erlös ein
Teil ihrer Einnahmen beruhte, wieder
zurückzuerhalten. Jedoch erreichte Hum¬
boldt bei dieser Gelegenheit das Ver¬
sprechen, daß von den weggenomme¬
nen Berliner Antiken Gipsabgüsse an¬
gefertigt und als Ersatz gegeben wer¬
den sollten. Diese Gipsabgüsse fanden
sidi 1814 auf der Gesandtschaft in Paris
vor, und sie sind 1815 mit anderen bei
Getti in Paris neu bestellten Gipsabgüs¬
sen an die Düsseldorfer Kunstakademie
gelangt
In Preußen hat man aber bereits so¬
fort 1807 an die Möglichkeit gedacht,
dereinst den Franzosen den Raub wie¬
der abzunehmen. Wie der Oberpräsi¬
dent der Rheinprovinzen von Sack in
Aachen 1814 an Blücher in Paris schrieb,
hat er bereits im Jahre 1807 auf Grund
von Denonschen Quittungen und der
Zeugenaussagen der Schloßverwalter
einen genauen Bericht über die Vor¬
gänge und eine Liste ausarbeiten las¬
sen, auf welche er für die zu erwarten¬
den Reklamationen verweist.
Den Anstoß zu den preußischen Rück¬
forderungen gab eine Notiz der Haude
und Spenerschen Zeitung vom 6. Fe¬
bruar 1814, worin aus Wien gemeldet
wurde, daß man dort eine Liste dessen
zusammenstellte, was die Franzos«!
1805—1809 aus österreichischen Län¬
dern an Kunstsachen fortgeschleppt
hätten, um sie zurückzufordern. Der
Staatsrat Uhden schlug daraufhin in
einem Bericht vom 14. Februar vor,
in gleicher Weise Listen der geraubten
preußischen Kunstgegenstände aufzu¬
stellen und beim Staatskanzler Fürsten
von Hardenberg die Zurückforderung
dieser Sachen zu beantragen. Ehe diese
Listen fertig sein konnten, reichte der
königliche Bauinspektor Prof. Rabe am
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Original frum
INDIANA UNIVERSITY
29 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 30
23. Februar eine außerordentlich sorg¬
fältig gearbeitete Denkschrift über die
französischen Räubereien aus Preußen
ein, in welcher die vollständigen Listen
der entführten Kunstschätze mit ihren
alter Inventamummem, mit Verweisen
auf die Puhlmannschen Kataloge, mit
den Nummern der Denonschen Quittun¬
gen sowie mit denen des französischen
Ausstellungskataloges von 1807 enthal¬
ten waren. Diese Denkschrift trägt das
Datum vom 12. Februar 1814.
Auch im Hauptquartier der Armee und
in der Umgebung des Königs hatte man
sich inzwischen bereits mit demGedanken
beschäftigt, die geraubten Kunstschätze
zurückzufordem. Der König selbst hatte
dem Maler Temite, welcher als freiwil-
ger Offizier im Heere stand, wie aus
einem Briefe desselben an den Fürsten
von Hardenberg hervorgeht, das Ver¬
sprechen gegeben, ihn beim günstigen
Ausgange des Krieges bei der Zurück¬
nahme des Raubes zu beschäftigen. Und
tatsächlich wurde Temite auch gleich
nach dem Einzuge in Paris von seinen
militärischen Diensten entbunden, um
für diese Aufgabe frei zu sein. Die
Ausführung sollte jedoch bis zu Har¬
denbergs Ankunft in Paris verschoben
werden. Inzwischen erhielt er aber die
Listen, vermutlich die Abschriften der
Denonschen Quittungen, ausgehändigt,
um auf Grund derselben den Verbleib
der Stücke in Paris festzustellen. Ne¬
ben ihm war noch zugleich der Maler
PhQipp Franck in derselben Weise tä¬
tig. der gleichfalls einen Katalog der
entwendeten Kunstgegenstände in den
Händen hatte, und zwar scheint das der
obenerwähnte, im Aufträge von Sack
gleich im Jahre 1807 angefertigte Be¬
richt gewesen zu sein. Von Berlin aus
wurden als Kommissare am 21. April
von seiten des Ministeriums des Innern
der Bibliothekar und Vorsteher der Kö¬
niglichen Kunstkammer, Prediger Henry,
und von seiten des Hofmarschallamts
der Hofrat Bußler nach Paris geschickt.
Sie trafen dort in der ersten Maiwoche
ein, von Hardenberg, der seinerseits am
30. April in Paris angelangt war, bereits
mit Ungeduld erwartet. Ihnen waren
bei ihrer Abreise die im Ministerium
bearbeiteten Listen und vermutlich auch
die Originalquittungen Denons und die
übrigen offiziellen aktenmäßigen Be¬
lege mitgegeben worden; die aus dem
Rabeschen Berichte ausgezogenen Listen
wurden ihnen am 27. April nach Paris
nachgeschickt. Somit war alles für die
Zurücknahme der 1807 geraubten
Sachen, denn nur um diese handelte es
sich natürlich zunächst, aufs beste vor¬
bereitet, aber nun beging man einen
verhängnisvollen Fehler. Statt zu han¬
deln, ließ man sich, wie Henry klagend
an den Minister von Schuckmann in
Berlin schrieb, auf Unterhandlungen
ein. Das Richtigste würde, wie der fran¬
zösische Minister von Blacas selbst ein¬
mal in einem Briefe an den preußi¬
schen Gesandten von der Goltz be¬
merkte, gewesen sein, gleich nach der
Einnahme von Paris mit dem Recht
des Siegers genügende Faustpfänder
genommen und die Rückgabe des Ge¬
raubten ohne Einschränkung als Frie-
densbedingung gefordert zu haben.
Statt dessen hatte der König Friedrich
Wilhelm persönlich mit dem Könige
Ludwig XVIII. verhandelt und von ihm
das Versprechen erhalten» die ihm ge¬
nommenen Kunstschätze zurückgeben
zu lassen, und im Vertrauen auf dieses
Versprechen, erhielten nun die preußi¬
schen Kommissare die Weisung, bei
den Verhandlungen mit den französi¬
schen Behörden möglichst schonend
und rücksichtsvoll vorzugehen. Damit
war aber schon von vornherein alles
verdorben, denn dadurch waren unsem
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Unterhändlern gegenüber den Franzo¬
sen die Hände gebunden, so daß diese
in ihrer Überhebung bald so weit gin¬
gen, ihrerseits das Maß dessen bestim¬
men zu wollen, was Preußen zurück¬
verlangen dürfe, und das Zurückzuge¬
bende als ein Geschenk des franzö¬
sischen Königs an den König von Preu¬
ßen zu bezeichnen. Auch ließen sie es
nicht an dem nötigen Geschrei über die
barbarische Zerstörung ihrer angeblich
mit dem Blute französischer Landes¬
kinder so teuer erkauften Sammlungen
fehlen, das leider nur allzu eindring¬
liche Wirkungen auf unsere politischen
Führer ausübte und sie von energische¬
rer Vertretung der berechtigten Forde¬
rung abhielt. Das Schlußergebnis war
ein von französischer Seite vorgeschla¬
gener Vergleich, auf den einzugehen
von der Goltz vom Staatskanzler Har¬
denberg von Wien aus angewiesen
wurde, der aber von der preußischen
Regierung nie offiziell anerkannt wor¬
denist. Hardenburg belobt den Ge¬
sandten von der Goltz in einem Briefe
vom 4. März 1815 aus Wien ausdrück¬
lich im Namen des Königs dafür, daß
er die offizielle Anerkennung desselben
in dem Schriftwechsel mit dem franzö¬
sischen Minister so geschickt vermie¬
den habe. Nach diesem Abkommen, das
in den späteren Akten als die Wiener
Konvention bezeichnet wird, sollten alle
die Stücke an Preußen zurückgegeben
werden, welche in öffentlichen Samm¬
lungen noch nicht aufgestellt seien,
während diejenigen, welche bereits ein¬
gereiht und in den dem Publikum zu¬
gänglichen Räumen öffentlicher Samm¬
lungen ausgestellt seien, dem französi¬
schen Staate belassen werden sollten.
Als Grund dafür, daß man preußischer-
seits auf dieses schwächliche, man
möchte fast sagen schmähliche Abkom¬
men schließlich stillschweigend und in
der Hoffnung, bei günstigerer Gelegen¬
heit die Ansprüche auf das übrige wie¬
der geltend machen zu können, einging,
hat erstens der Wunsch zu gelten, das
zurückgeführte Königtum nicht durch
Maßregeln, welche möglicherweise eine
Verletzung der französischen National¬
eitelkeit zur Folge haben könnten, in
irgendwelche eine gedeihliche Entwick¬
lung der neuen Staatsordnung hin¬
dernde Schwierigkeiten zu bringen, an¬
dererseits aber auch der Umstand, daß
man bei offener Weigerung, den fran¬
zösischen Vorschlag anzuerkennen, Ge¬
fahr lief, trotz des königlichen Ver¬
sprechens, infolge der Machenschaften
des Ministers von Blacas und des Mu¬
seumsdirektors Denon überhaupt nichts
zurückzuerhalten, nachdem man die
günstigen Tage der militärischen Okku¬
pation im Vertrauen auf ein französi¬
sches Königsrwort hatte ungenützt ver¬
streichen lassen. So bedauerlich schlie߬
lich dieses Abkommen aber auch war,
das den preußischen Staat um unge¬
fähr zwei Drittel, und zwar um die
besten Stücke, der ihm 1807 genomme¬
nen Schätze vermutlich unwiederbring¬
lich gebracht haben würde, so hätte
man sich dabei beruhigen müssen und
können, wenn die Franzosen nun ihrer¬
seits wenigstens die durch dasselbe
übernommenen Pflichten ehrlich und,
soweit es möglich war, rückhaltlos er¬
füllt hätten. Das ist aber, wir können
mit Recht sagen, glücklicherweise, nicht
der Fall gewesen, sondern die Franzo¬
sen haben mit allen möglichen und er¬
denkbaren Lügen und Kniffen daran
gearbeitet, auch von den nach diesem
ihrem eigenen Vorschläge unzweifel¬
haft doch herauszugebenden Stücken
noch so viel als nur irgend möglich den
verhaßten Preußen zu entziehen. Die
Berichte und Briefe, welche Henry ln
dieser Angelegenheit nach Berlin an
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33 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 34
Schuckmann schrieb, lassen uns einen
Einblick tun in den Tiefstand franzö¬
sischer Moral; scheut sich doch selbst
der Minister de Blacas nicht, um dem
Museumsdirektor Denon Zeit zum
Verschwindenlassen von reklamierten
Sachen, bzw. zur Überführung von an¬
deren aus den Depots in öffentlich zu¬
gängliche Räume zu verschaffen, den
Empfang amtlich zugestellter Schrift¬
stücke abzuleugnen, was ihm dann auch
der preußische Gesandte von der Goltz
ziemlich unverblümt unter die Nase
reibt Ich kann hier natürlich nicht wei¬
ter auf Einzelheiten eingehen, ich will
aber nur bemerken, daß selbst die heu¬
tige französische Forschung (E. Muntz,
Ch. Saunier, E. Ferrand) offen zuge¬
steht daß die französischen Behörden
und namentlich Denon, Lavalley, von
Praet und Langläs 1814 und auch 1815
mit Lüge und Betrug gearbeitet haben,
um den Erfolg der berechtigten Rekla¬
mationen zu hintertreiben. Weit ent¬
fernt aber, ihnen daraus einen Vorwurf
zu machen, versuchen sie vielmehr,
ihnen eine Gloriole daraus zu weben,
und machen sich dadurch also zu ihren
Mitschuldigen. Das Ergebnis der Re¬
klamationen von 1814 war denn auch
ein geradezu klägliches für uns. Von
28 antiken Statuen aus Berlin und Pots¬
dam wurden 15, von 56 antiken Büsten
und Reliefs 6 , von 7 neueren Bildwer¬
ken 3, von 123 Gemälden 41, von 15
Handschriften 3 zurückgegeben, von
den Münzen, Medaillen und geschnitte¬
nen Steinen fehlten ganze Serien und
überall gerade die besten Stücke. In
einem Bericht vom 12. März 1815 be¬
zeichnet Henry das Zurückgekommene
als kaum den dritten Teil des Geraub¬
ten und des gemäß der Wiener Kon¬
vention Zurückzugebenden. Von den
rheinischen Altertümern, Kunstschätzen
und Handschriften war kaum die Rede
Internationale Monatsschrift
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gewesen, geschweige denn etwas zu¬
rückgegeben. Kassel erhielt 1814 so gut
wie nichts zurück. Braunschweig bekam
85 Gemälde, 42 Vasen, Basreliefs usw.,
174 Limousiner Emailwerke, 980 Va¬
sen, 12 Holzskulpturen und 9 andere
Stücke zu rüde. Die Wolfenbütteler
Handschriften blieben dagegen damals
in Paris, ebenso eine große Anzahl von Ge¬
mälden aus dem Salzdahlumer Schlosse.
Während aber in bezug auf die
1806/1807 entführten Kunstsachen die
Schuld der mangelhaften, völlig un¬
genügenden Ausführung der für die
Franzosen so vorteilhaften Wiener Kon¬
vention einzig und allein der Untreue
und Vertragsbrüchigkeit der Franzosen
zuzuschreiben ist, liegt in Hinsicht
der rheinischen 1794 bis 1804 entführ¬
ten Gegenstände ein großer Teil der
Schuld auf unserer Seite wegen der
mangelhaften Vorbereitung dieser Re¬
klamationen. Zwar hatte der Oberpräsi¬
dent von Sack auch im Rheinlande dazu
angeregt, aber seine Forderungen er¬
streckten sich nicht weiter als auf die
bekanntesten Stücke; wie das Rubens¬
bild und die Jesuitensammlungen, die
Aachener Säulen und drei Bilder eben¬
da, d. h. also Dinge, die man in den
Akten über die früheren Reklamationen
zu französischer Zeit vorfand. Die
Rückgabe der meisten von diesen Sachen
fiel aber nach der Wiener Konvention
weg, da sie im Louvre und anderen
öffentlichen Sammlungen eingereiht
und aufgestellt waren, und so verblie¬
ben sie damals noch in Paris. Von den
Büchern und Handschriften, die in so
großer Anzahl aus dem Rheinlande
weggenommen waren, scheint 1814
überhaupt nicht die Rede gewesen zu
sein, wenigstens enthalten die Akten
darüber keinerlei Angaben. Weitere
Verhandlungen, die der Gesandte von
der Goltz mit den französischen Behör-
2
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35 Hermann Degenng, Französischer Kunstraub ln Deutschland 1794—1807 35
den führte, die aber seit Henrys Heim¬
reise im Anfang Oktober 1814 allmäh¬
lich mehr und mehr resultatlos im
Sande verliefen, unterbrach die Rück¬
kunft Napoleons und der neue Krieg.
Zweifellos hatte die französische Re¬
gierung, wie Henry sofort, als die
neuen Siege und die zweite Einnahme
von Paris die erfolgreiche Wiederauf¬
nahme unserer Forderungen ermöglich¬
ten, in einem Bericht vom 8. Juli her¬
vorhob, die für sie so günstige Wiener
Konvention in der schmählichsten
Weise durch Lüge und Betrug ge¬
brochen und uns dadurch, auch ganz
abgesehen davon, daß preußischerseits,
wie wir oben gesehen haben, nie der
Verzicht auf die ausgestellten Kunst¬
sachen anerkannt war, und daß durch
die Erneuerung des Krieges überhaupt
neue Rechtsverhältnisse geschaffen
worden waren, einen unzweifelhaften
Rechtsgrund für die Erneuerung unse¬
rer Forderungen in vollem Umfang an
die Hand gegeben. Auch hatte sich in
den höchsten Kreisen nunmehr infolge
der Erfahrungen, die man in den vor¬
jährigen Verhandlungen mit der Taktik
der Franzosen gemacht hatte, die Über¬
zeugung durchgesetzt (leider hielt sie
nicht lange vor!), daß man mit ihnen
am besten verfahren würde, wenn man
scharf und energisch Zugriffe und ihnen
zu dem Ränkespiel diplomatischerVer-
handlungen keine neue Gelegenheit
gebe. In diesem Sinne beauftragten
Blücher und Gneisenau dann auch den
Generalintendanten der Armee v.Rib-
bentrop mit der Leitung der neuen Re¬
klamationen und gaben ihm neben den
schon im Vorjahr mit diesen beschäf¬
tigten Sekretären Schütz, Schober und
Jacobi einen energischen Helfer in der
Persern des Volontäroffiziers Eberhard
von Groote, einem Sohne des Rhein¬
landes und der Stadt Köln, der nun
mit vollem Eifer daran ging, seiner
Heimat das entrissene Gut wiederzu¬
gewinnen. Das Rubensbild seinerVater-
stadt war das erste Stück, das er de»
Diebesklauen der Franzosen entriß, zu¬
gleich mit einer Reihe von Bildern»
Statuen, Büsten und Antiquitäten aus
Berlin und Potsdam, die im Louvre
ausgestellt waren und deshalb 1814
nicht hatten genommen werden kön¬
nen. Verschleppungsversuche Denons
wurden mit militärischer Exekution ab¬
gewehrt und ihm bei weiteren derarti¬
gen Versuchen Internierung auf der
Festung Graudenz in Aussicht gestellt.
So ging zunächst alles schnell und glatt
vor sich, und es bestand die begrün¬
detste Aussicht, so gut wie restlos allen
Kunstraub, wenigstens soweit er nach¬
weisbar war, zurückzuerhalten. Ein
Fehler war es aber bereits damals, sieb
mit den Franzosen wieder insoweit in
Verhandlungen einzulassen, als man
auf Erörterungen über die Rechtmäßig¬
keit erhobener Forderungen im einzel¬
nen einging und dabei grundsätzlich zu¬
gestand, daß der Nachweis der Forde¬
rungsberechtigung unsererseits geliefert
werden müsse. Richtiger und wirksamer
wäre es dagegen gewesen, den Franzo¬
sen, welche durch ihre materiell und
formell gesetzlosen Räubereien einen
solchen Nachweis unsererseits vielfach
unmöglich gemacht hatten, in den Fäl¬
len, wo sie glaubten, unsere Forde¬
rungen mit Recht anfechten zu kön¬
nen, die Pflicht des Nachweises recht¬
mäßiger Erwerbung der Gegenstände
dieser Forderungen aufzuerlegen. Außer¬
dem kam man dadurch sofort wieder
zum Unterhandeln und gab damit den
Franzosen wieder Gelegenheit, ihre ver¬
logene Diplomatenkunst in Anwendung
zu bringen.
Leider sollte ihnen recht bald ein
außerordentlicher Erfolg auf diesem
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37 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 33
Gebiete beschieden sein. Als es sich
nämlich darum handelte, die aus
dem Aachener Dome ausgebrochenen,
nach Paris geschleppten antiken Por¬
phyr-, Granit' und Marmorsäulen
zurückzimehmen, versuchte Denon zu¬
nächst, die Berechtigung Preußens zu
dieser Forderung mit dem Einwande in
Zweifel zu stellen, daß die Wegfüh-
rang vor 20 Jahren geschehen sei,
während Aachen erst seit drei Monaten
zu Preußen gehöre. Als er damit kein
GlOck hatte, schob er Arbeitermangel
vor, bis Ribbentrop der Geduldsfaden
riß und er ihm schriftlich androhte, die
Säulen, von denen acht Stück in dem
sogenannten Apollosaale eingebaut wa¬
ren, durch preußische Pioniere wegneh¬
men zu lassen. Nun wandte sich De¬
non in einem Immediatgesuche unter
Vermittlung von Alexander von Hum¬
boldt an den König von Preußen. Er
stellte in seinem Gesuche dem/ Könige
die Sache so dar, als ob den Franzosen
und ihrem Könige wer weiß welches
Unrecht damit geschähe, daß man die
Säulen wieder nehmen wollte, und als
ob bei dem Ausbrechen derselben aus
der Galerie des Apollo das Louvre in
Einsturzgefahr und womöglich der fran¬
zösische König in Lebensgefahr gera¬
ten würde. In echt französischer Gei¬
stesverfassung verband er mit seinen
Lamentationen auch noch einige perfide
Beschuldigungen gegen E. v. Groote,
der ihm offenbar in seiner energischen
Art der gefährlichste Gegner dünkte,
and versuchte, ihn unter geflissentlich
eingestreuten Lobeserhebungen für den
Heim Schober, einen anderen der Kom¬
missare, beim Könige in Mißkredit zu
bringen. Damit hatte er nun freilich
weniger Glück, sondern er zog sich da¬
mit nur von Schober und Groote ein
paar Briefe zu, die an Deutlichkeit
nichts zu wünschen übrigließen; aber
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in der Sache selbst verfügte der König,
daß man sich mit zehn Säulen begnü¬
gen sollte, die von denen ausgewählt
werden sollten, die nicht in dem Louvre
eingebaut seien. Diese königliche Ent¬
scheidung erregte bei den Kommissaren
und den übrigen Beteiligten-einen leb¬
haften Protest Groote wandte sich
brieflich an den Oberpräsidenten von
Sack in Aachen und, wie es scheint,
auch anGörres; auch Benzenberg spitzte
die Feder, und so gab es in den rhei¬
nischen Blättern, vor allem im Rheini¬
schen Merkur, einen lebhaften Gedan¬
kenaustausch, bei dem namentlich
Alexander von Humboldt manches harte,
nicht unverdiente Wort zu hören bekam.
Gestützt auf diese Preßfehde, ge¬
lang es Ribbentrop, die königliche Ent¬
scheidung hinsichtlich der Aachener
Säulen wenigstens dahin umzuändern,
daß alle nicht eingebauten, statt 10 also
28 Säulen zurückgefordert und zurück¬
gegeben wurden. Immerhin ist auch
diese Schonung der Eitelkeit der Fran¬
zosen, die sich doch ihrerseits nicht ge¬
scheut hatten, den altehrwürdigen Bau
des Kaisers Karl durch das Ausbrechen
der Säulen zu zerstören, eine bedauer¬
liche Schwäche gewesen, die nur dazu
gedient hat, die Franzosen zu weiteren
Ränken und Listen zu ermutigen. Zu¬
nächst behielt man so gut wie alle zu
den Säulen zugehörigen Basen und Ka¬
pitelle zurück, und als man sie heraus¬
gab, wußte man in vielen Fällen wert¬
lose und ganz wo anders herstammende
Stücke an Stelle der echten unterzuschie¬
ben. ein Betrug, welcher anscheinend
bei der Restauration des Aachener Do¬
mes in den vierziger Jahren des vori¬
gen Jahrhunderts ganz in Vergessenheit
geraten war.
Auch sonst begann nun, nachdem
man einmal beim Verhandeln wieder
an gelangt war, das alte Spiel von
2 *
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39 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 40
neuem. Namentlich die Kämpfe um die
Bilder der Kasseler Galerie, sowohl um
die in Malmaison im Nachlaß der Kai¬
serin Josephine befindlichen, als um die
den französischen Provinzialmuseen ab¬
getretenen Bilder, sind Schulbeispiele
französischer Perfidie, worüber beson¬
ders die Schrift von Ferd. Engerrand,
L’histoire du Musöe de Caän auf 16 in
den ausgegebenen Exemplaren unter¬
drückten, vom Verfasser nur an gute
Bekannte (das mir vorliegende Exem¬
plar war für E. Muntz bestimmt) ver¬
teilten Blättern erbauliche Aufschi üsse gibt
Altpreußen hat freilich das meiste
ihm 1806/1807 genommene Kunstgut
1815 zurückerhalten, weil hierüber ge¬
naue Verzeichnisse und Beschreibun¬
gen Vorlagen, die zu Ausflüchten we¬
nig Raum boten, und doch ist es auch
hier den Franzosen gelungen, eine
Reihe von Kunstwerken zurückzubehal¬
ten. Wo aber solche Verzeichnisse und
Quittungen nicht Vorlagen, wie bei den
meisten rheinischen Raubstücken, da
versagten auch 1815 die Reklamationen
zum größten Teile, eben weil man preu-
ßischerseits in übertriebener Gewissen¬
haftigkeit den oben gekennzeichneten
Standpunkt einnahm, eine Forderung
nur dann mit Nachdruck zu vertreten,
wenn ihre Berechtigung bis auf das
letzte Pünktchen dokumentarisch belegt
war. Dieser Standpunkt hat sich ganz
besonders verderblich und unheilvoll
für die Rückforderungen der literari¬
schen Schätze des Rheinlandes erwie¬
sen, denn hier waren sichere Grund¬
lagen nur wenig vorhanden, und wo
Belege da waren, leugnete man auf der
Nationalbibliothek schlankweg ab, diese
Sachen jemals erhalten zu haben. Man
konnte das um so leichter, als die
große Menge der aus Deutschland dort¬
hin geschleppten Handschriften, Inku¬
nabeln und anderen Seltenheiten noch
unverarbeitet in den Magazinen stand,
so daß eine Nachkontrolle der wissent¬
lich falschen Beurkundungen vonPraets
und Langl&s damals zu den Unmöglich¬
keiten gehörte, solange man sich eben
nicht dazu entschließen konnte, nöti¬
genfalls unter Anwendung von Ge¬
walt, die französische Bibliotheksver¬
waltung für die Zeit der Reklamationen
völlig beiseite zu schieben und die
Herausgabe der Zugangsakten zu er¬
zwingen. Es sind damals im ganzen nur
102 rheinische Handschriften und 84 In¬
kunabeln zurückgegeben, sowie 51 Ur¬
kunden nach Aachen, zirka 300 nach
Trier und ungefähr 50 nach Köln. Was
aber an diesen Dingen aus dem Rhein¬
lande fortgeschleppt ist, übersteigt das
Zurückgegebene um ein Vielfaches,
denn was Maugörard allein genommen,
beträgt, wie wir oben sahen, an Hand¬
schriften fast 300 und an Inkunabeln
und anderen seltenen Drucken über
700 Bände. Was aber 1794 allein aus
Köln daran fortgeschafft ist, übertrifft
an Umfang die Maugörardsche Gesamt¬
beute auch bei der vorsichtigsten Schät¬
zung um ganz beträchtliche Zahlen. Der
außerordentliche Reichtum der Pariser
Nationalbibliothek an deutschen und be¬
sonders an Kölner Frühdrucken, von
denen sich dort häufig fünf bis zehn
Exemplare vorfinden, ist nur dadurch
zu erklären, daß von den aus dem
Rheinlande weggeschleppten Sachen
1814/1815 so außerordentlich wenig zu¬
rückverlangt und noch weniger zurück¬
gegeben ist. Es wäre 1815 das Rich¬
tigste gewesen, alle die unverarbeiteten
Depots der Nationalbibliothek mit Be¬
schlag zu belegen und aus ihnen durch
deutsche Kommissare das deutsche Gut
aussuchen zu lassen, statt sich mit den
französischen Bibliotheksbeamten in
Erörterungen über die Beweiskräftig¬
keit eingereichter Beschlagnahmequit-
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41 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 42
tragen einzulassen und ihren bewu߬
terweise wahrheitswidrig abgegebenen
Zeugnissen Glauben zu schenken. So¬
wohl van Praet, der Vorsteher der
Drackschriftenabteilung, als auch Lang-
Ifes» der Leiter der Handschriftenabtei-
lung, haben das Vertrauen, das ihnen
die deutschen Kommissare in diesen
Dingen entgegenbrachten, wiederholt,
wie sich jetzt dokumentarisch erweisen
läßt, auf das schmählichste mißbraucht
und getäuscht. Ausführliche Listen von
Inkunabeln und Handschriften, die aus
Kölner Klöstern, aus Brau weiler, Knecht¬
steden, Prüm und anderen Klöstern
weggenommen waren, haben sie zu-
rilckgegeben mit ihrem amtlichen Zeug¬
nisse, daß die darin aufgeführten Werke
niemals in die Pariser Bibliothek ge¬
kommen seien, während sich jetzt mit
Leichtigkeit der Nachweis führen läßt,
daß das damals doch der Fall war. An-
zunehmen, daß sie das nicht gewußt
hätten, hieße ihre geistigen Fähigkeiten
und ihr Erinnerungsvermögen denn
doch zu niedrig einschätzen, es bleibt
also kein anderer Ausweg, als ihr mora¬
lisches Konto mit dieser Lüge zu belasten.
Die Franzosen stellen den Kunst¬
raub, den sie in allen von ihnen besieg¬
ten Ländern in den Kriegen der Revo¬
lution und des Kaiserreiches ausge-
führt haben, gern dar als ein aus Liebe
und Begeisterung zur Kunst entsprun¬
genes Unternehmen, das für den Fort¬
schritt der Kunst und der Wissenschaft
von höchstem Werte gewesen sei, das
sie mit dem Blute ihrer Landeskinder
bezahlt und für das sie auf die finan¬
zielle Ausbeutung der eroberten Länder
verzichtet hätten. Diese Legende, in
tausendfacher Wiederholung verbreitet,
bat viele Gläubige, leider auch unter
den Deutschen, gefunden, und sie spukt
noch heutzutage in vielen Köpfen. Sie
ist aber in jeder Beziehung unwahr.
Was den letzten Punkt anbetrifft, so ist
es denn doch eigentlich zur Genüge be¬
kannt, in welcher geradezu haarsträu¬
benden Weise die eroberten Länder,
namentlich Belgien, Holland und die
Rheinprovinz und später Norddeutsch¬
land, an Gut und nicht zum mindesten
auch an Blut für rein französische
Interessen ausgepreßt und ausgebeu¬
tet worden sind, so daß die Wegnahme
der Kunstschatze wenigstens hier durch¬
aus nidit als ein Ersatz solcher Er¬
pressungen, sondern vielmehr nur als
eine Steigerung und Erweiterung der¬
selben angesehen werden kann.
Was aber die Förderung der Kunst
und Wissenschaft anbetrifft, so soll
nicht verkannt werden, daß, wie durch
das Durcheinanderwirbeln der Ideen-
und Gedankenwelt durch die Franzö¬
sische Revolution überhaupt auf man¬
chen Gebieten Fortschritte erzielt wor¬
den sind, so auch durch die französi¬
schen Räubereien manche in Klöstern
und Kirchen bis dahin versteckte und
vergrabene Schätze ans Licht gebracht
und der Wissenschaft zugänglich ge¬
macht sind. Aber man soll diese För¬
derungen auch nicht überschätzen. Es
herrschte ein durchaus reges geistiges
Leben bereits vor der Französischen
Revolution, und gerade die Erforschung
der klösterlichen Verstecke geistiger
Schätze hatte bereits seit längerer Zeit
eingesetzt, wie die großen Publikatio¬
nen der Benediktiner Frankreichs und
Deutschlands und die mannigfachen
Reiseberichte beweisen, so daß auch
ohne die Beraubung der Klosterbiblio¬
theken ihre Nutzbarmachung für Kunst
und Wissenschaft geschehen konnte. Je¬
denfalls bedurfte es aber dazu nicht
ihrer Wegführung nach Paris. Zudem
aber haben sich die Franzosen durch¬
aus nicht damit begnügt, etwa nur die
hervorragendsten Werke unserer Kunst
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43 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 44
und Wissenschaft in Paris in einem
Mustermuseum und in einer allum¬
fassenden Bibliothek zu vereinigen,
sondern sie haben, nachdem sie
vorher, ja während sie noch im eige¬
nen Lande unersetzliche Werte an
Kunst- und Wissenschaftsschätzen in
vandalischem Eifer vernichteten und
zerstörten, im Wechsel der Laune
ihrer Raubgier, der sie das fadenschei¬
nige Mäntelchen neu erwachter Kunst-
liebe umhingen, in den eroberten Ge¬
bieten in vollen Zügen Genüge getan
und alles, was nur irgendwie über die
bescheidensten Ansprüche an Sammel¬
wert hinausging, nach Paris geschleppt.
Die dort zusammenströmenden Massen,
die man, wie stets behauptet wurde, für
die nationalen Sammlungen in Paris,
d. h. also für den Louvre und die Na¬
tionalbibliothek beschlagnahmt hatte,
konnte man natürlich gar nicht so
schnell verarbeiten und ordnen. Man
begnügte sich also damit, die Haupt-
stücke he rau szu greifen und aufzustel-
len, und ließ das meiste in Depots ver¬
kommen und ging endlich sogar dazu
über, die Kunstsachen, die man doch
angeblich für eine universelle Samm¬
lung den Stellen genommen hatte, in
denen sie Heimatrecht von Natur hatten
oder durch die Pflege kunstsinniger
Fürsten erworben hatten, an franzö¬
sische Provinzialmuseen abzugeben, wo
sie mindestens ebenso versteckt und
abgelegen waren, als an den Orten, wo¬
her man sie genommen hatte. Aber das
war nicht das Schlimmste, sondern man
stattete mit den Rauhstücken auch
Privatwohnungen von Generalen, höhe¬
ren Beamten und Angehörigen des
ersten Konsuls und nachmaligen Kai¬
sers Napoleon aus. Namentlich die
Kaiserin Josephine entwickelte einen
lebhaften Sammeleifer für Kunstgegen¬
stände, Pretiosen und Reliquien. Vieles
aber, besonders von den Büchern, ließ
man in den Speichern verkommen, und
anderes ist offenbar verkauft, ohne zu
bedenken, daß mit der Preisgabe ihres
angeblichen Zweckes diese Konfiskatio¬
nen auch vor französischen Augen als
das erscheinen mußten, was sie waren,
nämlich als gemeiner Diebstahl. Übri¬
gens sind auch durchaus die Franzosen
nicht durchweg mit den Räubereien
der Revolutionsheere und Napoleons
einverstanden gewesen. Bereits 1795
protestierte eine große Anzahl her¬
vorragender Künstler und Gelehrter
unter Führung von Quatrem&re de
Quincy gegen dieses Raubsystem in ei¬
ner Eingabe an den Nationalkonvent,
unter deren Unterschriften man mit
nicht geringem Erstaunen auch den
Namen Denons erblicken kann; und
als im Jahre 1815 die Reklamationen
ansetzten, vereinigte sich eine ganze
Anzahl französischer Künstler in Rom
mit den Künstlern anderer Nationen
daselbst, um in einer Sammeladresse
an die verbündeten Mächte um Unter¬
stützung der Bemühungen des Papstes
für die Rückführung der aus Rom ent¬
führten Kunst- und Literaturschätze zu
bitten.
Es ist aber außerdem zu bedenken,
daß die preußische Regierung den Fran¬
zosen auch 1815 noch in weitestgehen¬
der Weise entgegenkam mit einem Vor¬
schläge, alle die noch strittigen Punkte
durch ein gütliches Übereinkommen zu
beseitigen und zu erledigen. Sie ließ
zu diesem Zwecke von Jacob Grimm,
der dazu eigens nach Paris berufen
wurde, einen Vergleichsvorschlag aus¬
arbeiten, nach dem für die nicht zu¬
rückgegebenen Kunstsachen und für die
aus dem Rheinlande weggenommenen
und angeblich nicht auffindbaren Hand¬
schriften und Inkunabeln als Ersatz ge¬
geben werden sollten: .
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45 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 45
1. die Manessische Liederhandschrift
2. die aus der Villa Albani stammen¬
den Winckelmann-Handschriften,
3. eine näher zu vereinbarende An¬
zahl (Grimm schlägt vor 500) Hand¬
schriften zur deutschen Geschichte
und Literatur, wobei ausdrücklich
nur solche Stücke gewählt werden
sollten, welche in mehreren Exem¬
plaren in der Nationalbibliothek
vorhanden seien, und deren Aus¬
wahl in der Hauptsache der franzö¬
sischen Bibliotheksverwaltung Vor¬
behalten sein sollte,
4. sollte ein Leihverkehr von Hand¬
schriften und seltenen Drucken
zwischen der Pariser und der Ber¬
liner Bibliothek eingerichtet wer¬
den.
Diesen gewiß billigen Vergleichsvor¬
schlag haben die Franzosen abgelehnt
Zum Schlüsse sei hier eine summa¬
rische Obersicht dessen beigefügt was
uns durch die französischen Räube¬
reien verlorengegangen ist. Auf Voll¬
ständigkeit kann diese Aufstellung na¬
türlich keinen Anspruch erheben, zu¬
mal sich diese bei der geschilderten
Sachlage gar nicht erreichen läßt auch
sind an Einzelstücken nur solche von
erheblichem Werte darin genannt. Wir
beginnen mit den literarischen Stücken.
An Handschriften sind eine ganz er¬
hebliche Anzahl aus den rheinischen
Gebieten z. T. nach Paris geschleppt,
z. T. durch die Auktionen von 1804
und 1811 in alle Winde zerstreut; die
Gesamtzahl derselben ist auf minde¬
stens 2500 zu schätzen, und ihr Ge¬
samtwert ist da sich unter den nach
Paris gebrachten Stücken Handschrif¬
ten von ganz außerordentlichem wissen¬
schaftlichem und künstlerischem Werte
befinden, mit 3 bis 4 Millionen Mark
schwerlich zu hoch veranschlagt. Her¬
vorzuheben sind besonders das kost¬
bare Prümer Graduale, die Sammel¬
bände St. Maximiner, der Kölner und
Aachener Urkunden, die prächtigen Mi¬
niaturhandschriften aus Metz, die alten
Klassikerhandschriften aus Echternach,
die hebräische Bibelhandschrift aus
Köln, der Sammelband von Briefen
Leibniz’ an den Jesuiten de.Broches
aus Köln, die Handschrift der Köl¬
ner Chronica regia aus Aachen und
des Theodorus Priscianus aus Köln.
Auch der rheinische Verlust an Inku¬
nabeln und anderen literarischen Sel¬
tenheiten ist außerordentlich groß.
Was allein aus Köln 1794 daran für
Paris fortgenommen worden ist, kann
auf mehrere tausend Bände veranschlagt
werden, und den Gesamtverlust der
Rheinlande wird man, zumal wenn man
das mit berücksichtigt, was durch man¬
gelnde Aufsicht und sonstige Mißwirt¬
schaft und durch die Verschleuderung
in den Auktionen der Domänenverwal¬
tung verlorenging, unbedenklich in der
Höhe von fünfstelligen Zahlen ansetzen
und den Geldwert, mit Rücksicht auf
die zahlreichen Pergamentdrucke, auf
die die Kommissare nach van Praets
Anweisung ihr besonderes Augenmerk
richteten, und der Mainzer Gutenberg¬
sachen, sowie der oben erwähnten
42 zeitigen Bibel aus Marienbaum mit
mindestens einer Million Mark berech¬
nen dürfen.
Die literarische Schädigung Altpreu¬
ßens ist demgegenüber nur gering. Das
Wertvollste daran sind die verlorenen
Autographen von Friedrich dem Gro¬
ßen und Voltaire aus Potsdam.
Aus Wolfenbüttel sind die sogenann¬
ten Mazarinhandschriften zu erwähnen
und 7 deutsche Handschriften, die 1815
angeblich nicht aufzufinden waren, die
aber heute sämtlich in Paris nachweis¬
bar sind, außerdem aber einige Block¬
bücher und Inkunabeln, darunter die
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47 Hermann Degering, Französischer Kunstraub in Deutschland 1794—1807 4B
vertauschte 36zeilige Bibel und Hart¬
liebs Chiromantie.
Aus Bayern haben französische Ge¬
nerale aus Eichstädt, Rebdorf und In¬
golstadt Handschriften weggenommen,
von denen schließlich ein großer Teil
in die Bibliothöque Nationale gekom¬
men ist. Es befinden sich darunter
wertvolle Heiligenleben.
Unter den Verlusten an Kunstgegen-
ständen sind an erster Stelle zu nennen
24 Bilder aus der Kasseler Galerie,
von denen 21 während der Rückforde¬
rungsverhandlungen von den Erben der
Kaiserin Josephine an den Kaiser von
Rußland verkauft wurden, und die sich
jetzt meist in der Eremitage zu Pe¬
tersburg befinden, während die 3 an¬
deren in die Museen von Montpellier,
Toulouse und Caön gekommen sind.
Der Wert dieser Bilder dürfte jetzt auf
mehrere Millionen Mark zu schätzen
sein. 5 ) Außerdem hat Kassel eingebüßt
36 Pretiosen, 548 goldene und 4328 sil¬
berne Medaillen, deren Gesamtwert auf
1700000 geschätzt wird.
Braunschweig beklagt den Verlust
von 69 Gemälden, die 1807 aus dem
Salzdahlumer Schlosse, sowie von 18
anderen Bildern, die aus der Galerie
in Braunschweig genommen und 1814/15
nicht zurückgegeben sind. Unter ihnen
sind Bilder von Raffael, Tizian, Rem-
brandt, Rubens, van Dyck, und ihr heu¬
tiger Wert kann gleichfalls auf mehrere
Millionen geschätzt werden.
Aus dm Rheinlande sind entführt:
1. Aus Aachen ein Rubensbild (An¬
betung der Hirten), das sich jetzt im
Museum zu Rouen befindet;
2 . aus Koblenz die Altartafel der
Kastorkirche in Email und Silber, jetzt
5) Von den Bilderentwendungen wird
ausführlicher noch in einem der nächsten
Hefte gehandelt werden. Die Red.
im Clunymuseum, und ein altes Ge¬
schütz, der Vogel Greif genannt, jetzt
im Invalidenpalais zu Paris;
3. aus dem Kloster Steinfeld der
Potentinusschrein, jetzt im Louvre;
4. aus Streelen ein geschnitzter Altar,,
jetzt in St'Germain-l’Auxerrois in Paris.
5. aus Köln eine Reihe von histori¬
schen Kanonen aus dem Zeughause,
ebendaher 3 römische Grabsteine, aus.
dem Exjesuitenkolleg eine Sammlung
von 6113 Handzeichnungen und ca. 150
Sammelbände von Stichen und Holz¬
schnitten und eine große Sammlung
mittelalterlicher Münzen sowie von
Gemmen und Kameen, aus St. Maria
im Kapitol ein mittelalterliches Grab¬
mal in Mosaik.
Aus Berliner Kunstsammlungen feh¬
len endlich noch ungefähr 4000 Mün¬
zen und Medaillen, deren Wert auf
500000 Mark geschätzt wird, und 76 ge¬
schnittene Steine im Werte von 100000
Marie, ferner 5 antike Marmorwerke
und eine kleine antike Bronzebüste Ju¬
lius Cäsars sowie einige Gemälde. —
Wenn man die Summe dieser Ver¬
luste ins Auge faßt, versteht man, wie
den Zeitgenossen nicht die vielgeschmäh¬
ten Deutschen, sondern die Franzosen
als Barbaren erschienen, und daß Schil¬
ler seinem Unwillen über „Die Antiken
zu Paris“ in den Versen Ausdruck ge¬
geben hat:
Was der Griechen Kunst erschaffen.
Mag der Franke mit den Waffen
Führen nach der Seine Strand,
Und in prangenden Museen
Zeig’ er seine Siegstrophäen
Dem erstaunten Vaterlandl
Ewig werden sie ihm schweigen.
Nie von den Gestellen steigen
In des Lebens frischen Reihn.
Der allein besitzt die Musen,
Der sie trägt im warmen Busen —
Dem Vandalen sind sie Stein.
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49
50
Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916.
Von Karl Bahn.
(Z)Von zuständiger Seite ist veröffent¬
licht worden, daß die deutschen Hoch-
seeStreitkräfte am 31. Mai nachmittags
vorgestoßen seien, um englische Flot¬
tenteile, die in letzter Zeit mehrfach an
der norwegischen Südküste gemeldet
worden waren, zur Schlacht zu stellen.
Daraus geht hervor, daß der deutsche
Admiralstab die Schlacht herbeigeführt
hat, sobald die englische Flotte dazu
Gelegenheit bot. Deutscherseits ist sie
also nicht aus zufälliger Begegnung,
sondern planvoll entstanden. Einleitung
und Durchführung des Kampfes geben
hierfür vollgültigen Beweis. Nicht so
zweifelsfrei ist die Absicht des engli¬
schen Admiralstabes zu erkennen und
festzustellen. Die englische Flotte, na¬
mentlich ihr gegen Deutschland be¬
stimmter wertvollster Teil, die neuesten
Kampfschiffe, Kleinen Kreuzer und Zer¬
störer, ist 22 Monate hindurch ängstlich
gehütet, versteckt worden; zuerst in
den unzugänglichen Häfen der West¬
küste Englands und dann in den buch¬
tenreich«! Orkneyinseln an der Nord¬
ostspitze Schottlands. Dort ist sie trotz
aller Angriffe der englischen Ostküste
durch unsere Geschwader festgehalten
worden. Die Schonung ging so weit,
daß das Linienschiff Queen Elizabeth,
eines der neuesten englischen Schiffe,
das wegen der großen Tragweite sei¬
ner 38,1-cm-Kanonen vor Gallipoli ver¬
wendet wurde, von dort zurückgezogen
wurde, als die deutschen U-Boote da¬
selbst auftraten und die englischen Li¬
nienschiffe Majestic, Ocean, Goliath,
Irresistible, Triumph und Lord Nelson
in schneller Folge versenkten. Diese auf¬
fällige Schonung muß als Anzeichen
aufgefaßt werden, daß die englische
Flotte für die letzte Entscheidung auf¬
gespart werden sollte, um durch ihre
Überlegenheit und Unbesiegbarkeit dem
Vierverbande den entscheidenden Sieg
und England die alleinige und un¬
eingeschränkte Seeherrschaft zu brin¬
gen.
War nach dem Stande des Land¬
krieges dieser entscheidende Augen¬
blick schon gekommen oder lagen noch
andere Gründe für das plötzliche Auf¬
treten der gesamten englischen Hoch¬
seeflotte in der Nordsee vor?
Die letzte Beschießung von Lowe-
stoft am 24. April d. J. durch eines
unserer Geschwader ließ in England
immer heftiger und nachdrücklicher
nach Schutz der Ostküste durch die
Flotte rufen. Unsere Marineluftschiff¬
geschwader hatten ihre Angriffe immer
weiter nach Norden getragen. Es lag
also die Gefahr nahe, daß sie die eng¬
lische Flotte in ihren Schlupfwinkeln
in den Orkneyinseln aufsuchen könn¬
ten. Die Sicherheit der Flotte war da¬
hin. Audi die gesamte Kriegslage Ende
Mai erheischte dringend ein Eingreifen
der englischen Flotte. Vor Verdun ver¬
blutete sich das französische Heer ohne
Erfolg mehr und mehr und ein großer
Teil der für den inzwischen begonnenen
Hauptangriff in Nordfrankreich ange¬
sammelten Reserven wurde vor Verdun
aufgebraucht. Das plötzliche siegreiche
Vordringen Österreich-Ungams gegen
die Poebene und die starke Gefährdung
Valonas, des letzten Stützpunktes der
Italiener auf dem Ostufer der Adria^
mit dessen Verlust der Traum Italiens
von der Adria als geschlossenem ita-
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INDIANA UNtVERSITY
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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
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lienischen See und von seinem Einfluß
.auf dem Balkan zu Ende ist, ließen den
Verzweiflungsschrei nach Entlastung
durch einen russischen Angriff in Ga¬
lizien ertönen. Sollte die viel bespro¬
chene und gerühmte Einheit der Kampf¬
linie des Vierverbandes durchgeführt
werden, so mußte der geplante Haupt¬
angriff im Westen dem russischen An¬
griff ungesäumt folgen. Dem jetzt to¬
benden erbitterten Kampf an der Som¬
me wäre eine merkbare Unterstützung
geworden durch Landung eines eng¬
lischen Heeres im Rücken unserer Front.
Daß eine solche auf der Pariser Zu¬
sammenkunft beschlossen worden ist,
hat im Laufe der Zeit immer mehr
an Wahrscheinlichkeit gewonnen. Nur
wollte Holland die Rolle Griechenlands
■nicht spielen, sondern ergriff Maßre¬
geln, seine Neutralität mit Waffenge¬
walt zu verteidigen. Deshalb ließ Eng¬
land diesen Plan fallen. Aber es hat
große Wahrscheinlichkeit für sich, daß
an Stelle einer Landung in Holland
«eine solche in Dänemark ins Auge ge¬
faßt wurde. Schon vor einem Jahrzehnt
•etwa hatte die englische Flotte gele¬
gentlich eines Manövers Landungsver¬
suche in Esbjerg geübt. Esbjerg liegt
an der Westküste Dänemarks, etwas
nördlich der schleswigschen Grenze.
.Man hoffte vermutlich, mit Dänemark,
das eine ähnlich ungünstige Lage hat
wie Griechenland, und dessen langge¬
streckte West- und Nordküste dem
Feuer der englischen Schiffe schutzlos
preisgegeben ist, leichter fertig zu wer¬
den und hoffte auch wohl, neben der
Bedrohung des Rückens unserer West¬
front und der rückwärtigen Verbindun¬
gen durch Wegnahme des Kaiser-Wil-
helm-Kanals gleichzeitig unsere Ver¬
bindung zwischen Nord- und Ostsee zu
unterbrechen und Kiel von der Land¬
seite her anzugreifen.
Eine Landung in Dänemark war aber
erst möglich, wenn die deutsche Flotte
vernichtet war. England kannte von
Gallipoli und Saloniki her die unend¬
lichen Schwierigkeiten von Übersee-
unternehmungen und wußte auch, daß
eine noch kampffähige deutsche Flotte
einer Landung und der Versorgung des
gelandeten Heeres nicht ruhig Zusehen
würde. Eine Seeschlacht war also die
unumgängliche Voraussetzung dieses
Planes. Dazu kam noch, daß der
Reichskanzler erklärt hatte, ernsthaf¬
ten Friedensangeboten müsse die zeitige
Kriegskarte Europas zugninde gelegt
werden und daß englischerseits darauf
schroff und stolz erklärt wurde, auch
die Seekriegskarte müsse maßgebend
sein und England beherrsche noch im¬
mer alle Meere uneingeschränkt. Der
Beweis hierfür war noch nicht erbracht,
und das ängstliche Zurückhalten der eng¬
lischen Flotte zeigte trotz aller Ruhm¬
redigkeit gewiß nicht viel Vertrauen
zu der unbedingten Überlegenheit der
englischen Flotte. Diese Verhältnisse
drängten dazu, die Entscheidung auf
dem Meere zu suchen, so daß hiernach
auch englischerseits die Schlacht als
eine geplante angesehen werden muß.
Vielleicht nur nicht für den Nachmittag
des 31. Mai, sondern für den 1. Juni,
worauf das etwas verspätete Eintreffen
der englischen Hauptmacht, das in der
englischen Presse heftig getadelt wor¬
den ist, und auch das Erscheinen eines
englischen Geschwaders aus der süd¬
lichen Nordsee erst am' 1. Juni morgens
hinzudeuten scheinen. Nachdem der
Ausgang der Schlacht am 31. Mai die
Vernichtung der deutschen Flotte nicht
gebracht, sondern zu schwerwiegenden
englischen Verlusten und arger Enttäu¬
schung geführt hat, mußte jeglicher
Landungsplan vorerst aufgegeben wer¬
den. Demgemäß wurde das englische
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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
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Millionenheer im Juni nach Frankreich
übergesetzt und die Vorbereitungen für
den Angriff getroffen, der dann am
1 . Juli losbrach.
Ob die englische Heeresleitung sol¬
che Pläne hegte, wird erst spätere Zu¬
kunft klarstellen. Aber die zeitliche
Aufeinanderfolge der Begebenheiten be¬
kräftigen die Möglichkeit solcher Ab¬
sicht. Eine weitere Bestätigung findet
sie dadurch, daß die Vermutung, Lord
Kitchener sei in der Seeschlacht am
Skagerrak und nicht am 7. Juni bei
den Orkney-Inseln ertrunken, durch den
Aufruf der englischen Regierung zur
Bergung seiner Leiche nahezu Gewi߬
heit erlangt hat Lord Kitchener soll
zum Leiter des geplanten Unterneh¬
mens bestimmt gewesen sein.
Ober Sieg und Niederlage in der
Seeschlacht vor dem Skagerrak, sowie
über Bedeutung beider wird in der
Presse beider Länder hin- und herge¬
stritten. Will man zu einem Urteil ge¬
langen, müssen die taktischen Absich¬
ten und das Stärkeverhältnis der Geg¬
ner erörtert werden.
Nach dem Bericht des englischen Ad-
miralstSbes war die gesamte mo¬
derne Schlachtflotte an dem Kampf
beteiligt. Sie bestand aus dem Aufklä-
rungsgeschwader unter Admiral Beatty
und der Hauptmacht unter dem Flotten¬
chef Admiral Jellicoe. Zu dem ersteren
gehörten als erste Division die 4
Schlachtkreuzer: Lion (1910abgelaufen),
Princess Royal (1911), Queen Mary
(1912) und Tiger (1913); als zweite Di¬
vision New-Zealand (1911) und In-
defatigable (1909). Nach wohlbegrün¬
deter Ansicht soll zwar Tiger am 24.
Januar 1915 im Gefecht an der Dogger¬
bank gesunken sein. Der Verlust wird
aber von der englischen Admiralität
bestritten. Es ist also nicht zweifels¬
frei, ob wirklich der 1913 abgelaufene
Tiger oder aber ein als Ersatz für ihn
eingestellter Neubau gleichen Namens
im Kampf war. Dies ist insofern von
Wert, weil ein Neubaukreuzer mit 38,1-
cm an Stelle von 34,3-cm bewaffnet
sein würde, wodurch dessen Kampf¬
kraft wesentlich größer wäre als die
des letzteren. Man sagt der britischen
Admiralität nach, dieses Verfahren auch
bei dem am 27. Okt. 1914 gesunkenen
Audacious angewendet zu haben. Die
nach Zahl und Kampfkraft dem deut¬
schen Geschwader Großer Kreuzer über¬
legene Schlachtflotte war noch durch
die Beigabe von 4 oder 5 Linienschiffen
der Queen-EIizabeth-Klasse verstärkt
worden, und zwar sehr erheblich, denn
diese 1913 und 1914 abgelaufenen
Schiffe gehören mit zu den neuesten
Linienschiffen Englands und führen je
8—38,1-cm-Geschütze neben der Mittel¬
artillerie von je 16— 15,2-cm L/50. Da¬
durch wurde die Mündungsarbeitslei¬
stung der Geschütze einer Breitseite
bei dem Aufklärungsgeschwader um
1.120560 mt vermehrt, ohne die Fahr¬
geschwindigkeit der Schlachtkreuzer be¬
langreich zu vermindern, denn die Eli¬
zabethklasse läuft 25 Sm., der langsam¬
ste der Panzerkreuzer 26,7 Sm. Diese
Zuteilung und außerordentliche Verstär¬
kung des Kreuzergeschwaders war doch
vermutlich nur zu dem Zweck gesche¬
hen, um das Aufklärungsgeschwader zu
befähigen, die deutsche Flotte im Nor¬
den und Nordwesten mit überlegener
Macht festzuhalten und einzukreisen.
Als Maß für die Kampfkraft ist eben
und auch für die Folge die Mündungs¬
arbeitsleistung der Schiffsbreitseiten ge¬
wählt. Die Angabe der Zahl und der
Seelenweite der Geschütze eines Schif¬
fes genügt zur Beurteilung seiner
Kampfkraft nicht. Wenn auch bei
den neuesten Schiffsbauten die Türme
mit den schwersten Geschützen fast
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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
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ausnahmslos so eingebaut sind, daß
alle Geschütze nach beiden Breit-
seiten wirken können, so ist dies
bei den älteren Schiffen — eng¬
lischen wie deutschen —, die in der
Schlacht mitgewirkt haben, noch nicht
der Fall, so daß bei diesen beim Breit¬
seitenfeuer mindestens 2 schwere Ge¬
schütze nicht feuern können. Die Mit¬
telartillerie ist nicht in Türmen, son¬
dern in Kasematten untergebracht, so
daß meist nur die Hälfte der Geschütze
nach einer Breitseite schießen. Daraus
geht hervor, daß die alleinige An¬
gabe der Geschützzahl eines Schiffes
das Urteil über seine Feuerkraft irre¬
führt. Ebensowenig erschöpfend ist die
Angabe der Seelenweite der Geschütze.
Aus ihr ist das Gewicht des Geschos¬
ses zu folgern, und die Angabe des Ge¬
schoßgewichtes einer Breitseite vermei¬
det den oben besprochenen Fehler,
weil natürlich nur die Zahl der nach
jeder Breitseite feuernden Geschütze
in Rechnung gezogen wird. Nun ist
aber für die Geschützwirkung das Ge¬
schoßgewicht allein nicht maßgebend,
sondern in sehr viel höherem Grade
die Geschoßgeschwindigkeit. Beide, Ge¬
schoßgewicht und Quadrat der Ge¬
schwindigkeit, sind in dem Arbeitsver¬
mögen des Geschosses enthalten. Des¬
halb gibt nur dieses in Verbindung mit
dem Geschoßdurchmesser oder was
dasselbe ist mit dem Seelendurchmes¬
ser des Rohres einen Maßstab für die
Durchschlagskraft der Geschosse. Zum
Vergleich ist allgemein das Arbeitsver¬
mögen der Geschosse an der Mün¬
dung gewählt worden.
Zu dem Aufklärungsgeschwader ge¬
hörte eine größere Anzahl der neuesten
Kleinen Kreuzer und vermutlich 2 Flot¬
tillen Torpedobootszerstörer mit ihren
Führerschiffen. Wie viele, ist nirgends
veröffentlicht worden und läßt sich
auch nicht feststellen, weil auch zum
Hauptgeschwader Kleine Kreuzer ge¬
hörten. Dem ersteren waren wenigstens
die 8 Schiffe der Calliopeklasse zuge¬
teilt, die neuesten, die England bis zur
Schlacht fertig hatte. Sie haben die
große Geschwindigkeit von 30 Sm. und
sind mit 3—15,2-cm L/50 und 6— 10,2cm
L/50 verhältnismäßig stark bewaffnet.
Eine englische Torpedobootsflottille
umfaßt vermutlich 20 Boote, so daft
dem Aufklärungsgeschwader anschei¬
nend 40 Zerstörer und 2 Führerschiffe
zugeteilt waren.
Die Hauptmacht umfaßte:
1. 3 Geschwader zu je 8 Großkampf¬
schiffen. Die Geschwaderstärke war
also der unsrigen gleich. Ob ein beson¬
deres Flaggschiff als 25. Linienschiff
dabei war, läßt sich nicht sicher fest¬
stellen. Seit dem Jahre 1906, dem Ab¬
lauf des ersten und eigentlichen Dread¬
noughts, der für diese stark bewaffneten
Linienschiffe Namengeber geworden ist,
sind 33 solcher Dreadnoughts und Über¬
dreadnoughts fertiggestellt worden; 5
davon waren, wie oben gesagt, dem
Aufklärungsgeschwader zugeteilt, 3 ge¬
hörten der Hauptmacht als besonderes
Geschwader an. Dann verbleiben ge¬
rade noch 25 Schiffe für das Hauptge¬
schwader übrig, wenn Superb mit ein¬
gerechnet wird. Derselbe soll angeb¬
lich bei einem Seegefecht zweier eng¬
lischer Geschwader gegeneinander, die
eins das andere für ein deutsches hiel¬
ten in der Nähe Bergens in der Nacht
vom 7. zum 8. April 1915 gesunken
sein. Ob dies zutrifft, sei dahingestellt.
In dem neuesten Taschenbuch von
Weyer ist Superb in die Schiffsnamens¬
liste ohne jeden Vorbehalt aufgenom¬
men und fehlt in der Schiffsverlustliste.
Um aber keinesfalls zu hoch zu greifen,
ist Superb in die Stärkeberechnung
nicht mit aufgenommen. Die Größe,
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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
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die Geschwindigkeit und die Feuerkraft
dieser 24 Schiffe ist sehr verschieden;
die Größe ist von 18190 T auf 28 450 T
und die Geschwindigkeit von 21,5 auf
23 Sm. gewachsen.
2 . Das oben erwähnte besondere Ge¬
schwader von 3 Schiffen der Royal
Sovereign-Klasse, die erst 1916 dienst¬
fertig geworden sein können. Sie sind
die neuesten Schiffe der englischen
Flotte.
3. Eine Division Schlachtkreuzer, und
zwar Invincible, Indomitable und Infle¬
xible, die hinsichtlich ihrer Fertigstel¬
lung und ihres Kampfwertes unmittel¬
bar hinter den Schlachtkreuzern des
Aufklärungsgeschwaders kommen.
4. Ein Panzerkreuzeigeschwader von
6 Schiffen. Aus den bekannt geworde¬
nen Verlusten läßt sich schließen, daß
es bestand aus je 2 Schiffen der De-
fence- und der Achillesklasse, nebst
Black Prince und Euryalus.
5. Wenigstens 10 Kleine Kreuzer.
6 . Etwa 4 Flottillen Zerstörer zu ver¬
mutlich 20 Booten, wenigstens 80 Boote.
Erläuternd sei bemerkt, daß die eng¬
lischen Schlachtkreuzer und Panzer¬
kreuzer beide den deutschen „Großen
Kreuzern“ entsprechen, wie die Bezeich¬
nung nach unserem Flottengesetz lau¬
tet England hat die Unterscheidung
vorgenommen, weil die seit 1907 ab¬
gelaufenen Schlachtkreuzer wesentlich
größer und stärker sind als die früher
fertiggestellten Panzerkreuzer.
Ober die Stärke der deutschen Streit¬
kräfte hat der Vertreter des Reichsma-
rine-Amtes im Reichstage erklärt, daß
unsere gesamte Hochseeflotte ange¬
griffen habe. Nach Vollendung des
Flottengesetzes sollte der Schiffsbestand
gegliedert werden in:
A Aktive Schlachtflotte: 25 Linien¬
schiffe, 8 Große Kreuzer, 18 Kleine
Kreuzer und 9 Torpedobootsflottillen
zu je 11 Booten.
B. Reserve-Schlachtflotte.
C. Die Auslandsflotte.
Nach dem Taschenbuch der Kriegs¬
flotten von Weyer 1916 bestand die
Hochseeflotte aus 1. dem Flaggschiff
Friedrich der Große, das auch in der
Schlacht das Flaggschiff des Admirals
Scheer war, und 2. aus je 4 Schiffen
der Klassen König, Kaiser, Ostfries¬
land, Nassau, Deutschland und Braun¬
schweig, zusammen 25 Schiffen. Im
großen und ganzen muß dies auch nach
Zahl und Klasse die Zusammensetzung
der Linienschiffsflotte in der Schlacht
am 31. Mai gewesen sein. Die Schiffe,
die älter als Braunschweig sind, haben
24-cm-Geschfltze, d. h. sie sind so
schwach bestückt, daß sie vermutlich
alle nur zur Reserve gehört haben.
3. Aus 5 Großen Kreuzern, Von der
Tann, Moltke, Goeben, Seydlitz und
Derfflinger. In der Schlacht waren auch
nur 5 Große Kreuzer. Der im Frühjahr
1915 dienstfähig gewordene Kreuzer
Lützow ist an Stelle des an die Tür¬
kei verkauften Kreuzers Goeben ge¬
treten. Daß unsere Flotte nicht die
Sollstärke von 8 Großen Kreuzern ge¬
habthat, ist darauf zurückzuführen, daß
infolge Verlustes von 4 Großen Kreu¬
zern — York bei der Einfahrt in den
Hafen auf eine Mine gelaufen, Scharn¬
horst und Gneisenau bei den Falk-
landsinseln, Blücher bei der Dogger¬
bank — bis auf Roon und noch frühere
Schiffe hätte zurückgegriffen werden
müssen. Diese Schiffe sind nach Größe,
Fahrgeschwindigkeit und Bewaffnung
selbst noch dem Von der Tann gegen¬
über so geringwertig, daß durch ihre
Beigabe die Einheitlichkeit des Ge¬
schwaders und seine Gefechtskraft nicht
gestärkt, sondern eher vermindert wor¬
den wäre. 4. Aus 8 Kleinen Kreuzern
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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
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gegenüber 18 nach dem Flottengesetz.
Wieviel Kleine Kreuzer in der Schlacht
waren, ist amtlich nicht veröffentlicht
worden und laßt sich mit Sicherheit
auch nicht ermitteln. Da aber bis auf
Frauenlob, am 31. Mai untergegangen,
zurückgegriffen ist, so läßt sich an¬
nehmen, daß die für notwendig erach¬
teten 3 Geschwader zu je 6 Kleinen
Kreuzern auch mitgeführt sind, denn
Frauenlob, 1902 abgelaufen, gehört mit
zu den ältesten Kleinen Kreuzern.
Diese Zahlen sprechen für sich selbst.
Die englische Flotte war der deutschen
an Zahl in der Gesamtheit wie in jeder
einzelnen Schiffsart, an Rauminhalt und
Feuerkraft sehr bedeutend überlegen:
an Rauminhalt fast dreifach, an Feuer¬
kraft fast doppelt so stark. Dabei sind
bei beiden die Kleinen Kreuzer und die
Torpedoboote nicht mit eingerechnet,
sondern nur die Großkampfschiffe, Li¬
nienschiffe und Großen Kreuzer. Das
5. 7 Torpedobootsflottillen, statt der
Sollstärke von 9. Es läßt sich anneh¬
men, daß 9 Flottillen zu je 11 Booten
gleich 99 an der Schlacht beteiligt
waren.
Aus der hier folgenden Zusammen¬
stellung, die auf den vorstehenden Er¬
wägungen aufgebaut und berechnet ist,
gehen alle Einzelheiten hervor, die zu
einem selbständigen Urteil über das
Stärkeverhältnis der beiden Flotten not¬
wendig sind und dazu befähigen.
englische Aufklärungsgeschwader lief
nach der Schnelligkeit des langsamsten
Schiffes 25 Sm., das deutsche 28,1 Sm.
Sobald aber Linienschiffe und Große
Kreuzer im Verbände fuhren, war die
Geschwindigkeit der deutschen Flotte
nur 18,5 Sm., die der englischen aber
21 Sm. Dies ist ein Umstand, der die
Durchführung der taktischen Absichten
des englischen Admirals nur begünsti¬
gen konnte.
£
i
M
c
jo
c
3
Große Kreuzer
Kleine Kreuzer
Torpedoboote
2 , &
»fh
|!|‘
•0
Seem.
Größe
der Schiffe
in
Tonnen
MQndungs~
Arbeitsleistung
der GeschQtze
Je 1 Breitseite
mt
1. Aufklärungsgeschwader .
5
6
i.
8
Engli
40
[sehe
25
26,4
Flotte.
140000
147 650
1 120560
943760
Im ganzen
2 . Die Hauptmacht.
(Schlachtkreuzer)
(Panzerkreuzer)
5
24
3
6
3
6
8
12
40
80
21
21
26,6
22
287650
590600
78600
60900
83050
2064320
4283560
672336
354480
210720
Im ganzen
1 27 | 9
12
80
- |
| 813150
5521096
Die ganze Flotte
1 32 | 15
20
120
— |
E 1100800
7585416
1. Aufklärungsgeschwader .
—
5
II. I
18
)ie de
99
utsch
28,1
e Flotte.
120600
704473
2 . Die Hauptmacht. |
25
—
—
—
18,5
143300
3210427
Die ganze Flotte
Dagegen die englische Flotte
25
32
5
15
263 900
1100800
3914000
7585416
Obermacht der englischen
Flotte.
7
10
B
836909
3670516
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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
62*
Auch die Zerstörer Englands sind
größtenteils stärker bewaffnet als die
deutschen Torpedoboote. Sie führen
meistens 10,2-cm-Geschütze, neuerdings
bis zu 6 auf jedem Boot und 6 53-cm-
Torpedorohre. Die Größe der Torpe¬
dorohre ist von ausschlaggebendem
Einfluß auf die Geschwindigkeit und
Laufweite, ebenso auf die Größe der
Sprengladung. Ein englischer 53-cm-
Torpedo hat eine Laufstrecke von
6400 m, der 45-cm-Torpedo, welchen
die deutschen Boote führen, aber nur
gegen 3600 m, und die Geschwindigkeit
der ersteren ist 45 Sm. bei 1000 m Lauf,
die der letzteren 33 Sm. bei 900 m Lauf.
Durch Anwarmen der Preßluft kann
die Geschwindigkeit allerdings gestei¬
gert werden. Die Sprengladung im
Kopf des Torpedos wiegt beim 53-cm-
113,4 kg, beim 45-cm- nur 93 kg. Diese
Vergleiche lassen die Bedeutung der
Größe des Torpedos erkennen. Diese
Zahlen ändern sich aber mit der Bauart
der Torpedos. Es soll heute Torpedos
mit 10000 m Laufweite geben, die noch
bei 7000 m gute Treffergebnisse liefern
und bis zu 150 kg Sprengstoff ent¬
haften.
Um eine Anschauung von den mut¬
maßlichen taktischen Absichten der
Flottenführer und darüber zu gewin¬
nen, inwieweit diese verwirklicht wer¬
den konnten, ist es notwendig, sich den
Gang der Seeschlacht nach den auf
amtlichen Mitteilungen beruhenden Dar¬
stellungen kurz zu vergegenwärtigen:
Die englische Flotte fuhr am 31. Mai
von der Ostküste Englands in südöst¬
licher Richtung dem Skagerrak zu; das
Aufklärungsgeschwader am südlichsten;
vorgeschoben die Schlachtkreuzer New-
Zealand und Indefatigable der zweiten
Division. Allen vorauf die Kleinen
Kreuzer und Torpedoboote zur Aufklä¬
rung und Deckung. Weiter nördlich
fuhr die Hauptmacht. Die deutsche
Flotte war etwa um 4 Uhr morgens,,
die Torpedoboote schon 1 Vs Stunde
früher, in nördlicher Richtung mit dem.
Kurse auf Skagen-Hanstholm, wie schon
oftmals, ausgelaufen. Um 7*5 Uhr nach¬
mittags kamen sich die am weitesten
vorgeschobenen Aufklärungsschiffe ge¬
genseitig in Sicht. Durch die beider¬
seitige Absicht, die Schlacht herbeizu¬
führen und anzunehmen, entwickelte-
sich daraus der Kreuzerkampf der Auf¬
klärungsgeschwader in einem 50 km
breiten Raum etwa 70 Sm. vom Skager¬
rak und 160 Sm. westlich Hanstholm..
Zu den 8 Kleinen Kreuzern und etwa
40 Torpedobooten der englischen Flotte¬
stießen sehr bald die 6 Schlachtkreuzer
und etwas später auch die 5 Linien¬
schiffe, so daß, abgesehen von den
Kleinen Kreuzern und Torpedobooten^
11 englische Großkampf schiffe mit
287650 t Raumgehalt und 2064320 mt.
Breitseitenfeuer den 5 Großen Kreuzern
der deutschen Flotte mit 1206001 und
704 473 mt gegenüberstanden. Das Über¬
gewicht der Engländer kennzeichnet,
sich durch 6 Einheiten, 167050 t und
1359847 mt. Um diesem erdrückenden.
Übergewicht zu begegnen, wurde deut¬
scherseits ein Torpedobootsangriff an¬
gesetzt. Die gegnerischen Flottillen nä¬
herten sich einander bis auf 1000 m
und lagen zwischen den beiden Reihen,
der Großkampfschiffe.
Das Ergebnis dieses Kampfabschnit¬
tes war, daß auf englischer Seite, trotz^
der erheblichen Übermacht in jeder Be¬
ziehung, sanken: die Schlachtkreuzer
Queen Mary 6 Minuten nach Beginn
des Artilleriekampfes und Indefatigable
infolge Explosion durch Artillerietref¬
fer sowie 4 moderne Zerstörer. Der
Verlust des deutschen Geschwaders be¬
schränkte sich dagegen auf 2 Tor¬
pedoboote. Dadurch verlor das engli-
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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
64
sehe Aufklärungsgeschwader 282 000 mt
gleich 13,6 v. H. an Feuerkraft Diese
Verminderung der englischen Feuerkraft,
die zwar noch immer um 1077 847 mt
größer war als die deutsche, ergab
immerhin eine fühlbare Entlastung un¬
seres Kreuzergeschwaders. Erst mit
dem Eingreifen der deutschen Haupt¬
macht — die Westfalen löste um 6 48
ihren ersten Schuß — erlangte die deut¬
sche Flotte vorübergehend eine Über¬
legenheit an Feuerkraft von 1132580mt
In dem zweiten Bericht des Admirals
Jelliooe wird diese Überlegenheit stark
hervorgehoben mit dem Zusatz, daß
trotz dieses Vorteils unsere Flotte stark
mitgenommen wurde. Diese Überlegen¬
heit dauerte übrigens nur etwa l 1 /*
Stunde, nach den amtlichen englischen
Angaben berechnet. Wenn es unserer
Führung gelang, trotz der riesigen Über¬
macht der englischen Flotte an Zahl,
Größe und Feuerkraft für einige Zeit
die Übermacht zu haben, so ist das
ihr Verdienst, ihre Geschicklichkeit, die
die Kräfte zusammenhielt, so daß sie
sie im richtigen Zeitpunkt verwenden
konnte, und es ist ein Fehler des eng¬
lischen Admirals, daß er dies trotz sei¬
ner überlegenen Mittel nicht verhindert
hat und nicht verhindern konnte. In
diesem Gefechtsabschnitt muß auch der
Schlachtkreuzer Princess Royal gesun¬
ken sein. Die englische Admiralität be¬
streitet zwar diesen Verlust; er wird
aber durch übereinstimmende Aussa¬
gen gefangener englischer Matrosen be¬
stätigt Dann hat dieses aus 6 Schlacht¬
kreuzern bestehende Geschwader die
Hälfte seines Bestandes verloren. Die
anderen 3 Schiffe scheinen schwere Be¬
schädigung erlitten zu haben, denn sie
schwenkten, gefolgt von unserer ersten
Aufklärungsgruppe, nach Norden ab,
verloren sich in der Feme und nahmen
auch späterhin nicht mehr am Kampfe
teil. Das Ausscheiden des ganzen Ge¬
schwaders von 6 der neuesten Schlacht¬
kreuzer ist ganz gewiß ein hervorra¬
gender Erfolg unserer Flotte. Vermut¬
lich zur Deckung dieses Rückzuges grif¬
fen die feindlichen Torpedobootsflottil¬
len unsere 5 Großen Kreuzer an. Dieser
Angriff wurde von unseren Flottillen
aufgenommen. Jetzt griff in denselben
die plötzlich im Nordosten auftau¬
chende Hauptmacht der englischen
Flotte mit ihren weittragenden 33,1-cm-
Geschützen ein. Der Kleine Kreuzer
Wiesbaden wird durch einen Schuß in
die Maschine bewegungslos. Alle Ver¬
suche, ihn zu retten, scheitern, aber ein
Angriff von 5 englischen Panzerkreu¬
zern auf ihn bricht unter schweren Ver-
»
lüsten zusammen. Zwei dieser Kreu¬
zer, Defenoe und Black Prince, sowie
der Kleine Kreuzer Birmingham sinken,
ein zweiter wird schwer beschädigt,
ebenso der Panzerkreuzer Warrior, der
noch die englische Linie erreicht, aber
später sinkt. Zu gleicher Zeit verläßt
auch ein Linienschiff der Queen-Eliza-
beth-Klasse stark überliegend die Li¬
nie (Warspite?).
Nach dem Eingreifen der englischen
Hauptmacht kommt es zu einem schwe¬
ren Artilleriekampf zwischen den bei¬
den Flotten, der durch die Unsichtig¬
keit infolge Schomsteinqualms und
Pulverrauchs wiederholt unterbrochen
wird, weil die Gegner sich aus dem Ge¬
sicht verlieren. Zwischenhinein fallen
zwei Angriffe der Torpedoboote, die
unter dem Schutz des Feuers unserer
schweren Artillerie bis in die Nähe der
feindlichen Linie herangeführt werden.
Bei dem dritten Vorstoß finden sie die
feindliche Flotte nicht mehr hinter dem
Dunstvorhang und kehren unverrichte¬
ter Sache zu ihren Führerschiffen zu¬
rück. Damit endet die Tagesschlacht.
Die Geschütze schwiegen um 9 30 . Als
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Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
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Ergebnis der Schlacht ist bis jetzt an
Verlusten zu verzeichnen:
1. Bei der englischen Flotte:
1 Linienschiff Warspite. Ein wei¬
teres, die Marlborough, wurde so
schwer beschädigt, daß es auf der
Heimfahrt gesunken sein soll. Die eng¬
lische Admiralität bestreitet diesen Ver¬
lust. Die 3 Schlachtkreuzer Queen
MaVy, Indefatigable und Invincible.
Princess Royal soll nach Gefange¬
nenaussagen ebenfalls gesunken sein.
Die 3 Panzerkreuzer Defence, Black
Prinoe und Warrior. Der Kleine
Kreuzer Birmingham und mindestens
5 Zerstörer. Ob noch ein zweiter Pan¬
zerkreuzer der Cressy-Klasse gesunken
ist, wie von verschiedenen Seiten be¬
hauptet wird, ist einwandfrei nicht fest¬
zustellen.
2. Bei der deutschen Flotte:
Der Große Kreuzer LQtzow. Sinkt
schwer beschädigt auf der Heimfahrt.
Der Kleine Kreuzer „Wiesbaden“ und
4 Torpedoboote.
Die beschädigten Schiffe außer acht
lassend, weil weder ihre Zahl noch die
Schwere ihrer Beschädigung festzustel¬
len sind, und ebenso wie oben die Klei¬
nen Kreuzer und Torpedoboote unbe¬
rücksichtigt lassend, hat die viel klei¬
nere deutsche Flotte der so großen
englischen einen Verlust von 90600 t
Rauminhalt und 515510 mt Feuerkraft
beigebracht, d. i. ein Mehrverlust von
64000 t und 362598mt. Diese Zahlen
sprechen für sich selbst.
Nach Beendigung der Tagesschlacht
fanden während der Nacht verschiedene
Einzelkämpfe statt, in denen verloren
gingen:
A Englischerseits:
1. Der Panzerkreuzer Euryalus, der
in Brand geschossen wurde und voll¬
ständig ausgebrannt sein soll. Der Ver¬
lust wird von der englischen Admi-
Internationale Monatsschrift
Difitized by Gougle
ralität bestritten. Ob der hier verloren¬
gegangene Panzerkreuzer wirklich Eu¬
ryalus oder ein anderer Kreuzer der
Cressy-Klasse war, ist schwer festzu¬
stellen. Nach einigen Angaben soll die¬
ser Panzerkreuzer nach wenigen Minu¬
ten gesunken sein. Trifft dies zu, so
müßte Euryalus, der 2 Stunden ge¬
brannt haben soll, außerdem zu an¬
derer Zeit und an anderer Stelle in
Brand geschossen sein.
2. 7 Zerstörer, die teils in wenigen
Sekunden durch Artilleriefeuer vernich¬
tet wurden; einer davon wurde durch
ein deutsches Linienschiff gerammt und
mitten durchgeschnitten.
Außerdem wurde ein „Kleiner Kreu¬
zer“ stark beschädigt.
B. Deutscherseits:
1. Der Kleine Kreuzer Frauenlob.
Er sank durch Torpedotreffer, nachdem
er vorher durch Artilleriefeuer stark
beschädigt war.
2. Der Kleine Kreuzer Rostock. Durch
Torpedo schwer beschädigt, sank er auf
dem Wege zu seinem Reparaturhafen.
3. Der Kleine Kreuzer Elbing. Er
ist nicht durch feindliches Feuer zer¬
stört, sondern durch eine unvermeid¬
liche Bewegung so beschädigt worden,
daß er verlassen werden mußte und
sank.
4. Das Linienschiff Pommern. Es
sank durch Torpedoschuß.
5. 3 Torpedoboote, eines davon lief
auf eine Mine.
Bemerkenswert ist, daß die deutsche
Flotte ihre größten Verluste in den
Nachtgefechten, und zwar durch Tor¬
pedos, erlitten hat Dies ist deshalb be¬
merkenswert, weil es beweist, daß die
englische Flotte in den Artilleriekämp-
fen der Tagesschlacht trotz der größe¬
ren Zahl und Stärke ihrer Geschütze
eine Überlegenheit nicht erringen konnte.
Für die so heiß umstrittene Frage, wem
3
Original from
INDIANA UNIVERSIIY
67
Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
68
der Sieg zugefallen ist, ist die Größe
der Verluste und die Entscheidung, ob
und inwieweit die taktische Absicht des
Führers erreicht wurde, von Bedeu¬
tung.
Der einwandfrei festgestellte Ge¬
samtverlust an Schiffen beträgt nach
oben gegebenen Einzelheiten:
bei der bei der deut¬
englischen, sehen Flotte
Linienschiffe ... 1 1
Große Kreuzer . . 6 1
Raumgehalt . . . 1370001 398001
Feuerkraft .... 797510 mt 213691 mt
Kleine Kreuzer u.
Führerschiffe . . 3 4
Zerstörer bzw.
Torpedoboote . . 12 5
Nicht eingerechnet sind die engli-
scherseits bestrittenen Verluste von
Marlborough, Princess Royal und Eu-
ryalus.
Von der Besatzung gingen verloren:
Tote u. Verwundete 6104 2414
Vermißte. 513 *) 449
Die Zahlen lassen sich ohne wei¬
teres miteinander vergleichen; hervor¬
gehoben sei nur, daß der Verlust der
englischen Flotte an Raumgehalt und
Feuerkraft mehr als fünfmal, der an
Toten und Verwundeten mehr als zwei-
undeinhalbmal so groß ist wie der der
so viel kleineren deutschen Flotte. Der
Verlust an Offizieren und Mannschaf¬
ten wirkt in der englischen Flotte viel
schwerer und nachhaltiger als in der
deutschen, weil diese durch die all¬
gemeine Wehrpflicht in den älteren
Jahrgängen genügend Fachleute be¬
sitzt, die für ihre Dienstvorrichtungen
gründlich ausgebildet sind. England
hat mangels der allgemeinen Wehr¬
pflicht diese Hilfsquelle aber nicht. Da¬
zu kommt noch, daß es eine jedenfalls
1) Darin sind 177 eingerechnet, die in
deutsche Gefangenschaft geraten sind.
nicht unbeträchtliche Anzahl Matrosen¬
artilleristen zur Bewaffnung der Han¬
delsschiffe abgegeben hat. Der Mangel
an Mannschaften, vielleicht auch der
Ausfall einer größeren Anzahl Schiffe,,
die teils untergegangen, teils so schwer
beschädigt sind, daß sie für lange Zeit
nicht mehr verwendungsfähig sind,
haben die Heimberufung der atlanti¬
schen Flotte und die Heranziehung der
Hälfte der Mannschaften der Geschwa¬
der im Indischen Ozean und im Mittel¬
meer veranlaßt.
Nun ist allerdings die Größe der
Verluste keineswegs für Sieg oder Nie¬
derlage allein entscheidend, denn wenn
durch so große Opfer die taktische Ab¬
sicht des Führers erreicht ist, so sind
sie gerechtfertigt. Diese Voraussetzung
trifft aber für die englische Flotte
nicht zu. Ganz abgesehen von der
schon vor dem Kriege prahlerisch aus¬
gesprochenen Absicht, die deutsche
Flotte in einer Nacht noch vor der
Kriegserklärung vernichten zu wollen,
mußte sein und war die Absicht der
englischen Admiralität, die deutsche
Flotte zu vernichten oder wenigstens
derart zu schwächen, daß sie aufhörte,
ein beachtenswerter Gegner in der Nord¬
see zu bleiben. Erst dann konnte die
etwa vorhandene strategische Absicht
einer Landung in einem neutralen Lande
oder verstärkter Drude auf alle nordi¬
schen Neutralen ausgeführt werden..
Dazu ist es nicht gekommen, und die
englische Flotte ist mehr geschwächt
worden als die deutsche. Nicht einmal
der wohlüberlegte und mit den reichen
Mitteln der englischen Flotte vorberei¬
tete und eingeleitete Plan konnte durch¬
geführt werden, weil es nicht gelang,
ein Übergewicht über die deutsche
Flotte zu erringen. Nach der Verteilung
der Schiffe und Bewegung der Ge¬
schwader zu schließen, sollte das eng-
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
69
Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
70
lisdbe Aufklärungsgeschwader, zu die¬
sem Zweck durch 5 der schnellsten
Linienschiffe verstärkt, im Westen und
Norden der deutschen Flotte den Weg
verlegen, sie dort aufhalten. Die
von Nordosten kommende Hauptmacht
wollte, nach Süden steuernd, sich zwi¬
schen die dänische Küste und die
deutsche Flotte legen, diese im Osten
und Süden umfassen, und endlich sollte
das aus dem Kanal kommende Ge¬
schwader von 12 Linienschiffen den
Kreis im Südwesten schließen und die
deutsche Flotte von ihrer Rückzugs-
linie abschneiden. Völlig eingekreist,
sollte sie durch die an Zahl und Stärke
überlegene Artillerie und Torpedowaffe
vernichtet werden. Diesen Plan konnte
der englische Admiral nicht durchfüh¬
ren, weil die 6 Schlachtkreuzer infolge
unseres Artilleriefeuers und unseres
Torpedoangriffs ausfielen. Dadurch ent¬
stand eine Lücke in dem Kreis zwischen
den 5 Linienschiffen der Queen-Eliza-
beth-Klasse und der Hauptmacht, die
diese durch Fahrt nach Südwesten zu
schließen suchte, ehe sie sich anschik-
ken konnte, unsere Flotte im Osten und
im Süden zu umfassen. Nichtsdesto¬
weniger hatten die an der Spitze
der Hauptmacht fahrenden 3 Schiffe
der neuesten, der Royal-Sovereign-
Klasse sich schon beinahe vor die
Spitze unserer Panzerkreuzer gelegt.
Die geschickte Führung unserer Flotte,
ihr überlegenes Artilleriefeuer und die
schneidigen Angriffe der Flottillen
wandten die drohende Gefahr ab, ver¬
hinderten den Feind, seine Einkrei¬
sungsbewegung fortzusetzen und ver-
anlaßten ihn, hinter dem undurchsich¬
tigen Rauchschwaden abzudampfen.
Wohin ist zweifellos nicht festgestellt.
Der zweite Bericht Jelliooes behauptet,
daß die Engländer bei Tagesanbruch
tun 1. Juni Herren des Schlachtfeldes
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schienen, daß ihre Flotte bis 11 Uhr
morgens dicht an dem Wege nach
den deutschen Häfen blieb. Der Ad¬
miral kannte also Ziel und Weg der ge¬
schlagenen feindlichen Flotte, warum
setzte er seine Einkreisungsbewegung
nicht fort, warum verfolgte er sie nicht
trotz der größeren Geschwindigkeit sei¬
ner Schiffe? Er mußte sie einholen.
Die dritte Ursache für das Mißlingen
des Planes war, daß das aus dem Ka¬
nal befohlene Linienschiffsgeschwader
nicht rechtzeitig zur Stelle war, sondern
erst am Morgen des 1. Juni, wie durch
einen Zeppelin festgestellt wurde, in
der Ferne des Kampfplatzes erschien.
Nach so schweren Verlusten und völ¬
liger Vereitlung der taktischen Absicht
von einem Sieg, noch dazu von einem
großen und glänzenden Sieg zu spre¬
chen, ist politische Mache. Admiral Jel-
liooe hat unter dem frischen Eindruck
der Schlacht „schwere Verluste“ der
englischen Flotte und „ernste Be¬
schädigungen“ beim Gegner nach Eng¬
land gemeldet. Durch die Veröffentli¬
chung dieses Berichtes stand ganz Eng¬
land unter dem Eindruck einer Nieder¬
lage, der noch verstärkt wurde, als die
schwer beschädigten Schiffe einge¬
schleppt wurden. Das Volk sprach den
verwundeten Offizieren sein Beileid
über die Niederlage aus, und die Zei¬
tungen schrieben im gleichen Sinne.
Die Times sagt: „Wir können auf das
nächste Mal warten. Wir werden auch
an die Reihe kommen. Das Glück
wird nicht immer Deutschland begün¬
stigen.“ Admiral Beatty wurde beur¬
laubt, und Grey teilte öffentlich mit,
daß sich nunmehr im ganzen Lande
die Überzeugung durchgesetzt habe,
daß die Seeschlacht ein vollständiger
Sieg Englands war. Nichtsdestoweni¬
ger befürwortete Lord Crewe, die vom
Herzog von Ruland im Oberhaus erbe-
3*
Original fro-m
INDIANA UNIVERSITY '
71
Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
72
tene öffentliche Danksagung an Sir John
Jelliooe und die Offiziere und Mann¬
schaften der Flotte aufzuschieben. Wo¬
zu das alles, wenn die Flotte zweifels¬
frei gesiegt hat? In Deutschland wurde
der Sieg gemeldet, geglaubt und der
Flotte der Dank des Reichtages zu er¬
kennen gegeben. Wir haben keine Ver¬
anlassung gehabt, im Laufe der nach¬
folgenden Zeit diesen Sieg geringer an¬
zusehen, als er gemeldet worden ist.
Wenn wir auch unserem eigenen Ur¬
teil nicht allein trauen wollten, so
sprechen Neutrale für unseren Sieg und
selbst englische Zeitungen, die früher
nur Hohn und Spott für die deutsche
Flotte hatten, schreiben jetzt: „Wir
wissen jetzt, was die Stärke der deut¬
schen Flotte bedeutet und kennen ihren
Wert. Kein verständiger Mensch wird
sie unterschätzen.“
Welches sind nun die Ursachen, daß
die so viel stärkere englische Flotte ihre
Absichten nicht durchführen konnte,
sondern unterlag? Es sind: der Geist
in der Flotte, das Vertrauen zwischen
Offizieren und Mannschaften, die sich
in zwei Kriegsjahren durch ruhmvolle
Taten der ganzen Welt offenbart ha¬
ben; es ist die überlegene und ge¬
schickte Führung, die es verstand, zur
rechten Zeit der englischen Flotte über¬
legene Kräfte entgegenzuwerfen, und
als dies mit dem Eingreifen der über¬
mächtigen englischen Hauptgeschwader
nicht mehr möglich war, durch ge¬
schickte Bewegungen und das Einsetzen
aller Kräfte im richtigen Augenblick die
erdrückende Übermacht abzuweisen; es
sind: die vorzügliche Ausbildung der
Offiziere und Mannschaften und die
Güte der Schiffe und der Waffen.
Ein Vergleich der Ergebnisse des
beiderseitigen Artilleriefeuers führt zu
der Überzeugung, daß von den an und
für sich nur geringen deutschen Ver¬
lusten nur sehr wenige durch Artille¬
riefeuer, die meisten aber durch Tor¬
pedotreffer herbeigeführt worden sind.
Zu letzteren gehören das Linienschiff
Pommern und die beiden Kleinen Kreu¬
zer Frauenlob und Rostock. Durch Ar¬
tilleriefeuer sind nur schwer beschä¬
digt der Große Kreuzer Lützow und
zerstört der Kleine Kreuzer Wiesbaden
und 4 Torpedoboote. Der Große Kreu¬
zer Lützow hat wenigstens 15 schwere
Treffer erhalten und der Kleine Kreuzer
Wiesbaden ist erst gesunken, nachdem
eine unglaubliche Überzahl von Schif¬
fen und sogar die 38,1-cm-Geschütze
der Hauptmacht auf große Entfernung
ihn beschossen. Hieran ist bemerkens¬
wert, daß Lützow trotz der großen Zahl
schwerer Treffer nicht sofort zum Sin¬
ken gebracht werden konnte, sondern
erst am anderen Morgen auf der Heim¬
fahrt unterging und daß es eines so
großen Aufgebotes an Artillerie be¬
durfte, um Wiesbaden zum Sinken zu
bringen. Dieselbe Erscheinung trat auch
bei Frauenlob auf. Der Kreuzer hatte
starke Beschädigungen durch Artille¬
riefeuer, ging aber erst nach einem Tor¬
pedotreffer unter. Aus diesen Beob¬
achtungen kann mit Wahrscheinlich¬
keit der Schluß gezogen werden, daß
die Wirkung des englischen Artillerie¬
feuers ungenügend, jedenfalls weniger
stark als die des deutschen war, denn
das deutsche Artilleriefeuer hatte, so¬
weit Nachrichten darüber vorliegen, in
den meisten Fällen fast augenblickli¬
chen Erfolg. Als Zeugnis diene die ge¬
wiß unvoreingenommene Äußerung ei¬
nes englischen Offiziers von dem Pan¬
zerkreuzer Warrior: „Zwei Granaten
von wenigstens 30,5 cm Durchmesser
schlugen vor dem Bug der Defence
ein, 3 Sekunden später traf eine Sal¬
ve sie mittschiffs; sie krümmte sich
und sank. Der Black Prince war der
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INDIANA UNIVERSITY
73
Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
74
nächste an der Reihe. Zwei Granaten
rissen ihm seine Schornsteine und den
vorderen Turm weg, eine zweite Salve
traf ihn in die Pulverkammer und er
flog in die Luft.“ Warrior selbst ver¬
lor einen Aufzug fflr Rettungsboote,
in das Hinterdeck drang eine Granate
so tief ein, daß der Dynamo zerstört
wurde. Die Geschütztürme waren bei¬
nahe unbrauchbar, weil der Munitions¬
aufzug weggeschossen war. Ein ein¬
ziger Schuß setzte die Maschine an
Steuerbord und Backbord außer Tä¬
tigkeit und tötete 20 Mann. In 5 Minu¬
ten stand das Schiff in Brand und war
nach einer halben Stunde ein Wrack,
das allerdings noch die eigene Linie er¬
reichen konnte, später aber sank. Der
Schlachtkreuzer Queen Mary sank nach
einer durch Artilleriefeuer herbeige¬
führten starken Explosion bereits 6 Mi¬
nuten nach Beginn des Kampfes, und
10 Minuten nach ihm sank der zweite
Schlachtkreuzer Indefatigable. Unser
Linienschiff König hat dem engli¬
schen Linienschiff Warspite schwere
Treffer beigebracht die eine Explosion
verursachten und später den Verlust
des Schiffes herbeiführten. Das Linien¬
schiff Markgraf hat mit nur drei Salven
einen Panzerkreuzer zum Sinken ge¬
bracht Der Panzerkreuzer Euryalus
wurde in Brand geschossen und brannte
innerhalb zweier Stunden vollständig
aus. Unser Linienschiff Westfalen
schoß 6 Zerstörer ab und hat dagegen
nur 2 leichte Beschädigungen erhalten.
Der Kleine Kreuzer Stuttgart schoß
trotz seiner im Verhältnis zu den Gro߬
kampfschiffen nur schwachen Bewaff¬
nung einen überlegenen Gegner in
Brand; ihm selbst aber blieben Ver¬
luste erspart. Dieses ungeheure Mi߬
verhältnis in der Artilleriewirkung bei¬
der Flotten erklärt Reuter damit, daß
die Artillerie den deutschen Schif¬
fen ein enormes Übergewicht ge¬
geben habe. Damit gibt er also un¬
umwunden die Unterlegenheit der eng¬
lischen Schiffsartillerie zu. Die Ur¬
sachen für diese durchaus nicht über¬
raschende deutsche Überlegenheit sind
verschiedene. Die Feuerleitung und
Schießausbildung waren auf allen unse¬
ren Schiffen gleich vorzüglich. Nach
Berichten von Augenzeugen saß meist
schon die dritte Salve gut Neben der
vorzüglichen Schießausbildung haben
hierzu die unvergleichlichen Erzeug¬
nisse unserer optischen Industrie, voll¬
kommene Entfernungsmesser und Ziel¬
fernrohr-Aufsätze, beigetragen. Dage¬
gen sollen nach Zeitungsnachrichten die
Engländer weniger gut geschossen ha¬
ben. Wenn man die oben mitgeteilten
Schießergebnisse wertet und berück¬
sichtigt, daß auch die Elbing nicht ein
einziges Mal getroffen worden ist, ob¬
wohl sie längere Zeit im ununterbro¬
chenen Feuer der englischen Linien¬
schiffe lag, so könnte man wohl zu
einer solchen Folgerung kommen. An¬
dererseits beweisen aber die vielen
Treffer des Großen Kreuzers Lützow,
daß auch mit gutem Ergebnis geschos¬
sen worden ist. Danach scheint die
Schießausbildung der englischen Ma-
trosenartilleristen nicht durchweg so
gleichmäßig gut gewesen zu sein wie
die der deutschen. Ausschlaggebend ist
ferner, daß unser Geschützsystem infol¬
ge seiner Konstruktion und seines Auf¬
baues (s. „Künstliche Metallkonstruk¬
tion“ Heft 5, Februar 1912) größere Treff¬
sicherheit hat und daß den Geschossen
eine größere Durchschlagskraft und
größere Sprengwirkung eigen ist Das
erscheint auffällig, weil ja die eng¬
lischen Sdiiffe wesentlich schwerere
Geschütze hatten. Nur die schwere Ar¬
tillerie berücksichtigt, stellt sich das
Verhältnis wie folgt;
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INDIANA UNIVERSITY
>75
Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
76
England Deutschland
38,1 cm
L 45 . .
64
35,6 „
L 45 . .
20
343 „
L/45 . .
142
226
0
30,5 „
L50 . .
74
154
303 „
L/45 . .
70
144
—
154
28 „
L 50 . .
—
20
28 „
L 45 . .
—
56
28 „
L 40 . .
—
32
108
370 262
Stärkere Geschütze als 30,5 cm, von
denen England allein 226 in den Kämpf
brachte, fehlten der deutschen Flotte
ganz, der größte Seelendurchmesser
war 30,5 cm und daneben hatte sie nur
28-cm-Geschütze. Die Durchschlags¬
kraft der Geschosse ein und desselben.
Geschützsystemes sollte mit ihrem
Durchmesser und der Rohrlänge wach¬
sen. So durchschlägt z. B. ein Panzer¬
geschoß aus einem Kruppschen
28 cm L/40 L/45 L/50 30,5 cm L/45 L/50 35,6 cm L/45 38,1 cm L/45 L/50
nahe der Mündung eine Stahlplatte von einer Stärke von cm
83 90 97 99 107 117 125 136
Zum Vergleich hiermit seien die entsprechenden Zahlen gleichgroßer Geschütze
englischer Fabriken beigesetzt
Armstrong— — — 80
Wickers. . <— — — 82
Coventry . — — 87 83
Die Zahlen für die englischen Ge¬
schütze sind durch Umrechnung ge¬
wonnen, weil die englischen Fabrik«!
die Stärke schmiedeeiserner Plat¬
ten angeben, während die Kruppschen
auf Versuchen mit stählernen Plat¬
ten beruhen. Der Vergleich dieser Zah¬
len lehrt eine vollkommen gesetzmäßige
Zunahme der Durchschlagskraft der
Geschosse Kruppscher Geschütze mit
der Länge und mit dem Seelendurch¬
messer der Rohre. Bei den Geschützen
englischer Fabriken ist eine solche
Gesetzmäßigkeit nicht vorhanden. Er
lehrt ferner, daß die Durchschlags¬
kraft der Geschosse englischer Rohre
von gleichem Durchmesser und glei¬
cher Länge um 10 bis 23 cm Platten¬
starke geringer ist als die der Krupp¬
sdien Geschosse. Darin ist die Über¬
legenheit der Kruppschen Geschütze
über die englischen zahlenmäßig ausge¬
sprochen. Hierin liegt auch der Grund,
weshalb Deutschland mit Ruhe zuge¬
schaut hat, wie England in rascher
Folge -den Seelendurchmesser seiner
schwersten Schiffsgeschütze steigerte.
89 90 —
88 88 97
— 87 102
England hatte schon bei dem im De¬
zember 1894 abgelaufenen Linienschiff
Magnificent 30,5 - cm - Geschütze, aller¬
dings nur L/35. 1901 waren sie 40,
1906 45, 1908 50 Seelendurchmesser
lang. Demgegenüber hatte Deutschland
bis 1909 nur 28-cm-Rohre L/45 an Bord
und ging erst in diesem Jahre zum
30,5 cm L/50 über, als England infolge
schlechter Erfahrungen mit seinen 50
Seelendurchmesser langen 30,5-cm-Roh-
ren 1910 zu 34,3 cm L/45, 1913 zu 35,6
L/45 überging. Für die 1912 auf Stapel
gelegten englischen Schiffe wurden be¬
reits 38,1cm L/45 vorgesehen. Deutsch¬
land beantwortete dies erst jetzt mit
gleichstarken Geschützen für seine Neu¬
bauten. England hatte deshalb schon
38,1 cm in der Seeschlacht, Deutsch¬
land aber noch nicht Unser stärkstes
Geschütz war nur 30,5 cm L/50, aber
dessen Mündungsdurchschlagskraft war
noch immer größer als die der engli¬
schen 38,1 cm L/45. Wir sehen hierin
klar ausgesprochen, daß die Leistung
der Kruppschen Geschütze die der
englischen übertrifft Wirft man nun
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INDIANA UNIVERSITY
77
Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
78
noch auf die folgende Zusammenstel
Jung einen Blick:
38,1cm L'45
Eng¬
L/50
Krupps
lands
Krupps
.Rohrgewicht kg 83800
MOndungsarbeits-
96000
93200
leistung mt . . 30680
Auf jede mt Ar¬
26060
34230
beitsleistung
kommt ein Rohr¬
gewicht von kg 2,7
3,7
2,7
so erkennt man ohne weiteres, bei wel¬
chem Geschützsystem die bessere Kon¬
struktion, der bessere Aufbau und der
bessere Stahl zu finden sind.
Die Eindringungstiefe der Geschosse
hängt naturgemäß in erster Linie von
ihrer Haltbarkeit ab, denn Geschosse,
die am Panzer zerschellen, dringen
nicht ein. Daß die deutsche Marine in
Ihren Kruppschen Panzergranaten das
Beste hat, was es in der Welt gibt, ist
selbstverständlich. Die Eindringungs-
tiefe hängt aber auch im umgekehrten
Verhältnis ab von dem Panzerschutz.
Die englischen Linienschiffe und Pan¬
zerkreuzer haben sämtlich sogenannte
K-Platten. Das sind Nickelstahlplatten,
deren äußere Oberfläche nach dem
Kruppschen Patent gehärtet sind. Die
Außenfläche wird dadurch nahezu glas¬
hart, während der dahinter liegende
stärkere Teil der Platte aus ungehärte¬
tem Nickel stahl außerordentlich zäh ist
und die Platte davor bewahrt, beim
Auftreffen eines Geschosses zu sprin¬
gen. Das würde zweifellos geschehen,
wenn die Platte durch und durch stark
gehärtet -wäre. FQr die Panzerplatten
der deutschen Großkampfschiffe sind
bis zum Jahre 1906 K-Platten angegeben.
Von da ab hörte jede Bezeichnung der
Panzerart auf. Es sei dahingestellt,
welche Schlüsse daraus zu ziehen sind.
Jedenfalls hat sich unsere Panzerung
der englischen Geschoßwirkung gegen¬
über bewährt. Es ist darauf hinge¬
wiesen worden, daß die englischen
Großkampfschiffe schwächer gepanzert
seien als die unsrigen. Um nicht alle
Zahlen der wechselnden Panzerstärke
aufzuführen, sei die größte Platten¬
stärke an der Wasserlinie herausge¬
griffen. Sie ist bei den neuesten eng¬
lischen Schlachtkreuzern 229 mm, bei
den Linienschiffen 343 mm, beim Moltke
280 mm, bei der Königklasse 350 mm.
Über die neuesten Schiffe sind An¬
gaben nicht veröffentlicht Nach vor¬
stehenden Zahlen trifft die Annahme
der stärkeren deutschen Panzer für die
Kreuzer wohl zu. Die Geschoßwir¬
kung hängt aber auch sehr wesentlich
ab von der Größe der Sprengladung
und von der Kraft des Sprengstoffes.
Die Kruppsche Fabrik beziffert die
Größe der Sprengladung von Panzer¬
granaten mit 10 v. H. des Geschoßge¬
wichtes. Daraus folgt daß bei glei¬
cher Sprengkraft die Sprengwirkung
mit dem Seelendurchmesser der Ge¬
schütze zunimmt, denn das Gewicht der
Geschosse nimmt im kubischen Ver¬
hältnis mit ihren Durchmessern zu.
Eine Kruppsche 28-cm-Granate hat nur
30 kg Sprengladung, eine 38,1-cm- aber
76 kg. Danach müßten die englischen
Geschosse eine sehr viel verheeren¬
dere Wirkung ausgeübt haben, denn es
ist eben nachgewiesen, daß die Eng¬
länder die größeren Geschütze hatten.
Aber die Kraft der Sprengstoffe ist von
ausschlaggebender Bedeutung; sie hat
von der Ladung mit gewöhnlichem
Schwarzpulver, das völlig unzulänglich
ist stetig zugenommen; nach dem
Schwarzpulver kam Schießbaumwolle,
dann Pikrinsäure, Nitrotoluol, Trotyl,
und es ist nicht ausgeschlossen, daß
unsere „neutralen“ Freunde in Amerika
zur Zeit noch stärker wirkende Spreng¬
stoffe erfunden haben, um sie dem Vier¬
verband in Zukunft zur Verfügung zu
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70
Karl Bahn, Die Seeschlacht am Skagerrak am 31. Mai 1916
80
stellen. Die Explosions- und Brand¬
wirkung der englischen Granaten ist
nach den oben mitgeteilten Schießer¬
gebnissen nur gering, jedenfalls gerin¬
ger gewesen als die der deutschen. Der
Kontre-Admiral a. D. Weber führt in
einem Aufsatz in der „Flotte“ die zahl¬
reichen schweren Bründe der englischen
Schiffe m. A. mit vollem Recht auf
die umfangreiche Anwendung flüssigen
Heizstoffes zurück. Gerade die neue¬
sten englischen Großkampfschiffe sind
sämtlich für Ölfeuerung eingerichtet,
und es kann gar keinem Zweifel unter¬
liegen, daß eine in einem Öltank explo¬
dierende Sprenggranate eine Gasexplo¬
sion und durch Wasser überhaupt nicht
zu löschende verheerende Brände her-
vorrufen muß.
Alle hier kurz besprochenen Vorteile,
die unserer Schiffsartillerie die Über¬
legenheit über die englische gegeben
haben, sind bleibende, denn es ist un¬
möglich, daß die Engländer ihre Unter¬
legenheit in allen diesen schwerwiegen¬
den Punkten bis zur nächsten See¬
schlacht beseitigen können. Wenn wir
danach diese Vorteile dann ungeschmä¬
lert beibehalten und wenn das Stärke-
verhältnis beider Flotten zueinander
sich zu unseren Ungunsten nicht we¬
sentlich verschiebt, so können wir die¬
ser Schlacht mit Ruhe und Zuversicht
entgegensehen. Läßt man auf beiden
Seiten jede während des Krieges etwa
betriebene Baubeschleunigung außer
Betracht und berücksichtigt nur die¬
jenigen Neubauten, die nach dem Frie¬
densbauplan Sommer 1916 fertig wer¬
den sollten, so hat für die bevor¬
stehende Seeschlacht an Zuwachs zu
erwarten:
England: 2 Linienschiffe der Royal-
Sovereign-Klasse, beide nur als Er¬
satz für die verlorenen Linienschiffe
Warspite und Marlborough. (Der Ver¬
lust beider Schiffe wird von der eng¬
lischen Admiralität nicht zugegeben.)
An Schlachtkreuzern ist ein Zuwachs
nicht zu erwarten, da die nächsten Neubau¬
ten erst Ende 1916 fertig werden sollen.
Deutschland: Die beiden Linienschiffe
Ersatz Wörth und T., die Sommer 191&
dienstbereit sein sollen. Diese sind un¬
eingeschränkter und sehr wertvoller
Zuwachs, denn wir haben nur das äl¬
tere Linienschiff Pommern verloren, das.
ohne weiteres durch ein gleichwertige»
aus der Reserve-Schlachtflotte ersetzt
werden kann. Dieser Zuwachs durch
2 Neubauten ist darum so wertvoll,,
weil mit ihm zum ersten Male 38,1-cm-
Geschütze in unserer Flotte auftreten*
die nach dem oben Gesagten den eng¬
lischen 38,1-cm- sehr wesentlich über¬
legen sind. Mit Indienststellung des
Großen Kreuzers Hindenburg tritt voll¬
gültiger Ersatz seines Schwesterschif¬
fes Lützow, aber kein Zuwachs ein.
Nach Ausgleich des Abganges in der
Schlacht am 31. Mai erwächst der eng-
lichen Flotte aus den in den nächsten
Monaten dienstbereiten Neubauten kein
Zuwachs an Großkampfschiffen weder
der Zahl noch der Stärke nach. Der
sehr beträchtliche Verlust an Schlacht¬
kreuzern kann zunächst nicht ausge¬
glichen werden. Deutschland hingegen
wird an Großen Kreuzern in gleicher
Stärke auftreten und an Linienschiffen
zwei Neubauten mit starker Artillerie
erhalten.
Wir gehen also nicht geschwächt,
sondern gestärkt in den neuen Kampf,
gestärkt an Zahl, Feuerkraft und Ver¬
trauen in unsere Kraft, denn das Zu¬
trauen von Offizieren und Mannschaf¬
ten der Flotte zur Führung, zu den
Schiffen, zu den Geschützen und den
Torpedos ist durch den zweifellosen
Sieg am 31. Mai unendlich gewachsen.
Und das ist siegverheißend.
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Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts
82
Ein antikes System des Naturrechts.
Von Hermann Diels.
In dem kürzlich ausgegebenen elften
Bande der aus Oxyrhynchos in Ägyp¬
ten stammenden griechischen Papyri
finden sich einige Kolumnen eines alt¬
attischen Traktats über den Gegensatz
des positiven und Naturrechts, der
glücklicherweise sofort als ein Bruch¬
stück der Schrift des Sophisten Anti¬
phon „Ober die Wahrheit“ festgestellt
werden konnte. 1 ) Abgesehen von dem
literarischen Interesse, das ein solches
Prosastück aus der Zeit des Pelopon-
nesischen Krieges besitzt, erregt der In¬
halt dieser Inkunabel der attischen Phi¬
losophie hochgespannte Erwartungen.
Denn das Hauptthema der damaligen
Sophistik „Natur und Sitte“ steht hier
zur Verhandlung.
Der Widerspruch zwischen der alt-
ererbten Vätersitte und dem gesetzlich
normierten Rechte einerseits und den
Geboten der Natur andererseits erfüllt
die literarische Luft des ganzen fünf¬
ten Jahrhunderts. Philosophen wie
Historiker, Tragiker wie Komiker be¬
mächtigen sich des Problems, das
von nun an nicht mehr aus der
Diskussion der Menschheit verschwin¬
det Der Zwist zwischen Natur und
Menschensatzung (Physis und Nomos)
oder, allgemeiner gesprochen, zwischen
Natur und Kultur wird in allen schöp-
1) Diese Feststellung ist von Wilamowitz
gelungen, der noch vor der Veröffentlichung
im Sommer 1914 dem englischen Heraus¬
geber der Oxyrhynchos-Papyri Mitteilung
davon machen konnte. Den griechischen
Text habe ich dann nach der inzwischen
erschienenen Ausgabe mit einigen Ver¬
besserungen und Ergänzungen abgedruckt
in den Sitzungsber. der Berl. Ak. 20. Juli
1916.
feilschen Zeitaltern stets von neuen»
aufgenommen, und er entfacht immer
von neuem erbitterte Kämpfe zwischen
den Verfechtern des alten und des
neuen Rechts, die sich bisweilen in ge¬
waltsamem Umsturz entladen und be¬
deutende staatliche und gesellschaft¬
liche Umwälzungen zur Folge haben
können.
Im alten Griechenland ist dieser
Kampf vom sechsten Jahrhundert an
ausgefochten worden. Es ist die Zeit
der Aufklärung, die hier wie in der
Aufklärungsperiode der Neuzeit von
der Naturforschung ausgeht. Wie die
astronomischen und physikalischen Ent¬
deckungen von Kopernikus, Kepler,
Galilei, Newton die Welt neu orientier¬
ten, so hat die ionische Naturwissen¬
schaft und namentlich ihre astronomi¬
schen Theorien von Thaies und Anaxi-
mander an bis auf Anaxagoras und
Demokritos dem antiken Menschen die
Augen geöffnet. Den Ioniern schlossen
sich Westhellenen (Parmenides und
Empedokles) und Athener (Archelaos)
an. Sie alle schrieben „Über die Na¬
tur“, und sie alle versuchten mit Ver¬
werfung der mythischen Traditionen
die Welt einheitlich und natürlich zu
erklären. Indem sie das ewige Gesetz
des Werdens und Seins zu ergründen
strebten, mußte ihnen das menschliche
Gesetz, das geschriebene wie das un¬
geschriebene, mehr und mehr ver¬
blassen.
Wie man in der Zahl das Geheimnis
der Natur entdeckte, so spannte man
nun auch das politische Leben rationell
in die Zahl ein. Kleisthenes, der Zeit¬
genosse des Pythagoras, entnahm dem
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«3
Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts
84
Kalender seinen Maßstab fQr die An¬
zahl der Senatoren Athens genau so
•wie die französischen Verkünder der
Menschenrechte und der Vernunftreli¬
gion die Welt mit dem von kosmischen
©egriffen unpraktisch abgeleiteten Me¬
termaß beglückten.
Es ist lehrreich zu sehen, wie sich
t>ei den Naturphilosophen des Alter¬
tums der Kreis der vom Logos er¬
hellten Gebiete allmählich weitet und
auf das politische und moralische Ge¬
biet übergreift. Schon Pythagoras, die
Eleaten und Heraklit (so verschieden
auch ihre Systeme waren) erweiterten
das Naturgesetz zur sittlichen und po¬
litischen Norm, und der Athener Arche¬
laos, der den jungen Sokrates beein¬
flußt hat, lehrte, daß die Begriffe Ge¬
recht und Schimpflich (d. h. der Kodex
des geschriebenen und ungeschriebe¬
nen Rechts) nicht der Natur, sondern
der „Satzung“ angehören, also wan¬
delbar und unverbindlich erscheinen
müssen. Zu derselben Zeit lehrten die
Abderiten, daß alle Wahrnehmung des
Menschen, Süß und Bitter, Warm und
Kalt, Hell und Dunkel, subjektive, wech¬
selnde, willkürliche Eindrücke seien,
wahrend die „Natur“ der Dinge, die
«ewig dieselbige, die in den Atomen und
dem Leeren besteht, allein wahrhaft
und dauernd sei. So sei auch im sitt¬
lichen Leben, wie Demokrit*) lehrte,
das Recht allein bei der Natur und nicht
bei dem, was als Recht gelte. Die Ge¬
setze seien eine schlimme Erfindung,
und der Weise solle nicht den Gesetzen,
sondern frei von ihrem Zwange der
'Natur folgen.
In diesen Streit von Nomos und
Physis führt uns nun Antiphon, der
Zeitgenosse des Sokrates und Demo-
2) Nach dem allerdings nicht immer zu¬
verlässigen Epiphanius (Vorsokr. 55A 166).
krit **), in dem neugefundenen Bruch¬
stücke mitten hinein. Er wägt die Ge¬
setze des Herkommens und der Natur
gegeneinander ab und laßt die Wage
entschieden zugunsten der Natur aus-
schlagen.
Wer die bisher bekannten Fragmente
der beiden Bücher „Über die Wahrheit“
durchmustert 3 ), wird nicht leicht für
diese naturrechtliche Erörterung den
Platz ausfindig machen. Wir finden da
erkenntnistheoretische, physikalische
und physiologische Fragen berührt*
aber mit Ausnahme eines Sätzchens,
das im Papyrus wiederkehrt (fr. 44),
keine Andeutung naturrechtlicher Spe¬
kulationen. Trotzdem laßt sich viel¬
leicht der Zusammenhang aus einem
Berichte des Aristoteles erraten.
Im Anfang des zweiten Buches sei¬
ner Physik*), wo der Begriff der Phy¬
sis erörtert wird, erwähnt der Stagirite
die Ansicht einiger Philosophen, man
müsse unter „Natur“ das Erste, Ur¬
sprüngliche, Ungeformte im Gegensatz
zu dem Abgeleiteten, Geformten, Künst¬
lichen verstehen. Die „Natur“ des Spei¬
selagers (Kline) sei Holz, die der Bild¬
säule Erz. Antiphon beweise dies durch
ein Experiment. Man grabe eine Kline
in die Erde ein und lasse sie verfaulen.
Wenn sich dann aus dem Verfaulten
neues Leben entwickle, so entstehe
doch nie daraus eine Kline, sondern
nur Holz. 5 ) Also sei die durch Kunst
2 a) Nicht zu verwechseln mit dem Redner
Antiphon.
3) Sie sind zuletzt in meinen „Vor-
sokratikem“ 80 B 1—44 zusammengesteUt
worden.
4) Arist. Phys. II1 p. 193 ( Vorsokr . 80B15).
5) Da die Alten die falsche Vorstellung
hatten, aus verfaulten Organismen könnten
neue Lebewesen entstehen (z. B. aus Pferde-
leichen Bienen), so ist jenes Beispiel nicht
verwunderlich. Zugrunde liegt die wichtige
Beobachtung, daß bei roh gezimmerten
Möbeln, wenn mit der teilweise erhaltenen
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Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts
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entstandene Form sekundär, die Sub¬
stanz dagegen, die dauernd haftet, sei
das Primäre. Jenes sei der „Nomos",
dieses die „Physis".
Daraus, daß Aristoteles hier beiläu¬
fig den Nomos erwähnt, der mit dem
gewählten Beispiele und dessen phy¬
sisch-technischem Gegensätze nichts zu
tun hat, ersieht man, daß bei Antiphon
jenes drastische Beispiel in die Erör¬
terung des Grundproblems Nomos-Phy¬
sis eingereiht und das Primat der Na¬
tur mit der Erörterung der Grundprin¬
zipien alles Seins verflochten war, von
der uns bisher nur dunkle an Parmeni-
des erinnernde Andeutungen in den
bisherigen Fragmenten Vorlagen. Die
Art und Weise, theoretische Sätze
durch möglichst triviale Beispiele zu
erläutern (sie erinnert an Sokrates* Me¬
thode), wird uns in dem neuen Bruch¬
stück öfter begegnen.
Aus dieser Tendenz erklärt sich nicht
nur der Titel des Werkes „Über die
Wahrheit", der an Parmenides unmit¬
telbar anknüpft, sondern auch die apho¬
ristische Form des Bruchstückes, die
keineswegs die einzelnen Sätze bis zu
ihren letzten Konsequenzen verfolgt,
sondern sich begnügt, mit leichter Hand
die bisherige juristisch-ethische Basis
der griechischen Kultur, den Nomos,
vom Throne zu stoßen und die Physis
als allmächtige Herrscherin an die
Stelle zu setzen. Man darf also nicht
vergessen, daß die paradoxen Sätze
dieses naturrechtlichen Abrisses nur
eine Episode im Rahmen des ganzen
Buches bilden.
Doch es ist Zeit, uns dem neuen
Fragmente zuzuwenden. Ich werde den
Binde das „Cambium“ geschont wird, unter
Umständen „Adventivbildung“, d. h. Regene¬
ration der Pflanze, erfolgen kann. Bei Pappel-
and Weidenholz mag dergleichen am leich¬
tasten Vorkommen.
Text in deutscher Übersetzung mittei-
len, wobei zum voraus zu bemerken
ist, daß die Undeutlichkeit wie Über¬
deutlichkeit des Stils, die dem moder¬
nen Leser auf die Nerven fällt, nicht
nur dem individuellen Ungeschick des
Autors zur Last fällt 6 ), sondern teil¬
weise auch in der Absicht des Verfas¬
sers und vor allem in den Gewohn¬
heiten des archaischen Prosastils seine
Erklärung findet.
Antiphon geht aus von einer damals
wohl allgemein anerkannten Definition
der Gerechtigkeit. Sie besteht darin
(BruchsL A. Kol. 1, 1—11),
„alle gesetzlichen Vorschriften des
Staates, in dem man Bürger ist, nicht
zu übertreten".
Dieselbe Formulierung der Gerech¬
tigkeit gibt Sokrates in Xenophons
Memorabilien (IV 4, 12) im Gespräch
mit dem Sophisten Hippias. Es ist
wahrsdieinlich, daß auch dieser ältere
und bedeutendere Sophist von dieser
Basis aus seinen Angriff auf die kon¬
ventionelle Gesetzlichkeit gerichtet hat
Freilich Xenophon, der ersichtlich nur
aus zweiter Hand schöpft, läßt in jenem
besonders schlecht komponierten Ge¬
spräche dem Hippias gar keine Zeit,
seine eigene, als große Entdeckung an¬
gekündigte Theorie der Gerechtigkeit
selbst vorzubringen. Aber daß Hippias
genau wie Antiphon auf dem Boden
des Naturrechts steht und daß der
jüngere Sophist bei jenem in die Lehre
gegangen ist, wird sich im weiteren
zeigen.
Wie die übrigen Sophisten ist auch
Antiphon vor allem praktischer Philo¬
soph, der vom Nutzen ausgeht. Der
Idealismus; mit dem Platon in den
ersten Büchern seines Staates diesen
„Pragmatismus“ bekämpft, liegt ihm
6) Bereits die alten Stilkritiker schätzen
seine Technik nicht hoch ein.
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wie seinen Zeitgenossen noch fern. So
heißt es hier zuerst: Was bringt die Ge¬
rechtigkeit nach der gegebenen Defi¬
nition dem Menschen für Vorteile?
(Kol. 1, 12—23):
„Den vorteilhaftesten Nutzen kann
der Mensch für seine Person aus
der Gerechtigkeit ziehen, wenn er in
Gegenwart von Zeugen die Gesetze
hoch hält, dagegen ohne Zeugen die
Gebote der Natur.“
Man ist versucht, bei diesem offenen
Bekenntnis der Heuchelei an die Ma-
chiavellisten der Platonischen Politeia
zu denken, deren höchster Begriff von
Ungerechtigkeit darin besteht, durch
geschicktes Verstecken ihrer Schurken¬
streiche vor dem Volke als die wahr¬
haft Gerechten zu erscheinen (p. 361A).
Allein unser Sophist will durch diese
offenbar unmoralische Folgerung aus
der vorausgeschickten Definition nur
diese selbst als falsch und die Geltung
des Nomos als unberechtigt erweisen.
Denn er fahrt fort (Kol. 1,23—2,1):
„Denn die Bestimmungen der Ge¬
setze sind künstlich, die der Natur
hingegen notwendig, und die Ge¬
setze sind vereinbart, die der Natur
dagegen gewachsen und nicht ver-
. einbart."
Vorausgesetzt wird hier die Theorie
des Contrat social, die wir vermittelst
dfer erwähnten Xenophonstelle wieder¬
um auf Hippias zurückführen dürfen.
„Was verstehst du unter Gesetzen?“
fragt Sokrates den Sophisten (Mem. IV
4, 13). Hippias antwortet: „Was die
Bürger nach Vereinbarung für sich nie¬
dergeschrieben haben, was man tun
und lassen solle.“ Dies war die all¬
gemeine Auffassung der antiken Demo¬
kratie. Die geschriebenen Gesetze, die
das Volk sich selbst gegeben und be¬
schworen hatte, das ist die Norm, die
der Gerechte beachten muß, weil er
selbst als Mitglied des Volkes sich durch
diesen Kontrakt gebunden hat. So sieht
er den Nomos, den er selbst auf den
Thron gesetzt hat, als seinen König
an. So dachte noch der Athener der
perikleischen Zeit. Aber die Mißwirt¬
schaft der Ochlokratie, die Gesetzma¬
cherei und vor allem die immer deut¬
licher werdenden Umrisse des Natur¬
rechts, das freilich noch oft in unkla¬
rer Weise mit dem ungeschriebenen
Gesetze (Nomos agraphos) verwechselt
wurde, ließ während des großen Krie¬
ges das Palladium des Gesetzes wenig¬
stens bei den Fortgeschritteneren der at¬
tischen Republik in den Hintergrund tre¬
ten. Der moderne Sophistenzögling, wie
ihn'Aristophanes in den Wolken zeich¬
net, fühlt sich über die altvaterische
Gesetzesgerechtigkeit erhaben:
„Wie wonnig lebt sich’s in der neuen,
richt’gen Weltl
Was kümmert uns noch das bestehende
Gesetz!“
Im Gegensätze zu dieser Gesetzes¬
ordnung, deren Künstlichkeit in jedem
Prozeß deutlich zutage trat, sah der
fortgeschrittene Sophistenjünger sein
Heil in der Natur, deren gewachsene,
nicht gemachte Normen allein Dauer
und ewiges Leben haben wie das Holz
im Gegensatz zur Kline. Das zeigt An¬
tiphon an den Folgen (2,3—24):
„Wer also die gesetzlichen Gebote
Übertritt, bleibt, wenn es die Verein¬
barer der Gesetze nicht merken, von
Schande und Strafe verschont; wenn
sie es aber merken, nicht. Wer aber
irgendeines der natürlich mit uns
verwachsenen Gebote über das mög¬
liche Maß hinaus gewaltsam ver¬
letzt, für den entsteht, wenn er von
keinem Menschen entdeckt wird, kein
geringeres Unheil, und wenn alle es
sehen, kein größeres. Denn der
Schade hängt nicht von der öffent-
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Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts
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Heben Meinung ab, sondern von der
wahren Wirklichkeit"
Wenn Antiphon hier von den „Ver-
einbarern" der Gesetze spricht so be¬
tont er wiederum jene Kontrakttheorie,
welche den Nomos, mag es sich um ge¬
schriebenes oder ungeschriebenes Recht
handeln, als ein Erzeugnis mensch¬
licher Schwachheit erscheinen läßt.
Wenn er „Schande" und „Strafe“ als
die Folgen der Gesetzesübertretung hin¬
stellt so deutet das erste auf die im
Volke lebende Sittlichkeit die als unge¬
schriebenes Gesetz wirkt und so be¬
zeichnet wird, die Strafe dagegen auf
das kodizierte Recht, das dem Über¬
treter nicht bloß Schande, sondern auch
Strafe bringt.
Für die Gebote der Natur ist es
gleichgültig, ob sie unter den Augen
der Menschen übertreten werden oder
nicht Wer z. B. durch übermäßigen Ge¬
nuß des Weines (also über das von
den Hellenen so geschätzte Mittelmaß
hinaus) seinen Körper mit Gewalt
schwächt hat die Folgen unweigerlich
zn tragen, mag er dem Dionysosi in
stiller Klause oder in zahlreicher Ge¬
sellschaft huldigen. Die Übertretung
der Natumormen ist von der Meinung
der Leute unabhängig. Nicht der Schein,
sondern die Wahrheit entscheidet hier.
Damit hat der Verfasser seinen er¬
sten Anlauf gegen den Nomos und
seine Wertschätzung der Physis ge¬
rechtfertigt Die Beobachtung der po¬
sitiven Gesetze führt zur Rüdesicht auf
die Menschen, d. h. zur Heuchelei, die
Beobachtung dagegen der ewigen und
unausweichlichen Naturgesetze führt
zur Wahrheit der sein Buch gilt
Nun legt sich der Verfasser die Frage
vor: Wozu diese Scheidung des dop¬
pelten Rechtes? Berühren sich denn
ihre Sphären? Er antwortet: Gewiß,
sie berühren sich in vielen Fällen, und
dann entsteht der Konflikt zwischen
dem Nomos und der Physis, zwischen
der Scheinnorm und der wahren Norm.
Er sagt 2, 24—31:
„Die Betrachtung dieser Dinge ist
im allgemeinen um deswillen ange¬
stellt worden, weil die Mehrzahl der
gesetzlichen Rechtsbestimmungen mit
der Natur im Kampfe liegen."
Die Art nun, wie Antiphon diesen
Konflikt erläutert und begründet, bietet
ernste Schwierigkeit. Sie liegt darin,
daß er Selbstverständliches breit aus¬
führt und darüber vergißt, den inneren
Zusammenhang der Gedanken klarzu¬
legen. Ich gebe die beiden scheinbar
einander fremden Gedankenreihen zu¬
nächst wörtlich wieder (2, 31—3,18.
3,18—4,1):
„Da gibt’s Gesetze für die Augen,
was sie sehen dürfen und was nicht,
für die Ohren, was sie hören dürfen
und was nicht, für die Zunge, was sie
reden darf und was nicht, für die
Hände, was sie tun dürfen und was
nicht, für die Füße, wohin sie gehen
dürfen und wohin nicht, und für
unser Innres, was es begehren darf
und was nicht."
Diese erste, mit strenger Symmetrie
der sechs Glieder gebaute Riesen¬
periode, die von den äußeren Sinnes¬
organen zum inneren Sinn (Nus) führt,
umschreibt den Organismus des Men¬
schen, d. h. das Kampffeld, auf dem
sich Satzung und Natur feindlich be¬
gegnen. Die Gesetze verbieten gewisse
Dinge zu sehen, zu hören und auszu¬
sprechen (man denke z. B. an die Ge¬
heimnisse der eleusinischen Mysterien
oder an das Verbot, gewisse heilige Be¬
zirke zu betreten), wovon der natür¬
liche Mensch nichts weiß. Dies ist klar.
Nun fährt er aber abschließend fort:
„Nun ist das, was die Gesetze dem
Menschen verbieten, der Natur nicht
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Hermann Diels, Ein antikes System'des Naturrechts
im geringsten verwandter oder naher-
stehend als das, was sie ihnen gebie¬
ten. Andererseits liegt Leben und
Sterben in der Macht der Natur. Und
zwar kommt uns das Leben aus dem
Zuträglichen, das Sterben dagegen
von dem Abträglichen.“
Der erste Satz soll wohl besagen, daß
weder die Gebote noch die Verbote des
heiligen oder profanen Rechts an sich
irgend etwas mit der Natur zu tun
haben. Nur wenn die Obrigkeit wegen
Übertretung der Gesetze mit Leib und
Leben straft, wird die Natur des Men¬
schen getroffen. Diese Wirkung beruht
aber nicht auf einer unweigerlich ein¬
tretenden Folge der Übertretung, son¬
dern auf einer bloßen Meinung, deren
Richtigkeit wohl fromm geglaubt, aber
nicht wissenschaftlich erwiesen werden
kann. Ebenso ist es mit den Gebo¬
ten der Sitte. Ein hellenischer Nomos
gebietet die Toten in der Erde zu be¬
statten. Das hat keine Beziehung zur
Natur. Schon Herodot hatte drastisch
nachgewiesen, daß der Nomos gewissen
Barbaren Völkern gebietet, ihre toten El¬
tern aufzuessen.
Ganz anders wirken die Normen der
Natur. Wer ihre Gebote und Verbote
beachtet, erfährt unmittelbar und un¬
weigerlich ihre Wirkung an sich. Wer
ihr folgt, erfährt ihren fördernden Ein¬
fluß zum Leben, wer ihr trotzt, ihren
schädigenden Einfluß, der zum Tode
führt. Mäßigkeit z. B., wie sie die Na¬
tur vorschreibt, wie sie das Tier von
selbst innehält, fördert das Leben, Un¬
mäßigkeit straft mit dem Tode. Man
sieht, wie hier der Grundsatz der
autonomen Moral: naturae convenien-
ter vivere, den die Sokratik allen spä¬
teren Schulen vermacht hat, im Keime
vorgebildet ist.
Von diesem Standpunkt der Auto¬
nomie aus, welche die selbstver-
©2t
ständliche Folge der Zertrümmerung
des Nomos ist, erscheint dem Verfasser
der Unterschied der Natur- und Men¬
schengesetze außerordentlich schroff
(4,1-8):
„Das Zuträgliche, das von den Ge¬
setzen kommt, ist nur eine Fessel der
Natur, die Gebote dagegen, welche
die Natur uns auferlegt, sind frei.“
Aristoteles, der nach Demokrit (frj
264) und Platon (Rep. IV425 B) schöne
Worte für den autonomen Standpunkt
der Sittlichkeit gefunden hat, sagt ein¬
mal (Nie. Eth. IV 14): „Der anständige
und freie Mann ist sich selbst Gesetz.“
So sieht Antiphon in den Gesetzen des
Polizeistaates, der alles verordnet und
verbietet, eine Knebelung des Men¬
schen. Selbst das Förderliche seiner
Verordnungen verliert durch die Strafe,
die angedroht wird, den Charakter der
Freiheit, den die Natur wahrt Gebie¬
tet uns die Natur den Hunger zu stillen
oder verbietet sie über den Durst zu
trinken — in beiden Fällen läßt sie
dem Menschen die Freiheit des Han¬
delns. Nur die späteren Folgen zeigen,
was zu-, was abträglich ist.
* Schwierig ist es nun, den Zusammen¬
hang der folgenden scheinbar trivialen
Gedanken mit dem Vorhergehenden und
Nachfolgenden zu erkennen, zumal der
Schluß, der das Ziel dieses Absatzes
zeigen mußte, in einer Lücke des Pa¬
pyrus untergegangen ist (4,8—24):
„Also ist alles, was schmerzt, wenn
man die Sache richtig beurteilt nicht
förderlicher für die Natur, als was er¬
freut. Also ist auch alles, was be¬
trübt, nicht zuträglicher als das Er¬
heiternde. Denn alles, was wirklich
zuträglich ist, darf nicht schaden,
sondern nützen. Folglich ist das der
Natur Zuträgliche von diesen Din¬
gen...“. (Hier fehlen einige Zeilen.)
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Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts
94 >
Die beiden mit „also" anhebenden
Sätze sind Parallelausführungen, wel¬
che auf körperlicher wie geistiger Seite
den schädigenden Einfluß des Schmer¬
zes, den fördernden der Lust auf die
menschliche Natur feststellen. Ist das ein
Bekenntnis zum Hedonismus? Erinnert
das nicht an den ebenfalls vom Natur-
recht ausgehenden Zeitgenossen Demo¬
krit, der „Lust und Unlust als die
Grenzbestimmung des Zuträglichen und
Abträglichen“ bezeichnet hatte (fr. 4.
188)? Ein solches Ziel liegt schwerlich
hier in der Absicht des Antiphon, der
in den übrigen Fragment«! eher eine
pessimistische Auffassung des Lebens
zeigt. Vermutlich ist diese Stelle im
Gegensätze zu dem Nomos zu fassen.
Die Gesetze, so war oben gesagt, legen
der Natur eine Fessel cm. Man versteht
zwischen den Zeilen: sie bereiten durch
ihren Zwang der Natur oft mehr
Schmerzen als Freuden, mehr Betrüb¬
nis als Erheiterung, mehr Schaden
als Nutzen. Die in der Lücke unter¬
gegangene Folgerung scheint demnach
gelautet zu haben: „Folglich ist das der
Natur Zuträgliche dieser Dinge (leben¬
fördernd, was von den Gesetzen keines¬
wegs gilt)."
Hieran reiht sich nun ein weiterer
Abschnitt, der zeigt, wie manche vom
Nomos vorgeschriebene und gewöhn¬
lich als edel bezeichnete Handlungen
im Widerstreit mit der menschlichen
Natur liegen und ihr zum Schaden ge¬
reichen (4,30-5,24):
„(Im Nachteil sind) die, welche
sich gegen eine tätliche Beleidigung
zu wehren haben, ohne selbst mit
einer solchen zu beginnen, ferner die,
welche ihre Erzeuger, auch wenn sie
schlechte Menschen sind, gut behan¬
deln, endlich die, welche andern den
Eid verstauen, ohne ihn selbst in An¬
spruch zu nehmen. Bei vielen der
eben erwähnten Handlungen kann
man finden, daß ein Widerstreit ge-
gen die Natur vorliegt. Man sollte¬
erwarten, daß man von ihnen we¬
niger Schmerz und mehr Freude ha¬
ben würde. Aber tatsächlich erfährt
man das Umgekehrte. Ebenso erlei¬
det man Schaden, wo man das Ge¬
genteil erwarten könnte.“
Die Beispiele edler Handlungen, die-
denen, die sie tun, nur Schaden brin¬
gen, stammen weniger aus Solons ge¬
schriebenen Gesetzen als vielmehr au»
dem gemeinhellenischen Ehrenkodex,,
der als ungeschriebenes Gesetz über¬
all gilt. Unrecht nicht zuerst tun, son¬
dern nur abwehren, die Eltern unter¬
stützen, selbst wenn sie es nicht ver¬
dienen 7 ), dem Gegner vor Gericht
großmütig den Eidschwur überlassen»
das sind alles sehr edle und uneigen¬
nützige Handlungen, aber sie bringen
mehr Schmerz als Genuß, mehr Leid,
als Freude, weil sie der menschlichen
Natur zuwiderlaufen.
Nun sollte man erwarten, daß wenig¬
stens die positive Gesetzgebung de»
Volkes diesen Altruismus unterstützte
und die Nachteile ausgliche, die solche
Uneigennützigkeit dem edlen Menschen
bringt. Das ist aber nicht der Fall, wie
das Folgende lehrt (5,25—6,9):
„Würde nun denen, die sich solche
Grundsätze aneignen, von seiten der
Gesetze irgendeine Unterstützung zu¬
teil, und denen, die sie sich nicht an¬
eignen, sondern ihnen, widerstreben»
ein Schaden: dann wäre der Ge¬
setzesgehorsam keine unvorteilhafte
7) Xenophon erwähnt in dem genannten
Hippiaskapitel das Gebot „Ehret die Eltern“
unmittelbar nach dem überall an der Spitze
des Nomos agraphos stehenden „Ehret die
Götter“. Diese „ungeschriebenen Gesetze“
führt er ferner auf die Götter selbst zurück
(Mem. IV 4, 20), was Antiphon mit Vorbe¬
dacht vermeidet.
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Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts
96
Sache. So aber scheint denen, die
solche Grundsätze sich aneignen, das
aus den Gesetzen kommende Recht
keine hinreichende Unterstützung zu
leihen/'
Unter den Gesetzen, die versagen,
sind hier natürlich die geschriebenen
zu verstehen, die den ungeschriebenen
nicht zu Hilfe kommen. Er betrachtet
.zunächst den Fall tätlicher Beleidigung
<5,9-18):
„Zuerst läßt das Gesetzesrecht
doch zu, daß der Beleidigte über¬
haupt das Unrecht leiden und der
Beleidiger es tun darf; und es war
in diesem Falle nicht imstande, den
Beleidigten an dem Leiden und den
Beleidiger an dem Tun zu hindern.“
Schwerlich hat der Sophist an irgend¬
eine praktische Maßregel gedacht, wie
man von Rechts wegen unprovozierte
Belei digungen hintanhalten könne. Denn
Schiedsgerichte waren ja damals etwas
Alltägliches. Vielmehr will er nur über¬
haupt die Ohnmacht des Gesetzbuchs
gegenüber jenen beständig vorkommen¬
den Übergriffen darlegen. Wenn nun
aber zweitens auf das Bestehen der
Gerichtshöfe hingewiesen wird, wo der
ungerecht Angegriffene sein Recht su¬
chen und den Angreifer zur Verantwor¬
tung ziehen kann, so antwortet der So¬
phist (5,19-33)8):
„Bringt man sodann den Rechts¬
streit zur Strafentscheidung, dann
hat der Beleidigte vor dem Beleidi¬
ger nichts Besonderes voraus. Er
würde wohl wünschen, die Straf¬
richter zu überzeugen, daß er die Be¬
leidigung erlitten, und die Möglich¬
keit zu erlangen, durch seine Anklage
den Prozeß zu gewinnen. Allein die¬
selbe Möglichkeit verbleibt dem Be-
8) Die Stelle ist lückenhaft überliefert
und meine Ergänzung unsicher.
leidiger, wenn er sich aufs Leugnen
legt..."
Hier bricht leider der Text ab. Die
vereinzelten Buchstaben der folgenden
Kolumne7 zeigen nur so viel, daß Anti¬
phon ausführte, die Aussicht, den Pro¬
zeß zu gewinnen, hinge für den Kla¬
ger ebenso wie für den Angeklagten
nicht von der Wahrheit der Behauptun¬
gen und der Wirklichkeit der Tatsachen
ab, sondern lediglich von der größeren
oder geringeren Redegewandtheit der
Gegner.
Es ist bedauerlich, daß das erste
Fragment (A) gerade da abbricht, wo
die oftbeklagte Rechtsunsicherheit der
attischen Geschworenengerichte ge¬
brandmarkt und die Scheinwelt dieser
auf ihren Nomos stolzen Demokratie
aufgedeckt werden sollte.
Noch bedauerlicher aber ist es, daß
das zweite Fragment (B), das mit dem
vorhergehenden nicht unmittelbar zu¬
sammenhängt, aber zum ius naturale
gehört und vermutlich einen späteren
Platz in diesem Exkurse einnahm, nur
eine lesbare Kolumne enthält.
Wahrend in dem ersten Bruchstücke
nur das Prinzipielle des Naturrechts
und die Beziehungen des einzelnen
Staatsbürgers dazu behandelt waren,
wendet sich der Verf. nun zu den so¬
zialen und internationalen Problemen
des Gegenstandes. Er spricht hier An¬
schauungen mit Schärfe aus, die wir
bisher nur jüngeren Sophisten wie Ly-
kophron und Alkidamas zuschreiben
konnten. Freilich wußten die Einge¬
weihten, die in den Dramen des Euri-
pides und Aristophanes das Echo der
gleichzeitigen sophistischen Diskussion
vernahmen, daß die große Idee der
Aufklärung, die Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit für alle Klassen und alle
Völker fordert, bereits im fünften Jahr¬
hundert verkündet ward. Die Emanzi-
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97
Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts
98
pation der Sklaven wie der Kosmopoli-
tismus, wodurch der antike Staat ver¬
nichtet ward, sind damals zuerst als
Konsequenzen des ius naturale ausge¬
sprochen worden. In dem zweiten Frag¬
mente des neuen Fundes fassen wir
nun die erste systematische Formulie¬
rung des radikalen Evangeliums.
Zunächst muß die im antiken Nomos
trotz aller Demokratie zäh festgehal¬
tene soziale Scheidung von guten und
schlechten Familien (d. h. von Aristo¬
kraten und Plebejern) fallen. Auch hier
geht er wie in dem ersten Bruchstück
von der Feststellung des tatsächlich be¬
stehenden sozialen Zuftandes aus (fr.
B Kol. 1,35—2,15).
„Die von vornehmen Vätern ab¬
stammen, achten und ehren wir, die
dagegen aus nicht vornehmem Hause
abstammen, achten und ehren wir
nicht. In dieser Scheidung behan¬
deln wir uns gegenseitig wie Barba¬
ren. Denn von Natur sind wir alle in
allen Beziehungen, Hellenen wie Bar¬
baren, gleich erschaffen.“
Der modern gesinnte Sophist ver¬
wirft vom Standpunkt des Naturrech¬
tes aus die sozialen und internationalen
.Wertabstufungen durchaus. Vor dem
Richterstuhl der Natur sind Aristo¬
kraten und Plebejer, Freie und Sklaven,
Hellenen und Barbaren gleich. Er be¬
gründet dies durch Beispiele, deren Tri¬
vialität wieder an die sokratische Ma¬
nier erinnert (B2,15—35):
„Das läßt uns die Betrachtung der
natürlichen und allen Menschen un¬
entbehrlichen Lebensbedingungen er¬
kennen. Erwerben lassen sich diese
von allen in gleicher Weise 9 ), und
in allen diesen Dingen ist kein Bar¬
bar und kein Hellene von uns ge-
9) Dieses Sätzchen wie der Schlußsatz
beruht auf meiner keineswegs sicheren
Ergänzung.
Internationale Monatsschrift
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schieden. Atmen wir doch alle durch
Mund und Nase in die Luft aus und
essen wir doch alle mit den Hän¬
den ...“
Das gewaltige ethnographische Ma¬
terial, das die ionische Forschung (He-
kataios, Herodot, Hippokrates de aere)
gesammelt hatte, war von der Toleranz¬
idee der Aufklärung dazu benutzt wor¬
den, um die geistigen Schranken zwi¬
schen Hellenen- und Barbarentum nie¬
derzureißen. Diese Ausgleichung war
theoretisch schon längst angebahnt, ehe
Orient und Okzident politisch zusam¬
mengeschweißt wurden. Diese Tole¬
ranzbestrebungen hatten die Relativität
des partikularen Nomos durch Verglei¬
chung der Sitten aller bekannten Völker
der Erde herausgestellt. Wer konnte
sich demgegenüber erkühnen zu sagen,
daß dieses oder jenes Volk den „rich¬
tigen“ Brauch in staatlichen oder so¬
zialen Einrichtungen besitze? Wohl
aber ergab sich eine vollständige Über¬
einstimmung in allem, was des Men¬
schen Natur betrifft Atmen und essen
müssen wir alle, um leben zu können. 10 )
Und wir üben diese Lebensnotwendig¬
keiten alle in derselben Weise aus, wie
es uns unsere natürliche Körper¬
beschaffenheit vorschreibt. Gegenüber
der Tierwelt und ihren verschieden¬
artigen Lebensbedingungen bildet der
Mensch gleichsam nur eine Familie:
das ist Natur; alles andere, was der
eine so, der andere so gestaltet hat, ist
Konvention. Jenes ist notwendig zur
Erhaltung des Lebens, dies ist zufällig
und gleichgültig.
Ehe wir nun zum Schlüsse der Frage
nähertreten, inwiefern diese für Antike
wie Moderne gleich wichtigen Gedan¬
ken als Eigentum des Sophisten Anti¬
phon betrachtet werden können, ist
10) Er fuhr vielleicht fort: „Und wir alle
gehen auf zwei Beinen.“
4
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09
Hermann Diels, Ein antikes System des Naturrechts
100
noch etwas über die Form der Schrift
„Uber die Wahrheit", die wir durch das
neue Fragment erst näher kennen ge¬
lernt haben, zu bemerken. Sie weicht
sowohl von den größeren Fragmenten
seiner sozial-politischen Schrift „Ober
die Eintracht" wie von dem Stil der
Zeitgenossen merklich ab. Die Sym¬
metrie der Satzglieder und andere
kleinen Künste der Rhetorik erinnern
an das gorgianische Muster. Das ist
bei einem attischen Schriftsteller des aus¬
gehenden fünften Jahrhunderts nichts
Verwunderliches. Allein selbst Gor-
gias hat sich vor so schulmeisterlich
gleichgebauten Satzgefügen gescheut,
wie sie uns z. B. Kol. 2, 31 ff. begegnen.
Ich erkenne vielmehr in dieser Pedan¬
terie, die durch Wiederholung dersel¬
ben Wörter an der gleichen Stelle den
Inhalt besser in den Kopf hämmern
will, die Einwirkung des mathemati¬
schen Stils. Wie die modernen Natur¬
rechtslehrer Spinoza und Hobbes ihren
Rationalismus in dem mos geometricus
ihres Stils zum Ausdruck brachten, so
übertrug Antiphon, der sich mit mathe¬
matischen Problemen (Irrationalität des
Kreises) abplagte, den umständlichen
Stil der damaligen hellenischen Mathe¬
matik, wie wir ihn aus einem Frag¬
mente seines Zeitgenossen Hippokrates
von Chios kennen lernen, auf seine na¬
turrechtlichen Spekulationen. Dieses Be¬
streben nach Exaktheit schließt stel¬
lenweise Unklarheit und Überspringen
der Verbindungsglieder nicht aus, wie
wir dies auch bei Hippokrates, ja selbst
bei dem größten Meister des geometri¬
schen Stils, bei Aristoteles, mitunter be¬
merken können. Diese formelhafte Dia¬
lektik ist also dem Schriftsteller und
speziell dieser Schrift eigentümlich. Ist
es auch der Inhalt?
Der Anfang des ersten Bruchstückes
knüpft, wie wir sahen, an Hippias an.
Bereits Ferdinand Dümmler hat auf
allerdings allzuschmaler Basis die Ver¬
mutung aufgestellt, die naturrechtliche
Theorie, die den Sophisten Antiphon zu
seiner Schrift „Über die Eintracht“ ge¬
führt habe, beruhe auf der Anregung
jenes älteren Sophisten. 11 ) Diese Ver¬
mutung läßt sich jetzt auf Grund des
neuen Fundes besser begründen.
Wenn Plato im Protagoras zur Cha¬
rakteristik des Hippias, der die beiden
Streiter Sokrates und Protagoras zur
Eintracht führen will, mit einem weit¬
hergeholten Preise der natürlichen Ver¬
wandtschaft aller Menschen anhebt, so
ist dieser TopoS offenbar den Schriften
des Hippias entlehnt. „Verehrte An¬
wesende," so beginnt seine Anrede, „ich
glaube ihr seid alle durch die Natur,
nicht durch das Gesetz Verwandte,
Freunde und Mitbürger. Denn Gleiches
ist Gleichem von Natur verwandt. Das
Gesetz aber ist der Tyrann der Men¬
schen und zwingt sie zu vielem wider
die Natur.“
Man sieht jetzt, wie diese leitende
naturrechtliche Theorie, die Hippias sei¬
nerseits wieder von der älteren Natur¬
philosophie des Archelaos entlehnt ha¬
ben mag, bei Antiphon eine freilich
nicht in die Tiefe und nicht bis ans
Ende gehende Weiterentwicklung ge¬
funden hat. Sie schien ihm willkom¬
men zur Begründung der Prinzipien¬
lehre, die schicklich ihren Platz im
Eingang seiner Schrift „Über die Wahr¬
heit“ fand. In der Tat bezeugt uns ein
Randvermerk des Papyrus, daß das
erste Bruchstück (und somit auch das
inhaltlich zugehörige zweite) nur 400
Raumzeilen vom Beginn des Buches
abstand. Der Darstellung Antiphons
11) Akademika S. 258. Kleine Sehr. I
182 ff. Er fußt hauptsächlich auf dem er-
erwähnten Kapitel der Xenophontischen
Memorabilien (IV 4).
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[ND1ANA UNfVERSITY
101 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 102
kommt also nur in formaler Beziehung
Originalität zu, und man darf nicht
glauben, daß die Anklänge an diese
Spekulationen, die wir bei Euripides
und später bei Plato finden, auf der
Lektüre dieses wenig beachteten Bu¬
ches beruhen. Antiphons Paradoxa sind
nur sekundäre Strahlen der Morgen¬
röte, welche die moderne Welt an¬
kündigend über dem hellenischen Him¬
mel aufgegangen war. Wirksam zeig¬
ten sich diese naturrechtlichen Ideen
erst als sie von dem linken Flügel der
Sokratik (Antisthenes, Aristippos) be¬
gierig aufgegriffen in den späteren
Weltsystemen Zenons und Epikurs ihre
wissenschaftlichere Begründung und
zugleich ihre praktische Anwendung
gefunden hatten. In dieser Form hat
der naturrechtliche Radikalismus auf
die Neuzeit eingewirkt. Je und je sind
Propheten auferstanden, die der Kon¬
vention den Krieg erklärten und das
Evangelium der Natur verkündeten.
Die an der Aufklärungs-Sophistik des
18. Jahrhunderts entflammte und ge¬
nährte Französische Revolution hat dann
versucht, dieses Evangelium der gan¬
zen Welt aufzunötigen. Aber griechi¬
scher Wein bekommt nicht, wenn er
nicht mit Wasser verdünnt wird. Die
historische Rechtsanschauung des vo¬
rigen Jahrhunderts hat uns Deutschen
diesen Dienst geleistet und vielfach zu
einem befriedigenden Kompromiß zwi¬
schen Nomos und Physis geführt. Im
Ausland dagegen haben die radikalen
Schlagworte des Naturrechts noch ihren
vollen Kurs. Sie dienten in diesem
Weltkriege dazu, uns als rückständige
Sklaven des Nomos bei allen freien
Seelen zu verschreien. Aber der Erfolg
hat unsere Gegner belehrt, daß unser
Nomos, unsere Organisation die besten
sind. So sind sie genötigt gewesen,
Schritt für Schritt zu Zwangsmaßre¬
geln zu greifen, die sie im Grunde ihres
Herzens verabscheuen. Uns ist der Ge¬
setzesgehorsam eine gern und freudig
erfüllte Pflicht, jenen wird er wirklich,
wie Antiphon sagt, zu einer „Fessel",
die sie der Not gehorchend, aber zähne¬
knirschend tragen.
Gräfin Elise von Ahlefeldt
im Leben Lützows und Immermanns.
Von Harry Maync.
1 .
Ein „reiches, wie von einem großen
melancholischen Dichter erfundenes
Frauenleben", „typisch und poetisch
und an die höchsten Ereignisse anknüp-
fend“: so nennt Gottfried Keller 1 ) das
Leben der Frau, die fünfzehn Jahre lang
die Gattin des berühmten Freischaren-
iührers Adolf v. Lützow war und nach
1) Ermatinger-Bächtold, G. Kellers Briefe
und Tagebücher 451 ff. Stuttgart u. Berlin
1916.
der Scheidung von diesem fast ebenso
lange mit dem Dichter Karl Immer¬
mann, ohne mit ihm vermählt zu sein,
das Haus teilte, um dann einer jungen
Gattin weichen zu müssen. Keller
äußert sich so in einem Brief an Lud¬
milla Assing, und zwar nach der Lek¬
türe ihres Buches über ebendiese Frau,
dem wir die umfänglichsten Mitteilun¬
gen über sie verdanken. Ihr Buch, be¬
merkt er des weiteren, lasse eine Stim¬
mung zurück, wie nach dem Genuß
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103 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 104
eines tiefsinnigen, wohlgeschriebenen
Romans. Er will damit ein Lob ausspre¬
chen, aber auch das Romanhafte im üb¬
len Sinne muß man dem Buche zum
Vorwurf machen. Die eingehende, 351
Seiten umfassende Biographie: „Gräfin
Elisa v. Ahlefeldt, die Gattin Adolphs
v. Lützow, die Freundin Karl Immer-
manns“, 1857 im Dunckerschen Verlag
zu Berlin erschienen und in ihrer zwei¬
ten, kleineren Hälfte aus Briefen von
Immermann, Möller und Henriette Paal-
zow bestehend, ist, wie alle die zahl¬
reichen Veröffentlichungen Ludmilla As-
sings nur mit größter Vorsicht zu be¬
nutzen, weil auch sie von parteiischer
Einseitigkeit ist Das Buch bedeutet
eine wahre Verhimmelung der dar¬
gestellten, gewiß bedeutenden und
sympathischen Frau und wirft alle
Schuld auf die beteiligten Männer,
drückt namentlich Lützows ehren¬
werte Persönlichkeit unter starker
Verdrehung der Tatsachen ganz unge¬
bührlich herab. Die schönselige und
schreibselige Verfasserin war durchaus
die klatschhafte Nichte des klatschhaf¬
ten Vamhagen, wie sie die Erbin und
Herausgeberin seines schier unerschöpf¬
lichen Nachlasses war. Als tendenziöse
Schriftstellerin hat sie manches verur¬
teilende Wort einstecken müssen; so ist
Hebbel äußerst scharf mit ihr ins Ge¬
richt gegangen, und Gustav Freytag
nennt z. B. ihre Veröffentlichung des
Briefwechsels zwischen Vamhagen und
Alexander von Humboldt eine „greu¬
liche Taktlosigkeit“ (Brief an Graf Bau-
dissin vom 2. März 1860). Gerade auch
ihr Ahlefeldt-Buch wirbelte viel Staub
auf und rief Kritik und Antikritik auf
den Plan. Adolf Stahr nahm eifrig gegen
sie und für seinen toten Freund Immer¬
mann Partei, und ebenso tat Gutzkow.
Zwar bemüht sich die Biographin, auch
Immermann Gerechtigkeit widerfahren
zu lassen, gleichwohl aber spiegelt ihr
Buch doch durchaus die menschlich be¬
greifliche parteiische Auffassung der
Frau wider, die sich nach langen Jah¬
ren inniger Gemeinschaft einem jungen
Ding vorgezogen seih und alle Schuld
von sich ablehnen zu dürfen überzeugt
war. Frau v. Ahlefeldt hatte bei ihren
Lebzeiten — das Buch ist bald nach ih¬
rem Tode veröffentlicht worden — ihrer
künftigen Biographin freundschaftlich
sehr nahegestanden; aus ihren Erzäh¬
lungen und aus ihrem handschriftlichen
Nachlaß ist die Darstellung geschöpft.
Die natürliche Tendenz dieser einseiti¬
gen Quellen hat Ludmilla Assing nur
noch schärfer herausgearbeitet
Unsere zweite Hauptquelle bilden
späte Niederschriften Immermanns an
seine Braut, der er Rechenschaft ablegt
über das zweideutige Verhältnis, das er
um ihretwillen löst Auch diese Darstel¬
lung ist, bei aller Schonung der nach
wie vor verehrten Gräfin, naturgemäß
gleichfalls apologetisch gehalten und
steht unter dem Gesichtswinkel der Par¬
teinahme für die neue Geliebte. End¬
lich hat lange nach des Dichters Tode
dessen Gattin selbst als alte Frau sich
über ihres Mannes Beziehungen zur Grä¬
fin ausgelassen, und zwar in der den
Namen Gustavs v. Putlitz tragenden, im
Jahre 1870 erschienenen, heute längst
veralteten Immermann-Biographie. Die¬
se Darlegung ist durchaus nicht etwa
gehässig gegenüber der Gräfin, die
bis zu ihrem Tode mit Marianne Im¬
mermann freundliche Beziehungen un¬
terhalten hat, aber auch sie ist infolge
ihrer kritisch-polemischen Tendenz ge¬
gen Ludmilla Assing parteiisch. Die von
dieser öffentlich Angegriffene ist be¬
strebt, sich und den Gatten zu recht¬
fertigen und die Hauptschuld Elisen zu¬
zuschieben. Putlitz, der Herausgeber
des im wesentlichen von Marianne ver-
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105 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LOtzows und Immermanns 106
faßten Budies, stellt sich, obwohl er
selbst zu Elisens persönlichen Freunden
and Verehrern gehört hatte, in seinem
Vorwort nachdrücklich auf die Seite von
Immermaim und dessen Witwe; in der
Assingsdien Schilderung, erklärt er,
sei des Dichters „Bild nicht nur verzerrt,
sondern durch Entstellung der Fakta so¬
gar sein Charakter in falsches Licht ge-
stellt“. 2 )
In allen den genannten Ausführungen
muß der Historiker, von den bezeich-
neten kritischen Gesichtspunkten gelei¬
tet und sorgsam zwischen den Zeilen
lesend, durch unbefangenes Urteil zu
einer möglichst objektiven Auffas¬
sung, der psychologisch-geschichtlichen
Wahrheit vorzudringen suchen. Immer¬
manns Briefe an die Gräfin befanden
sich in deren Nachlaß und sind aus die¬
sem zum Teil von Ludmilla Assing ver¬
öffentlicht worden; eine Nachprüfung
ihrer Wiedergabe ist nicht möglich. Der
Gräfin Briefe an den Dichter befinden
sich dagegen in dessen umfänglichem
Nachlaß nicht; entweder hat sie sie noch
bei Lebzeiten Immermanns, etwa bei
dem Auseinandergehen, von ihm zu¬
rückempfangen, oder er selbst hat sie
vernichtet, oder endlich, sie sind bei der
Obergabe des Dichternachlasses an das
Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv
zurflckbehalten worden.
Von noch anderen Quellen, die von
Fernerstehenden stammen, ist wegen
seiner Unbefangenheit und offenbaren
Zuverlässigkeit ganz besonders beach¬
tenswert der betreffende Abschnitt in
Friedrich Kohlrausch’s „Erinnerungen
aus meinem Leben“ (Hannover 1863,
S. 206 ff.). Der treffliche Verfasser be¬
richtet uns da knapp über seinen per¬
sönlichen Verkehr mit dem Ehepaar
Lützow und Immermann während des
2) Putlitz I IV.
gemeinsamen Zusammenlebens in Mün¬
ster und gibt seine Eindrücke über das.
Verhältnis der drei Hauptpersonen zu¬
einander mit schlichter Sachlichkeit und!
gutem Takt wieder. Er tut es ebenfalls
im Hinblick auf das Assingsche Buch
und kann es dabei nicht unterlassen,
„vor der Einseitigkeit der Darstellung
in diesem, übrigens mit Begeisterung
für die schönen Eigenschaften der un¬
gewöhnlichen Frau geschriebenen Buche
zu warnen“. 8 )
2 .
Die Frau, die im Leben von zwei der
besten deutschen Männer eine so große
Rolle gespielt hat, war keine Deutsche
von Geburt, sondern stammte aus Däne¬
mark, das ja auch für das Leben ande¬
rer deutscher Dichter, wie Klopstock,
Schiller, Hebbel, so bedeutungsvoll war.
Elise Davidia Margarete Gräfin von
Ahlefeldt-Laurwig war im Jahre 1788 4 )
im väterlichen Schlosse Trannkijör auf
Langeland von einer holsteinischen Mut¬
ter geboren. Körperliche und geistige
Vorzüge hatten sie früh zu einer höchst
liebenswerten Erscheinung gemacht,
und bis an ihr Ende flogen der Viel¬
geliebten die Herzen geradezu be-
3) Varohagen, der freilich nicht unbefan¬
gen ist, empfiehlt das Buch seiner Nichte
seinem Freunde Justinus Kerner mit den
Worten: »Wie von treuer Liebe war sie
dabei zugleich von strenger Wahrhaftigkeit
geleitet, jeder Zug des Gemäldes kann, wie
ich bezeuge, genau belegt werden.“ (J. Ker¬
ners Briefwechsel mit seinen Freunden II491.
Stuttgart u. Leipzig 1897.) Dagegen erklärt
Rieh. Fellner (Geschichte einer deutschen
MusterbQhne, S. 99, Stuttgart 1888): »Dieses
Buch ist durchwegs nicht von Wahrheitsliebe,
sondern von unmaßgeblicher Sympathie und
naiver, schwärmerischer Kindlichkeit dik¬
tiert“, und Immermanns Enkel Johannes
Geffcken nennt das Assingsche Buch schlecht¬
weg ein albernes (K. Immermann, Gedächt¬
nisschrift 217. Hamburg u. Leipzig 1896).
4) So nach Putlitz I 91; L. Assing gibt das
Jahr 1790 als Geburtsjahr an.
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107 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 108
geistert zu. Ohne Geschwister aufwach'
send, sah sie sich schon als Kind viel
auf sich selbst und ein von ihrer sehr
lebhaften Phantasie beherrschtes Innen¬
leben angewiesen. Ihre ausgezeichnete
deutsche Erzieherin übte einen Einfluß
auf sie aus, der ihre Jugendjahre lange
überdauerte. Getrübt wurde diese
glückliche Zeit dadurch, daß der leicht¬
sinnige und herrische Vater, der übri¬
gens am dänischen Hofe als Freund Kö¬
nig Friedrichs VI. eine sehr einflu߬
reiche Persönlichkeit war, seine Neigung
von der edlen und schönen Gattin un¬
würdigen Geliebten zuwandte, so daß-
die tiefgekränkte unglückliche Gräfin
ihr Leben mit der Tochter zusammen
meist auf einem einsamen Gute oder auf
Reisen zubrachte. Entscheidend für Eli¬
sens Leben wurde 1808 der Aufenthalt im
Bade Nenndorf. Hier trat ihr huldigend
der damals sechsundzwanzigjährigeFrei-
herr Adolf v. Lützow entgegen. Schon
mit dreizehn Jahren in die preußische
Garde eingetreten, hatte der märkische
Edelmann 1806 bei Auerstädt mitgefoch-
ten. Nach der Auflösung seines Regi¬
ments hatte er sich dem Schillschen
Korps in Kolberg angeschlossen und
dessen Reiterei organisiert. In der
Schlacht bei Stargard verwundet, hatte
er als Major seinen Abschied genommen
und sich zur Ausheilung nach Nenndorf
begeben.
Obwohl an sich keineswegs eine hin¬
reißende Erscheinung und für die reiche
dänische Erbin, der schon mehrere Be¬
werber genaht waren, nichts weniger als
eine gute Partie, machte der charakter¬
volle Mann und bewährte Offizier, des¬
sen Brust schon der Orden pour le m6-
rite zierte, doch einen starken Eindruck
auf Elise. Die romantisch Veranlagte
liebte ihn, „weil er Gefahr bestand“, wie
Desdemona den Mohren. Seine vater¬
ländische Begeisterung riß das für alles
Große so empfängliche Mädchen, dessen
geistige Heimat Deutschland war, mit
und machte sie seinen feurigen Werbun¬
gen geneigt Daß es nicht eigentlich eine
tiefere persönliche Liebe war, was sie
zu ihm zog, kam ihr damals wohl kaum
zum Bewußtsein. Ihr Vater wollte von
einer Verbindung durchaus nichts wis¬
sen, aber allen Widerständen zum Trotz
wurden die beiden 1810 ein Paar. Im
glorreichen Jahre 1813 spielte dann
Elise an der Seite des tapferen Freischa¬
renführers die schöne Rolle, die Immer¬
manns „Epigonen“ 5 ) der edlen Johanna
zuweisen; sie war die Seele und die
Muse der schwarzen Jäger, dieser „Poe¬
sie des Heeres“, wie Immermann ein¬
mal die Lützower nennt. In Lützows
häufiger Abwesenheit warb sie selbst
in Breslau die Freiwilligen an. Johanna
nennt diese Zeit „die hohe Brautwoche,
der süße Honigmonat meines Lebens“.
„Wir zogen... auf eine Zeitlang nach der
großen Stadt, welche der Herd des hei¬
ligen Feuers war... Welche Tagei
Welche Gefühle!... Mein Mädchenherz
wollte mir oft die Brust zersprengen,
wenn ich bis Mitternacht ja bis an
den frühen Morgen die Binden Zu¬
schnitt welche das Blut der Wunden
hemmen sollten. Ich weinte, daß mein
Vater reich war, daß ich nicht auch
mich genötigt sah, mein Haupthaar auf
dem Altäre der allgemeinen Begeiste¬
rung zu opfern.“ Körner, Jahn, Schen-
kendorf und namentlich Friedrich Frie¬
sen huldigten Elisen, die ihren Gat¬
ten auf seinen Zügen nach Möglichkeit
begleitete, den oft Verwundeten getreu¬
lich pflegte. Bei Belle-Alliance war
auch Immermann unter den Mitkämp¬
fern, aber noch erfuhren die beiden
nichts voneinander.
/ 5) Vgl. Bd. 3, S. 410ff. meiner Immermann-
Ausgabe nebst Kommentar am Schlüsse des
Bandes.
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109 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns HO
Im Jahre 1817 wurde Lützow als
Brigadegeneral nach Münster versetzt
Wie alle Welt fand sich auch das
Lützowsche Ehepaar nach den hoch*
gestimmten Aufregungen der Befrei¬
ungskriege, die gerade in ihr Le¬
ben einen fast abenteuerlichen Zug ge¬
bracht hatten, im gewöhnlichen All¬
tagsdasein schwer zurecht. Den Gat¬
ten verließ der jugendliche Schwung,
und ihrer bemächtigte sich mehr und
mehr ein Gefühl der Leere, der Unbe¬
friedigung, zumal da dieser Ehe das
Glück der Kinder versagt blieb. Ge¬
rade wie den Dichter Immermann be¬
drückte die Nüchternheit der stock¬
katholischen Kleinstadt die phantasie-
volle, nach geistigem Austausch
schmachtende Frau, um so mehr, als
ihr Gemahl, der im Garnisonseinerlei
sich unbehaglich fühlende Reitersmann,
zwar vornehm und ritterlich, gutmütig
und brav, aber tieferer Bildung und
höherer Bedürfnisse bar war. Nur aus
Höflichkeit nahm er, der seiner Gattin
jede Rücksicht gewährte und alle Frei¬
heit einräumte, an den ästhetischen Zir¬
keln teil, die ihr großes geselliges Ta¬
lent denn doch schließlich um sich zu
sammeln verstand.
Zu den häufigsten, beliebtesten und
geehrtesten Gästen des Lützowschen
Hauses gehörte bald der schon vom
Ruhm berührte junge Dichter, der seit
Ende 1819, damals dreiundzwanzigjäh-
rig, als Vortragender Auditeur bei dem
Generalkommando in Münster tätig war
und seit 1821 die Generalin in ihren Ver¬
mögensangelegenheiten juristisch be¬
riet. Der geistvolle Gesellschafter und
glänzende Vorleser fremder und eigener
Dichtungen erregte mehr und mehr den
Anteil der für Poesie so empfänglichen
Frau und fand bei ihr, was er so
schmerzlich vermißt hatte, ein be¬
glückendes Eingehen auf seine dichte¬
rischen Werke, auf seine reifenden
Pläne.
Immermanns Verhältnis zu Frau
v. Lützow blieb lange freundschaftlich
unbefangen, war es auch noch, als er
einmal an seinen Bruder schrieb: „Ich
war drauf und dran, den dümmsten
Streich in meinem Leben zu machen
und mich in eine Frau zu vergaffen
und so mutwillig das schöne geistige
Verhältnis zu zerstören, welches ein
edles Weib mit Vertrauen zu bilden im
Sinne hat." 6 )
Elise war nicht gerade schön, aber
überaus anziehend. Ein Bild der Acht-
undzwanzigjährigen zeigt kühle, etwas
resigniert blickende Augen, die vom
sanftesten Blau waren, und einen zier¬
lich geschwellten Mund ^reiches Blond¬
haar krönte ihr feines, schmales Ge¬
sicht. Immermann preist in einem Brief
an sie ihre Anmut und Würde. Sie
hatte nichts äußerlich Blendendes und
Anspruchsvolles, sondern zeigte, eine
Frau des Maßes, vornehme Zurückhal¬
tung, war aber klug und fein begabt,
sicher und selbständig in ihrem Urteil,
dazu von Herzensgüte und nicht ohne
Energie. Übrigens gilt auch von ihr,
was Herman Grimm von Charlotte
v. Stein sagt: „Wir gewinnen kein Bild
von ihr für unsere Phantasie, das Gei¬
stige tritt zu sehr hervor bei ihr." Bald
fesselte sie nicht nur den Dichter, son¬
dern auch den Mann, der, nach Liebe
verlangend, bis dahin nur unglückliche
Erfahrungen mit dem weiblichen Ge¬
schlecht gemacht hatte. „Die Gräfin
liebte ich tief und innig, als sie mit
ihren Flammen mich entzündet hatte,"
bekannte Immermann nachmals. 7 )
Das Gefährlichste an ihr und für sie
selbst war wohl — wovon bei ihrer
Biographin freilich nichts zu lesen ist
— ein gewi sses Mißverhältnis zum rea-
6) Putlitz I 90. 7) Putlitz II 290.
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111 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 112
len Leben, ein Überträgen des Phan¬
tastischen auf die Wirklichkeit Sie
hat mein dies von den schönen Seelen
des achtzehnten Jahrhunderts an sich,
erinnert z. B., auch in ihrem äußeren
Geschick, an Schillers Freundin Char¬
lotte v. Kalb, die die Freigeisterei der
Leidenschaft nicht nur selbst vertrat
sondern vorübergehend auch in ihm
erweckte. Nicht minder nahe steht sie
den Jean Paulschen Titaniden und
dem Typus der auf Emanzipation be¬
dachten romantischen Frau.
Es gab vieles, was geeignet war, Im¬
mermann und Frau v. Lützow zuein¬
ander zu treiben. Wie er, fühlte sie sich
einsam; beiden fehlte der höhere Le¬
bensinhalt beide seufzten unter der
kahlen Alltäglichkeit ihres an geistigen
Anregungen armen Lebens. Den Dich¬
ter beseelte ein leidenschaftlicher Hang,
bei edlen Frauen anzufragen; zumal
Elisens Vornehmheit zog den gesell¬
schaftlich noch Ungewandten und zum
Linkischen neigenden starken Mann zu
der feinen, zarten Dame; selbst daß sie
um acht Jahre älter war als er, schien
nur ein Reiz mehr. Der junge Dichter
verlangte nach einer Muse, die feinsin¬
nige Frau nach einem talentvollen
Schützling, und bald konnten sich beide
wie Tasso und Leonore von Este Vor¬
kommen. Als Immermann die gefähr¬
liche Rolle des Trösters einer unver¬
standenen Gattin übernahm, waren
beide auf dem bedenklichen Punkte de¬
rer, die, wie es im „Götz" heißt durch
Liebesunglück gebeizt sind. Im geisti¬
gen Geben und Empfangen fanden sich
auch die Seelen und die Herzen.
Im Frühjahr 1823 übersandte Immer¬
mann seinem Freunde Abeken 8 ) eine
eigene (uns nicht erhaltene) Überset¬
zung der berühmten Stelle aus dem
fünften Ge sänge des Danteschen „In-
8) .Hannoverland“, Jahrg. 1900, S. 232.
femo“, die von der unseligen Leiden¬
schaft zwischen Paolo und Franceska
kündet Es war ein ähnliches Verhält¬
nis, das Immermann und seine Freun¬
din verband. Auch hier fehlte sogar
der kupplerische „Lanzelot“ nicht;nach¬
dem sie seine Lehrerin im Englischen
geworden war, begannen sie eine ge¬
meinsame Übersetzung von Walter
Scotts „Ivanhoe“: auch dies eines der
vielen erlebten Motive, die später in
die „Epigonen“ übergingen. 9 ) Immer¬
mann empfand, was Byrons Don Juan
schildert:
Lust muß es sein, zu lernen fremde Zungen
Aus Frauenmund und Augen, sollt’ ich
meinen,
Wenn Lehrer, Schüler Jugendlich durch¬
drungen;
Mir mind’stens wollt’ es früher so erscheinen.
Sie lächeln, wenn es einem recht gelungen,
War’s falsch, noch mehr; dabei kann leicht
sich einen
Ein Händedruck, ein leicht verstohlner Kuß—
So lernt’ ich selbst mein Bißchen mit Genuß.
Auch hier kam ein Tag, an dem sie
nicht weiterlasen und die zarte Grenze
überschritten, doch ohne etwa die vor
ihnen gähnende Kluft in ihrer ganzen
Tiefe auszumessen.
Der würdige Konsistorialrat Kohl¬
rausch 10 ) berichtet uns: „Für un¬
sere Augen, die wir in fast ununter¬
brochenem Umgänge mit dem Lützow-
schen Hause lebten, blieb das Ungenü¬
gende der ehelichen Verhältnisse und
die Aufmerksamkeit, die Immermann
der Frau v. Lützow und diese ihm
schenkte, nicht verborgen, allein beides
hielt sich in solchen Grenzen des An¬
standes und der Sitte, daß wir zwar
den ganzen Zustand der, übrigens so
achtungswerten, Menschen bedauerten,
allein gar keinen Anlaß finden konnten,
weder warnend dazwischenzutreten,
9) Vgl. Bd. 3, S. 153 meiner Ausgabe.
10) A. a. O. 211 f.
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113 H.Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 114
noch uns aus dem Umgänge zurückzu¬
ziehen. LQtzow behandelte seine Ge¬
mahlin mit der größten Achtung, und
sie wiederum vergaß nie die Pflichten
der Gattin, die sie rücksichtsvoll gegen
ihn übte, und ebenso beobachtete Im¬
mermann den bescheidensten Anstand
in dem geselligen Zusammensein, so
daß ein Anstoß in dieser Beziehung
niemals eintrat,“
Die Ehe wurde nicht erst gebrochen,
sie war schon lange in sich gebrochen;
des Dichters Hinzutreten war nicht ei¬
gentlich die innere Ursache, sondern
mehr nur die äußere Veranlassung ih¬
res Zerfalls, den übrigens keiner der
Gatten tragisch nahm und aufzuhalten
bemüht war. In aller Ruhe und Freund¬
schaft beschloß das Ehepaar die Schei¬
dung. Ludmilla Assing sucht nachzu¬
weisen, daß der Gedanke von Lützow
ausging, und daß die Ursache in seiner
Neigung zu einer koketten, reichen
Dame lag, die er zu heiraten wünschte.
Dagegen erwägt sie nicht einmal die
Möglichkeit, daß des Dichters Verhält¬
nis zur Generalin mitgewirkt haben
könne. Demgegenüber versichert Kohl¬
rausch, ausdrücklich gegen L. Assings
konstruierte Darstellung Einspruch er¬
hebend, daß von einem solchen Liebes¬
verhältnis Lützows, das doch unter sei¬
nen Augen stattgefunden haben müßte,
auch „nicht die geringste Spur“ zu sei¬
ner oder seiner Frau Kenntnis gekom¬
men sei. 11 ) Und die doch gerade in
diesem Punkte gewiß imverdächtige
Quelle des Putlitzschen Buches spricht
unumwunden das „schwere Wort“ aus,
daß die Leidenschaft zwischen Immer-
mann und der Generalin es war, die
später „die Trennung der Lützowschen
Hie herbeiführte“. 1 *) Sie kam erst im
April 1825 zustande, mit aller Leichtig¬
keit der sit tlich so laxen Zeit. Die für
11) Kohlrausch 213. 12) Putlitz I 95.
unser Empfinden mehr als fadenschei¬
nigen „Gründe“ des Scheidungserkennt¬
nisses lauteten nach L. Assings Be¬
richt: „Obgleich diese Ehe anfangs
glücklich war, so ward doch der ehe¬
liche Friede späterhin durch verschie¬
dene Ansicht von der Welt und dem
menschlichen Leben gestört. — Keinem
Teil ist ein Übergewicht der Schuld
beizulegen. Beiden Teilen ist die Wie¬
derverheiratung in unverbotenen Gra¬
den gestattet." 1S ) Die geschiedenen Ehe¬
leute sind, ähnlich wie Fürst Pückler-
Muskau mit der Tochter Hardenbergs,
dauernd im herzlichsten Briefwechsel
geblieben und haben sich wiederge¬
sehen; auch hat Lützow dem Dichter
nicht nur keine Vorwürfe gemacht, son¬
dern freundschaftlich weiter mit ihm
verkehrt, ja ihm die Eheschließung mit
seiner Frau, die Immermann alsbald
ins Auge faßte, sogar zu erleichtern ge¬
sucht
Der Dichter vermochte alle diese
Entscheidungen nicht in Münster ab¬
zuwarten und mitzuerleben; ergreifend
ist die Herzensangst mit der er wieder¬
holt von dem „fürchterlich schönen La¬
byrinth" spricht, in das er geraten
sei. 14 ) Er kam um seine Versetzung
ein; sicher auch in der Annahme, Frau
v. Lützow an einem anderen Orte leich¬
ter zur Heirat mit sich zu bewegen. Im
Herbst 1823 erfolgte seine Ernennung
zum Kriminalrichter in Magdeburg, im
Januar des folgenden Jahres trat er die
neue Stelle in der Vaterstadt an.
3.
Wie hatte Immermann sich nach Ver¬
gessen, nach Ausruhen am treuen Mutter¬
herzen gesehnt 1 Aber sein zerspaltenes
Herz lebte nach wie vor sein eigentliches
Leben im fernen .Münsterlande, und
gleich am ersten Abend erschütterte
13) Assing 103f. 14) Putlitz I 102.
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115 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LOtzows und Immermanns US
der leidenschaftlich Erregte die treuen
Angehörigen durch einen Ausbruch sei-
nes bekümmerten Gefühls. Er - stürzte
sich in eine Fülle verschiedenster Ar¬
beit, sein strenges Pflichtgefühl suchte
in „schwerer Dienste täglicher Bewah¬
rung“ den besten aller Auswege aus
Seelennot zu finden. Aber immer deut¬
licher erkannte er und erkannten seine
treu und verständnisvoll zu ihm stehen¬
den Nächsten, die Mutter und Bruder
Ferdinand, daß er Elisen nicht einfach
vergessen und aus seinem Leben strei¬
chen könne, daß sie vielmehr immer
entschiedener in den Mittelpunkt seines
Daseins rücke. Wir besitzen aus der
kurzen Zeit vom 1. Februar bis zum
24. Juli 1824 achtzehn Briefe des „treuen
Freundes“ an die „liebe Freundin“. 15 )
Sie sprechen sein herzliches Bedürfnis
aus, mit der geliebten Frau „in bestän¬
diger naher Verbindung zu bleiben“.
Es sind keine Dichter-Liebesbriefe, wie
sie Goethe an Frau v. Stein oder Lenau
an Sophie Löwenthal geschrieben hat,
und der Gatte, an den Immermann oft
beste Empfehlungen und Danksagun¬
gen „für alle erwiesene Gewogenheit“
einflicht konnte sie unbedenklich mit¬
lesen. Sie enthalten keine leidenschaft¬
lichen Beteuerungen und glühenden Wer¬
bungen, zeigen im Gegenteil große Zu¬
rückhaltung, atmen aber aufrichtige
Verehrung und bescheidene Huldigung.
Der Nachdruck liegt auf der Beibehal¬
tung der geistigen Lebensgemeinschaft.
Vor allem sucht er sie in tagebucharti-
gen Berichten an seinem eigenen Le¬
ben teilnehmen zu lassen. Er macht sie
mit Mutter und Brüdern bekannter, hält
sie auf dem laufenden hinsichtlich sei¬
ner Amtsgeschäfte und seiner sonstigen
Arbeiten, seiner Lektüre und seiner
Theatereindrücke. Mit Wärme geht er
anderseits auf die kleinen Münsterer
15) Assing 520ff.
Erlebnisse der Freundin ein, deren Ge¬
genbriefe uns nicht vorliegen. Er ver¬
gleicht diese mit ölblättern, die ihm
in seiner abgeschlossenen Arche Noä
Zeugnis ablegen, daß es noch grüne
Stellen des Lebens gebe. In jeder Be¬
ziehung bekennt er durch die Tren¬
nung zuviel verloren zu haben, als daß
er vergnügt sein dürfte; „Neigung und
Dank wandern beständig in die Ferne,
da kann man freilich in der Nähe und
Gegenwart nicht zu Hause sein“. Er
bittet die Freundin herzlich, ihm, wie
früher, ihr volles Vertrauen zu schen¬
ken: „Ich hoffe es zu verdienen und
glaube Ihnen sagen zu können, daß
meine Gesinnung sich Ihnen in jeder
Lage des Lebens bewähren wird; daß
es keinen Dienst gibt, den ich Ihnen
nicht mit Freuden leisten kann, keine
Treue, welche mein Gemüt Ihnen nicht
bewahrt.“ So klingen, trotz aller offen¬
bar durch ihren Ton bestimmten Ver¬
haltenheit, seine Wünsche und Hoff¬
nungen überall durch. Er erzählt von
den Seinigen, von der Vaterstadt und
seiner Lebensführung doch in dem er¬
kennbaren Bestreben, die wurzellos ge¬
wordene Freundin in Magdeburg zu¬
nächst geistig heimisch zu machen, ihr
die Stadt als ein Asyl hinzustellen, in
dem sie freudig erwartet werde. Sie
aber verhielt sich zurückhaltend. In
Münster, berichtet Immermann später
rückschauend seiner Braut hätte Elise
eingewilligt, nach der Scheidung seine
Gattin zu werden. „Sobald ich aber in
Magdeburg war, fiel sie in die frühere
Ablehnung zurück. Es entspann sich
ein traurig hinüber und herüber kämp¬
fender Briefwechsel, der endlich zu der
Erklärung meinerseits führte, sie müsse
sich äußerlich zu mir stellen, wie sie
innerlich zu mir stehe, oder unser gan¬
zes Verhältnis müsse überhaupt auf¬
hören. Es erfolgte ihre Antwort, die
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U7 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns H8
alles Folgende einleitete. Sie schrieb
mir, heiraten könne sie mich nicht, die
Trennung von Lützow müsse der letzte
Schritt sein, der sie, wie sie sich aus*
drückte, ,der Welt bloßstelle*. .Sie
wolle dann 4 , wie sie sich ebenfall aus*
drückte, .mit mir nur ihren Gefühlen
leben. Ob ich damit zufrieden sei 1 ? 18 )
Hat sich Immermann damals wohl
wirklich ein so entscheidendes Ultima*
tum an die leidenschaftlich Geliebte
abringen können? Die Annahme ihres
Entschlusses beklagte er später jeden¬
falls als seinen „großen Fehltritt“. Al¬
lerdings beruhte sie auf seinem Glau¬
ben, Elise „werde bei dem seltsamen
Entschlüsse nicht verharren, es werde
ihr, wenn sie nur erst zur Ruhe und
Besinnung gekommen sein werde, der
Platz einer Frau an meiner Seite wün¬
schenswerter sein, als der von ihr be-
zeichnete“. 17 )
Im August begab sich Frau v. Lützow
von Münster aus zunächst nach Dres¬
den. Hier lebte sie im Hause der ihr
befreundeten Witwe des romantischen
Philosophen Solger und wurde von die¬
ser auch Tieck und seinem Kreise zu¬
geführt. In Halle hatte sie ein Zusam¬
mentreffen mit Immermann. „Nach
einem erschütternden Wiedersehen
brachten beide einige stürmische Tage
in dem vergeblichen Bemühen zu, sich
über ihre Zukunft zu verständigen. Es
ward kein entscheidender Entschluß ge¬
faßt, und das Verhältnis spann sich in
einem aufreibenden schriftlichen Ver¬
kehr verzehrend weiter." So berichtet
Putlitz. 18 )
Den tiefsten menschlichen und künst¬
lerischen Ausdruck fand diese Lebens¬
krise, die schon in Immermanns „Pe-
trarca“-Drama hineingespielt hatte, in
seinem Tra uerspiel „Cardenio und
16) Putlitz I 99. 17) Ebenda.
18) A a. O. I 136.
Celinde“, das, in der Münsterischen
Zeit wurzelnd, in diesem Winter
1824/25 in Magdeburg entstand. Das
letzte der großen Immerrnannschen
Jugenddramen ist zugleich sein bestes.
Der tiefere Seelengehalt, aus stürmi¬
schen Herzenswirren herausgeboren,
und eine vertiefte Kunsteinsicht, in
praktischer wie theoretischer Arbeit her¬
angereift, haben daran gleichen Anteil.
„Cardenio und Celinde“ ist in erfreu¬
lichem Gegensätze zu den früheren,
allzu rasch abgestoßenen Dramen ein
ausgetragenes Werk, ein Stoff, um den
Immermann wirklich innerlich gerun¬
gen hat Hier ist er nicht mehr der
bloße Gestaltungsdichter, sondern vor
allem auch Ausdrucksdichter. Das Drama
wurde ihm ein Gefäß, das sein ganzes
Sein in sich aufnahm, nicht mehr nur
einzelne Tropfen seines Herzblutes. Ein
großes reines Kunstwerk freilich konnte
es nicht werden, da sein Dichter noch
der menschlichen Läuterung entbehrte.
Ganz äußerlich nur läßt sich Immer-
manns Leidenschaft zu der Frau eines
anderen mit Richard Wagners Verhält¬
nis zu Mathilde Wesendonk verglei¬
chen, und ganz äußerlich nur entspre¬
chen sich bei beiden „Cardenio und
Celinde“ und „Tristan und Isolde“. Der
„Tristan“ ist reinste, von jedem pein¬
lichen Erdenrest befreite Kunst, weil
sein Schöpfer sich als Mensch zurecht-
gefunden hatte, als er seinem Herzens-
erlebnis symbolischen Ausdruck gab.
„Die letzten Entscheidungen zwischen
uns“, schreibt er an Mathilde 19 ), „ha¬
ben mich zu dem klaren Bewußtsein
gebracht, daß ich eben nichts mehr zu
suchen, nichts mehr zu ersehnen habe.
Nach der Fülle, in der Du Dich mir
gegeben hast, kann ich das nun nicht
Resignation nennen, am allerwenigsten
Verzweiflung. Diese verwegene Stim-
19) Brief vom 12 . Oktober 1858.
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119 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 120
mung stand mir früher als Ausgang
meines Suchens und Sehnens gegen¬
über: von ihrer Notwendigkeit bin ich
aber, durch Dich tief beglückt, erlöst.
Mir ist das Gefühl einer heiligen Sätti¬
gung zu eigen. Der Drang ist ertötet,
weil er vollkommen befriedigt ist. —
Von diesem Bewußtsein beseelt, blicke
ich nun von neuem in die Welt, die mir
somit in einem ganz neuen Lichte auf¬
geht.“ Immermann, der Ungesättigte,
stand dem Entschluß zur Entsagung
als einer freien sittlichen Tat sehr fern;
es gärt in seinem Herzen, und es gärt
in seinem Werke.
Wie stark der persönliche Gehalt des
Immermannschen Dramas ist, das zei¬
gen besonders die letzte Szene des drit¬
ten und die erste des vierten Aufzugs,
die beiden Gespräche, in denen Car-
denio die Geliebte vergeblich zur Ehe
zu gewinnen sucht Celinde wiederholt
leidenschaftlich: „Ich sage nein zu
allem, was nicht stimmt zu meinem
Wesen“ und verweigert die Ehe voll
Abscheu:
WeU ich nicht bin geschaffen, Vettern, Basen
Mein inniges Geheimnis zu verraten.
Weil Neigung welkt am grellen Tageslicht,
Weil ich vor Scham mOBt’ in die Erde sinken,
Trät’ ich mit dir zum Altar, tauschte Ringe.
Ich liebe dich, du weißt von ganzem Herzen;
Allein dein Ehweib werd' ich nimmermehr.
Die Eh’ ist mir verhaßt; sie deckt mit Schatten
Des Lebens sonnenhellsten Garten zu.
Die Dichter fabeln viel von Dolch und Gift
Als Feinden zarter Liebe; sie vergessen
Die schlimmste Feindin stets, die Heirat
drüber.
Jedwedes Schönen kläglich Trauerspiel.
Sie will unter allen Umständen ihre
persönliche Freiheit auch dem gelieb-
testen Manne gegenüber, behaupten.
Vergebens versichert ihr Cardenio,
diese Anschauung komme nicht aus
ihr selbst sondern sei ihr „nur so ein¬
gesprochen von gelehrten Schmeckern,
die ihre Falschheit und verkehrte Lust
mit Blumen überdeckten“. So spricht
der Antiromantiker Immermann mit der
Romantikerin Elise und muß schließlich
doch mit Cardenio tiefbekümmert fest¬
stellen :
Ein tiefer Zwiespalt liegt in unserm Sinn;
Das HeUigste, das Würdigste in mir
Ist leider ein verschloßnes Kleinod dir.
Die Scheidung der Lützowschen Ehe
war ausgesprochen. Innerlich fühlte sich
Elise zu Immermann gehörig und sei¬
nen Bitten nachgebend, verlegte sie,
nachdem sie im Hinblick auf ihre an¬
gegriffene Gesundheit eine Badereise
unternommen hatte, im September ihren
Wohnsitz nach Magdeburg. Im Oktober
machte sie mit dem Dichter zusammen
eine kleine Harzreise und zog darauf
ganz und gar in das Haus seiner Mut¬
ter, die in ihr schon die künftige
Schwiegertochter sah. Glückselig ge¬
noß Immermann anfangs die Nähe der
geliebten Frau, doch auf die Länge
blieb es nicht verborgen, daß sie sich
zu dem so sehnlich erhofften Schritt
des neuen Ehebundes nicht verstehen
wolle, und so griff im Verkehr aller
Beteiligten denn doch bald wieder
Zwang und Pein Platz.
Im Dezember 1826 erhielt Immer¬
mann die Ernennung zum Landgerichts¬
rat in Düsseldorf, und im März des
folgenden Jahres siedelte er in seinen
neuen Wirkungskreis über. So schwer
er von Mutter und Bruder schied, die er
fortan nur bei kurzen Besuchen wieder¬
sah, er vertauschte gern die unroman¬
tische Elbe und ihre geistig unregsamen
Anwohner mit dem heiteren Rhein und
seinem frischen Leben. Wieder be¬
stürmte Immermann Elisen, ihm als
Gattin zu folgen; sie widerstand aber¬
mals. Audi Lützow, „der sich mit dem
seltensten Edelmute in dieser Sache be¬
nahm, wünschte diesen Ausweg auf das
eifrigste, sein Vertrauter Schl.... war
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121 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 122
der Dolmetsch seiner Wünsche und Ge¬
sinnungen“. So lesen wir bei Putlitz 20 )
in Immermanns späteren Berichten an
Marianne. Der genannte Vertraute war
des Generals Adjutant, der Rittmeister
Schlüsser. Vor einigen Jahren ist ein
Brief Immermanns an diesen aufge¬
taucht, der uns näher unterrichtet 21 )
In der Meinung, die Eheschließung
werde nur durch Immermanns derzei¬
tig noch zu geringe Einnahmen verhin¬
dert, ließ Lützow dem Dichter einen
jährlichen Zuschuß anbieten. Immer¬
mann, der ja wußte, daß die Gegen-
grflnde von Elisens Seite lediglich
innerlicher Natur waren, lehnte ab und
verwies auf eine spätere Zeit, da er
selbst in der Lage sein werde, der Ge¬
liebten ein standesgemäßes Dasein an
seiner Seite zu bieten: „habe ich dieses
Ziel erreicht, so werde ich mit der¬
selben Festigkeit, womit ich mich jetzt
gegen voreilige Handlungen setzen
muß, versuchen, ihre Bedenken zu
heben, die Sache ihr aus dem richtigen
Gesichtspunkte zu zeigen, und sie bit¬
ten, einen Entschluß zu fassen, der uns
alle endlich beruhigt Sie ist gut sie ist
vernünftig, ich darf hoffen, daß Grillen
das gesunde Gefühl nicht überwältigen
werden. Bis dahin ist es meine Pflicht,
sie zu schonen, und entsagend dem,
was mir das Glück des Lebens dünkt,
ihr Freund zu sein.“
Nach Ludmilla Assings Angabe er¬
klärte sich Frau v. Lützow nur unter
der Bedingung bereit dem Dichter nach
Düsseldorf zu folgen und auch ferner
sein Leben zu teilen, daß sie beide sich
20) A. a. O. I 99.
21) Vgl. Katalog Martin Breslauer Nr. 2:
. Autographen und Historische Dokumente":
Nr. 110 (mit Auszug); und dazu: Deutsche
Literaturzeitung Jahrg. 1907, Spalte 355. Fer¬
ner Hassencamp in den Beiträgen zur Ge¬
schichte des Niederrheins XI10. Dasseldorf
1807.
gelobten, keiner wolle je eine andere
Heirat eingehen. Dürfen wir dieser An¬
gabe der parteiischen Biographin Glau¬
ben schenken? In Immermanns spä¬
teren rückhaltlosen Darlegungen edler
dieser Verhältnisse findet sich kein
Wort davon, auffallenderweise aber
wird diese Angabe auch bei Putlitz
nicht widerlegt oder bestritten, indessen
das Assingsche berichtigendem Buch
wir überhaupt einige Ausführungen un¬
zweideutiger wünschten. Jedenfalls ist
so viel klar: ein solches Versprechen
hätte Elise nie fordern, Immermann
nie geben dürfen, denn es lag in der
Natur der Dinge, daß die alternde Frau
einst dasselbe harte, aber menschliche
Los erleiden werde wie Charlotte
v. Stein. Der Hauptanteil an dieser Schuld
und ihren Folgen fällt ihr, der reiferen,
zu. Gewiß waren es nicht Standesvor¬
urteile oder bloßer Eigensinn, daß sie
dem Freunde die Ehe versagte. „Ihr
Grund war," schreibt Immermann nach
der späteren Trennung an seinen
Freund Schnaase, „daß sie durch die
Heirat unrettbar mit ihrer Familie zer¬
fallen werde. Nun kennst Du ihre zarte
Treue gegen alles ihr Liebgewesene,
und so muß ich sagen, daß jene ver¬
hängnisvolle Entsagung nur unüber¬
windlichen Schranken ihres Wesens
entsprungen ist“ 22 ) Sie wollte es nicht
darauf ankommen lassen, sich zum
zweiten Male zu einer Scheidung ge¬
zwungen zu sehen. 23 ) Auch daß sie
erheblich älter war als er, war für sie
schwerlich entscheidend; in den mei¬
sten Romantiker-Ehen war ja der Mann
22) J. Kloevekom, Immermanns Verhält¬
nis zum deutschen Altertum 60f. Münster
1907.
23) .Oft sagte sie, sie wQrde keiner Frau
raten, sich scheiden zu lassen, und wenn sie
auch noch so viel zu erdulden habe." So
berichtet L. Assing (S. 192) aus Elisens alten
Tagen.
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123 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben Lützows und Immermanns 124
der jüngere, und eine der ganzen ro-
mantisch-emanzipierten Zeit zur Last
fallende Auffassung, die in der Ehe das
Widerspiel der Poesie und den Tod der
wahren Liebe zu erblicken meinte,
sprach doch wohl vor allem mit. Wie
oft stoßen wir in romantischen Lebens¬
läufen auf solche Anschauungen! So
versagte sich ja auch die geschiedene
Sophie Mereau dem herzlich und un¬
ermüdlich andringenden Flehen Bren¬
tanos, ihr Verhältnis zur Ehe zu er¬
heben , so lange mit unverhohlenem
Widerwillen, bis die Natur selbst ihr
Machtwort sprach. Der romantisch
schlaffe Brentano schrie nach der heili¬
gen Ordnung der Ehe, weil er, vom
Dämon der Unordnung und Unrast be¬
herrscht, einen unverrückbaren Pol für
sein zerbröckelndes Dasein brauchte
und suchte. Der feste Charakter des
unromantischen Willensmenschen Im¬
mermann verlangte nach der Ehe nicht,
um erst Ordnung in sein Leben zu brin¬
gen, sondern um das auf Ordnung und
sittliche Zucht gegründete nicht zu ge¬
fährden und sich selbst untreu zu wer¬
den. Mit der Ablehnung uralter Satzun¬
gen hat Elise den Freund in seinen
edelsten Gefühlen nicht verstanden und
ihn so durch seine Liebe von sich selbst
abtrünnig gemacht. Sie hat damit den
tiefen Zwiespalt und die schwere Le¬
benslüge in sein Dasein gebracht, die
am Marke dieses Kernmenschen nagten.
Denn es gehört zum deutschen Wesen,
so führt Immermann, der Bräutigam,
nachmals in den „Memorabilien“ aus,
„daß bei uns auch die Ehe zu der Liebe
hinzutreten muß, soll sie von dem
Zweifel, sie könne doch nur eine Grille,
ein Anstoß, ein Irrtum, eine Leiden¬
schaft sein, ausgeheilt werden. Denn
niemand darf sich jenen durch nichts
anderes willkürlich zu ersetzenden Prü¬
fungsmoment vor dem Antlitze Gottes
unterschlagen, will er im Strome deut¬
schen Lebens verbleiben“.
4.
Im Hochsommer 1827 traf auch Frau
von Lützow, nachdem sie noch in Ems
eine Kur gebraucht hatte, in Düsseldorf
ein, um wie in Magdeburg an Immer¬
manns Leben teilzunehmen. Er hielt
ein stilles, grünes Häuschen im Hofgar¬
ten, unweit des Rheins, für sie in Be¬
reitschaft; ein Zimmer darin ward ihm
selbst zur Arbeitsstätte eingerichtet,
aber nicht lange, so gab er seine kahle
Stadtwohnung überhaupt auf und zog
ganz mit der Freundin zusammen. Da¬
mit setzte er freilich ihren und seinen
Ruf bewußt aufs Spiel, aber er handelte
nicht aus Leichtsinn, sondern aus Über¬
zeugung. Noch elf Jahre später ver¬
trat er gegen Gutzkow den Standpunkt:
daß, wenn man in sich die Notwendig¬
keit fühle, anders und freier sich zu
Frauen zu stellen, als wie es die prüde
Konvenienz der Gegenwart gestatte,
man eben seinem Gefühle unbefangen
folgen solle; Gewissen, Takt und
Zartgefühl würden schon einen jeden
vor dem Überschreiten der zu respek¬
tierenden Grenzen behüten, im Notfall
würden die Verhältnisse nicht erman¬
geln, sich zum Korrektiv der verletz¬
ten Schranken zu machen. 24 ) Daß die
kleinstädtischen Düsseldorfer und die
korrekten preußischen Beamten an die¬
sem Zusammenleben starken Anstoß
nahmen, versteht sich von selbst
und darf ihnen auch nicht zum Vor¬
wurf gemacht werden. 26 ) Da Frau
24) Putlitz II 233.
25) Der Klatsch entstellte das Verhältnis
natürlich auch vielfach. So spricht Hebbel
in seinem Tagebuch vom 19. Juli 1854 von
.Immermanns Geliebten, der Gräfin Ahle¬
feldt, die ... zehn Jahre in dem Hause des
letzten Romantikers lebte, ohne daß seine
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125 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben Lützows und Immermanns 126
v. Lfltzow in den Häusern, zu denen
Immermann vorher schon Zugang ge¬
funden hatte, nicht auch ihrerseits Be¬
suche machte, konnte sich ein gesell¬
schaftlicher Verkehr mit ihr nicht leicht
anbahnen. Einige von den vorurteils¬
losen jungen Düsseldorfer Künstlern,
die der Dichter nach und nach ein¬
führte, gaben ihr zuerst von neuem Ge¬
legenheit, ihre geselligen Talente und
ihre geistige Anmut spielen zu lassen.
Nur allmählich vergrößerte sich der
Zirkel und verringerte sich das Mi߬
trauen. Die Damen hielten sich aber
nach wie vor zurück, und der Stempel
des Pikanten, Verbotenen verblieb dem
Hauswesen.
Immermann genoß dankbar die
dauernde Nähe der geliebten Frau und
die Behaglichkeit ihres vornehm ein¬
gerichteten Haushalts. Er fühlte sich
dadurch wieder zum Vorlesen Shake-
spearesdier Dramen im kleinen Kreise,
vor allem aber auch zu eigenem Schaf¬
fen angeregt Es war wieder wie einst
im Lützowschen Hause zu Münster, nur
daß er jetzt nicht mehr Gast sondern
Hausherr war. Die Bestreitung dieses
Haushalts freilich wollte sich mit der
Besoldung nicht ermöglichen lassender
Dichter suchte auf alle mögliche Weise
seine Einnahmen zu erhöhen und kam
doch aus den wirtschaftlichen Nöten
nie recht heraus.
Da sich die Wohnung im Hofgarten
als zu klein erwies für den Doppelhaus-
halt so bezog man im Frühjahr 1830
ein geräumigeres Haus vor den Toren
der Stadt im Dörfchen Derendorf. Hier
lebte man hinter der hohen Weißdom¬
becke, die der Dichter auch in die Ni-
niana-Liebesszenen seines „Merlin“ ver¬
pflanzte, noch mehr für sich und weni¬
ger beobachtet. Von ganzer Seele er-
htimsten Freunde es wußten oder vielmehr
es wissen durften“.
freute sich Immermann des großen ge¬
pflegten Gartens und der ländlichen
Freiheit Zwei ineinandergehende, übri¬
gens recht schlicht ausgestattete Zim¬
mer des Erdgeschosses bildeten seine
Arbeitsräume. An dem einfachen Steh¬
pult entstanden die meisten Schriften
dieser Zeit. Zwischen diesen mit einer
stattlichen Bücherei besetzten Wänden
fanden sich mit der Zeit allerlei kleine
Kunstscbätze zusammen, über denen die
ordnende und schmückende Hand der
Freundin waltete. In ihren eigenen, der
Geselligkeit dienenden Räumen suchte
Immermann seine Erholung.
Von Lützow empfing Elise fortge¬
setzt die herzlichsten und verehmngs-
vollsten Briefe, ja auch einen persönli¬
chen Besuch. Im Jahre 1828 teilte er ihr
seinen Entschluß mit, sich mit der
Witwe seines Bruders Wilhelm zu ver¬
heiraten. Um nicht mit dieser zweiten
Frau Adolf v. Lützow verwechselt zu
werden, erwirkte sie vom König von
Dänemark die Berechtigung, sich wie¬
der mit ihrem Mädchennamen Gräfin
v. Ahlefeldt zu nennen. Schon sechs
Jahre später starb Lützow unerwartet
und vor der Zeit. Elise bewahrte ihm
das wärmste Gedächtnis. Noch in
ihren letzten Lebensjahren erklärte sie
einmal einer Freundin mit bewegter
Stimme: „Lützow ist mir immer ein
treuer Freund geblieben, und wir haben
beide oft bereut, uns getrennt zu ha¬
ben." 26 ) 1832 war auch Elisens Vater
einem Nervenschlag erlegen. Die Aus¬
sicht auf eine große Erbschaft war
längst verschwunden, doch erhielt Elise
kraft eines Erbvertrags mit ihrem Vet¬
ter fortan wenigstens eine lebensläng¬
liche Rente, die sie sicher stellte und
unabhängig machte.
26) Assing 192. Ganz ähnlich äußerte sich
Karoline nach ihrer Scheidung Ober Wil¬
helm Schlegel.
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127 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben Lützows und-Immermanns 128
Gleichmäßig lief da» Derendorfer Zu¬
sammenleben Jahr um Jahr dahin, nur
durch einige gemeinsame Reisen unter¬
brochen, deren eine nach Holland ging.
Elise tat das ihre, dem Freunde das
Dasein zu erhöhen und angenehm zu
machen. Sie blieb die Genossin seiner
dichterischen Entwürfe; mit feinem Ge¬
fühl und lebhaftem Anteil folgte sie
seiner Bahn und stellte, durchaus nicht
kritiklos, sein ideales Publikum dar.
Sie brachte das frauenhafte Element in
sein Leben, auf das seine Natur ange¬
wiesen war. Ihre weibliche Fürsorge
bot ihm Arbeitsruhe und Schaffensstim-
mung und treue Pflege in Leidenstagen.
Vertiefte Lebens- und Menschenkennt¬
nis und Einblicke in eine größere Welt
dankte Immermann der Frau v. Ahle¬
feldt wie das gleiche Goethe und Schil¬
ler den Frauen v. Stein und v. Kalb
dankten. Aber wie diese, vermochte
auch sie den Geliebten nicht ganz aus-
zufüllen, nicht voll zu beglücken. So
eng sie Neigung und Gewohnheit in viel-
jähriger Lebensgemeinschaft verknüpf¬
ten, das Eheband, das allein einer Liebe
die Dauer verbürgt, war nicht zu er¬
setzen. Daß Immermann die Gräfin
auch in der Düsseldorfer Zeit noch
wiederholt dringend um ihre Hemd bat,
ist ein Beweis dafür, daß er sich so
nicht befriedigt fühlte; ihre fortdauernde
Weigerung ein Beweis, daß ihr das
volle Verständnis sowohl für ihn
wie für das Problematische ihrer Lage
fehlte. Sie mußte wissen und sehen,
daß ihm die eheliche Gemeinschaft un¬
abweisbares Bedürfnis war, und hätte
sich darüber klar werden müssen, daß
sie mit ihTem schlecht begründeten
Nein alles aufs Spiel setze. „Welch
wildes Wetter auch dem Schiffer drohe,
ein Ankergrund winkt ihm — der eigne
Herd“; so hatte sie in des Freundes
„Gedichten“ gelesen, und sie sah ihm
über die Schulter, als er am Schlüsse
der „Epigonen“ seinen Helden, dem die
Geliebte sich zu versagen scheint, kla¬
gen ließ: „Ist denn die Staude etwas
ohne ihre Blüte? Vollendet den Baum
nicht erst seine Krone? Zuletzt, nach
allen Irrfahrten, Abenteuern, Wider¬
sprüchen des Denkens und Handelns
ist dem Menschen, welcher sich nicht
selbst verloren ging, gegeben, mit dem
Einfachsten sich zu begnügen, und alle
Fieber der Weltgeschichte werden end¬
lich wenigstens in dem einzelnen Ge-
müte von zwei treuen Armen und Augen
ausgeheilt. Mir aber soll diese uralte,
ewig-neue Lösung und Schlichtung
immerdar fehlen I“ 27 )
(Schluß folgt.)
27) Bd. 4, S. 266f. meiner Ausgabe. Da¬
gegen halte man ebenda Bd. 3, S. 375 Her¬
manns Worte im Hinblick auf die Ehe des
zum Philister gewordenen Philhellenen:
„Ehe! — wie rauschen die Redensarten, wenn
das Wort ausgesprochen wird. Das Sakra¬
ment der Ehe! Die Heiligkeit der Ehe! Der
Segen des Ehestandes! — Und was bringen
denn nun diese schönen Dinge bei vielen
hervor? Daß sie einen Stillstand in ihrem
Leben machen, daß die edelsten Verhältnisse,
die unschätzbarsten Verbindungen ihren Reiz
verlieren, die zarte Berührung mit dem Le¬
ben und den Menschen aufhört und am Ende
jene dumpfe Erstarrung eintritt, welche für
das Ziel des Daseins ausgegeben wird."
Das ist nur der Ausdruck einer vorüber¬
gehenden Stimmung des Dichters.
Für die Schriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornicellus, Berlin W30, LultpoldstraBe 4.
Drude von B.Q.Teubner ln Leipzig.
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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
11. JAHRGANG HEFT 2 L NOVEMBER 1916
Vom inneren Frieden des deutschen Volkes.
Von Eduard Spranger.
Der gegenwärtige Krieg wird von bei¬
den Seiten im Namen der Kultur geführt;
aber während dieses Gefühl bei den
anderen sich mit unbedingter Selbst¬
sicherheit ausspricht, bemerken wir beim
eignen Volke einen ernsten Willen zur
Selbstprüfung, ob das Hohe, für das wir
kämpfen wollen, auch schon unser eigen
sei. Es ist wieder, wie 1807, ein allgemei¬
ner Eifer des Bessermachens und Besser-
Werdens. Und zugleich regt sich schon
heute das Streben, den erhöhten Geist
der Kriegstage zu bewahren und in die
Zukunft hinüberwirken zu lassen. Noch
ehe der äußere Friede greifbare Gestalt
gewonnen hat, redet zu uns ein Buch
„Vom inneren Frieden des deutschen
Volkes“. 1 ) Ein Buch gegenseitigen Ver¬
stehens und Vertrauens — so nennt es
sich auch im Anklang an die Kaiser-
worte einer Thronrede. Es hat seine
Wurzel in den nationalen Erlebnissen
des 4. August 1914; und es will den Ge¬
halt dieses Erlebens gleichsam über die
ganze Breite der nationalen Kultur aus¬
strahlen lassen. So handelt es nicht nur
von dem Frieden unter den politischen
Parteien, der damals Wahrheit wurde,
sondern auch vom Frieden unter den
Weltanschauungen, unter den Konfes¬
sionen und kirchlichen Parteien, unter
den Klassen und Berufsständen, ja selbst
vom Frieden unter den Nationalitäten.
Vierzig Männer haben jeweils zu dem
1) Herausgegeben von Friedrich Thimme,
2 Bände, Leipzig 1916, S. Hirzel.
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ihnen nächstliegenden Problem das
Wort ergriffen. Die Individualität des
Urteils ist nirgends erstickt; das Bild
einer reichen Bewegung und eines viel
verschlungenen Kulturgewebes entfaltet
sich vor unsem Augen. Das nationale
Leben selbst gesehen vom Gesichts¬
punkt seiner möglichen Einheit ist in
diesen Blättern zusammengedrängt und
man wird sie nicht lesen, ohne zu
lernen.
Das Problem ist zu groß und zu wich¬
tig, als daß man die Anregung nicht mit
empfänglichster Seele aufgreifen sollte.
Und die Frage, ob hier wirklich der
großen Zukunftsaufgabe vorgearbeitet
ist verdient nicht zuletzt jene Selbst¬
prüfung, von der wir sprachen. Man
wird nicht dabei stehen bleiben, daß tau¬
sendfach ausgesprochene Einleitungs-
gedanken sich in den verschiedenen Auf¬
sätzen ermüdend wiederholen: das ist
das Schicksal jedes Sammelwerks. Man
wird sich auch nicht wundern, daß man¬
cher Gegensatz im Eifer des Schreibens
beinah unfriedlich betont wird. Ist es
doch hier wie in einem großen Saal, der
dicht von Menschen angefüllt ist und in
dem alles erwartungsvoll schweigt; nur
flüsternd wagt man sich zuzuraunen:
„Wie still ist es hier!“, und schon ent¬
steht ein brandendes Gemurmel. Die
Frage vielmehr ist, ob hier das große
Ziel mit meisternder Gedankenkraft er¬
faßt ist, oder ob nur die Einheit eines be¬
glückenden Gefühls diese Aufsätze zu-
5
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INDIANA UNIVERSITY
131
Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes
132
sammengemeindet hat Auch im letzte¬
ren Falle bleibt dieses Werk ein schönes
Denkmal tief erregter Zeit das nicht un¬
rühmlich die Widmung: „Unseren ge¬
fallenen Brüdern“ trügt Aber was durch
Sammelarbeit nicht zu erreichen war,
gehört deshalb nicht weniger zu dem,
„was nottut".
Erwägen wir die Lage, wie sie
ist Ein gewaltiges Schicksal hat die
Geister tief bewegt. Und mit eiser¬
ner Faust hat die Not eine Einheit ge¬
schmiedet die fast überwältigend die
Seele trifft Noch halten diese Klam¬
mem fest Aber vergessen wir nicht daß
das, was Schicksalsschöpfung war, von
Tag zu Tage mehr in freie Geistestat
verwandelt werden will. Dann will der
Enthusiasmus durch Einsicht und Über¬
zeugung ersetzt sein. Heute besitzen wir
den Frieden ov xi%vy oid’ iziartj/ir],
ullä d'eCa [ioCqcc xal xavoxco^fj, so würde
Plato den Gegensatz aussprechen. Die
Stunde rückt näher, wo wir über den
geistig-sittlichen Ertrag des Krieges zum
Bewußtsein kommen müssen. Nur was
zu fester Form gelangt wirkt fort. Auch
der innere Friede des deutschen Volkes
wird mehr sein müssen als ein Gefühls¬
friede. Nur als Gedankenmacht als
innerstes Besitztum unseres Geistes, ver¬
mögen wir ihn zu bewahren. Durchblät-
tert man die beiden Bände, so findet
man recht mannigfaltige Friedensstim¬
mung darin ausgeprägt. Der eine läßt
von der Strenge seines Standpunktes
mildernd etwas nach; der andere sucht
durch eindrucksvolle Betonung des Ech¬
ten seiner Welt die Widerstrebenden
in sie hineinzuziehen; der dritte zeigt
wie scheinbar Feindliches an einem un¬
bemerkten Punkte sich versöhnt oder
doch ohne scharfen Kampf miteinander
leben kann. Nachgeben, Beharren und
Vermitteln — das sind die Wege zum
gegenseitigen Verstehen und Vertrauen,
die hier eingeschlagen sind. Aber es ist
nicht bloße philosophische Engherzig¬
keit, wenn die Frage uns beunruhigt, an
welchem Punkte wir nachgeben dürfen
und wo Beharren Pflicht ist, wo wir
verstehen, wo verzeihen, wo vertrauen
dürfen.
I.
Bringen wir das Problem auf seinen
allgemeinsten Ausdruck, so handelt es
sich um die Grenzen der Toleranz, das
heißt um ihre mögliche Weite und ihre
notwendigen Schranken. Aber dieses
Problem ist aufgerollt worden durch
einen ganz konkreten Anlaß, nämlich
durch die Erfahrung unbedingter Einig¬
keit des Volkes in einer Stunde politisch¬
nationaler Gefahr. Die alte Wahrheit,
daß die Errungenschaften aller Kultur
nur lebensfähig sind unter dem Schutze
einer festen Machtorganisation, diese in
Friedenstagen dem Bewußtsein leicht
entschwindende Tatsache, verlor in jener
Stunde ihre Selbstverständlichkeit und
grub sich dem allgemeinen Bewußtsein
wieder mit der Gewalt ein, die nur ele¬
mentare Wahrheiten haben. Der Staat
erschien nun nicht nur als der höchste
Wert, den ein Volk sich für sein eigenes
Dasein zu erzeugen vermag, sondern
auch als das Einende und Übergeord¬
nete, das im Grunde für alles Weitere
Voraussetzung ist. Das Staatsleben
hatte sich wie eine Blüte zur Zeit der
wärmenden Sonnenglut in den Reichtum
mannigfacher politischer Überzeugun¬
gen auseinandergelegt; aber wie der
Frost einer herbstlichen Nacht brachte
der feindliche Einbruch das Bewußtsein
zurück, daß der Staat erst schützende
Hülle sein muß, ehe seine Organe
sich einem auseinanderstrebenden Eigen¬
dasein widmen dürfen. Oder mit einem
anderen Bild: der Einheits- und Macht¬
wille strebte dem konzentrischen Druck
von außen um so gewaltiger entgegen.
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[ND1ANA UNfVERSITY
133
Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes
134
je starker dieser Druck auf das Zentrum
wurde. Lange vergessene Gefühle inner¬
ster Zusammengehörigkeit und gemein¬
samer Bestimmung wurden wieder wach.
Die Voraussetzung, unter der das Partei¬
leben Sinn hatte, die Sicherung des Staa¬
tes nach außen, war hinweggefaller);
die Voraussetzung für den festesten Zu¬
sammenhalt: eine gemeinsame Gefahr,
war gegeben. Das war die Stunde, in
der das deutsche Volk wie nie zuvor
die Möglichkeit eines inneren Friedens
empfand. Und es ist begreiflich, daß das
Beseligende dieses Hochgefühls bis in
die letzten Tiefen der Volksseele nach¬
zitterte. Alle Verbitterung sollte nun
begraben sein. Der nationale Gedanke
entfaltete seine Kraft hoch über allen
Gegensätzen. „Ein jeder Deutsche hat es
sich hinfort stets gegenwärtig zu hal¬
ten, daß in der großen Probe des Welt¬
brandes alle Stämme, Glaubensgemein¬
schaften, Stände und Parteien sich voll
bewährt, dieselbe Liebe zum Vaterlande,
dieselbe Opferfreudigkeit und Ausdauer
an den Tag gelegt haben ... Ist es im
Kriege möglich gewesen, daß unbescha¬
det der gegenseitigen Überzeugungen
alle wie ein Mann zu einem Zwecke
zusammenstanden, so muß es auch im
Frieden möglich sein, die Kräfte des
ganzen Volkes zur Gemeinschaftsarbeit
zusammenzufassen." (T h i m m e, S. 566.)
Es liegt in diesen Worten ein Bekennt¬
nis von ungeheurer Tragweite: die
Oberzeugung nämlich, daß Volks- und
Staatsgemeinschaft das höchste Gut sei,
oder anders gesagt: daß die nationale
Idee über alle anderen Ideen zu herr¬
schen habe. Und wer kann sich nach
den Schicksalen der beiden letzten Jahre
dem Eindruck verschließen, daß wirk¬
lich unter den heutigen Verhältnissen
der Staat allein die Gewähr für die Er¬
haltung alles eigentümlichen Geistes¬
lebens bedeute, nicht nur dem Volk, son¬
dern auch jedem Höchsten und Letzten
in ihm? Unter den Gesichtspunkt des
Staates rücken daher alle anderen Werte,
und es fragt sich, in welchem Grade und
in welcher Gestalt sie unter seinem Zep¬
ter zur Einheit gebracht werden können.
Die Rede kann nicht sein von einem
Frieden um jeden Preis und in jeder
Hinsicht, sondern nur um das friedliche
Nebeneinanderbestehen materieller oder
geistiger Gegensätze ineinem Staat
Wenn also unser Buch gelegentlich den
Schein erwecken könnte, als ob es ihm
um Vermittlung zwischen den Inter¬
essensphären oder den Weltanschau¬
ungen oder den Konfessionen überhaupt
zu tun sei, so wird man, eingedenk des
Titels, diesem Irrtum nicht verfallen;
denn ob in allen diesen Dingen Friede
möglich sei, ja nur zu wünschen sei, das
unterliegt wohl ernstem Zweifel. Der
Untersuchung wert hingegen ist die
Frage, wie dies alles zu einer frucht¬
baren nationalen Lebensgemeinschaft
organisiert werden könne, wie vom Ge¬
sichtspunkt dieser Einheit die fessellose
Vielheit der Kulturgebilde sich verhalte.
Ein Zweifler könnte z. B. schwanken, ob
durch die Augusterlebnisse von 1914 an
dem Verhältnis der Weltanschauungen
oder der kirchlichen Bekenntnisse etwas
geändert sei. Und in der Tat begegnet
uns in diesem Teile des Buches, der nur
indirekt politisch ist, manche zurückhal¬
tende Stimme, als ob ein voreiliger
Friede auf diesem Gebiet das echte
Leben mehr verwische als befördere.
Was vom Gesichtspunkt des Krieges als
unerheblich erscheint, mag religiös be¬
trachtet und in geistiger Ruhe betrach¬
tet doch noch von großem Belang sein.
So etwa Ra de: „DiePreisgabe der reli¬
giösen Eigentümlichkeit voneinander zu
verlangen, das darf der nationalen
Einigkeit auch nach diesem Kriege
nicht einfallen.“ Nicht alle Gegensätze
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135
Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes
136
werden vor dem Forum des neuen
Deutschland sich nur als veraltete Vor¬
urteile und kleinliche Leidenschaften er¬
weisen. Nicht alle werden damit über¬
wunden sein, daß man der Nation die
Forderung gemeinsamer politischer Ar¬
beit entgegenhält Vielleicht nun er¬
scheint diese Einschränkung des Ge¬
sichtspunktes auf das politische Problem
als selbstverständlich. Da aber unser
Buch dies Selbstverständliche kaum
irgend stark betont so sei es hier im
voraus festgelegt: Der Friede, auf wel¬
chem Gebiet er auch erwachse, ist hier
gemeint nicht als ein Unterdrücken gei¬
stiger Verschiedenheit, sondern als ihre
Unterordnung unter das politische Ziel
der nationalen Macht und Einheit So
etwa, wie im Reich der Wissenschaft
Polemik unentbehrlich bleibt, wenn sich
die Wahrheit emporringen soll, die Pole¬
mik aber ihre Grenzen an den Forderun¬
gen des Anstandes, der Menschlichkeit
oder gegebenenfalls des Staatsinteresses
findet, so ist auch auf anderen Gebieten
die unbedingte Ruhe nicht zu lieben;
wohl aber ist in Zeiten nationaler Ge¬
fährdung jeder unnötige Streit und
schon in politisch ruhiger Zeit jede
feindselige Trennung der Geister im
Volke zu beklagen.
II.
Nicht von der Toleranz überhaupt
also, sondern von der Toleranz im Staate
soll die Rede sein. Und da liegt es nahe,
einen Blick auf jene Epochen zu wer¬
fen, in denen der Staat schon einmal
gegenüber geistigen Gegensätzen in
seinem Schoße eine einigende Kraft ent¬
faltet hat Der Ausdrude selbst weist
uns den Weg: es ist vielleicht eine der
gewaltigsten Bewegungen der neueren
Geschichte, wie sich die einheitliche
Staatsmacht über den Gegensatz der
konfessionellen Überzeugungen heraus¬
gerungen hat Die Duldung auf religiö¬
sem Gebiet die Toleranz im engeren
Sinne, ist die erste Form, in der der Staat
leidenschaftliche Kämpfe in seinem In¬
nern zum Frieden gebracht hat An der
Gestalt dieses Friedens läßt sich viel¬
leicht studieren, wie der Kampf der Gei¬
ster in einem gemeinsamen Übergeord¬
neten zur Ruhe gelangt Und zugleich
offenbart sich daran die Gefahr und die
Grenze eines solchen Umbildungspro¬
zesses.
Es waren besondere historische Be¬
dingungen, unter denen vom 16. bis
zum 18. Jahrhundert diese Bewegung
sich vollzog. Ein ideeller und ein real-
politischer Faktor wirkten zusammen,
bis der Staat erwuchs, in dem jeder nach
seiner Fasson selig werden konnte. Auf
ideeller Seite liegt die Umbildung des
positiven Offenbarungsglaubens in das
Prinzip einer allgemeinen, gleichen, ewi¬
gen Vernunft, in der auch die religiösen
Wahrheiten eindeutig enthalten sind. So
entstand über der unerträglichen Zer¬
splitterung der Bekenntnisse in Anknüp¬
fung an den platonischen und stoischen
Rationalismus eine neue Philosophie,
deren sieghafte Gewalt auf dem Mo¬
ment der Allgemeingültigkeit und Uni¬
formität beruhte. Der Glaube an die
Vernunft ist gleichbedeutend mit dem
Glauben an die Gleichheit; sie hat für
Jahrzehnte die individuelle Ausprägung
der religiösen Standpunkte in den Hin¬
tergrund gedrängt und ein geistig einen¬
des Band um die Konfessionen ge¬
schlungen, die zuvor auf blutigen
Schlachtfeldern um den rechten Weg
zur Seligkeit gestritten hatten. — Mit
dieser ideellen Bewegung ist eine real-
politische innerlich verknüpft: denn
auch der Staat selbst mußte die letzte
Hülle theokratischer Begründung und
Bestimmung erst abwerfen, ehe er als
einigende Kraft über den Konfessionen
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INDIANA UNIVERSITY
137
Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes
138
und Kirchen erscheinen konnte. Auch er
mußte weltlich werden, wie die Ver¬
nunft der Offenbarung gegenüber ein
innerweltliches Prinzip bedeutete; auch
er mußte sich zu diesem rationalen Prin¬
zip, der Staats raison, bekennen, ehe
er von dem territorialen Grundsatz;
„Cuius regio, eius religio“ zu dem Gro߬
staatsgedanken der Parität gelangte.
Zweierlei also hat das Werden der To¬
leranz nach den Glaubenskriegen er¬
möglicht: die Abkühlung des religiö¬
sen Lebensgefühls unter dem Einfluß
der wissenschaftlichen Allgemeingültig'
keitsidee und das Anwachsen des po¬
litischen Pathos unter dem Zeichen des
Großmachtstrebens und der staatlichen
Uniformität. Doppelt ist daher auch die
Grenze dieses ganzen Vorganges. Er hat
Einheit geschaffen, soweit ein beherr¬
schender Staatsgedanke da war, und so¬
weit die Menschen geneigt waren,
diesem Staat ihre religiösen Überzeu¬
gungen unterzuordnen. Fiel eine dieser
Bedingungen weg, wie in der Zeit der
Restauration oder des Kulturkampfes,
so schlug die Flamme des alten Gegen¬
satzes, der in der Asche fortgeglommen
hatte, mächtig heraus. Und in der Tat,
es hat keine Zeit gegeben, und es wird
keine Zeit geben, die das Letzte der
Lebensüberzeugung, wie es in der Reli¬
gion zum Ausdruck kommt, bedingungs¬
los dem Staat anheimstellt. Gilt doch der
Staat selbst nur dann im tiefsten Sinn als
gerecht, wenn er zugleich als religiöser
Wert erlebt wird. Daß also jene Tole¬
ranz verwirklicht werden konnte, beruht
im letzten Grunde darauf, daß* in der
Epoche, in der der nationale Staat sich
vorbereitete, das politische Band bereits
als Wert von überlegenster Bedeutung
empfunden wurde. Wir zweifeln nicht,
daß heute, nachdem der nationale Staat
sich auch in seiner inneren Struktur voll¬
endet hat das gleiche, ja ein höheres
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Recht ihm innewohne, da gleichsam
überpersönliche Sittlichkeit in ihm Ge¬
stalt gewonnen hat. Die Frage wird nun
sein, ob er in gleichem Maß die Ein¬
heit aller auseinanderstrebenden Über¬
zeugungen zu bewirken weiß und ob
sich diese Kraft vom konfessionellen Ge¬
biet nach allen andern Seiten der Kul¬
tur erweitert hat. Und sollte, wie der
religiöse Kampf nie ganz erloschen ist,
so auch im übrigen die Welt der Gegen¬
sätze fortbestehen, so bleibt die Mög¬
lichkeit noch zu erwägen, ob einem Volk
nicht ebenso die innere Bewegung, wie
innerer Friede zu wünschen sei.
III.
Machen wir also die Anwendung auf
unsere Epoche, so hat sich zweierlei
gegen die Verhältnisse des 18. Jahrhun¬
derts verschoben: die Sehnsucht nach
Einigung betrifft heute nicht mehr aus¬
schließlich oder auch nur überwie¬
gend das konfessionelle Leben, sondern
Gegensätze zwischen Volksgruppen, die
durch wirtschaftliche, soziale oder po¬
litische Momente voneinander getrennt
sind, also Berufsstände, Klassen und
Parteien. Es sind trotz aller Reste des
alten Ständestaates im wesentlichen
neue Schichtungen, die erst im Gefolge
des allgemeinen, gleichen Staatsbürger¬
tums, des wirtschaftlichen und poli¬
tischen Liberalismus und der industriel¬
len Entwicklung auftreten konnten.
Gleichzeitig aber hat sich unter dem
Einfluß der historisch-psychologischen
Denkweise die Auffassung vom Men¬
schen tiefgehend verändert. Der alte Ge¬
danke der allgemeinen, gleichen Men¬
schennatur, der dem Rationalismus ge¬
mäß war, hat sich nicht aufrechterhal¬
ten lassen, vielmehr hat man gelernt, zu¬
nächst jedes Menschenwesen durch den
Zusammenhang seiner Individuallage
(Milieu) bedingt zu denken, sodann aber
Original frum
INDIANA UNIVERSITY
130
Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes
140
auch jeder Individualität eine beson¬
dere innere Struktur zuzuschreiben. So
steht für unser Auge heute nicht mehr
Vemunftwesen einförmig neben Ver¬
nunftwesen, sondern das Bild der
Menschheit hat sich individualisiert
Wir unterscheiden nun, da das absolut
Individuelle der Auffassung unzugäng¬
lich ist mannigfache geistige Typen,
und jeden von ihnen begreifen wir als
ein geistiges Gebilde von innerer Kon¬
sequenz des Wachstums. Durch die Zu¬
gehörigkeit zu einem Volk, zu einem Be¬
ruf, zu einer Klasse, zu einer Partei sind
typische Züge des Menschen gegeben,
wie im rein geistigen Gebiet etwa der
Künstler und der Forscher, oder der Or¬
ganisator und der Mystiker einen ver¬
schiedenen seelischen Typus verkörpern.
Verstehen heißt solche Lebensgebilde
in ihrer inneren Folgerichtigkeit und
gleichsam in ihrem Aufbauprinzip zu
begreifen. Die geistige Welt ist also für
uns nicht mehr ein Reich der Unifor¬
mität, sondern eine Mannigfaltigkeit die
nur durch lebendige Variierung des eig¬
nen Innern aufgefaßt und gelenkt wer¬
den kann.
Demgemäß liegt nun für uns der Weg
zum Frieden mit andern Standpunkten
nicht mehr in ihrer Zurückführung auf
eine vernunftgemäße Normalform, son¬
dern im Verstehen, das heißt: einem
Anerkennen des Andersseins. Nicht mehr
das äußere Gleichmachen, sondern die in¬
nere verständnisvolle Angleichung durch
Hineinversetzen in eine andere Lebens¬
form führt zum Ziel. Aber wir würden
auf diesem Wege zu einer hoffnungs¬
losen Anarchie gelangen, wenn wir ihn
im Sinne des: tout comprendre c’est tout
pardonner auffaßten. Denn das Ver¬
stehen ist zunächst eine rein intellek¬
tuelle Leistung; das Billigen und Ver¬
trauen aber ist eine ethische Zustim¬
mung. Vieles läßt sich verstehen, was
in einer Welt sittlicher Arbeit nie be¬
stehen bleiben darf. Die unendliche
Fülle der Menschentypen bedeutet noch
keine Gleichberechtigung aller Formen,
sondern hier erst beginnt das Problem,
welche von ihnen zugleich bleibende
Ausprägungen echten sittlichen Gehal¬
tes sind. Solange das Anderssein vor
dem unbestechlichen ethischen Urteil
noch als ein Geringersein erscheint, so
lange ist kein Friede zwischen beiden
Standpunkten denkbar. Nur Sittlichkei¬
ten, Wertgestalten, die sich als gleich¬
wertig erkennen, vermögen auf die
Dauer einander zu achten und mitein¬
ander zu leben.
Vielleicht aber gibt es Menschen- und
Geistestypen von ewiger Bedeutung. So
wie im Leben das männliche und das
weibliche Prinzip, die Jugend und das
Alter ewig nebeneinander stehen und
jedes seine eigentümliche Vollendung
hat, so mögen auch religiöse Stand¬
punkte, soziale Ideale, philosophische
Weltanschauungen in allem Wandel der
Zeiten gewissen Grundtypen folgen, die
wohl verschieden sind, aber die gleiche
Höhenlage der Ausprägung erreichen
können. Vielleicht ist es das Schicksal
der Menschheit im engen Rahmen einer
begrenzten Zahl von Typen, gleichsam
spiralig, immer schönere Höhen zu er¬
reichen, ohne jemals den Grundformen
eine gänzlich neue hinzuzufügen. Wir
stehen noch in den Anfängen dieser Auf-
fassungsart und unsere Wissenschaft
hat kaum die einfachsten Typen zum
Bewußtsein erhoben. Dilthey hat Ty¬
pen der Weltanschauung aufgestellt,
Wölfflin ähnliche Wege in der Theo¬
rie der bildenden Kunst beschritten, ich
selbst habe die Fülle der Lebensfor¬
men auf einige Grundgestalten zurück¬
geführt So mag man künftig Typen der
politischen Grundstellung, des sozial-
ethischen Bewußtseins, der religiösen
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INDIANA UNIVERSITY
141
Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes
142
Geisteshaltung, und vor allem Typen der
Bemfsklassen ausbilden. — Zu den ewi¬
gen Typen gesellen sich dann noch die,
die auf der Stufenleiter historischer Ent¬
wicklung sich ablösen, in ihr aber not¬
wendige Durchgangsstationen bedeuten.
Ihnen sind der französisch-englische Po¬
sitivismus, bei uns vor allem Dilthey,
Lamprecht und Paul Barth nach¬
gegangen. Diesen typischen Entwick¬
lungsstufen werden wir von vornherein
nicht gleiche Berechtigung in einer
gegebenen Kultursituation zuschreiben.
Wahrend wir jene ersten Typen schlecht¬
weg gelten ließen, gleichviel, ob mit
oder ohne Sympathie, werden wir uns
diesen gegenüber schon pädagogisch ge¬
stimmt fühlen, wie der Mann etwa den
Knaben achtet und versteht, aber doch
zu sich emporzuheben strebt. — Und
endlich eine dritte Möglichkeit: es
sind Grundstandpunkte denkbar, deren
Schicksal es ist sich ewig wieder zu er¬
zeugen und doch einander ewig zu be¬
kämpfen. Sobald in eine politische An¬
schauung oder ein wirtschaftliches Pro¬
gramm vitale Interessen eingehen, die
das Recht des Gegners ausschalten wol¬
len, ensteht die ewige Gegenbewegung,
die wir den Kampf ums Dasein nennen
und die von den materiellen Existenz¬
bedingungen bis in das Geistigste hin¬
ein reicht Auch hier mag Ethos gegen
Ethos stehen, wie der Patrizier und der
Plebejer beide ihre echte Idealwelt
haben. Ihr Los ist der Krieg, und selbst
in der letzten Feme erscheint nichts
anderes als die Möglichkeit diesen
Kampf durch einen Ton der Achtung zu
veredeln. Nehmen wir also dies als
eigentliches Ergebnis: unauslöschbar
werden auf allen Gebieten der Kultur
die Grundstandpunkte und daher die
Gegensätze sein; aber da, wo der Geg¬
ner in dem Gegner ein echtes Ethos,
einen sittlichen Standpunkt gleicher
Höhe anerkennt da wird auch die Mög¬
lichkeit erwachsen, sich trotz allem in
einem höheren Gemeinsamen, etwa in
dem sittlichen Sinn des Staates, zu finden.
Unser ganzes Denken Ober Kultur und
Geistesleben ist methodisch zu wenig
entwickelt als daß wir in den Fragen
der unmittelbaren Praxis schon auf
solche Maßstäbe zurückgingen. Und doch
liegt erst in ihnen die Möglichkeit, zu
den inneren Bewegungen eines Volkes
und ihrem Ausgleich anders als gefühls¬
mäßig Stellung zu nehmen. Es ist kein
Zufall, daß Anklänge an solche Gedan¬
ken sich gerade auf dem Gebiet finden,
in dem das Problem der Toleranz am
ältesten ist Die einzige Andeutung, daß
es sich bei kulturellen Gegensätzen um
bleibende Gebilde von verschiedener
innerer Gesamtstruktur handeln könnte,
findet sich in dem Aufsatz von Baum*
garten. „Sollte nicht“, sagt er gegen
die unduldsam Konfessionellen, die reib
gionsgeschichtliche und religionspsycho¬
logische Forschung unserer Tage sol¬
chen von sich selbst Überzeugten Sturm-
geistem zum Bewußtsein bringen, daß
in den großen Grandrichtungen katho¬
lisch - institutioneilen, evangelisch - kon¬
servativen und protestantisch-beweg¬
lichen religiösen Denkens und Empfin¬
dens bleibende Typen religiöser Ver¬
anlagung und geschichtlicher Erziehung
liegen?“ (S. 211.) Gleichviel, ob man
dem Satz zustimme oder hier vielmehr
sich ablösende Entwicklungsstufen der
Religiosität zu finden geneigt ist, — die
Methode ist die einzige; die an das Pro¬
blem überhaupt heranführt Und den
anderen Teil des Gedankens — die Mes¬
sung an der Höhenlage des Ethos — fin¬
den wir in dem gehaltvollen Aufsatz von
K a h 1, in dem es mit Zuspitzung speziell
auf das Kirchenproblem heißt: „Alle
Rechts- und Kulturordnungen sind nur
Mittel für den höchsten Zweck, die Men-
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Go», igle
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143
Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes
144
sehen zu Christus zu führen und bei ihm
zu erhalten. Ihrer sind aber unendliche
'Gestaltungsformen und Verschiedenhei¬
ten möglich und gerechtfertigt, wenn
immer nur die Menschen, die sie hand¬
haben und beleben, jeder nach seiner
Gabe und in seinem Kreise, evangelisch-
christliche Persönlichkeiten sind. Das
ist, ich wiederhole, Wahrzeichen und
Maßstab.“ (S. 204.) Eine ähnliche Selbst¬
bescheidung gegenüber dem eigentüm¬
lichen Recht fremder Lebenssphären und
Lebensgestaltungen wird auch im Ver¬
hältnis der Klassen, der Berufsstände,
der Parteien, ja der Nationalitäten zuein¬
ander am Platze sein. Die Formel, die
Faßbender der Überschrift seines Auf¬
satzes gibt: „Durch Kenntnis zum
Verständnis unserer Landbevölkerung“,
ließe sich allgemein anwenden, wofern
unter Verständnis eben mehr gemeint ist
als Kenntnis, nämlich in unserem Fall
(wie beim Gegenstand des Buches über¬
haupt): Anerkennung der nationalen
Leistung; denn in dieser Gestalt tritt der
sittliche Wert im vorliegenden Zusam¬
menhang allein auf. Berufe, die in einem
langen Prozeß der Arbeitsteilung einen
kräftigen, aber einseitigen Menschen¬
typus erzeugt haben, Klassen, die durch
Lebenshaltung und Weltanschauung
weit voneinander getrennt sind, empor¬
ringende Gruppen, die, wie die erwer¬
benden Frauen, einen neuen Typus erst
zu erzeugen im Begriff sind, müssen sich
in ihrem ganzen Werden und Wirken
begreifen lernen, ehe sie gleichsam auf
der gemeinschaftlichen Basis des Lebens
miteinander verkehren können. Dazu ge¬
hört ein Hinauswachsen über den engen
natürlichen Geisteshorizont, der jedes
Anderssein als ein Minderwertigsein
empfindet, und mit dieser breiteren Be¬
sitznahme vom Leben erwacht auch die
Gabe des Achtens und der Blick für den
Wert der Leistung, der dem eignen be¬
grenzten Dasein versagt ist In diesem
Reicherwerden der Menschennatur ent¬
faltet sich eine höhere Sittlichkeit,
wenn wir in der weitesten Fassung unter
Sittlichkeit alles das verstehen, was
Werte schaffend in das Reich der Kultur
hineinwirkt und in der Seele weltgestal¬
tende Kräfte löst Es ist nicht so, daß in
einem Gesetz die ganze Fülle der sitt¬
lichen Lebensaufgabe aller Menschen
und Zeiten umschrieben werden könnte,
es sei denn ein ganz leeres und das bloße
„du sollst“. In Wahrheit ist der Sinn
dieses Sollens so reich wie der Stoff und
die Struktur des Lebens, und jede eigene
Gestalt des Daseins hat auch ihre eigne
Sittlichkeit Diesen geheimen, aber uner¬
bittlichen Zusammenhang zu ergründen
zwischen dem, was ein Mensch und eine
Zeit schon ist und dem, was als eigen¬
tümlichste Pflicht über ihnen leuchtet, —
das erst ist der wahre Tiefblick in die
Menschenwelt In ihm liegt zugleich die
unendliche Kraft der Liebe für alle
Formen des Lebens, auch die aus der
Not und dem Schmutz sich mühsam em¬
porringenden, in denen vielleicht darum
das Göttliche am hellsten leuchtet, weil
es von so viel Dunkel und Drude um¬
geben ist Und wie sollte nicht dem eig¬
nen Volke gegenüber uns dieser Blick
am leichtesten aufgehen, wo uns tausend
zarte Fäden, ererbt und unbewußt, mit
Tiefen verknüpfen, die sonst in ewigem
Schweigen ruhen?
IV.
Wir haben bisher das Problem in
seiner allgemeinsten Bedeutung und
seinem größten Umfang genommen. Er¬
innern wir uns aber, daß es sich im
Grunde nur um die Möglichkeit des
Nebeneinanderbestehens verschiedener
Richtungen im nationalen Staat,
und auch hier wieder um einen Spezial-
fall handelte, der zu der ganzen Frage
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145
Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes
146
den Anlaß gegeben hat Es ist daher kein
Zufall, daß in dem Sammelwerk der
Kampf der Weltanschauungen nur sehr
lückenhaft zur Darstellung gelangt und
der Streit der Konfessionen nur von sei¬
ner organisatorischen Seite, das heißt
hinsichtlich des Kirchenproblems und
des Verhältnisses von kirchlichem und
staatlichem Leben in Betracht gezogen
wird. So Schönes im einzelnen auch
dieser Teil enthalten mag, er erscheint
wie ein Beiwerk zu dem Hauptgegen-
stande, von dem das Buch in Wahrheit
handelt, und auf den auch wir jetzt die
Anwendung machen müssen. Es ist auf
den kürzesten Ausdruck gebracht die
Aussöhnung der Sozialdemo¬
krat iemit dem nationalen Leben.
Dieser Vorgang ist an sich groß genug,
unsem Geist in der weltgeschichtlichen
Bewegung dieser Tage zu beschäftigen.
Was das Bild des inneren Friedens so
schön und so lebhaft vor unseren Augen
erstehen ließ, ist im Grunde der erste
Schritt der Sozialdemokratie zum Frie¬
den mit der bürgerlichen Kultur in
Deutschland. Und das Gefühl, daß die¬
ser Vorgang der Verständigung zunächst
noch in Anfängen steckt die sorg¬
samster Pflege bedürfen, mag bei der
Entstehung des Buches maßgebend ge¬
wesen sein. Insofern erfaßt es den Nerv
und das Neue unserer Zeit mit sicherem
Griff, und was es im einzelnen über die¬
ses umfassende Thema zu sagen weiß,
ist interessant und lehrreich, auch wo die
Erörterung sich ganz vom Prinzipiellen
fembält und beim Konkretesten verweilt
Die Aussöhnung der Sozialdemokra¬
tie mit dem nationalen Leben ist eine Er¬
scheinung, die alle Seiten der Kultur be¬
rührt und die so gut auf religiösem
und philosophischem wie auf ökonomi¬
schem, sozialem und politischem Gebiet
verfolgt werden kann. Betrachtet man
die Annäherung von der wirtschaftlichen
und sozialen Seite, so bedeutet hier die
kurze Wendung: „Sozialdemokratie“ im
Grunde den Industriearbeiterstand als
Berufs- und Besitzklasse, deren Stellung
im Ganzen der Nation offenbar seit dem
August 1914 eine tiefgehende Verschie¬
bung erfahren hat Diese selbe Sozial¬
demokratie ist aber zugleich auch Inbe¬
griff einer Weltanschauung, oder wie sie
selbst sich lieber ausdrückt: ihr Sozia¬
lismus hat eine wissenschaftliche Basis,
nämlich eine Geschichtsauffassung, eine
Soziologie und ein politisch-ethisches
Programm. Es ist klar, daß auch mit
dieser Seite der Sozialdemokratie durch
den Annäherungsprozeß Veränderungen
vor sich gegangen sein müssen, die um
so interessanter sind, als sie nicht eigent¬
lich das wirkende Lebenszentrum, son¬
dern nur die theoretische Formulierung
und den Ausdruck betreffen. Ist doch
etwas Wahres an der pragmatischen
Lehre von den id6es-forces, daß große
Lebensprogramme nicht durch ihre theo¬
retische Folgerichtigkeit, sondern durch
die Echtheit ihres subjektiven Wurzel¬
grundes wirken. Endlich aber bedeu¬
tet, auf Grund der ökonomisch-sozialen
Schichtung und der ihr eigentümlichen
Weltanschauung, die Sozialdemokratie
auch eine politische Partei, die in den
Machtkämpfen des neuen Deutschen Rei¬
ches, wie aller anderen industrialisier¬
ten Länder, eine erhebliche Rolle gespielt
hat Das alte und unentwickelte Zwei¬
parteiensystem, das auf dem blassen
Gegensatz von konservativ und liberal
ruhte, ist durch das Hinzutreten dieser
dritten Gruppe zu einem reicheren Par¬
teileben ausgestaltet worden, das zu den
auffallendsten Neubildungen unserer
Kultur gehört.
Nimmt man diese drei Momente zu¬
sammen: eine im modernen Wirtschafts¬
leben erzeugte Klasse mit bestimmter
Weltanschauung und bestimmtem politi-
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Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes
148
schein Programm, so hat man ein Bei¬
spiel für das, was wir oben eine gei¬
stige Struktur nannten. Der Mensch, der
dieser Gruppe angehört, hat eine see¬
lische Organisation, deren Aufbau und
innere Notwendigkeit wir aus dem Gan¬
zen seiner Lebensbedingungen begreifen
können. Man kann ihm, und wäre es
auch um des Friedens willen, nicht alle
Eigenschaften aufpfropfen, die sonst
noch wertvoll sind. Für vieles ist eben
in einer Seele kein Raum, wenn sie nicht
das Eigene und Echte über der Allseitig¬
keit verlieren soll. Schwer wird zu ent¬
scheiden sein, welche Seite in einer'sol-
chen Geistesstruktur die Rolle der tra¬
genden Substanz spielt Der wissen¬
schaftliche Sozialismus ist geneigt sie in
den ökonomischen Faktoren zu suchen,
— eine Theorie, die kaum verallgemei¬
nert werden kann, wohl aber auf die
Sozialdemokratie selber zutrifft Sie
wenigstens darf ein Kind der kapitalisti¬
schen und maschinellen Produktions¬
form genannt werden.
Darin liegt nun zugleich, daß ihr Cha¬
rakter grundlegend durch Interessen be¬
stimmt ist die wirtschaftlicher Natur
sind und also dem vitalen Daseinskampf
am nächsten liegen. So hat der Sozia¬
lismus begonnen: als Existenzkampf
einer proletarischen Masse, die nichts ihr
eigen nannte als die Kraft des verzwei¬
felnden Elends und die Macht der großen
ZahL Wenn sie heute als aufbauende
und schaffende Potenz in den Zusam¬
menhang des nationalen Lebens eintritt
so muß aus ihr oder, genauer gesagt,
aus einer Gruppe in ihr ein Anderes ge¬
worden sein, als das Kommunistische
Manifest von 1848 ausspricht Ein An¬
deres nicht in dem Sinne der Verleug¬
nung, sondern in dem Sinne der Vollen¬
dung lebensvoller Keime, in denen von
vornherein das enthalten war, was wir
eine aufbauende Sittlichkeit nannten.
Der Vorgang der Annäherung hat aber
unvermeidlich zwei Seiten; er will be¬
trachtet werden als eine Leistung von
seiten der Sozialdemokratie und als eine
Leistung von seiten der Gruppen älterer
Kultur. Soll hier die Hoffnung eines
wirklichen Friedens aufgehen, so wird
— in der Tat noch mehr als in der Theo¬
rie — der Nachweis zu führen sein, daß
von der neuen Gruppe ein Ethos aus¬
geht, echt genug, um sich dem Ethos der
andern zugleich befruchtend und emp¬
fangend an die Seite zu stellen.
Wir begnügen uns, dieses Verhältnis
in seiner politischen Ausprägung darzu¬
stellen. Die Anfänge der liberalen Par¬
tei liegen in Deutschland in unmittel¬
barer Nähe der klassischen Philosophie
und Dichtung. Der Gedanke der sitt¬
lichen Autonomie, der Humanität, der
pflichtbewußten Persönlichkeit bezeich¬
net das Ethos, das um die Zeit der fran¬
zösischen Revolution dem absoluten
Staat mit seiner Ständegliederung ent-
gegentrat Dieser liberale Fortschritts¬
glaube kann bis heute seinen Ursprung
aus dem Rationalismus und den Ideen
von einem allgemeinen gleichen Men¬
schentum nicht verleugnen. In die Praxis
des politischen Lebens umgesetzt, ver¬
focht er das unverlierbare Recht des In¬
dividuums auf Selbstentfaltung, Selbst¬
bestimmung, Selbstdurchsetzung. Die
Sittlichkeit vom Boden der liberalen Par¬
tei aus gesehen führt zu der Forderung
des Rechtsstaates, der den Rahmen ab¬
gibt für den freien Wettbewerb selbst¬
bewußter Individuen, von der wirt¬
schaftlichen Konkurrenz aufwärts bis zu
dem freien Kampf der Geister. Wer
wollte leugnen, daß in diesem politi¬
schen Grundpathos ein echter und be¬
rechtigter Zug des nationalen Lebens
zum Durchbruch kommt? Denn ohne
Persönlichkeitsbewußtsein der einzelnen
kein Nationalbewußtsein im Ganzen.
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149
Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes
150
Und doch setzt dieses politische Ethos
zweierlei voraus: den gegebenen festen
Rahmen des Staates und die Kraft jedes
einzelnen zur Selbstdurchsetzung. Es
fordert daher als Gegengewicht und Er¬
gänzung einen konservativen Geist, der
den Schäden des rationalen Fortschritts
und des Individualismus entgegenwirkt.
An dem Gegensatz zu dem liberalen
Ethos der Autonomie ist das konser¬
vative Ethos der Autorität zum Be¬
wußtsein seiner selbst gelangt In man¬
nigfachem Sinne forderte es Unterord¬
nung unter das Ganze. Der Staat, der aus
dem individualistischen Naturrecht nie
ganz begreiflich geworden war, wurde
wieder mit einer religiösen Sanktion um¬
geben (sei es auch nur als Metapher für
das eigene Gefühl). Dazu kam die Autori¬
tät des historisch Gewordenen, der Glau¬
be an die sinnvolle Zweckmäßigkeit der
kontinuierlichen Entwicklung, deren For¬
men nicht ohne Gefahr für den einzelnen
wie für das Ganze durchbrochen wer¬
den können; also auch die Autorität der
Ständegliederung, mit der eine Tradition
des Herrschens und Beherrschtwerdens
gegeben ist, im Gegensatz zu dem wur¬
zellosen Aufschießen des einzelnen nach
liberalem Stil. Auf konservativer Seite
herrscht daher eine historisch - orga¬
nische, geruhige Denkweise, die nicht
bloß Theorie ist sondern Ethos, Geistes¬
haltung; auf liberaler Seite ein rationaler
Individualismus und Fortschrittsopti¬
mismus, der ebenfalls aus echten Gei¬
stestiefen entspringt. Beide Sittlichkei¬
ten sind nur Momente am Staat; der
nationale Staat selbst ist aus beiden zu-
sammengewoben und darum mehr als
jedes von ihnen.
Als um das Jahr 1848 der Sozialismus
sich als Parteiprogramm formulierte,
schlummerte auf seinem Grunde wohl
ein sittliches Wollen. Aber es vermochte
sich noch nicht anders zu begreifen denn
als fatalistisch sich durchsetzende Na¬
turkraft. Das Proletariat erschien sich
selbst als eine moles, die Widerstände
bezwingt, nicht weil sie will, oder weil
sie soll, sondern weil sie muß. Der künf¬
tige Geschichtsschreiber der Sozialdemo¬
kratie wird die packende Aufgabe haben,
hinter den theoretischen Ausdruck zu
leuchten und in der Partei die ersten
Keime einer sittlichen Grundauffassung
zu suchen, die seitdem auch in der For¬
mulierung immer deutlicher bewußt ge¬
worden ist Es ist das Ethos derSolida-
rität, das heißt des Grundsatzes: „Alle
für einen, einer für alle“; ein Kampf¬
ethos von uralter Geltung und von stür¬
mischer Kraft, sooft hinter ihm das Ge¬
spenst der Not und des Elends stand.
Aber in diesen Sozialismus des 19. Jahr¬
hunderts sind von vornherein neue Mo¬
tive eingegangen. Er ist nicht mehr an den
Idealen orientiert wie ein antiker Skla¬
venaufstand oder ein mittelalterlicher
Bauernkrieg. Sondern er hat um in He¬
gelscher Wendung zu reden, das Bild
der frei entwickelten Persönlichkeit sich
gegenüber, und so meint sein Gleich-
heitsgedanke, den er seit 1789 imver¬
ändert bewahrt hat, nicht eine Gleich¬
heit der Ebene, sondern eine Gleichheit
der Höhe. Er hat ferner den modernen
Rechtsstaat sich gegenüber, den er trotz
alles Jugendfatalismus im Sinne seiner
Gerechtigkeitsidee umzubilden gestrebt
hat; ja sein Staatsgedanke ist härter, als
es dem modernen Bewußtsein natürlich
ist. Denn ohne das große Mittel der Or¬
gan i s a t i o n ist die Solidarität nicht zu
vollenden. Es glüht im Sozialismus un¬
verkennbar ein Funke von der Idee der
persönlichen Autonomie und ein noch
stärkerer Funke von der Idee der Staats¬
autorität. Aber beides ist doch auf so
eigentümliche Art aneinander gebun¬
den, daß nicht eine Mischung, sondern
ein Drittes, Neues entsteht.
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Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes
152
Dieses Neue nun, geboren aus dem
festen Solidaritätsgefühl einer kämpfen¬
den Klasse, übertragen auf das Ganze
des Staatslebens und auf die posi¬
tive Mitarbeit am Staate, ist das
Ethos der Kollektivverantwort¬
lichkeit Sein Sinn liegt darin, daß
alles Werten und Handeln bemessen
wird von dem Standpunkte eines gesell¬
schaftlichen Ganzen aus, in dem bis
heute höchsten Falle also vom Stand¬
punkte der zum Staat geeinten Nation;
daß aber der einzelne diesem Ganzen
nicht geopfert wird, sondern gerade in
seiner reichsten und höchsten Entfaltung
zugleich als Träger und als letztes Ziel
des Ganzen erscheint. Diese seltsame
Reziprozität bei der ein Gleichgewicht
von Individualismus und Kollektivismus
vorschwebt mag von der Verwirk¬
lichung noch so fern bleiben: als ethi¬
sches Ziel entfaltet dieser Gedanke nicht
weniger Kraft als der der Humanität
oder der gottgewollten Abhängigkeit
Auch hier liegt nur eine einseitige Sitt¬
lichkeit vor; auch sie kann vielleicht nur
Moment am Staatsleben werden und nie¬
mals restlos von ihm Besitz ergreifen.
Daß sie aber in den Ideengehalt der po¬
litischen Parteien eingetreten ist das
scheint das Besondere der Zeit, die wir
erleben.
Betrachten wir die Erscheinung von
der Seite der Industriearbeiterschaft, die
vorwiegend die Trägerin des sozial¬
demokratischen Programms gewesen ist,
so bedeutet für sie die Erfüllung mit die¬
sem Ethos den Übergang vom Klassen¬
egoismus zur Staatsgesinnung. Sie wird,
sofern sie diesen Übergang vollzieht mit
manchem brechen müssen, was zu ihren
Jugenddoktrinen gehört hat. Wie weit
die Theorie vom Klassenkampf, von der
Aufhebung des Privateigentums am Ka¬
pital, von der Beseitigung der Familie
und von vielem anderen künftig noch
auf ihrem Programm stehen bleiben
kann, das sind Fragen, über die man in
dem Buch gern Auskunft erhalten hätte.
Denn die künftige Stellung der Gewerk¬
schaften und der Verzicht auf die inter¬
nationale Tendenz, die alle jugendlichen
Parteibildungen zu begleiten scheint
sind nicht die einzigen problematischen
Punkte. Nur Wilhelm Kolb hat hier
einige Andeutungen gegeben. Aber
gleichviel, wie weit diese Umbildung
geht: unsere Hochachtung gehört schon
der Ehrlichkeit mit der die Arbeiterschaft
sich zu den neuen Ideen bekannt hat
Sie hat den Beweis geliefert daß sie ein
Überindividuelles in ihr Bewußtsein auf¬
zunehmen vermag und also politisch reif
ist. Das Verständnis für die unüberseh¬
baren Zusammenhänge der Weltwirt¬
schaft für die nationale Bedeutung des
Kapitals, für die Erschließung neuer
Absatzgebiete, das Gefühl, für dies alles
mitverantwortlich zu sein, ist an die
Stelle der ewigen Verneinung, der gren¬
zenlosen Forderungen und der grund¬
sätzlichen politischen Opposition ge¬
treten. Das ist Kriegsertrag und wird,
wenn auch nicht ohne Spaltung im so¬
zialdemokratischen Lager, im Frieden
fortwirken, sofern er die erhofften poli¬
tischen und wirtschaftlichen Konstella¬
tionen bringt
Der ehrlichen Selbstkorrektur auf der
einen Seite sollte aber auch die ehrliche
Selbstprüfung und das rechte Entgegen¬
kommen auf der anderen entsprechen.
Man hat viel Rühmens gemacht von der
Entwicklung des deutschen Arbeiters
zum Qualitätsarbeiter; man sollte ein-
sehen, daß er über die Berufsleistung
hinaus zum Qualitäts men sehen zu
werden strebt und daß sich da ein Stüde
eigner Kultur zu entfalten beginnt. Sie
trägt all die Züge an sich, die in innerer
Folgerichtigkeit aus der wirtschaft¬
lichen und sozialen Lage des Arbeiter-
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Eduard Spranger, Vom inneren Frieden des deutschen Volkes
154
Standes erwachsen sind. Man soll
da nicht unorganisch hineinkorrigieren.
Auch dieser Erscheinung gegenüber
heißt es: durch Kenntnis zum Verständ¬
nis, und darüber hinaus: vom Verständ¬
nis zur gemeinsamen Arbeit Vielleicht
darf man sagen, daß der gute Wille da¬
zu vor dem Kriege nicht unbedingt ge¬
fehlt hat aber oft schroffe Ablehnung
erfuhr. Abgesehen von dem, was ein¬
zelne, seien es Unternehmer oder Volks¬
erzieher, getan haben, hat mindestens
die nationalökonomische Wissenschaft
in ihren bedeutendsten Vertretern die
neuen Notwendigkeiten schon seit den
siebziger Jahren begriffen und erkannt
nicht nur als wirtschaftliche Phänomene,
sondern als sozial-ethische und poli¬
tische. Legt man auf diese Ansätze den
Ton. so sehen wir heute den Gipfel¬
punkt der Bewegung: daß nämlich nach
langem Mißverstehen jetzt endlich ein
Begegnen von beiden Seiten stattfindet.
Der soziale Staatsgedanke, der auch von
der Regierung seit den achtziger Jahren
mit Bewußtsein ergriffen worden ist
gibt der inneren Politik heute unver¬
kennbar diA hervorstechende Färbung.
Der Krieg hat das Zusammenfassen aller
Kräfte dringend notwendig gemacht;
das Ethos der Kollektivverantwortlich¬
keit ist unter seinem Zeichen so weit zur
Herrschaft gelangt daß auf manchen
Gebieten der Übergang zum Staatssozia-
lismus tatsächlich vollzogen wurde.
Aber wir sind weit entfernt das drin¬
gende Gebot des Augenblicks zum ein¬
seitigen, ewigen Gesetz zu erheben; viel¬
mehr glauben wir, daß ein Großes schon
in der Anerkennung dieser Staatsgesin-
ming und in ihrer Gleichordnung mit
den älteren Formen des politischen Be¬
wußtseins erreicht ist. In diesem Ver¬
stehen, Vertrauen und Achten liegt das
Recht vom künftigen inneren Frieden
des deutschen Volkes zu sprechen.
Denn ein schneidender und schmerz¬
licher Gegensatz ist im Begriff sich zu
mildern, durch positive Mitarbeit auf der
einen, durch Gleichachtung und Ver¬
pflichtungsgefühl auf der anderen Seite.
Der Staat hat seine einende Kraft von
neuem bewährt Der nationale Staat hat
einen weiteren Schritt vorwärts getan,
indem er zugleich zum sozialen Staat ge¬
worden ist. Er hat eine Partei mit neuem,
reichem Gehalt in sich aufgenommen
und ist auch für sie zum „Vaterland" ge¬
worden. Neue Aufgaben für ihn selbst,
Friedens auf gaben im ernstestenSinne,
sind damit gegeben, denn „das Staats¬
gefühl als solches ist es, was entscheiden
und was auch die verschiedenen Par¬
teien verbinden muß zur Erhaltung nicht
etwa einzelner, gegebener Staatsformen,
sondern des Staates als Ganzen, zur
Durchführung der Staatsidee“. (Wolf-
gang Heine. S. 465.)
Und so könnte man am Schluß ernst¬
haft fragen, ob der Vorgang, der sich
uns als das Zentrum des Ganzen enthüllt
hat, nicht besser eine Bereicherung der
inneren Bewegung des deutschen Vol¬
kes genannt werden soll als eine Anbah¬
nung des inneren Friedens. Denn
nicht um Nivellierung handelt es sich,
sondern um Aufnahme eines neuen
Staatsprinzips zu den alten der Autori¬
tät und der Autonomie. Daß die Träger
dieser abweichenden Prinzipien sich ge¬
genseitig verstehen und achten lernen,
darin liegt das Moment des Friedens.
Aber daß sie sich auseinandersetzen,
teils die Bewahrung des Bewährten, teils
freie Bahn für die Persönlichkeit, teils
gesellschaftliche Organisation und Für¬
sorge verlangen, darin liegt eine Rhyth¬
mik des weiterwogenden Lebens. Und es
scheint, als ob der Staat in dem gehei¬
men Prozeß seines Wachstums immer
mehr dahin drängt, Individualität und
Mannigfaltigkeit in seinem Schoß zu he-
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Franz Jostes, Guido Gezelle
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gen und doch für dieses Meer von Le¬
ben Maß und Form zu finden. Der natio¬
nale Staat der Gegenwart ist nicht mehr
ein mechanisches und uniformierendes
Gebilde, sondern ein Organismus, „der
aller seiner Glieder bedarf, von denen
jedes nur in seiner Eigenart gedeihen
kann, eines das andere in Wechselwir¬
kung ergänzt, eines daher auf Gedeih
und Verderb mit allen anderen und mit
dem Ganzen verwachsen ist.“ (August
Pieper, Seite 262.)
Eine merkwürdige Umbildung, die so
mit dem Gleichheitsgedanken von 1789
und 1848 erfolgt ist! Ein Jahrhundert
hindurch hat er wie ein geheimer Hebel
die innere Entwicklung Europas bewegt
Und doch hat der Traum der Gleichheit
sich nirgends erfüllt, weder als Natur¬
ausstattung, noch als Werk der poli¬
tischen Kunst Wohl aber dämmert
der Gedanke einer zunehmenden
Gleichwertigkeit bei aller Verschie¬
denheit der Lage und der Leistung
empor. Darin liegt eine neue und tiefere
ethische Bewertung. Die Gesellschaft ist
weiter als je davon entfernt ein Aggre¬
gat homogener Glieder zu werden; aber
sie beginnt gleichsam in jedem ihrer
Glieder ein eigenes Leben mit eigenem
Wert zu erzeugen. Das ist der Kern, der
jetzt aus dem Gleichheitsgedanken her¬
ausspringt Und wie in jedem Einzelnen
diese Stellung zum Ganzen mehr und
mehr die ihn bewegende Sittlichkeit
wird, so wird auch, das Ganze sich immer
stärker mit dem Bewußtsein erfüllen,
daß es diese Quellen sind, aus denen sein
Leben strömt.
Guido Gezelle.
Von Franz Jostes.
I. Des Dichters Lebensschicksal.
„In der gesamten niederländischen
Literatur gibt es nur zwei Gestalten,
die das Bild des großen Dichters, des
Dichters, verwirklichen: Vondel und Ge¬
zelle.“ So urteilt Prosper van Langen-
donck, selbst ein feinsinniger flämischer
Dichter, und der Brüsseler Literarhisto¬
riker Aug. Vermeylen hat sich in einem
zu Lüttich über Gezelle gehaltenen Vor¬
trag ganz ähnlich ausgesprochen: „... il
est admis aujourd’hui par les critiques
les plus autoris6s que Gezelle est le
plus grand poöte que les pays de la
langue ngerlandaise aient depuis le
XVIIe sifele et ... peut-ötre le seul de
tous nos pofetes qui mörite, sans con-
teste, une gloire europGenne.“
Je allgemeiner dieses Urteil aner¬
kannt wurde, in desto weiteren Krei¬
sen regte sich natürlich auch das
Interesse für den Dichter, und jeder,
der sich etwas mit Literatur befaßte
oder doch darüber mitreden wollte,
wünschte über den Dichter näher unter¬
richtet zu werden. Alle Blätter und
Blättchen beeilten sich daher diesem
Bedürfnisse abzuhelfen.
„Alles, was nur eine Feder führt,“
sagt van Langendonck, „hat jetzt über
ihn geschrieben, jeder von seinem
Standpunkte und in seiner Art Jetzt
haben sie ihn allzusammen entdeckt!
Wie wird nicht mit ihm posiert 1 Er, der
Schweigsame, der Weltverlorene, der
In-sich-selbst-Lebende, der etwas Men¬
schen- und Freundesscheue, wurde nun
auf einmal Allmannsfreund. Wenn ich
all die Marktschreierei und all die De¬
klamationen über ihn höre, dann sehe
ich wieder sein feines Lächeln und frage
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Franz Jostes, Guido Gezelle
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mich, was er in seinem entschuldigend-
ironischen Tone sagen würde, müßte
er wieder lebendigen Leibes vor uns er¬
scheinen und den Duft einatmen von
dem um sein Bild bis zum Ersticken
abgebrannten Weihrauch, der nicht im¬
mer von der feinsten Sorte ist"
Selbst das Leibblatt des gebildeten
belgisch-französischen Bourgeois, die
„Chronique“, sah sich endlich genötigt
- der Dichter war freilich bereits zehn
Jahre totl — sein Publikum über den
ja modern gewordenen Dichter aufzu-
Jdflren, und es ist interessant zu sehen,
wie M. E. Picard sich dieser Aufgabe
(I4.M&rz 1909) entledigte. „J’aurais döjä
dfl en parier dans la Chronique, mais
sait-on si on ne choque pas un lot de
lecteurs en disant combien notre littera-
ture flamande est belle, touchante et
abondante! Puis oe fut un cur6, ce Ge¬
zelle 1 C’est pönible de vanter un curöl
Mfme les plumes impudentes reculent
devant de telles audaces.“
In Deutschland verspürte man nicht
sehr viel von dieser Bewegung, die flä¬
mische Literatur liegt uns im allgemei¬
nen fern, und bei Gezelle bietet die
Sprache noch besondere Hindernisse.
Übersetzungen können ihn uns nicht
hinreichend nahe bringen; denn man
mag sagen, was man will, Vermeylen
wird Recht behalten: „Malheureuse¬
ment, c’est le moins traduisible qu’il
y ait Dös qu’on le transpose, il perd
sa personnalitö la plus intime.“ Ich will
nicht bestreiten, daß sich manches von
ihm leidlich, ja sogar gut übersetzen
läßt, aber das gilt nicht von den Ge¬
dichten, in denen sich seine Eigenart
am schärfsten und klarsten ausspricht,
m denen er der eigentlichste Gezelle ist.
Gleichwohl hat sich auch bei uns die
Zahl seiner Verehrer in den letzten Jahr¬
zehnten nicht unerheblich vermehrt, we¬
nigstens hier im Nordwesten, wo die
Propaganda der Holländer im per¬
sönlichen Verkehr sich einigermaßen
geltend macht So kenne ich einen
Juristen, der von einem holländi¬
schen reformierten Pastor, mit dem er
amtlich zu tun hatte, für Gezelle ge¬
wonnen wurde. Und wer sich nur erst
mit einigem Mut in die Lektüre hinein¬
stürzt, findet seine Mühe bald belohnt
und wird ihm nicht wieder untreu.
Einen eigentümlichen Fall dieser Art
erlebte ich in den letzten Osterferien.
Ich hatte im Wintersemester ein klei¬
nes Kolleg über die flämische Literatur
des 19. Jahrhunderts gelesen und mir
dazu früh genug durch einen Buch¬
händler in Amsterdam die dort erschie¬
nene Gesamtausgabe von Gezelles Wer¬
ken bestellen lassen. Es kam und kam
nichts, und ich mußte sehen, daß ich
ohne sie fertig wurde. Als ich nun
Ostern persönlich über die Grenze
wollte und, um alle Scherereien zu ver¬
meiden, meine Papiere auf einem Zen¬
surbureau an der Grenze versiegeln
ließ, bemerkte der würdige Militär, wel¬
cher die heilige Handlung vollzog, daß
sich darunter auch Flämisches befand.
„Kennen Sie auch Gezelle?" fragte er
mich. Ich bejahte das und stellte die
Gegenfrage, ob er sich denn auch für
ihn interessiere. „Sehr,“ antwortete er,
„es ist ein höchst interessanter Dichter,
aber schwierig, ich lese ihn gerade“,
und dabei zeigte er auf die Veensche
Ausgabe. Ein Wort gab das andere,
und bald hatte ich festgestellt, daß es
das für mich bestimmte Exemplar war,
in dem sich der biedere Sohn des Mars
bei der Suche nach staatsfeindlichen
Schriftstücken festgelesen hatte 1
Das Semester war vorüber, die Vor¬
lesung geschlossen, und sobald mir das
klar wurde, legte sich in mir der un¬
willkürlich aufgestiegene aber gegen¬
standslos gewordene Ärger, und ich
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Franz Jostes, Guido Gezelle
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verabschiedete mich vergnügt lächelnd
von dem Herrn mit den Worten: „Nun,
dann lesen Sie auch nur noch vier Wo¬
chen weiter 1"
Das ist ein vereinzelter Fall, der sich
schwerlich wiederholen wird; allein,
daß einer, der auf Rezensionen hin
nicht leicht mehr Bücherfreundschaften
schließt, von einem Dichter selbst sofort
gewonnen wird, wenn ihm Zufall oder
Absicht diesen in den Weg führt, das
ist weder ungewöhnlich, noch unver¬
ständlich. Und so möge denn auch
hier dem Leser, soweit es der Raum
gestattet, Gezelles Dichtung selbst vor¬
geführt werden und ihr beschieden sein,
was meinem Worte versagt bleibt.
1 .
Brügge, das keine Gegenwart zu
kennen scheint, in dem alles Vergan¬
genheit ist, was den Besucher entzückt,
wo die Steine von Poesie und die Men¬
schen von Prosa strotzen, dieses Brügge
ist die Vaterstadt des größten moder¬
nen Dichters der Niederlande. In einem
der stillsten Winkel dieser Stadt der
Totenstille, im St. Annenkirchspiel am
Rolleweg, auf dem das Gras nach Er¬
lösung von den Pflastersteinen zu seuf¬
zen scheint, stand sein Geburtshaus.
Unweit davon lag das Englische
Kloster, wo er, der hier am Mai¬
tage 1830 zum ersten Male die Augen
aufschlug, sie 69 Jahre später für im¬
mer wieder schloß. Sein Vater war ein
„tuinman“, wie die Holländer, ein „ho-
venier oder boomqueeker“, wie die Fla¬
men den Gärtner nennen. Sein Haus
lag in einem großen Garten, und die
Familie führte mehr ein Land- als Stadt¬
leben. Die Mutter war überdies men¬
schenscheu, und daher kam der Knabe
mit den Städtern wenig in Berührung.
Dagegen durfte er bisweilen ihre Eltern
auf dem Lande besuchen, und die Er¬
innerung an diese selige Zeit hat der
Greis noch zwei Jahre vor seinem Tode
in einem tief empfundenen Gedichte
(„Terug“) zum Ausdruck gebracht
Auch wenn der Vater auswärts Auf¬
träge auszuführen hatte, durfte der
Sohn ihn bisweilen begleiten. So lernte
er anläßlich einer Dünenbepflanzung
„op den Haan" das Meer kennen, und
noch wichtiger wurde für ihn die An¬
lage des großen Gartens am bischöfli¬
chen Kolleg in Rousselare, wohin ihn
der Vater mitnahm. Das gab nämlich
den Anlaß zu seiner Aufnahme ins Kol¬
leg (1846). Zwar mußte er sich das
Kostgeld selbst verdienen, indem er
außerhalb der Schulstunden den Pfört¬
nerdienst versah, aber diese Aufgabe
war eher eine Lust als eine Last für
ihn. Brachte sie ihn doch in die engste
Berührung mit den Landleuten der Um¬
gegend, wenn diese kamen, um ihre
im Kolleg studierenden Söhne zu be¬
suchen. Er hatte nämlich von seinem
Vater, der sich mit Vorliebe in Sprich¬
wörtern und altgeprägten Redensarten
ausdrückte, und im Verkehre mit sei¬
nen mütterlichen Verwandten auf dem
Lande schon früh ein großes Interesse
für alles Volkstümliche in Sprache und
Sitte gefaßt, das ihn durch sein ganzes
Leben begleitete. Diesem Interesse
konnte er in seiner neuen Stellung nach
Lust und Liebe frönen, indem er die
Besucher in sein Kämmerlein lud und
sie nach alten Wörtern, Sprüchen, Rei¬
men, Liedlein und Gebräuchen aus¬
fragte, kurz aufs eifrigste das pflegte,
was heutzutage unter dem Namen Folk¬
lore nicht nur als Wissenschaft, son¬
dern auch als Modesache betrachtet
wird. Was man aber in so jungen Jah¬
ren ganz natürlich und ungezwungen
in sich aufnimmt, das wird kein toter
Schatz, sondern setzt sich in Fleisch
und Blut um: es ward ein lebendiger
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Franz Jostes, Guido Gezelle
162
Bestandteil von Gezelles eigener Denk-,
Rede- und Schreibweise und bildet die
sichere Grundlage für seine spätere
Meisterschaft über Wort, Bild und
Klang. Was er auf der Schulbank
hörte, hatte zu alledem nicht die lo¬
seste Beziehung, denn der damaligeUn-
terricht stand völlig außerhalb des Le¬
bens und der Natur. Es ist daher ver¬
ständlich, daß derselbe keine Anzie¬
hung für ihn hatte und er keineswegs
ein Musterschüler im landläufigen Sinne
des Wortes wurde. Namentlich von; der
Regierungsmethode der griechischen
Präpositionen soll er nur höchst unklare
Vorstellungen gehabt haben, und 90 fiel
er denn schließlich in Brügge durch
das Examen, welches ihm die Tore zum
Priesterseminar öffnen mußte! Als das
in Rousselare bekannt wurde, fuhr in¬
des einer seiner Lehrer, der seinem Na¬
men keine Unehre gemacht zu haben
scheint — er hieß nämlich Nachte-
gaele — sofort zum Bischof Malou und
legte ihm das beste der Gedichte vor,
die der Verunglückte bereits damals ge¬
macht hatte: „De Mandelbeke“. Und der
Bischof, der nach Hugo Verriest „ein
hoher Geist“ war, ließ sich überzeugen
und machte einen Strich durch das
Examen: der erste und letzte Profit, den
die edle Dichtkunst ihrem Jünger zeit¬
lebens eingetragen hat!
Im Seminar scheint man bald von
seiner Begabung eine hohe Meinung be¬
kommen zu haben, zwar nicht wegen
seiner Dichtkunst, die dort nicht viel
galt wohl aber wegen seines Wissens,
und der Ruf eines tiefgründigen Ge¬
lehrten — verstand er doch 15 Spra¬
chen — ist ihm auch in jenen Kreisen
durch das ganze Leben treu geblieben.
Noch vor seiner Weihe wurde er nach
Rousselare geschickt und zwar als
„professeur de commerce“ — die erste
Ironie des Schicksals, die ihn auf seiner
Internationale Monatsschrift
ganzen Laufbahn verfolgt hat. Denn
dieser Vertreter der Rechen- und Han¬
delslehre hat wie H. Verriest bezeugt,
nie 10 Cents besessen, ohne wenigstens
5 davon zu verlieren!
Erquickung brachte ihm die Vertre¬
tung des erkrankten Lehrers der flä¬
mischen Sprache, die freilich nur eine
Stunde die Woche in Anspruch nahm.
Der Löwener Mediziner Prof. Dr. Gu¬
stav Verriest hat uns die erste Stunde
seines Unterrichts anschaulich geschil¬
dert:
„Ich sehe ihn noch in seiner ersten
Unterrichtsstunde mit einer ganzen
Menge loser Blätter das Katheder be¬
steigen und sie schweigend auf seinem
Pulte verteilen.
Was konnte das sein?
Er begann. — Die Lektion aus der
Sprachlehre, die wir hatten lernen müs¬
sen, wurde nicht berührt noch erwähnt,
sondern Gezelle überreichte uns eine
Ansprache Herzog Johanns von Bra¬
bant vor der Schlacht bei Woeringen.
Das klang so eigentümlich, das war
keine halbfremde — das war unsere
echte, eigene Muttersprache! Dann be¬
gann er Worte und Wendungen zu er¬
klären, und hier — welch eine Offen¬
barung für unseren Geist! — wurden
die Reichtümer und Schätze unserer
Sprache aufgedeckt, die verwandten
Wörter von nah und fern angezogen,
aus Gegenwart und Vergangenheit, ge¬
sprochene und gebuchte, aus unserer
eigenen lebendigen flämischen Sprache,
aus dem Griechischen, aus allen germa¬
nischen Sprachen, ja sogar aus dem
indogermanischen Sprachgebiet....
Eine Welt wankte und wackelte auf
ihrem alten Stande.“
1857 wurde er Lehrer der „Poesis“,
und die Schüler erlebten es nun, wes¬
halb diese Klasse (die etwa unserer
Unterprima entspricht) ursprünglich
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INDIANA UNIVERSITY
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Franz Jostes, Guido Gezelle
164
diesen Namen bekommen hatte. Nach
der herkömmlichen Methode hatten
sie von den Werken der großen Mei¬
ster der Literatur nur wenig kennen
gelernt, statt dessen aber einen Berg
von Erklärungen, die ihnen genau anga-
ben, was und weshalb etwas zu bewun¬
dern sei, gleichviel, ob Lehrer und Schü¬
ler es selbst glaubten und empfanden
oder nicht: wenn die Schüler gut nach¬
schrieben und das Nachgeschriebene
auswendig lernten, konnten sie sicher
sein, bei der Prüfung zu glänzen, denn
etwas anderes als diese seit Generatio¬
nen in Pökel aufbewahrte Weisheit be¬
saßen auch die Examinatoren nicht.
Mit diesem System brach Gezelle. Er
betrachtete es nicht als seine Aufgabe,
den Schülern ein bestimmtes Maß we¬
nig lehr- und lemenswerten Wissens zu
vermitteln, sondern ihnen das Verständ¬
nis für wahre Poesie zu erschließen,
ihre geistigen Kräfte zu wecken und
ihrer eigenen Natur entsprechend zu
entwickeln. Deshalb las er viel und
vieles mit ihnen, oder las es ihnen viel¬
mehr meistens vor, bei der Erklärung
sich auf das Notwendigste beschrän¬
kend. Er las Homer und wieder Homer,
wenig Vergil, aber mehr Horaz, Per-
sius, Plautus, Terenz, Aischylos und
Sophokles; Blätter um Blätter Proben
brachte er mit aus Dante, Tasso, Franz
von Assisi, aus englischen, deutschen
und dänischen Dichtem, aus dem He¬
liand und Jacob van Maerlant, Anna
Bijns und Pater Poirters.
„An besonderen Tagen", schreibt G.
Verriest, „begann die Seele dem Meere
gleich in Bewegung zu geraten. Bei
seinem Eintreten erkannten wir an
seinem bleichen Gesicht, an seinen
weißen Händen, an der Erschütte¬
rung seines Knies, die Stunden, wo
der Daimon seiner Meister war, und
wenn es nach innigem leise gemurmel¬
ten Gebete hieß: „fermez vos livres!“,
dann krochen wir schweigend in un¬
sere Bänke, sahen einander an und lie¬
ßen uns eine Stunde lang von der Mee¬
resflut überspülen. In solchen Stunden
kamen auch die bedeutenderen, tiefsten
Gedichte."
Vier seiner damaligen Schüler leben
noch heute, und alle vier sind hoch-
angesehne Schriftsteller geworden: die
Gebrüder Verriest, Eug. van Oye und
K. de Gheldere, drei Mediziner und ein
Theologe. Und wenn man die Treue
sieht, die sie unverbrüchlich ihrem Leh¬
rer bewahrt haben, wenn man die
Wärme fühlt, mit der sie noch im
Alter des Gezelleschen Unterrichts
gedenken, dann kann man sich der
Überzeugung nicht verschließen, daß
dieser wirklich ein gottbegnadeter Leh¬
rer war, wenigstens für Schüler, die
zu unterrichten sich wirklich lohnt, und
die allein in den klassischen Studien
unterrichtet zu werden verdienen. Aber
in Rousselate, wie leider auch anders,-
wo, drückten noch andere die Schul¬
bänke, und diese bekamen nichts in
ihr Heftchen zum Auswendiglernen, und
in ihrem Herzen schlummerte nichts,
was sich wecken und von des Lehrers
Feuers entzünden ließ: „il n’explique
pas les beaut6s des auteurs“, sagte man,
wenn dann die Prüfungen nicht stilge¬
mäß ausfielen, und das war in den
Augen der Lehrerschaft doch das höch¬
ste Ziel allen Unterrichts. So wurde
denn Gezelle als Revolutionär betrach¬
tet, sowenig er sich als solcher fühlte
und es sein wollte. Aber in das gei¬
stige und pädagogische Milieu des Kol¬
legs paßte er in der Tat nicht hinein;
es mag auch vielleicht ein Gymnasium
mit lauter Lehrern wie Gezelle nicht
bestehen können, eine traurige Anstalt
ist es aber jedenfalls, die nicht einen
einzigen Geist seines Schlages verträgt:
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Franz Jostes, Guido Gezelle
166
und der Bischof von Brügge, Msgr.
Faid, glaubte Gezelle aus der seinigen
entfernen zu müssen. Es war das sein
Recht aber er beseitigte den großen
Mann in verletzender Weise, das war
sein Recht nicht und das wird auch das
Flandern der Zukunft ihm nicht ver¬
gessen.
Die Amtsentsetzung — er wurde
noch einige Zeit als „Flickprofessor“
zur Aushilfe beibehalten — gab den
Anlaß, daß alle kleinen Geister, deren
Glanz er beeinträchtigt hatte, über ihn
herfielen und nicht bloß den Päda¬
gogen, sondern auch den Dichter mit
Spott und Hohn überschütteten. Ein¬
sam und verlassen stand er da. Nur
seine Schüler bewahrten ihm die Treue.
Geknickt und tief verwundet in seinem
zarten Gemüte verlor er anscheinend
das Vertrauen zu sich selbst. Er hörte
auf in der bisherigen Weise zu dichten;
er schwieg, schwieg Jahrzehnte lang.
Lag der Grund davon wirklich allein in
der rücksichtslosen Behandlung, die er
seitens seiner Behörde erfuhr? Die ei¬
nen glauben es, andere zweifeln daran
und suchen nach anderen Gründen, mit
Recht, aber sie suchen an der falschen
Stelle, wie ich glaube. Bevor ich in¬
des die Hauptursache seines langen
Schweigens aufzudecken versuche —
und das ist für das Verständnis seiner
dichterischen Eigenart wie auch für die
Beurteilung der damaligen Verhältnisse
im geistigen Leben Flanderns von Be¬
lang —, ist es notwendig, zunächst
kurz einen Blick auf die Gedichte sei¬
ner ersten Periode, d. h. bis etwa zu sei¬
nem 30. Lebensjahre, zu werfen.
2 .
Gezelles Beschäftigung mit der Poe¬
sie ging von der Schule aus. In den
Lehranstalten Flanderns übt sich die
Jugend noch heute im Versemachen,
und die Folge'davon ist, daß diejeni¬
gen, welche einige Anlage dazu haben,
sich darin eine große technische Fertig¬
keit erwerben. Das bekannteste Bei¬
spiel dafür bildet der geniale Prudens
van Duyse, der ganz unvorbereitet Re¬
den in den glattesten Versen zu halten
vermochte. Natürlich gerieten die Schü¬
ler dabei unter den Einfluß der meist¬
gelesenen niederländischen Dichter, vor
allem Bilderdijks, der mit seiner Re-
thorik überhaupt der gesamten flämi¬
schen Dichtung des 19. Jahrhunderts
seinen Stempel aufgedrückt hat. In den
kirchlichen Kreisen wurde neben ihm
damals noch immer viel der alte
Adriaan Poirters gelesen, dessen Haupt¬
werk „Het Masker van de wereld af-
ghetrokken (Die entlarvte Welt)“ seit
dem Jahre 1646 mehrere Ausgaben er¬
lebte. Dieser flämische Jesuit erinnert
in mehr als einer Hinsicht an seinen
deutschen Zeitgenossen Abraham a
Sancta Clara: ein erfindungsreicher
Kopf, voll gelungener Einfälle und Bil¬
der. Seine Verse fließen überaus leicht
dahin, seine Sprache ist ohne Pathos,
oft kunstreich, aber klar, natürlich und
volkstümlich, dabei stets rein von
Fremdwörtern. Er sieht scharf und
weiß seine Beobachtungen anschaulich
und faßlich vorzubringen, stets darauf
bedacht, das Interesse des Lesers wach-
zuhalten. Obwohl Satiriker, schwingt
er die Geißel doch immer mit lächeln¬
der Miene, ohne Bitterkeit oder Grob¬
heit. Im Grunde liegt ein tiefes weiches
Gemüt, was besonders dort hervortritt,
wo er seine Freude an der Natur zum
Ausdruck bringt Das sind Eigenschaf¬
ten, die wir zu einem guten Teile bei
Gezelle wiederfinden, dessen eigener
Natur sie zwar bereits anhafteten, die
aber unzweifelhaft durch die Lektüre
von Poirters erheblich gefestigt und
entwickelt wurden und ihn gegen den
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Franz Jostes, Guido Gezelle
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ausschließlichen Einfluß der zeitgenös¬
sischen Dichter feiten. Schon das oben
erwähnte Gedicht aus seiner Gymna¬
siastenzeit erscheint als ein Anachronis¬
mus: denn wer hielt damals eine Man-
delbeke für würdig, bedichtet zu wer¬
den? Das gebührte nur großartigen Ge¬
genständen, und so mußten denn auch
die Schüler in Rousselare solche be¬
handeln, z. B. einen „Sturm auf dem
Meere“, obschon keiner der Jungen ein
Meer auch nur gesehen hatte! Davon
wollte Gezelle, dessen oberster Grund¬
satz Wahrheit und Einfachheit war,
nichts wissen; er verwies die Schüler
auf Dinge, die sie kannten, lehrte sie,
dieselben beobachten und zeichnen, und
geriet das nicht sofort, dann machte er
es ihnen vor. So entstanden seine eige¬
nen Gedichte; G. Verriest bezeugt, daß
fast alle Stücke der „Gedichtöl usw.“
zuerst auf der Rückseite von Schul¬
aufgaben gestanden haben, und fühlt
sich imstande, noch jetzt mit Namen
und Vornamen die Schüler zu nennen,
für die sie bestimmt waren. „Ja die
Kehrseite der .devoirs* hat bei unserer
Erweckung und Erziehung ein wunder¬
bares Spiel gespielt.“ Ein wunderba¬
res Spiel auch in der Erweckung Ge-
zelles! Denn es war eine Eigentümlich¬
keit bei ihm, daß er zum Dichten der
äußeren Anregung bedurfte: „ein Vers
von ihnen (seinen Schülern), ein Wort,
ein Klang, ein Zittern ihrer Seele, ein
Funke ihres Geistes“ reichte dazu hin;
aber irgendwie mußten die Saiten sei¬
ner Seele in Schwingung versetzt wer¬
den. Er selbst hat das auch gestanden:
„Niet ooit en hebbe ik vrij gezongen
maar vogelvrij, waar hier waar daar,
als uit een angeroerde snaar
is woord een dicht en deun te gaar
van zelfs mij uit de ziel gesprongen!“ 1 )
1) Niemals habe ich frei (ohne Zwang)
gesungen, aber vogelfrei, bald hier bald
dort, wie aus einer angerührten Saite ist
So kam es denn bisweilen zwischen
Lehrer und Schülern zu förmlichen
Wett- und Wechselgesängen, für die
wir in dem Gedicht „Nachtegale Schui-
felare" noch aus viel späterer Zeit ein
bekanntes Beispiel haben. Zur Zeit
nämlich, als Gezelle sich hauptsächlich
mit dem Sammeln alter flämischer Wör¬
ter befaßte und mit seinem ehemaligen
Schüler Karel de Gheldere über die Be¬
nennung „schuifelare“ (Flöterin) für
Nachtigall korrespondierte, legte die¬
ser zu seinen Bemerkungen die erste
Strophe zu einem Lied auf die Nachti¬
gall bei, mit der Aufforderung: „Macht
Ihr die zweite.“ Gezelle schickte sie
mit wendender Post, und nun ging es
abwechselnd weiter, bis Gezelle mit der
zwölften den Schluß machte, in der er
auf Augustin und Ambrosius hinwies,
die in derselben Weise das Tedeurn ge¬
dichtet haben sollen. 2 )
Aus dieser seiner ersten Periode
stammen mehrere Veröffentlichungen,
zunächst die „Dichtoefeningen“ (1858),
in denen sich die ältesten Stücke und
einige wirkliche Perlen befinden, die
bereits seine ganze dichterische Eigen¬
art verraten, so die „Pachthofschilde¬
ring“, „Het Schryverke“, „Excelsior“,
„De beitrommel“, „Aan de leuwerke in
de lucht“ und das bekannteste von all
seinen Gedichten „O’t ruischen van het
ranke riet“, das bereits von Ida von
Düringsfeld und später auch noch von
anderen ins Hochdeutsche übersetzt
worden ist.
Der Tod eines 18jährigen Schü-
Wort und Vers und Ton miteinander von
selbst aus meiner Seele gesprungen.
2) Ein Beispiel anderer Art bildet das
Memento homo (quia pulvis es). Wie er in
der letzten Strophe selbst sagt, hat er das
Gedicht geschrieben, während 1894 der
Bildhauer Lagae ihn in „pottebakkers aarde“
(Töpferton) modellierte!
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Franz Jostes, Quido Gezelle
170
iers, Eduards van den Bussche aus
Staden, rief die „Kerkhofblommen“ her¬
vor, eine Beschreibung des Begräbnisses
in der Heimat des Schülers, an dem
Gezelle sich mit der ganzen Klasse be¬
teiligte. Die Prosa wechselt hier mit
Versen ab, unter denen sich auch eine
Übersetzung des „Dies irae“ befindet,
die schönste, die ich je gelesen, ein
Meisterwerk vor allem durch die Wie¬
dergabe der mächtigen und farbenvol¬
len Klänge des Originals. Daneben
zeigt sich hier auch schon Gezelles
Vorliebe für das Volkstümliche, das bei
ihm nicht der Verbindung mit dem li¬
turgischen Texte widerstrebte: er deutet
das Strohkreuz, das vor dem Bauern¬
hause lag und den Vorübergehenden
anzeigte, daß sich im Hause eine Lei¬
che befand. Er erzählt uns, wie der
Knecht den Pferden den Tod zeitig mel¬
det, damit sie sich beim Fahren der
Leiche keinen Schaden zuziehen.
„En hij kust en kruist zie beiden,
en „gij“, zegt hij „Blesse en Baai,
moet een lijk naar’t kerkhof leiden,
Baai en Blesse, stille! frai!
Schuimen zoudt ge en lästig zweeten,
zoo’k u zonder wete liet
van de mare, en zoudt verheeten,
gave ik u den zegen niet.“! s )
Die Prosa des Schriftchens sticht
durch ihre Natürlichkeit und Glätte von
der unnatürlichen und schwerfälligen
Schreibweise seiner Zeit sehr zu ihren
Gunsten ab. Auch hier schließt er sich
in dem Streben nach dem einfachsten
und zugleich treffendsten Ausdruck eng
an die Volkssprache an, worin er für
die flämische Jugend Vorbild geworden
3) Und er küßt und bekreuzt sie beide,
.und ihr", spricht er, „Blesse (Weißfleck)
und Baai (Brauner) müßt eine Leiche zum
Kirchhof fahren, Baai und Blesse, stille!
artig 1 Schäumen würdet ihr und stark
schwitzen, wenn ich euch die Märe nicht
wissen ließe, und ihr würdet euch ver-
hitzen, gäbe ich euch den Segen nicht.“
ist, obwohl er sonst, keine oder wenig
Prosa schöngeistigen Inhaltes geschrie¬
ben hat.
Keinem König der Erde ist je eine
wahrer und wärmer empfundene, schö¬
nere und rührendere Totenklage gewid¬
met worden als jenem Bauembuben
von Staden in Westfländern!
1859 gab Gezelle eine Anzahl Über¬
setzungen religiöser Gedichte von Franz
v. Assisi, Jacopone da Todi u. a. heraus.
Sie sind in die Gesamtausgabe nicht
aufgenommen, und den Originaldruck,
der sehr selten ist, kenne ich nicht. Im
folgenden Jahr erschienen „Het Kindeke
van de dood en XXXIII Kleengedicht-
jes“. Die letzteren wurden später ver¬
mehrt und sind jetzt mit den auch noch
in Rousselare entstandenen „Gedichten,
Gezangen en Gebeden“, die H. Verliest
1862 herausgab, im 1. Band der Ge¬
samtausgabe vereint.
3.
Gezelles Stellung verbesserten die
Veröffentlichungen nicht; der Dichter
wurde nicht höher eingeschätzt als der
verkrachte Lehrer, und die Ungunst der
Behörde verfolgte ihn weiter. Weil er
kein Durchschnittsmensch war, verstan¬
den ihn die Durchschnittsmenschen
nicht, und trotz seinem nur allzuweit-
gehenden Autoritätsgefühl und seiner
übergroßen Bescheidenheit betrachtete
man ihn als einen Revolutionär, der
alles über- und durcheinander bringe,
ohne selbst etwas Ordentliches leisten
zu können. Sein seelisches Gleichge¬
wicht blieb durch die allgemeine Ver¬
kennung für lange erschüttert. Dazu
kam die Trennung von seinen Schülern.
Selbst eine durch und durch kindliche
Natur hatte er im Verkehr mit der Ju¬
gend sich so wohl gefühlt wie nirgends
anderswo und fortwährend Anregung
zu dichterischer Produktion erhalten.
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Franz Jostes, Guido Gezelle
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Daß diese für einige Zeit erlahmte, als
er sein Schulamt aufgab, ist daher wohl
verständlich, daß aber darin der Grund
für ein jahrzehntelanges Schweigen ge¬
funden werden dürfte, ist nicht an¬
nehmbar bei einem Mann, der einge¬
standenermaßen so viel Trost, Genuß
und Befriedigung im Dichten fand wie
Gezelle. Da überschätzt man nun doch
das Unglück, das ihn betroffen. Der
Wirkungskreis, den er verlassen, mochte
ihm lieb und teuer sein, aber sein Le¬
bensziel war er ja nicht gewesen, er
war durch Zufall hineingeraten. Dieses
bildete vielmehr die Seelsorge, die ihm
nach wie vor offen blieb, und wenn
er es darin nur zum Unterpastor hat
bringen können, so wirft das zwar auf
die Einsicht und das Wohlwollen der
Behörde ein ungünstiges Licht, aber
was für viele seiner Standesgenossen
ein Ideal sein mag, Canonicus, Monsigno¬
re und wer weiß, was sonst noch zu wer¬
den, das war für ihn ebenso eitel Tand
wie ein hohes Gehalt. Er war zeitlebens
arm wie eine Kirchenmaus, aber er
hätte es nicht zu sein brauchen; er hat
es sein wollen und hingegeben, was
man ihm zur Verfügung stellte: er war
bedürfnislos, ein Weiser alten Schla¬
ges. Ferner ist zu bedenken, daß es
auch früher und später in seinem wie
in jedes anderen Menschen Leben trübe
Stunden und schwere Tage gegeben
hat, daß es aber gerade die Poesie war,
die ihm dann stets darüber hinweghalf;
sie bildete das Lebenswasser für ihn,
das Wundertränklein, das ihm seine ir¬
dische Glückseligkeit verlieh. Dafür nur
ein paar Zeugnisse aus seinen eigenen
Gedichten:
„0 dichtergeest, van wat al banden
hebt gij mij, armen knecht, verloost
en uit uw handen,
wat heeft uw dierste gunst mij weinig
werks gekost I
Gij godlijk wezen doet mij leven,
waar menig andre sterven zou’,
en ongegeven
is nog de groote gift, waarom ’k uw
derven wou. 4 )
„0 Lied, o Lied!
het zwijgend nat
dat leekt mij längs de kaken,
gij kunt het, en uw kunst is dat,
gij kunt het honing maken . . .
o Lied, o Lied!“*)
„Jnt vrij bewind des vogels en
int koele ruim daarvan
en ’k weet niet waar ik nog al ben,
wanneer ik dichten kan . . .
neen, blij en is mij ziel toen niet,
maar is iets meer als blij
wanneer zij, God zij dank, geniet
een dreupelke poezij.“®)
Und wie rührend fleht er nicht:
„Zoete lieve dichterengel
slaat uw vlerken rondom mij“ . . .*)
Nein, einen solchen Dichter verläßt
im Leid die Muse nicht, wenn — nur
er sie nicht verläßt! Und endlich:wenn
auch die kirchliche Behörde bei Gezelle
den Lehrer kalt stellen, den Menschen
kränken, den Priester niederhalten
konnte: über den Dichter stand ihr kein
Richteramt zu; sie hat es sich auch nicht
4) O Dichtergeist, aus welchen Banden
hast du mich armen Knecht erlöst, und
wie wenig Mühe hat mir deine teuerste
Gunst aus deinen Händen gekostet! Du
göttliches Wesen machst mich leben, wo
mancher andere sterben würde, und an¬
gegeben ist noch die große Gabe, für die
ich dich entbehren wollte.
5) O Lied, o Lied, das stumme Naß, das
mir jetzt die Wangen hinabtröpfelt, du
weißt — und das ist deine Kunst — es zu
Honig zu machen. . . . O Lied, o Lied!“
6) Im freien Bereiche des Vogels und
dessen kühlen Raume, und ich weiß nicht,
wo ich sonst noch bin, wenn ich dichten
kann . . . nein, froh ist dann meine Seele
nicht, sie ist noch etwas mehr als froh,
wenn sie, Gott sei Dank, ein Tröpflein
Poesie genießt.
7) Süßer, lieber Dichterengel, schlag
deine Flügel um mich! . . .
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Franz Jostes, Quido Gezelle
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angemaßt und hätte sie es getan, so
würde das Gezelle kaum berührt haben:
„En dürft gij mij van dichten spreken,
die nimmer zijt in Staat
twee rehen
te rijmen dat het gaat!“ *)
Auch Prosper van Langendonck
glaubt nicht an die herrschende Mei¬
nung: „Unendlich Unbedeutendere als
ihn sah man ärgere Widerwärtigkeiten,
Verkennung und Verfolgung, Leibes¬
und Seelenqualen durchkämpfen und
nach kurzer Mutlosigkeit wieder um so
kräftiger das Haupt erheben, je reicher
sie geworden waren an Verachtung der
feigen und hinterlistigen Menschlich¬
keiten, die ihnen den Weg zu versper¬
ren drohten ... Man kann gelten las¬
sen, daß Mangel an Anregung, Entzie¬
hung des natürlichen Publikums, auf
das er und das auf ihn so heilsam ein-
wirkte, dazu beitrug, ihm das Lied in
der Kehle abzuschnüren, wie wohl in
seinen letzten Jahren der Beifall der
Jüngeren für ihn ein kräftiger Ansporn
zu unablässiger Arbeit war — aber war
das wohl der Hauptgrund? Muß nicht
vielleicht sein Schweigen Ursachen von
mehr innerer Natur zugeschrieben wer¬
den? Wer kann das sagen? Wem
offenbarte er das Rätsel seines Seelen¬
lebens? Dies trug er vielleicht in sich
wie einen schweren Stein, der auf dem
Boden ruht und lediglich einzelne Bla¬
sen nach oben treibt.“ Aber es sind
durch nichts begründete und bezeugte
Vermutungen, mit denen van Langen-
donck das Rätsel lösen will. Es ist ver¬
gebliche Liebesmüh, nach einem Schlüs¬
sel zum Rätsel zu suchen, denn in Wirk¬
lichkeit gibt es hier überhaupt kein
Rätsel! Wer die Tätigkeit Gezelles wäh¬
rend seiner angeblichen Schweigezeit
8) Und wagt ihr mir von Dichten zu
sprechen, die ihr niemals imstande seid
zwei Verse zu reimen, daß es stimmt 1
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genauer ins Auge faßt, besonders den
Anfang mit dem Ende vergleicht, der
wird alles verständlich und natürlich
finden. Nur darf er dabei nicht fort¬
während den Blick auf Brügge gerichtet
halten, sondern muß auch berücksichti¬
gen, was zu gleicher Zeit in Gent, Brüs¬
sel, Antwerpen und Holland vor sich
ging — aber davor scheint man in Flan¬
dern eine heilige Scheu zu haben!
In einem Brief aus dem Ende der
siebziger Jahre an Professor G. Verriest
bezeichnet Gezelle sich als literarisch
tot („literariter si non literaliter over-
leden“). Er war es auch in Wirklich¬
keit. Aber er war keines natürlichen
Todes gestorben, sondern dem Beil
eines Henkers zum Opfer gefallen, und
dieser Henker war nicht der Bischof
Faict, sowenig Sympathie man auch
dem Mann entgegenbringen mag, son¬
dern er hieß Heremans.
In der Mainummer des Jahrganges
1863 der Brüsseler „Nederduitsch Ma-
andschrift“ veröffentlichte dieser eine
16 Seiten lange „Würdigung“ von Ge¬
zelles „Gedichten, Gezangen en Gebe-
den“, welche die Redaktion bei ihm be¬
stellt hatte: sie war vor die richtige
Schmiede gekommen, denn dieser Rich¬
ter übernahm das Nachrichteramt so¬
fort mit! In seiner Besprechung heißt
es unter anderm: „Der Herr Guido Ge¬
zelle ist kein Schriftsteller, dessen Herz
voll Begeisterung für die großartigen
liberalen Ideen klopft, auf die unser
Jahrhundert stets mit so großem Recht
stolz sein kann, er ist kein Dichter, der
sich der seit langem festen und von
jedermann geehrten Form bedient, wenn
er seine Gefühle in Verse ausgießt;
seine poetischen Erzeugnisse sind, was
Ideen und Ausdruck betrifft, literari¬
sche Manifeste, die keine andere Poesie
als national anerkennen als die, welche
hinsichtlich der Ideen den Katholizis-
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Franz Jostes, Guido Gezelle
176
mus als Grundlage hat und hinsichtlich
des Stiles sich auf einen dürftigen Pro¬
vinzialismus beschrankt..
„Im poetischen Ausdruck läßt sich
Herr Guido Gezelle allzuoft durch un¬
sere ungemein musikalische Sprache
verleiten: er gibt uns an Stelle von Ge¬
danken, ja selbst von Worten, mehrfach
leere Klänge. Es ist indes nicht genug,
Alliterationen an Alliterationen zu rei¬
hen und mit dem hohlen Gebrumme
einer Reihe Onomatopöien unsere Oh¬
ren voll zu blasen: der Dichter, der mit
diesem flittergoldenen Mantel die Ma¬
gerkeit seiner Muse verbergen will, be¬
weist nur seine Ohnmacht oder sei¬
nen schlechten Geschmack.“ 9 )
„Die von Herrn Guido Gezelle ge¬
wählten Vorwürfe sind oft unbedeu¬
tend, während er in der Behandlung
anderer, die mehr Interesse erwecken,
von Breitspurigkeit und langweiliger
Lahmheit nicht freizusprechen ist. Oft
werden dieselben Gedanken mit an¬
deren, bisweilen mit denselben Worten
wiederholt, ohne daß die geringste Not¬
wendigkeit besteht oder Rhythmus und
Harmonie dabei gewinnt. — Aber die
Kritik, die ein strenges, mißbilligendes
Urteil über die Gedichte des Herrn
Guido Gezelle fällen muß, darf die Be¬
weise nicht schuldig bleiben. Die Ge¬
dichtsammlung bietet sie in Überfluß.“
Es werden dann als „Muster von Be¬
deutungslosigkeit“ und „Reimereien“
einige Gedichte angeführt, zuletzt das
prächtige „Regina ooeli“ 10 ), und dann
geschlossen: „Doch genügt wer von un¬
seren Lesern Lust hat, noch hundert
Stück solcher geschmacklos in-
9) Die Sperrung rührt hier wie folgende
von mir her.
10) In dem Büchlein Vlaemische Dich¬
tung, Jena bei E. Diederichs 1910, findet
man es sogar unter den 14 aus Gezelles
Gedichten ausgewühlten Stücken.
einandergeschmiedeter Wör¬
terglieder kennen zu lernen, die Ge¬
legenheit hat er dazu.“
„Es ist vor allem die Metrik, in der
der Herr Guido Gezelle sich als Revo¬
lutionär ärgster Sorte zeigt: dort
wirft er keck das Unterste zu
oben. Er mengt verschiedene Vers¬
maße durcheinander oder schert sich
überhaupt nicht um solche; er reimt
oder reimt nicht, ohne sich an eine Re¬
gel zu binden. Oft unterscheiden
sich seine Verse von der Prosa
nur dadurch, daß sie mit einem
großen Anfangsbuchstaben be¬
ginnen und je nach ihrer Länge
mehr oder minder aus -oder ein-
sp rin gen. Der Herr Guido Gezelle
macht einen übermäßigen Gebrauch
nicht nur von Assonanzen, sondern von
allerlei mangelhaften Reimen: .klingt
es nicht, so klappert's doch'! scheint
das oberste Gesetz seiner Metrik zu
sein. Bietet sich ihm nicht ohne wei¬
teres ein Reim, so hat er doch noch sei¬
nen westflämischen Dialekt, der ihn
aus der Verlegenheit zieht... Wir
möchten wirklich dem Herrn
Guido Gezelle anraten, über¬
haupt nicht mehr zu reimen, da
es für ihn offenbar ein solch
schreckliches Hexenwerk ist.“
An das Gedicht „Super flumina“ wird
für den so überaus feinhörigen Dichter
folgende Lektion geknüpft: „Wer Ohren
hat, bemerkt sofort, daß es bei diesen
harten would-be-Daktylen an vielen
Stellen hapert. Man sieht es, der Dich¬
ter hat die Prosodie bei unse¬
rem feinen Dautzenberg nicht
gelernt, und die vom Institut
gekrönte Abhandlung über den
Versbau von Prudens van Duyse
ist ihm ein versiegeltes Buch.“
Zum Schluß wird doch noch die An¬
lage des Dichters anerkannt, zu einem
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INDIANA UNIVERSITY
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177
Franz Jostes, Guido Gezelle
178
außergewöhnlichen Talente werde sich
diese aber nur dann entwickeln, wenn
er aufhöre, „allerlei planmäßigen Son¬
derbarkeiten und geschmacklosen Hals-
brediereien“ zu huldigen.
Wer aus diesen Proben, zu denen
jede Bemerkung überflüssig ist, nicht
den Eindruck gewonnen hat, daß diese
Rezension noch etwas anderes als ein
Ausfluß kritischer Unfähigkeit ist, der
lese die Bemerkung zu dem Gedicht-
chen: „’k zat bij’n boom te lezen“, und
er wird sich davon überzeugen, daß
auch Böswilligkeit ihren Anteil daran
gehabt hat. Wäre Heremans irgendein
beliebiger „letterkapaun“ gewesen, an
denen Flandern so reich war, dann
hätte sein Elaborat nicht verdient, hier
wieder ausgegraben zu werden. Aber
er war Professor der flämischen Sprache
und Literatur an der Universität Gent
und von einem schier unbegrenzten An¬
sehen und Einfluß auf literarischem
Gebiet, dem freilich seine geistige Be¬
deutung in keiner Weise entsprach.
Wehe ihm, gegen den er als literari¬
scher Pontifex maximus das Beil zu
etwas anderem als zum Weihen er¬
hob: er war für die literarischen Kreise
abgetan I Soviel ich weiß, haben nur
zwei Männer seine Autorität je ernst¬
lich anzutasten gewagt: Nolet de Brau-
were van Steeland und August Snie-
ders: sie werden dafür aber noch heute
in der flämischen Literaturgeschichte
scheel angesehen 1
Kein Mensch in ganz Flandern trat
für den armen, ohnehin schon so tief
erschütterten Dichter ein, keiner schalt
das Urteil, alles schwieg vor dem Ge¬
waltigen, der da gesprochen: Accusa-
tus. judicatus, justificatus, konnte Ge-
zelle von sich sagen. Die Freidenker
von literarischem Ansehen waren also
mit seinen frommen Confratres einer
Meinung über ihn, und wer hätte da
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noch an der Gerechtigkeit des Urteils
zweifeln können? Er selbst wurde irre
an sich und seiner Begabung, und das
war natürlich; denn es war die größte
Schwäche des bescheidenen Mannes,
daß er Leuten, die — wenn auch dei
providentia et hominum confusione —
zu höherem Amt und Ansehen gelangt
waren, immer mehr zutraute als sich
selbst Das kann hier nicht nachdrück¬
lich genug betont werden. Dabei war er
gegen Lob und Tadel nichts weniger
als unempfindlich; sein Neffe, Caesar
Gezelle bezeugt es, daß „ein Wort der
Anerkennung ihn in die Luft heben,
Verkennung ihn zu Boden drücken“
konnte, ln dieser Hinsicht ging es ihm
ganz wie seinem großen Landsmann
Conscience, der offen von sich bekennt:
„Er ist doch so wohltuend und süß, der
Weihrauch, den der Künstler in Per¬
son einatmen kann." Weis Gezelle
einzuatmen bekam, roch keineswegs
nach Weihrauch 1 Er ertrug es und
wehrte sich nicht, sondern suchte ein
Mensch und Dichter zu werden,
wie es die andern waren, die all¬
allgemein als musterhaft galten. Es ist
ein Irrtum zu glauben, daß Gezelle zu
dichten und Schriftstellern aufgehört
habe, im Gegenteil, die sechziger Jahre
bilden in seinem Leben die Zeit seiner
regsten Betriebsamkeit, aber was er da¬
mals gedichtet, ist flüchtig hingeworfen,
meist auch in alle Winde zerstoben, und
unter dem Erhaltenen ist kaum etwas
von bleibendem Werte: er half den To¬
ten ihre Toten begraben und wurde zu¬
nächst Tagesschriftsteller. Als er näm¬
lich 1861 am Englischen Seminar in
Brügge, das ein steinreicher Engländer
behufs Ausbildung katholischer Geist¬
lichen für England gegründet hatte,
Lehrer geworden war, ohne gerade
viel Arbeit zu bekommen, erhielt er
„von hoher Hand" den Auftrag, eine
Original frum
INDIANA UNliVERSiTY
179
Franz Jostes, Guido Gezelle
180
volkstümliche katholische Zeitung als
Gegengewicht gegen den liberalen
„Westflaming“ zu gründen. Das poli¬
tische Leben in Brügge war damals
sehr rege, trug aber einen durchaus
kleinstädtischen Charakter: die Kämpfe
wurden ländlich -sittlich in Hemds¬
ärmeln mit Pflastersteinen und Jauche¬
kübeln ausgefochten. „Persönliche An¬
griffe", schreibt de Flou in seinem
Nachruf auf Gezelle 11 )„,Beschimpfun¬
gen und oft grobe Verleumdungen nah¬
men den Platz ein, welcher der Be¬
sprechung von Ansichten und Grund¬
sätzen hätte dienen sollen." Gezelle
war dort noch weniger an seinem
Platze denn früher als Rechen- und
Handelslehrer in Rousselare: ein Poli¬
tiker war er sowenig wie ein Polemi¬
ker, und keins von beiden ließ sich auch
aus ihm machen. Was er selbst für das
von ihm redigierte „Kiesgazetje“ (Wahl¬
blättchen) und nach dessen baldigem
Eingehen für die Wochenschrift „’t Jaar
30“ geschrieben hat, besteht durchweg
aus lehrhafter Prosa oder volkstüm¬
lichen Gedichten. Aber seine Mitarbei¬
ter richteten sich nicht nach ihm, son¬
dern beschossen den „Westflaming“ mit
derselben Munition, deren er sich be¬
diente. „Welche Grobheiten und Ge¬
meinheiten die beiden Blätter jahre¬
lang austauschten, ist wirklich nicht zu
beschreiben.“ Übrigens war Gezelle
unter dem Decknamen „Spoker“ (Spuk¬
geist) auch Mitarbeiter an der viel ge¬
lesenen bissigen Wochenschrift „Rei-
naert de Vos“, die der Faustübersetzer
Vleeschouver von 1860 bis zu seinem
Tode (1866) in Antwerpen herausgab.
Was vorauszusehen war, trat ein:
er machte es auch als Zeitungsschreiber
keinem recht 1 Von den Gegnern mit
einem Hage l von Bosheiten und Ver-
11) Jaarboek der Koninklijke Vlaamsche
Akademie 1901 S. 117 ff.
leumdungen überschüttet, wurde er von
der Behörde für die Übeltaten anderer
verantwortlich gemacht und fiel noch
tiefer in Ungnade, als er ohnehin schon
stand. Das Ende war 1872 eine Ver¬
setzung als Unterpastor nach Kortryk.
„Geen voetpad oft gaat nijdschap längs,
geen huis oft woont verraad in,
geen oore of is vol woordenvangs,
geen goed of daar zit quaad in.“ l *)
Eine Beförderung war die Versetzung
keineswegs, sollte es auch nicht sein,
aber sie war doch eine wahre Wohl¬
tat für Gezelle, da sie ihn aus unleid¬
lichen Verhältnissen heraus in einen
Wirkungskreis führte, wo er Ruhe und
Frieden fand. Im Verkehre mit dem
Volke, das ihn verehrte, und mit Freun¬
den, die ihn verstanden, gewann er
allmählich die Lebensfreude zurück.
Freilich, ganz heimisch ist er dort
nicht geworden, ebensowenig wie Con-
science. Das scheint mir wenigstens aus
einem Gedichte hervorzugehen, das
„Kortryk“ überschrieben ist. Der Dich¬
ter befindet sich — das ist kurz der In¬
halt — auf der Eisenbahnfahrt von
Brügge nach Kortryk, und die Abend¬
sonne zaubert allerlei Bilder vor seine
Augen. Plötzlich ist alles verschwun¬
den. er erwacht aus seinen Träumen,
der Zug ist am Ziele:
„— Wat is er geschied?
’k en zie mij noch zonne,
noch boomen meer branden:
ist vaartuig aan't zinken,
met allen aan boord?
Wat hoore ik voor vreemde
geruchten? — Wij landen:
’Courtrai’! ’t is al schuiflen
en fransch, van nu voort.“ 1S )
12) Kein Fußpfad, oder es geht Bosheit
entlang, kein Haus, oder es wohnt Verrat
darin, kein Ohr, oder es ist voll Wortver¬
drehung, kein Gutes, oder es sitzt Böses
darin.
13) — „Was ist da geschehn? ich sehe
weder Sonne noch Bäume mehr brennen;
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Franz Jostes, Quido Gezelle
182
4.
Die Mußezeit, welche die Seelsorge ihm
ließ, benutzte Gezelle zunächst zum Sam-*
mein ausgestorbener oder nur noch im
Volksmunde erhaltener Wörter, die für
das „Westvlaamsch Idioticon“ von de
Bo bestimmt waren. 1881 gründete er
mit seinen Schülern Hugo Verriest, Karl
de Gheldere u. a. „Loquela", eine Mo¬
natsschrift für Sprachliebhaber. Wenn
auch die Fachleute den sprachwissen¬
schaftlich nicht geschulten Sammlern
dort, wo sie über das Sammeln hin¬
ausgingen, vielfach nicht zustimmen
können, so hat er sich durch dieses
selbst doch unstreitig ein großes Ver¬
dienst um die Wissenschaft erworben.
Für ihn aber war diese Tätigkeit noch
von ganz besonderer Bedeutung: er, für
den das Wort an sich schon lebendige
Poesie darstellte, von dessen Gedich¬
ten nicht wenige durch ein Wort, eine
Wendung, einen Spruch hervorgelockt
sind, wurde auf diese Weise allmäh¬
lich in die alte Bahn seiner schriftstel¬
lerischen Tätigkeit wieder eingelenkt.
Zunächst zeigten sich die Folgen dieser
Studien darin, daß er ein noch entschie¬
denerer Gegner der Fremdwörter wurde,
als er früher schon war, da er erkannt
batte, daß man im Mittelalter weit
weniger Gebrauch von ihnen gemacht
hatte, als es in der Gegenwart geschah,
und man daher gewöhnlich nur in die
mittelalterliche Schatzkiste zu greifen
brauche, um den besten Ersatz für die
ausländische Ware zu finden. Von jetzt
ab bediente er sich keines Fremdwortes
mehr, für das ein germanisches sich
finden ließ; selbst die theologischen
termini technici hat er zu verdrängen
sich bemüht
isfs Fahrzeug am Sinken mit allen am
Bord? Was hör ich für fremde Laute? Wir
landen: 'Courtrai’I 's ist alles Geflöte und
Französisch von jetzt an.“
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Unterdes waren einige der ehemali¬
gen Schüler Gezelles selbst als Dich¬
ter und Schriftsteller aufgetreten; es
schien sich eine Schule Gezelles bilden
zu wollen, die freilich vorderhand auf
Westflandem beschränkt blieb. Im
übrigen Flandern wurde über sie, eben¬
so wie über den Meister, der Bann ver¬
hängt. Heremans war unterdes ver¬
altet (f 1884), und sein Nachfolger auf
dem Stuhl des literarischen Hochgerich¬
tes in Flandern war der Museumsdirek¬
tor Max Rooses in Antwerpen geworden,
unzweifelhaft ein erheblich feinsinnige¬
rer Kritiker als Heremans, doch auch nur
innerhalb der von überliefertem Ge¬
schmack (Taine) geheiligten Gesetze von
sicherem UrteiL Für das wirklich Neue
hatte er kein Auge oder wenigstens
keinen Sinn, und doch macht gerade
das erst einen wirklich bedeutenden
Kritiker aus. In einem Aufsatz „De
Zuidnederlandsche Dichters van 1830
tot 1880“, den er zuerst in der hollän¬
dischen Zeitschrift „De Gids“ veröffent¬
lichte und dann in sein „Nieuw Schet-
senboek“ aufnahm (Gent 1882), spricht
er auch über Gezelle. Er sieht in ihm
nur einen Mystiker, wodurch der Dich¬
ter, der von einem wirklichen Mystiker
sehr wenig an sich hat, von vornherein
in ein falsches Licht gerückt wird. Aus
seinen recht verschwommenen Herzens¬
ergießungen will ich hier des Raumes
wegen nur zwei Sätze herausnehmen:
„Die Nebelbilder, die dem Mystiker vor
dem Geiste schweben, mögen geeignet
sein, um in Gebeten und Seufzern aus¬
gegossen zu werden, aber sie lassen
sich nicht mit festen Strichen
und in lebendigen und anschau¬
lichen Farben in Liedern wie¬
dergeben, die Kunstwerke ge¬
nannt zu werden verdienen...“
„Die Schule von Gezelle hat die all¬
gemeine Beurteilung nicht Lügen ge-
Original fram
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Franz Jostes, Guido Gezelle
184
straft; weder er selbst, noch seine
Jünger, soweit sie ihm treu
blieben, brachten ein Gedicht
hervor, das bemerkenswert ge¬
nannt werden kann; sie verdienten
doppelt und dreifach die Angriffe,
denen ihre ungewöhnlichen Formen
und Vorstellungen ausgesetzt waren.“ 14 )
Es ist wirklich tragisch, daß der
größte flämische Dichter von den füh¬
renden Geistern seines eigenen Volkes
dauernd so schmählich mißhandelt
wurde, und uns Deutschen kann es
wohltun, zu sehen, daß eine Deutsche,
Ida von Düringsfeld, bereits 1861, als
die „Gedichten“ noch nicht einmal er¬
schienen waren, ganz anders urteilte:
„Einige seiner Dichtungen gehören zu
den schönsten, die ich im Flämischen
kenne, man kann von ihnen im besten
Sinne des Wortes sagen: sie sind von
einem Priester.“ Man kann übrigens aus
der Rezension von Rooses deutlich er¬
sehen, daß die Schar der Anhänger
14) Welches Ansehen Rooses bei den
Flamen genoß und noch genießt, und wie
tief diese noch immer im Rederijkertum
stecken, möge folgendes Urteil über ihn
zeigen, das Coopmann und Schärpe (Ge-
schiedenis der Vlaamsche Letterkunde,
Antwerpen 1910 S. 248) anführen und da¬
mit sich aneignen: „Möge einst die flämi¬
sche Literatur den hohen ästhetischen An¬
forderungen von Max Rooses entsprechen,
dann werden die flämischen Schriftsteller
Platz nehmen dürfen in der Reihe der be¬
deutenden Dichter und Denker Europas.“
Also nur fleißig Max Rooses studieren, ihr
jungen flämischen Dichter, dann kann’s
nicht fehlen! Konsequenterweise hätten die
Verfasser übrigens Gezelle, der, wie man
hier sieht, den hohen ästhetischen Anfor¬
derungen von Max Rooses ja in keiner
Weise genügte und sich auch später noch
den Teufel darum scherte, als abschrecken¬
des Beispiel vor Augen stellen müssen, —
aber sie preisen auch diesen wie der beste
Holländer! Es geht doch nichts darüber,
wenn man kalt und warm aus einem Munde
zu hauchen versteht!
Gezelles stark im Wachsen begriffen
war. Er sucht das den Holländern in
folgender Weise zu erklären: „Die Be¬
geisterung oder die Schwärmerei, man
nenne es, wie man will, verleiht seinem
Wesen etwas Berauschendes, das auf
junge Gehirne, die des Dichters Über¬
zeugung teilen, leicht ansteckend wir¬
ken muß. Ein junges und warmes Ge¬
müt findet es hier unten leicht etwas
kalt und kann es für etwas Schönes
halten, sich der alltäglichen Wirklich¬
keit zu entziehen und über den Wol¬
ken in himmlischen Visionen und träu¬
merischen Spekulationen zu schwel¬
gen.“ Allein schon damals konnte einer
der flämischen „Schwarmgeister“, Al-
brecht Rodenbach, in der Vorrede zur
Gudrun (Gent 1882) ausrufen: „Und
die Holländer mußten dazwischen kom¬
men, um Westflandern recht zu geben
und die Schreier allhier zum Schwei¬
gen zu bringen. Und seitdem schweigen
sie, aber die westflandrischen Dich¬
ter behandeln sie wie Parias in unse¬
rer Literaturgeschichte.“ Und wirklich
waren es keine Mystiker und Visio¬
näre, sondern die nüchternen Holländer»
die den schweren Stein von dem Grabe
wälzten, in dem die führenden Geister
Flanderns ihren größten Dichter ein¬
gesargt hielten. Und das ist so zu¬
gegangen :
Vor 1880 lag die Dichtkunst in Hol¬
land wie in Flandern völlig in den
Banden des rhetorischen Handwerks.
Die Dichtkunst wurde als eine edle
Gottesgabe betrachtet, dem begnadeten
Menschen verliehen, um seine Muße¬
stunden in würdiger Weise damit aus¬
zufüllen. Wollte man sich ihr widmen,
so suchte man zuerst nach einem „er¬
habenen“ Gegenstand, und hatte man
ihn gefunden, so bemühte man sich,
in eine feierliche Stimmung zu kom¬
men, um mit Eleganz den Stoff in die
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Franz Jostes, Guido Gezelle
186
überlieferten Formen der ehrwürdigen
Dichtersprache gießen zu können. Diese
lag in Worten und Wendungen, Ver¬
gleichen, Bildern und Figuren fertig
vor, geeicht und abgestempelt von den
Meistern der Kunst, Beets, Da Costa,
Tollens, Bilderdijk usw. Wohl gab es
den einen oder andern Dichter, der in
diesem ästhetischen Kettenpanzer nicht
völlig erstickte, aber seine ursprüng¬
liche Natur konnte darin doch nicht die
notwendige Bewegungsfreiheit finden,
die zur Schöpfung großer Werke un¬
erläßlich ist Bei der großen Masse
der Mittelmäßigkeiten aber schlug die
Kunst mehr oder minder in Formel¬
kram und Wortschwall aus, sie schaff¬
ten nicht frei und selbständig, sondern
gossen Gipsfiguren in altüberlieferte
Modelle.
Anfangs der achtziger Jahre er¬
hob sich gegen diese Auffassung und
Ausübung der Dichtkunst eine Anzahl
junger Dichter, die sich unter fremdem
Einflüsse, vor allem dem Shelleys, ge¬
bildet hatten. Außer William Kloos ge¬
hörten Albert Verwey, Herrn. Gorter,
Fred, van Even, Helene Swarth u. a. zu
dieser Gruppe. Sie verbrannten die hei¬
ligen Bücher der Dichtkunst, zerschlu¬
gen die Eilten Modelle und verlangten
engsten Anschluß an Natur und Leben.
Sie verwarfen die Suche nach „würdi¬
gen“ Gegenständen und schöpften aus
eigener scharfer Beobachtung und ganz
persönlicher Erfahrung. Wort und Bild
sollte dem wirklichen Leben abge-
lauscht werden, musikalisches Gefühl
das einzige Gesetz des poetischen
Rhythmus bilden und zwischen Inhalt,
Sprache und Form eine vollkommene
Harmonie bestehen. Dabei wurde die
innere Welt vor der äußeren bevor¬
zugt; dasAustönenlassen von Stimmun¬
gen, individuellem Sehnen, Fühlen und
Wahrnehmen betrachtete man als die
Hauptaufgabe. Da den Anhängern
dieser neuen Richtung in der öffent¬
lichen Meinung nicht Licht und Luft
genug zugestanden wurde, stellten
sie dem alten „Gids“ (Führer) einen
„Nieuwe Gids“ gegenüber, und in dieser
Zeitschrift, nach der man sie kurzweg
„Nieuwe-Gidsers“ nannte, wurde der
Kampf mit den Gegnern eröffnet. Zu
diesen gehörten indes nicht nur die
Vertreter der alten Ästhetik, sondern
es gesellten sich zu ihnen auch solche,
welche anerkannten, daß die „Nieuwe-
Gidsers“ der Sprache neues Leben, dem
Wortschätze Mannigfaltigkeit, den Bil¬
dern Wahrheit und Natürlichkeit ge¬
bracht hatten, sich aber mit dem Inhalt
ihrer Dichtungen um so weniger be¬
freunden konnten, als sie in diesen
mehr und mehr einen ausgeprägten Sen¬
sitivismus hervortreten sahen. In der
Tat überschlug sich der Individualis¬
mus; die Dichter stellten ihr eigenes
Herz in den Mittelpunkt des Interesses,
betrachteten ihr Ich als die Achse, um
die Welt und Menschen sich drehen
sollten, ja ihr Egoismus wuchs sich
stellenweise sogar zur Selbstvergötte¬
rung aus. Damit stießen sie nicht nur
die Anhänger der christlichen Welt¬
anschauung ab, sondern auch die der
ganzen sozialen Bewegung ihrer Zeit,
welcher Art und Farbe sie auch sein
mochten. Sie, die da immerzu Wahr¬
heit! NaturI Leben! riefen, übten einen
Ichkult, den jeder gesunde und natür¬
liche Mensch als unwahr, unnatürlich
und krankhaft empfinden mußte. Denen,
welche in den sozialen Kämpfen der
Gegenwart standen oder diese auch nur
beobachteten, mußten diese Ich-Priester,
die abseits von aller Welt in einem
selbstgebauten Tempelchen dem Kulte
ihres eigenen Seelchens oblagen, als
eitle Sonderlinge, wenn nicht als etwas
Schlimmeres erscheinen. Deshalb sank
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Franz Jost es, Quido Gezelle
188
ihr Ansehen um so schneller und stär¬
ker, je mehr man erkannte, daß das
Evangelium, welches sie verkündeten,
nicht neu war, vielmehr das, was als
richtig in ihm anerkannt werden mußte,
bereits zu einer Zeit, als sie sich noch
erst von der Wiege aus der Welt be¬
merkbar machen konnten, in die Tat
umgesetzt worden war — von Guido
Gezelle.
Gezelle hatte in Holland von Anfang
an einzelne Verehrer gehabt — waren
doch seine „Gedichten“ usw. Jos.
A. Alberdingk Thym in Amsterdam ge¬
widmet —, aber die Gemeinde war klein
geblieben. Erst jetzt auch sah man
ein, daß man in ihm nicht bloß einen
wirklichen Dichter besaß, sondern so¬
gar einen Bahnbrecher, der zu früh ge¬
boren und seiner Zeit allzu weit voraus
gewesen war. Zugleich aber überzeugte
man sich davon, daß man getrost die
alten Dichtergötter verlassen und den
modernen anhangen könne, ohne eine
neue Welt- und Lebensauffassung an¬
nehmen zu müssen. Übrigens waren es
die „Nieuwe-Gidsers“ selbst gewesen,
die Gezelle auf den Schild erhoben
hatten und ihm auch nach wie vor treu
blieben.
5.
Die Eisberge, welche sich um Gezelle
aufgetürmt hatten, begannen so allmäh¬
lich zu schmelzen; das stets unter
dem Einfluß der holländischen Sonne
stehende literarische Flandern ver¬
mochte sich gegen die wannen Strö¬
mungen aus dem Norden nicht abzu¬
schließen. Die Autorität von Rooses
und seinem Anhänge begann ins Wan¬
ken zu geraten; die fortschrittliche Ju¬
gend gründete in Brüssel ein eigenes
Organ „Van Nu en Straks“ (1893), das
zwar nicht gerade als ein Ableger
von „Nieuwe Gids“ bezeichnet werden
mag, aber doch ohne ihn nicht denkbar
wäre. Zwar blieben die Gründer und
Mitarbeiter: Aug. Vermeylen, Cyriel
Buysse, Prosper van Langendonck, Karl
van der Woestijne u. a., ebensowenig
wie die „Nieuwe-Gidsers“ unangefoch¬
ten, aber Holland, auf das die litera¬
risch Altgläubigen früher immer be¬
wundernd geblickt und gewiesen hatten,
stand jetzt auf ihrer Seite, und damit
waren die Gegner ihrer besten und be¬
liebtesten Waffe beraubt. Jeder Anhän¬
ger von „Nu en Straks“ war aber zu¬
gleich ein Apostel Gezelles, wenn es
freilich auch schwerer und langsamer
ging, den Propheten in seinem Vater¬
lande zur Geltung zu bringen als in der
Fremde.
Aber die Zeiten wurden für Gezelle
noch günstiger.
In den sozial denkenden und wirken¬
den Kreisen, die sich um Kuyper auf
reformierter und Schaepman auf katho¬
lischer Seite bildeten, stand Gezelle, der
vom Scheitel bis zur Sohle individuelle,
aber von allem Individualismus him¬
melweit entfernte Dichter, von Anfang
an in hoher Achtung und Verehrung,
aber zu allgemeiner Anerkennung ge¬
langte er doch erst, als die Sozia¬
listen auch auf dem Gebiet der Li¬
teratur eine Macht wurden und ein
Programm für die Dichtung der Zu¬
kunft entrollten. Das ging nicht ohne
heftigen Kampf und scharfe, zum Teil
ungerechte Angriffe auf die „Nieuwe-
Gidsers“ ab, von denen indes die be¬
deutendsten zum Feinde übergingen.
Die Hauptvertreter der auf diesem Ge¬
biete durchaus reaktionären Fortschritt¬
ler waren van Eeeden, Herrn. Gorter,
Henriette Roland Holst van der Schalk
u. a. Als ihr Wortführer mag hier Ada-
ma van Sdieltema dienen, auch als
Dichter eine eigenartige und kraftvolle
Persönlichkeit Mit der ganzen Glut
eines Apostels, aber auch mit der Ein-
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Franz Jostes, Guido Gezelle
100
seitigkeit des Parteimannes verkündete
er das Dichter-Evangelium der neuen
Zeit in seiner Schrift „De grondslagen
eener nieuwe Poezie" (Rotterdam 1907),
die freilich erst acht Jahre nach Ge-
zelles Tode erschien, aber den klarsten
Blick in die ganze Bewegung und ihre
Ideale tun läßt
Die Kunst soll nach Scheltema sti¬
lisierte Humanität sein; keine Schön¬
heit allein der Schönheit wegen, wohl
aber das Leben in der Form der Schön¬
heit Der Dichter muß mit seinem Den¬
ken und Empfinden im allgemein
Menschlichen wurzeln, sonst gelingt es
ihm nicht seine Gefühle in die Herzen
seiner Leser zu überführen. Zwischen
Gefühl und Verstand muß Gleichge¬
wicht bestehen, alle wahrhaft großen
Dichter der Vergangenheit haben ihren
Werken einen starken gedanklichen Ein¬
schlag gegeben. Auch Phantasie und
Humor müssen wieder in ihre Rechte
eingesetzt werden.
„Nicht die Kunst um der Kunst, son¬
dern um der Gesellschaft um unserer
Mitmenschen willen. Wir müssen an
der Kunst ,etwas haben', Kunst muß
uns ,etwas geben*. Wenn wir einen
Abend sehen, dann muß ein Gedicht
unsere Stimmung wiederholen und sie
heben; wenn wir lieben, muß die Kunst
unser Herz mit Lenzblumen bekränzen;
wenn wir weinen, müssen wir in der
Kunst die süße Spiegelung unserer eige¬
nen Trän«» sehen — das ist Kunst, da¬
zu ist die Kunst immer dagewesen,
von den ersten Griechen, von den mit¬
telalterlichen Troubadours bis zu dem
Vorgeschlecht der Achtziger — bis die
Wahnwitzigen, ihre Mitmenschen igno¬
rierend, ihre Gemeinschaft beleidigend,
dachten, daß sie die Meister anstatt
edele Diener der Gemeinschaft seien..„
eine Aufgabe, die uns aufgelegt ist,
weil wir zufällig eine tiefere; gefühl¬
vollere Seele haben als die anderen,
weil unser Glück und unser Schmerz
so viel größer ist als der ihrige, weil
unsere Augen so viel weiter und tiefer
die Schönheit erkennen als sie. Und um
der Ehre und der Größe dieser Gaben
würdig zu sein und sie in Ehren zu
besitzen, legt der Adel unserer Seele
uns die Pflicht auf, an ihrem Tische
zu sitzen und mit ihnen das Beste, was
wir haben, zu teilen, das Brot zu bre¬
chen, einen Lebensbecher zu trinken...
um dann wieder wegzuschlüpfen, weil
uns, wie dem alten Burgsänger, die
Einsamkeit noch immer lieb ist.“
„Die Kunst der Kunst wegen! Nein,
Gott Dank nicht mehr... Wir müssen
wieder die Sänger von dereinst werden
und uns niederlassen an der Tafel der
Lebendigen und singen alles, was in
ihrem Herzen vorgeht — unser eigenes
Herz ist ja wie das ihrige! Und wenn
sie uns nicht verstehen oder sich sogar
langweilen, nun, dann haben sie das
vollste Recht uns die Tür zu weisen:
Geh, blinder Sänger! wenn deine Kunst
uns Gott nicht näher führt als Wein
und gebratene Ferkel, dann haben wir
sie nicht nötig: sing für die Vögel, sie
verstehen dich vielleicht besser als wir.“
Von diesem Standpunkte aus kommt
er zu einer scharfen Verurteilung der
„Nieuwe-Gidsers“ und zum Teil auch
der Mitglieder von „Van Nu en Straks";
besonders hart ist er gegen Karel van
de Woestijne: „der üppigste und zu¬
gleich echte Dekadent reich, berau¬
schend, von giftigem Duft, abeT ohne
Samen oder Frucht“ Hingegen erschei¬
nen ihm als die echtesten und voll¬
kommensten Typen eines idealen „Ge-
meinschaftsdichters“ die beiden Gott¬
begnadeten, Goethe und Gezelle, — die
es beide freilich auf dem Wege durch
die Sozialdemokratie nicht geworden
sind!
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So von Freund und Feind in gleicher
Weise anerkannt, stand Gezelle auch
nach dem Falle der „Nieuwe-Gidsers“
fester denn je im Ansehen bei den
Niederländern; die offiziellen flämi¬
schen Kritiker waren ausgeschaltet und
schwiegen oder stimmten bei — wenn
auch zum Teil noch mit sehr sauer¬
süßen Mienen.
Gezelle wurde in Holland ein wirk¬
lich populärer Dichter. So erschien
denn auch die erste Gesamtausgabe sei¬
ner Werke (10 Teile) in Amsterdam bei
L. J. Veen, und sie hat seit 1901 be¬
reits vier Auflagen erlebt, ein unge¬
wöhnlicher Erfolg, zumal sie nicht we¬
nig zu wünschen übrig läßt
Das ist der geschichtliche Hinter¬
grund, vor den man den Dichter stel¬
len muß, wenn man seinen Werde¬
gang richtig verstehen will.
6 .
Wir haben oben gesehen, daß Ge-
zelles „Verstummen" zeitlich zusammen¬
fiel mit seiner Verurteilung durch Here-
mans. Die Entstehung seiner Überset¬
zung von Longfellows „Song of Hia-
watha“ fällt zusammen 15 ) mit der Grün¬
dung des „Nieuwe Gids", und die erste
Gedichtsammlung aus seiner zweiten
Periode, der „Tijdkrans", erschien im
selben Jahre wie die erste Nummer
von „Van Nu en Straks". Ist das Zu¬
fall? Es wäre ein merkwürdiger Zu¬
fall, so merkwürdig, daß ich auch dann
nicht an ihn zu glauben vermöchte,
wenn noch eine andere Erklärung für
sein auffälliges Verhalten zu finden
wäre. Vielleicht hat kein anderer Dich-
15) Die „Liederen, Eerdichten et Reliqua“
sind zwar bereits 1878 erschienen, aber es
sind meist Gelegenheitsgedichte, und was
Ober das gewöhnliche Mittelmaß hinaus-
ragt (z. B. De Kobbe), gehört wahrschein¬
lich zu dem, was darin noch aus der Zeit
vor 1860 stammt.
ter die Sonne so verehrt und gepriesen
wie Gezelle; er bedurfte ihrer zum Le¬
ben wie zum Dichten; das war auch in
anderem Sinn der Fall: als endlich aus
dem Norden der Wind kam und die
dicken flämischen Nebel verjagte, so
daß die Sonne wieder auf ihn herab¬
scheinen konnte, da wurde er wieder
warm und froh und betrachtete die
Kunst wieder mit den Augen seiner
Jugend. Das ist das ganze Rätsel!
t
Zur Übersetzung von „Hiawatha"
kam er auf einem bereits bekannten
Wege. Ein Kortrijker Freund hatte das
Gedicht übersetzt und die Übersetzung
Gezelle zur Prüfung und Verbesserung
übergeben. Er erhielt es in einem Zu¬
stand zurück, daß er es nicht mehr
als seine Arbeit anerkennen wollte und
Gezelle bat, es unter seinem Namen zu
veröffentlichen. Das lehnte dieser ab,
aber schließlich kam man überein, daß
Gezelle eine ganz neue Übersetzung an¬
fertigen solle, was denn auch geschah.
Der David-Fonds hat sie 1886 unters
Volk gebracht Für Gezelle war diese
Arbeit insofern von Bedeutung, als er
hier nicht seinem eigenen inneren Drang
nachgehen durfte, sondern durch eine
umfangreiche Dichtung hindurch in Ge¬
danken und Ausdruch, Vorstellung und
Bild, Maß und Klang einer fremden,
scharf ausgeprägten Individualität fol¬
gen mußte. Der Wildling war unver¬
sehens in eine Schule geraten, und seine
späteren Dichtungen verraten es, daß
er darin gelernt hat Seine von Anfang
an ungewöhnliche Herrschaft über die
Sprache hat noch entschieden gewon¬
nen.
Die späteren Dichtungen erschienen,
von den posthumen „Laatste Versen“
abgesehen, in zwei Sammlungen „Tijd¬
krans" (1893) und „Rijmsnoer“ (1897).
Ich gehe hier nicht auf sie ein, sondern
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
193
Franz Jostes, Guido Gezelle
194
will zunächst über sein weiteres äuße¬
res Leben kurz berichten.
Sein Bischof Waffelaert hatte ihm
gelegentlich gesagt, daß „etwas für ihn
geschehen solle“. Dazu war’s auch
wirklich höchste Zeit, aber trotzdem
wurde aus dem Versprechen noch
nichts, wenn anders nicht darunter die
1899 erfolgte Versetzung Gezelles nach
Brügge als Rektor der Englischen Au-
gustinerinnen zu verstehen war. Die
Nonnen verpflegten den alten Mann
zwar vorzüglich, und das war immer¬
hin schon etwas, aber er mußte den
ganzen Tag Englisch sprechen, und das
lag dem Flamen nicht Die Gnade des
Bischofs hatte überdies noch einen
eigenartigen Beigeschmack: er über¬
trug Gezelle die Übersetzung seiner
„Meditationes Theologicae“! Die Ar¬
beit hatte für diesen indes insofern
einen gewissen Reiz, als sie ihm Gele¬
genheit bot, einmal seinen Confratres
ein frommes Werk in einem meister¬
haften Flämisch zu bieten, und wenn
das gelang, dann konnte sich der Bi¬
schof seinerseits beruhigt sagen (was
sonst vielleicht zweifelhaft sein moch¬
te): Non omnis moriar! Aber es ge¬
lang nicht! Der alte Baum hatte das
Verpflanzen nicht mehr vertragen kön¬
nen und begann zu siechen. Todesah¬
nungen beschlichen den Dichter:
,’t En gaat niet meer zoo ’t ging
in ’t eerste! En zijn de dagen
u jongens veel te kort,
mij dunkt het dat ze tragen
en roekloos wederstaan
mijn ongeduldig hert,
dat hunkert naar den nacht
en ’t eenzaam kistenberd.“ ,e )
16) Es geht nicht mehr, wie's früher
ging! Und sind die Tage euch Jungen
viel zu kurz, mich dünkt, daß sie träge
werden und hartnäckig meinem ungedul¬
digen Herzen widerstreben, das nach der
Nacht und dem einsamen Sargbrett hungert
Internationale Monatsschrift
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Eine Geschwulst am rechten Arme
wurde zwar, wie gewöhnlich, glück¬
lich operiert, aber noch bevor das Jahr
zu Ende ging, lag Gezelle unter der
Erde, die „Goddelyke Beschouwingen"
— so hatte er „Meditationes Theologi¬
cae“ übersetzt — unfertig seinem wohl¬
wollenden Bischof und ihrem Geschick
überlassend. * 7 )
Er starb am 30. November 1899, ohne
der Welt etwas schuldig zu bleiben;
ob sie ihrerseits ihm gerecht geworden
ist, ob namentlich seine Landsleute und
seine Behörden sich nicht an ihm ver¬
fehlt haben, darüber mag und wird die
Geschichte das Urteil sprechen: die Ge¬
genwart kann ihnen die schwersten An¬
klagen nicht ersparen!
Gezelle war eine stattliche Erschei¬
nung mit einem gewaltigen Schädel,
für den die Hüte eigens angefertigt
werden mußten. In den Jahren seiner
Kraft war er nach Hugo Verriest ein
ungemein schöner Mann. In seinem
Auftreten erschien er als Künstler, trug
lang herabwallendes Haar, und wenn
er durch die Straßen Brügges eilte, flog
sein Mantel mehr, als er hing. Das Volk
nannte ihn den „Zeerelooper“ (Schnell¬
läufer). Er war ein großer Kinder¬
freund, und jedes Kind in der Stadt
kannte und liebte ihn. In seinem We¬
sen war er so aufrichtig, natürlich
und schlicht wie in seinen Dichtun¬
gen. Als er einmal ein Bäuerlein sah,
das sich in Brügges Straßen festge-
fahren hatte, holte er nicht etwa Hilfe
herbei, sondern stellte sich mit seinem
breiten Rücken an den Wagen und hob
ihn wieder aufs Pflaster. Beim Aus¬
bruche der Cholera in Brüssel hätte er
ein Hilfskomitee mit der Gräfin von
17) Im 10. Teile der Sämtlichen Werke
S. 156 sind Stücke in Versen daraus mit¬
geteilt
7
Original from
INDIANA UNtVERSITY
195
Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
196
Brabant als Patronin gründen können,
aber statt dessen versorgte er selbst
die Kranken und trug die Kinder auf
seinen Armen zum Hospital Geld be¬
saß er nur selten, aber zum Geben war
er stets bereit. Ein Stüde Tuch, das
seinen eigenen Rock ersetzen sollte, gab
er für einen hin, der ihn, nach seiner
'Meinung, noch nötiger hatte. Einem
anderen Bettler gab er seinen Schirm
mit den Worten: Geh und verkauf ihn
so teuer, wie du kannst Er war in
allem anders als die anderen, und was
diese hoch und teuer einschätzten, da¬
für fehlte ihm jeder Sinn. Andere froh
zu machen war sein höchster Genuß.
„Milde en goed zoe wilde ik wezen,
als roo riekende eerdbezezen;
als de lelie, blank en fjin,
geurig als de rosmarijn.“ 18 )
Christus hätte ihn vielleicht zum
Apostel gewählt, aber in Brügge ließ
man ihn auf der untersten Stufe der
Hierarchie sterben, man war dort zu
reich an großen und guten Männern!
18) „Mild und gütig möchte ich sein, wie
rote sfißriechende Erdbeeren, wie die Lilie
weiß und zart, duftig wie der Rosmarin.“
Gezelles einziger Schatz war die
Dichtkunst, die er als eine beseligende
Gottesgabe betrachtete, und deren Aus¬
übung für ihn Gottesdienst war. Wie
leicht wäre es dem überlegenen Geist
nicht geworden, und wie menschlich
wäre es gewesen, in Versen einmal
gründlich mit seinen Gegnern abzurech¬
nen; aber er hat es nicht getan. Kein
Wort der Rache oder auch nur des
Grolles ist je aus seiner Feder geflos¬
sen, nie hat er sie durch ein verletzen¬
des Wort oder sonst irgendwie ent¬
weiht Deshalb betrachtete er auch seine
Gedichte als Fürsprecher bei seinem
Schöpfer:
„O spreekt voor mij, mijn dichten, als
God eens mij reden vraagt,
is ’t zake dat gij, krankgeboor-
nen, ’t arme leven draagt
tot verder als mijn grafstede, en
niet steift, aleer ik sterf:
o, ’n weze ’t dan om u niet dat
ik daar het leven derf!“ ,e )
19) 0 sprecht für mich, meine Gedichte,
wenn Gott einmal Rechenschaft von mir
verlangt, falls ihr Schwächlichgeborenen
das arme Leben Ober meine Grabstatt hin¬
aus führt und nicht sterbt, bevor ich sterbe:
o, möge es dann nicht geschehen, daß ich
euretwegen das Leben entbehre!
Deutsche und französische Kultur und Kunst
Von Richard Hamann.
Die Katastrophe, die über Europa
hereingebrochen ist, ist nicht auf den
Kampf der Mächte und Heere be¬
schränkt Sie hat geistige Gegensätze
offenbart, die sich zu Schlagworten ver¬
dichtet haben wie des Militarismus, der
rohen Macht der Eroberungssucht auf
der einen Seite, der Freiheit, den Men¬
schenrechte und der Kultur auf der an¬
deren Seite. Auch ist die Tatsache nicht
wegzuleugnen, daß der Deutsche fast
überall unbeliebt ist obwohl er doch in
den meisten Dingen der große Lehr¬
meister der Menschheit geworden ist,
und daß der Franzose sich einer viel
allgemeineren Beliebtheit erfreut trotz
seiner Rückständigkeit in vielen Din¬
gen, die gerade die moderne Zivilisa¬
tion angehen. Obwohl der Verlauf des
Krieges genugsam bewiesen hat daß
die Deutschen, überall in der Minder¬
zahl, nur durch geistige Beherrschung
der Kräfte, durch Systematik den Sieg
errungen haben und deutscher Wissen-
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Original fram
INDIANA UN1VERSITY
197
Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
198
Schaft in erster Linie ihre Überlegen¬
heit verdanken, dauert das Geschrei
von den Barbaren noch immer un¬
vermindert fort Und es mag noch so
viel von Mißwirtschaft, Korruption,
Verleumdung und Unritterlichkeit in
der Behandlung von Gefangenen bei
den Franzosen die Rede sein, die Welt
wird nicht aufhören, im französischen
Geiste die Blüte der Zivilisation und
Kultur zu feiern. Alle Versuche von
deutscher Seite, dagegen zu protestie¬
ren und aufzuklären, haben die Sach¬
lage nur verschlimmert weil an der
Tatsache nicht zu rütteln ist daß tatsäch¬
lich eine Überlegenheit der Franzosen
besteht Ebenso unumstößlich ist es
aber auch, daß die deutsche Kultur
der französischen überlegen ist Es sind
eben zwei verschiedene Kulturen, die
sich hier gegenüberstehen, verschiedene
Weisen menschlichen Lebens und
menschlicher Werte, die sich hier bei
zwei Nationen im Laufe der Geschichte
herausgebildet verfeinert und zu jener
dem ganzen Leben seinen Stempel auf-
prägenden Form entwickelt haben, in
denen wir das Zeichen von Kultur
überhaupt sehen- In dem, was jedes
Volk als eigenste Leistung hervor-
gebracht hat ist es naturgemäß dem
anderen überlegen. Ob aber die eine
Kultur der anderen vorzuziehen sei, das
zu entscheiden, kann niemals Sache lo¬
gischer Erwägung sein, sondern nur
des Charakters oder der Geschichte,
wenn sich in ihrem Verlaufe heraus¬
stellt daß die Entwicklung einer der
beiden die Führung zuweist nachdem
vielleicht vorher die andere die Zügel
in den Händen gehabt hat Vielleicht
stellt schon dieser Krieg eine Art von
Weltgericht dar.
L
Den Kernpunkt französischer Le¬
bensverfassung treffen wir, wenn wir
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sie als eine gesellig-gesellschaftliche
auffassen, und ihr größtes Verdienst
in dem Herausbilden von Formen des
Gemeinschaftslebens finden. Das scheint
zunächst paradox gerade im Gegensatz
zum deutschen Wesen. Denn verdanken
wir nicht gerade unsere Erfolge der
Fähigkeit der Organisation, der Soziali¬
sierung der menschlichen Kräfte? Es
ist aber nicht nur so, daß die Franzosen
in der Entwicklung der gesellschaft¬
lichen Formen und Organisierung der
Gemeinschaften vorangegangen sind,
sondern daß der Sinn dieser Gemein¬
schaften innerhalb der französischen
Kultur ein spezifisch anderer ist als der
der deutschen. Diese französische Or¬
ganisation ist gesellig. Ihr kommt es
auf den Verkehr der Menschen unter¬
einander an, auf die persönliche Gel¬
tung, die der einzelne dem anderen
gegenüber in der Gesellschaft erlangt,
die Rolle, die er darin spielt Mit einer
gewissen Übertreibung kann man es
als Aufgabe der ganzen französischen
Kulturentwicklung bezeichnen. Regeln
solchen Gemeinschaftslebens zu ent¬
wickeln, jedem Pflichten und Rechte
nach seiner Stellung innerhalb dieser
Gemeinschaft zuzuweisen. Formen und
Formeln für die Zusammengehörigkeit,
Symbole für die Gemeinschaft zu erfin¬
den und den Wert dieser Gemeinschaft
selbst zu steigern und zu erhöhen, und
mit ihm die Geltung des einzelnen,
der an dieser Gesellschaft teilhat, zur
Gesellschaft gehört.
Das aber ist im Grunde dem deut¬
schen Wesen fremd. Die Deutschen
sind immer in einer starken Isolierung
der Personen steckengeblieben, Ge¬
sellschaft und Geselligkeit treten hin¬
ter dem Eigenleben des Individuums
zurück. Daher haben auch alle Formen
des Gemeinschaftslebens nie die Fein¬
heit und Selbstverständlichkeit erlangt
7*
Original from
INDIANA UNIVERSITY
199
Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
200
wie in Frankreich, und was wichtiger ist,
daher ist Frankreich jedesmal, wenn der
Wert der Geselligkeit eine besondere
Geltung in der Welt erlangte, stets ton¬
angebend gewesen und nirgends stär¬
ker als in Deutschland. Der Deutsche
hat in dieser Hinsicht stets als Barbar
gegolten. Es wäre ungerecht, zu leug¬
nen, daß er es auch heute noch bis zum
gewissen Grade darin ist Diese Eigen¬
willigkeit aber bedingte, daß nun der
Deutsche mit den Dingen allein, die
zum Leben nötig sind, in der Erarbei¬
tung dieser sachlichen Werte zu einer
Hingabe an diese gelangte, die nicht
nur zu einer ständigen Vervollkomm¬
nung der Technik sachlicher Ausge¬
staltung des Lebens führte, sondern
auch zu einer Vergeistigung edler die¬
ser objektiven Güter, für deren Vertie¬
fung nichts so sehr Zeugnis ablegt als
die deutsche Musik. Hieraus ent¬
wickelte sich ein Reich der Zwecke,
eine Organisation der Arbeit, die auch
jedem Menschen seinen Platz anweist,
aber immer nur mit Hinsicht auf seine
sachliche Leistung, jenseits deren seine
Person sich völlig unabhängig von der
Gesellschaft, in der er schafft, erhalten
kann. Ja, die höchsten Leistungen dieser
objektiven, sachlichen Kultur gehen,
auch wo sie durch die Rücksichten auf
den gemeinsamen Bestand dieser objek¬
tiven Werte und ihren Zusammenhang
bestimmt werden, in völliger Einsam¬
keit vor sich.
Und noch ein anderer Grundzug
deutschen Wesens resultiert aus diesem
Individualismus, die Fähigkeit der Ver¬
senkung in fremdes Wesen und eine
ausgesprochene Toleranz, das Gelten¬
lassen anderer Existenzen und Aner¬
kennung jeglichen Eigenlebens.
Von diesem Geselligkeitstrieb und
dem Bedürfnis persönlicher Geltung in
der Gesellschaft bei den Franzosen und
von dieser Eigenbrötelei und der Hin¬
gabe an sachliche Zusammenhänge ver¬
stehen wir viele Züge des heutigen Le¬
bens der beiden Völker und ihrer Ge¬
schichte.
Frankreich ist früh zu einem politi¬
schen Einheitsstaat in nationalen Gren¬
zen gelangt, als Deutschland noch, zer¬
rissen in unzählige Territorien und
Kleinstaaten, ein ohnmächtiges politi¬
sches Gebilde und ein Spielball fremder
Mächte war. Vor allem aber ist Frank¬
reich das Land der großen Organisa¬
tionen gesellschaftlicher Art. Hier ha¬
ben die großen Mönchsorden ihre Hei¬
mat, die Kluniazenser, die Zisterzienser,
und sind eine Weltmacht geworden
durch den echt französischen Geist per¬
sonaler Vergesellschaftung, das Rang¬
gefühl des einzelnen und den Herr¬
schergeist des Ganzen. In Frankreich
entfaltete sich das Rittertum mit seinem
starken Standesbewußtsein, seinen fei¬
nen Lebensformen und geselligen Idea¬
len des Hoflebens und der Bindung
des einzelnen unter den Geist der Ge¬
meinschaft Der Höhepunkt der fran¬
zösischen Kultur und politischen Ge¬
schichte bleibt doch immer die Zeit
Ludwigs XIV., die klassische Epoche
Frankreichs, wo uns ganz Frankreich
als eine einzige streng geordnete Ge¬
sellschaft erscheint, in der der Wert
jedes einzelnen davon abhing, wie nab
oder fern er der Spitze dieses gesell¬
schaftlichen Wunderbaues, dem Gipfel
der Macht, dem absoluten König stand.
Nur aus diesem starken Gemeinschafts¬
gefühl und der Schätzung der gesell¬
schaftlichen Stellung heraus ist es zu
verstehen, daß ein Volk, das eben in der
Revolution sich die Freiheit von aller
Tyrannei erkämpft hatte, einem Despo¬
ten und Eroberer wie Napoleon zuju¬
beln konnte. Noch heute sonnt sich
ganz Frankreich im Glanze dieses Man-
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Original frum
INDIANA UNIVERSITY
201
Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
202
nes. Der Mönch, der Ritter (Kavalier),
der Hofmann und im 19. Jahrhundert
noch der Bourgeois als Standesbezeich¬
nung aufgefaßt, sind Typen des fran-
sösischen Wesens, die die Geschichte
verwirklicht hat. Sollten wir aber Ty¬
pen deutschen Wesens aufzählen, so
würden wir den deutschen Bauern
nennen, und die ansehnliche Rolle, die
er im deutschen Leben spielt, dann den
Handwerker und an Hans Sachs dabei
denken, den Kaufmann und den Gelehr¬
ten, lauter Menschen, die arbeiten und
schaffen und von der Standesgeltung
mehr oder minder unabhängig sind,
denen ihr eigenes Reich ihre Welt ist.
Wo wir aber in Deutschland Typen und
Lebensverfassungen finden wie in
Frankreich, da würde es nicht schwer
sein, die Vorbilder dafür im jetzigen
oder vergangenen Frankreich nachzu¬
weisen, sowohl in dem Zeremoniell un¬
seres Hofes und dem Gottesgnadentum
des Herrschers, wie in den geselligen
Formen unserer Aristokratie und schlie߬
lich im Standesgefühl unserer Offiziere.
Denn das ist das Merkwürdige: kein
Vorwurf, der gegen die Deutschen er¬
hoben wird, ist stärker als der des Mili¬
tarismus. Und dennoch ist nicht nur
alles, was wir am preußischen Offi-
zierkorps und Soldaten als positiven
Wert empfinden, der Geist der Über¬
und Unterordnung, die Treue gegen
den obersten Kriegsherrn, die Sicher¬
heit des Auftretens in der Gesellschaft
und die Galanterie gegen Frauen, das
Herrschenkönnen und Sichzusammen-
nehmen, das Gehorchen und Befehlen¬
können, das Gefühl für Rang und Stand,
kurz alles, was sich um den Begriff der
Ehre gruppiert, direkter Abkömmling
der ritterlichen Kultur des französi¬
schen Geistes, sondern noch heute ist
Frankreich voll von Idealen, die der
Schätzung militärischer Macht und Ruh¬
mes um ihrer selbst willen entsprin¬
gen, und aus seiner Geschichte ist das
zu verstehen. Sind nicht schon die
Kreuzzüge, die von Frankreich aus
ihren Ursprung nahmen, ein Ausfluß
dieses militärischen Geistes, der zur
Ehre des Höchsten, um den sich die
ritterliche Welt scharte, die Welt unter¬
werfen will, ein Idealismus militäri¬
schen Gemeinschaftsgefühles, wie er
höher nicht gedacht werden kann? Wo
könnte eine militaristisch-imperialisti¬
sche Politik sich besser ihre Vorbilder
holen als bei den Raubzügen Ludwigs
XIV.? Und wann hätte in neuerer Zeit
je die Welt ein glänzenderes und ver¬
hängnisvolleres Beispiel militärischen
Machtbewußtseins gesehen als bei dem
Phänomen Napoleon. Dieses Gefühl
aber für die auf militärischen Erfolgen
beruhende Gloire der grande nation ist
noch heute lebendig in Frankreich, und
wir dürfen wohl glauben, daß es nicht
der Verlust von Stammesbrüdern ist,
um den die Franzosen bei Elsaß-Loth¬
ringen trauern, denn die Elsaß-Loth¬
ringer waren immer die Zielscheibe des
Spottes für die Franzosen, sondern
die verletzte militärische Ehre, die für
eine Niederlage Revanche fordern muß.
Gleich bewährt sich auch da wieder die
echt deutsche Eigenschaft des Ver¬
stehens, daß wir nun dieses vom Stand¬
punkt jener Rang- und Ehrenkultur ed¬
len Motives wegen den Franzosen als
ritterlichsten Gegner am höchsten ein¬
schätzen. Das Wesentliche ist, in Frank¬
reich ist der militärische Geist wirk¬
lich populär, ein Teil der Kultur. Man
muß einmal die Manöverberichte im
„Matin“ gelesen haben, diese Jubelhym¬
nen auf ihre glorreiche Armee, wahre
Fanfaren militärischer Begeisterung, vol¬
ler Empfindungen, wie sie ein Fürst bei
einer Parade seiner Truppen haben
könnte, und muß dann die sachlich
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203
Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
204
trockenen Manöverberichte selbst in un¬
seren chauvinistischen Zeitungen damit
vergleichen, für die sich niemand inter¬
essiert als gerade der Fachmann. Ich
erinnere mich der rhetorischen Schilde¬
rung einer glänzenden Kavallerieattacke
aus dem „Matin", bei der in einem Ne¬
bensatz gesagt wurde, daß im Ernstfall
niemand mit dem Leben davongekom¬
men wäre. Aber dieser Heroismus, dieser
Elan! Und immer wird diesen glühen¬
den Schilderungen schon ein imaginärer
Feind zugrunde gelegt, dessen Mann¬
schaften natürlich Maschinen sind, der
französische Soldat aber ist Held und
Feldherr zu gleicher Zeit.
Dagegen schäzten wir gerade am Mili¬
tarismus die technische, vom Geist der
Wissenschaft und Arbeitsorganisation
geleitete Maschinerie und die Erzie¬
hung zur Hingabe an die sachliche
Leistung durch Unterordnung der Per¬
son. Und aus diesem Sachlichkeitstrieb
heraus versteht sich, daß von jeher der
Deutsche als Söldner sehr hochge¬
schätzt war, weil auch ihm der Krieg
ein Handwerk war, für das man sich
verdingen kann. Und wir alle sind
überzeugt, daß die von offiziöser und
privater Seite immer wieder behauptete
Friedensliebe der Deutschen nicht bloß
eine politische Phrase ist. Wir können
uns nicht denken, daß vor dem Kriege
deutsche Zeitungen in Vorstellungen
schwelgten, wie die französischen es ta¬
ten, durch Legionen von Fliegern deut¬
sche Städte vernichten zu lassen, nur
um im Gefühl der Macht und Rache sich
zu sättigen, da wir doch fast bis zum
Schaden an der eigenen Sache bemüht
sind, in Feindesland zu erhalten und zu
schonen, was zu erhalten ist
Durch dieses Gefühl für die Größe
und den Wert der Gemeinschaft der
man angehört und von der man selbst
seinen Wert empfängt, einen Nationalis¬
mus, der heute noch so lebendig ist wie
früher, und durch das Bedürfnis nach
persönlicher Geltung innerhalb der Ge¬
sellschaft ist die politische Interessiert¬
heit der Franzosen zu verstehen. Der
Franzose denkt durch und durch poli¬
tisch und ist mit einer Leidenschaft an
den täglich«! Fragen des Parteikamp¬
fes und der international«! Mächtever¬
schiebung beteiligt, wie wir sie nur aus
den Erfahrungen des Krieges verstehen
können. Für den Franzosen aber ist auch
die Friedenspolitik in erster Linie
Kampf der Parteien, der im Parlament
und in der Presse ausgefochten wird.
Die Gleichgültigkeit gerade des gebilde¬
ten Deutschen gegenüber politischen
Tagesfragen ist ja ein oft eingestande¬
ner Mangel und dennoch erklärlich, da
die sachliche Welt, in der er lebt, um
so weniger von diesem Kampf um die
Macht und den Vorrang berührt wird,
je vergeistigter sie ist Für uns ist die
Presse in erster Linie Berichterstattung,
Bringerin von neuesten Nachrichten, für
den Franzosen Kampforgan, Kritik, die
mit allen Mitteln der Rhetorik, des Pam¬
phlets, der Satire den Gegner zu Fall
zu bringen sucht und immer Stellung
nimmt, niemals bloß referiert. Daher
die Spannung, ob wieder ein Minister
gestürzt ist ein Redner der eigenen
oder fremden Partei gut oder schlecht
abgeschnitten hat. So laufen denn
abends durch Paris Jungen und schwen¬
ken die eben erschienenen Zeitungen in
den Händen mit wilden Rufen: La
Presse! La Presse!, daß der Fremde
meint ein großes Unglück müsse ir¬
gendwo passiert sein. Für den Franzo¬
sen gibt es eben auch im Frieden Ta¬
gesberichte.
IL
Das nationale Einheitsbewußtsein hat
notgedrungen zu jener Zentralisierung
des Lebens in Frankreich geführt, die
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205
Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
206
die ganze Verwaltung des Landes
durchdringt und bewirkt hat daß Paris
das eigentliche Leben Frankreichs be¬
deutet, und die Provinz so sehr dahinter
zurücksteht. Die hierarchische Ordnung,
die den auf Rang und Ober- und Unter¬
ordnung gestellten Gemeinschaften ei¬
gen ist, liegt auch dem republikanischen
Frankreich noch zugrunde, und das Be¬
dürfnis nach sichtbarem Erfolg in der
Gesellschaft hat bewirkt, daß sich alles,
was eine Rolle spielen möchte, nach
Paris drängt Diese Stadt ist noch im¬
mer eine Art von Hof wie zur Zeit Lud¬
wigs XIV., an dem empfangen zu wer¬
den die höchste Ehre bedeutet. Paris
ist tonangebend. Hier wird man kreiert.
Alle Kenner Frankreichs behaupten, daß
eine geheime ^Sehnsucht nach dem
König noch immer in Frankreich lebe.
Dagegen ist ja grade für Deutschland
die Dezentralisation so außerordentlich
bezeichnend, ein Individualismus der
Kleinstaaten, aber vor allem auch der
Städte, der die deutschen Städte nicht
nur so psysiognomienreich gemacht hat
sondern auch oft kleine Orte zu Zentren
reichsten kulturellen Lebens hat werden
lassen. Frankreich aber verdankt dieser
Zentralisierung wohl die Größe seiner
politischen Macht und viele Jahrhunderte
währenden Vorrangstellung, aber auch
die Einförmigkeit und Reizlosigkeit des
Lebens in den kleinen Städten der Pro¬
vinz. Die streng zentralistische Ver¬
waltung, die auch den Maire zum Re¬
gierungsbeamten macht, bedingt, daß
das staatliche und städtische Leben in
Frankreich uniformiert ist, und der Bu-
reaukratismus von Verordnungen, die
aus einem Machtzentrum hervorgegan¬
gen sind, sich weit fühlbarer macht als
bei uns. Die Regulierung des verein¬
heitlichten Gemeinschaftswesens bedingt
den für Frankreich von je charakteristi¬
schen Rationalismus auf allen Gebieten.
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Es vollzieht sich hier im staatlichen
Leben dasselbe, wie in dem unmittelba¬
ren Leben der Gesellschaft, zu dem der
Franzose sich drängt, daß er auf das,
was ihn von dem anderen trennt und
nur ihn angeht, verzichten muß, daß er
Gesellschaftsmensch werden muß, daß
sich Formeln für das Gemeinschafts¬
leben herausbilden, die den Verkehr
untereinander regulieren, daß. man ein¬
ander gefällig sein muß, und im Ton
und Aussehen die Zugehörigkeit zu die¬
ser Gemeinschaft dokumentiert. Wir
verstehen nicht, daß sämtliche Frauen
in Frankreich sich schminken, und emp¬
finden das als einen widerlichen Ein¬
griff in die Rechte der Natur und als
Unwahrheit. Für den Franzosen, für den
das Leben in der Geselligkeit von vorn¬
herein Unterwerfung der Person unter
eine Regel der Gemeinschaft bedeutet,
ist diese Korrektur des Gegebenen zu¬
gunsten der gesellschaftlichen Forde¬
rung etwas so Selbstverständliches, wie
er sich dem Zwang der Mode unter¬
wirft, die in Frankreich seit den Zeiten
des Mittelalters an der Herausarbeitung
eines gesellschaftlichen Typus in der
äußeren Erscheinung des Menschen ge¬
arbeitet hat. Ganz Europa läßt sich
ja noch heute von der französischen
Mode das Gesetz diktieren, soweit es
ach um gesellschaftliche Erscheinung
handelt So drängt gegenüber der oft
gezeigten Formlosigkeit des Deutschen
in der äußeren Erscheinung beim Fran¬
zos«) alles zur Form. Die Grundtendenz
dieser Form aber entsprechend dem Be¬
mühen, unter Menschen eine Rolle zu
spielen, ist zu gefallen, das, was wir
ganz allgemein als Liebenswürdigkeit
bezeichnen können. In der Gestalt ewige
Jugend, im Ausdruck möglichst Wen¬
dungen, die dem andern schmeicheln
oder huldigen. Es hat das zu den For¬
meln gesellschaftlichen Verkehrs ge-
Original frum
INDIANA UNIVERSITY
Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
208
207
führt, bei denen wir uns nichts mehr
denken und die genau so Typisierung
und Unterwerfung der Natur unter die
Regel sind wie die Schminke im Ge¬
sicht, und die doch den Verkehr der
Menschen untereinander, solange er
keine sachlichen Ziele hat, so ange¬
nehm und leicht machen. Es ist fran¬
zösisches Gut, das wir in diesen For¬
meln der Höflichkeit empfangen haben,
und immer greift der Franzose noch
einen Ton höher als der Deutsche. Wir
sagen: Freue mich sehr, Sie zu sehen,
der Franzose: Je suis enchant6; wir:
Es tut mir leid. Sie verfehlt zu haben,
der Franzose: Je regrette infiniment.
oder: Je suis d6sol6. Wir können
aber sicher sein, daß der Deutsche ein
schlechtes Gewissen hat, wenn er es
zu einem ihm unsympathischen Men¬
schen sagt. Für den Franzosen aber
schafft die Selbstverständlichkeit, mit
der ihm diese Formen und Formeln aus
dem französischen Leben heraus zu eigen
werden, sofort eine gemeinschaftliche
Basis für eine Unterhaltung mit ande¬
ren Menschen. „Quand je suis en
France", sagt Montesquieu, „je fais ami-
ti6 avec tout le monde, en Angleterre
je n’en fais ä personne.“ Das ist
der tiefste Grund der Sympathie, die
der Franzose bei allen Fremden fin¬
det, die nicht mehr als die Annehm¬
lichkeit des Verkehrs von ihm verlan¬
gen. Aber es ist klar, daß bei dieser
Verteilung des Sympathiequantums auf
„tout le monde", amitiö nicht mehr die
Freundschaft wie bei uns bedeuten
kann. Der Franzose ist im Augenblick
des Kennenlemens sofort liebenswür¬
dig, höflich, gesellig und unterhaltend.
Aber diese Liebenswürdigkeit erschöpft
sich mit dem Moment des geselligen
Beisammenseins, und weitergehenden
Verpflichtungen gegenüber ist er unzu¬
verlässig. Der Deutsche muß erst die
Gemeinschaft der Interessen und Nei¬
gungen festgestellt haben, ehe er aus
sich herausgeht, dann aber wird das
Verhältnis ein innigeres und festeres.
Der Franzose hat Bekanntschaften, der
Deutsche Freundschaften. Was man
schon in Deutschland vom Westen und
Osten gesagt hat, daß man im Westen
mit offenen Armen empfangen werde,
aber im Osten mache man die Arme
auch zu, gilt auch von dem Unterschied
von Frankreich und Deutschland.
Der Franzose ist deshalb viel mehr
Allerweltsmensch als der Deutsche, weil
mehr Typus als Individualität. „Ne pas
se distinguer“ gilt für ihn in erster Li¬
nie. Er hat vor nichts so Furcht als
vor dem Ridicule, der Lächerlichkeit,
in die er verfällt, wenn er gegen die
Regel verstößt wie alles Sonderbare.
Daher ist auch der Blick für alle Ab¬
weichungen von der Konvention so
sehr geschärft und die Geißelung aller
Schrullen durch schneidende Satire altes
französisches Erbgut. Frankreich ist das
Land der klassischen Satire. Deutsch¬
land hat keinen Molifere und keinen
Daumier, wohl aber einen Jean Paul
und einen Spitzweg. Denn in Deutsch¬
land werden die Schwächen der Men¬
schen liebevoll belächelt und das Ori¬
ginale geradezu kultiviert. Der deutsche
Humor läßt die Dinge gelten, der fran¬
zösische Witz tötet.
Wie sich der Franzose dem gesell¬
schaftlichen Ideal zuliebe angleicht, so
hat er auch das Bedürfnis, unter sei¬
nesgleichen zu sein und sich gesellig zu
betätigen. Er hat nicht das Verlangen,
fremde Völker und fremde Verhält¬
nisse kennen zu lernen. Es ist erstaun¬
lich, wie wenig der Franzose das Be¬
dürfnis hat, zu reisen, es sei denn,
nach Paris. Und jedem wird aufgefallen
sein, wie wenig man in Italien, in der
Schweiz Franzosen findet neben der
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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
210
Fülle der Engländer und Deutschen,
denn gerade fQr die Deutschen ist ja
die Wanderlust und die Fähigkeit, sich
in fremde Verhältnisse hineinzufinden
und sich anzupassen, so charakteri¬
stisch, daß man das, was von sachli¬
chem Standpunkt aus eine Tugend ge¬
nannt werden muß, vom personalen des
Gemeinschaftsgefühles oft genug als
Charakterschwäche getadelt hat. Der
Deutsche ist kosmopolitisch und inter¬
national, nicht weil er vor fremden
Staaten mehr Achtung hätte als vor
dem eigenen, und sein Vaterland ver¬
riete. oder weil er einer utopistischen
Gemeinschaft des Weltbürgertums zu¬
strebte, sondern weil diese Werte des
personalen Stolzes und Nationalgefüh-
les ihm überhaupt nicht soviel bedeuten,
und er aus einer ganz anderen Bewußt-
Seinseinstellung heraus die Dinge be¬
urteilt, dem sachlichen Interesse am
Neuen, der Überwindung technischer
Schwierigkeiten und der Teilnahme an
fremdem Eigenleben. Denn da der Deut¬
sche in fremden Ländern durch seine ge¬
sellschaftliche Ungeschicklichkeit über¬
eil auffällt, so muß er doch wohl nicht
imstande sein, sich nur anzupassen. Wo
er es aber vermag, da eben in Dingen,
die von den Gemeinschaftsgrenzen und
der nationalen und gesellschaftlichen
Zugehörigkeit unabhängig sind, wie
Wissenschaft, Technik und Kunst, soweit
diese nicht gerade Formen des Gemein¬
schaftslebens gestaltet. Nichts aber
würde so sehr bedeuten, daß wir das
Beste deutschen Geistes aufgeben und
es machen wie die Franzosen, als wenn
Heißsporne heute verlangen, daß mit
der wachsenden staatlichen Vereinheitli¬
chung und Machtstellung des Deutschen
Reiches nun auch in sachlichen und
geistigen Werten Deutschland sich mit
Schranken der Konvention und des Na-
tionalstolzes umgebe, und daß wir ein
Kunstwerk künftighin loben, nicht weil
es gut sei, sondern weil es deutsch sei,
einen Gedanken, nicht weil er wahr sei,
sondern deutsch gedacht. Kein Volk hat
in strengerem Sinne eine Nationallite¬
ratur als die Franzosen, kein Volk ist
in höherem Sinne im Besitze der Welt¬
literatur als die Deutschen. So bleibt
von dem deutschen Weltbürgertum nur
die Welt, aber nicht das Bürgertum.
Die unpolitische, unstaatsbürgerliche
Gesinnung erschließt ihm diese Welt.
Derselbe unkonventionelle und un¬
zeremonielle Zug des auf Sachkultur ge¬
stellten Eigenlebens ist es, der mit dem
Weltgefühl auch das Naturgefühl des
deutschen bedingt. Der Deutsche geht
in die Natur hinaus, schon um allein zu
sein und aller gesellschaftlichen Kon¬
vention zu entfliehen. Draußen in der
Natur aber setzt ihn sein sachliches In¬
teresse sofort in Beziehung mit allen
Dingen, so daß er sich selbst daneben
vergißt, und wo dieses sachliche Inter¬
esse frei von allen Zwecken und Nutzen
sich betätigen kann, da befähigt es ihn,
sich hineinzufühlen selbst in die gleich¬
gültigsten Dinge, ein vom Winde be¬
wegtes Blatt, einen zitternden Halm
oder einen verkrüppelten Strauch. Der
Menschheitstypus, in dem wir diese
Gabe der Einfühlung in das Unschein¬
barste am höchsten verehren, heißt
Goethe. Wo aber der Deutsche die Ein¬
samkeit sucht, schafft sich der Fran¬
zose eine neue Konvention und Form
der Geselligkeit Das französische See¬
bad oder der französische Luftkurort
sind erst recht Stätten des Luxus und
raffinierter Geselligkeit Es sind Ge¬
legenheiten, vor einer nur der Gesellig¬
keit hingegebenen und enger als in den
Städten verbundenen Gesellschaft alle
Künste der Toilette zu entfalten und zu
glänzen. Die großen Momente des Le¬
bens im Freien, la vie en grand air, sind
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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
212
die Rennen in Longchamps, die große
Modenschau von Paris. In einer Litho¬
graphie macht sich Daumier darüber
lustig, daß sich inmitten einer heißen
baumlosen Sandebene ein Bourgeois ein
Landhaus gebaut hat, in dem er wie
der Adel auf seinen Schlössern seine
Freunde empfangen kann. Auch das
ist ein bezeichnender Zug des Land¬
lebens in Frankreich. Oder aber es
verhilft auch die Natur dazu, eine Rolle
zu spielen, indem man seine Überlegen¬
heit zeigt durch die ritterliche Betä¬
tigung an der Jagd. Dieses „edle“ Ver¬
gnügen ist in Frankreich Volksbelusti¬
gung. Ganze .Züge voll Männer mit
Flinten und Angelgeräten sieht man
Sonntags aus den Städten aufs Land
hinausfahren, während wir in der herr¬
lichsten Pyrenäenlandschaft in der Nähe
großer Städte nicht einen Spaziergän¬
ger trafen. Höchstens sieht man die
Automobile über die Landstraßen sau¬
sen, daß man meint, jeder kleine Bür¬
ger müßte in Frankreich sein Auto ha¬
ben, und sicherlich ist es jedes Fran¬
zosen Wunsch, denn hier kann man
sich wieder hervortun, sowohl in der
Kühnheit sportlicher Betätigung wie mit
dem Renommee des Besitzes.
Das Wesentliche bei dieser ganzen
Gesellschafts- und Geselligkeitskultur,
das man verstehen muß, um sie zu wür¬
digen, ist, daß ein ungeheurer Idealis¬
mus darin steckt, der um so grandioser
wirkt, je größer die Gemeinschaft ist,
und je stärker die Gemeinsamkeit der in
ihr Verbundenen, daß andererseits die
Gefahr in der Einseitigkeit ruht, die mit
diesem wie mit jedem Idealismus ver¬
bunden ist. Es bedeutet schon etwas,
daß jemand auf eine Menge von Be¬
quemlichkeiten verzichtet und sich be¬
ständig Gewalt antun muß, nur der
Achtung wegen, die er dafür von seinen
Mitmenschen erfährt, oder der Gunst
der Mächtigen wegen, deren er sich da¬
für zu erfreuen hat. Der französische
Ehrgeiz hat seinen Idealismus, der
selbst noch in der Toilette der Frau
zum Ausdruck kommt, die sich schnürt
und schminkt und selbst Schmerzen in
Kauf nimmt, um die gesellschaftliche
Rolle zu spielen, die ihr diese Mode
vorschreibt Wir brauchen ja nur an die
Entsagungen und den Zwang zu denken,
die die Standesehre und der Hofdienst
unseren Offizieren auferlegen. Das hat
aber nun seinerseits dazu geführt, daß
die Momente, in denen durch geselliges
Beieinandersein dieses Gefühl der Zu¬
gehörigkeit zur Gemeinschaft und die
Schätzung, die man in ihr erfährt, un¬
mittelbar lebendig werden, immer aufs
neue ausgebildet und verfeinert werden.
So wird Frankreich das Land der Feste,
der Kirchenfeste und Prozessionen wie
der Hoffeste und Ffites champötres. Es
klingt paradox und ist doch so, daß von
den religiösen Vereinigungen der mit¬
telalterlichen Mönche bis zum moder¬
nen Pariser Ballsaal eine einzige Ent¬
wicklungslinie führt. Die Kunst des
Wortes wie der Musik und Bildnerei
werden ebenso viele Mittel, für diese
Feste Stätten festlicher Stimmung zu
schaffen, Zeremonien auszubilden, in
denen das Gefühl der Unterwerfung
unter eine herrschende Macht wie der
Zusammengehörigkeit zum geregelten
und erhöhten Ausdruck kommt. Auch
da geht eine einzige Linie von den Pro¬
zessionen der Kluniazenser-Mönche über
das höfische Ballett und die militärische
Parade zum öffentlichen Tanzsaal. Nun
aber überwuchern diese Formen und
Feste und Zeremonien so und werden
so Selbstzweck, daß darunter schon die
Pflichten und Funktionen leiden, die
gerade aus dem besonderen Standesge¬
fühl und dem Rang, den der einzelne
in der Gemeinschaft einnimmt, sich her-
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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
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leiten, wie etwa die Pflichten des Herr¬
schers von denen der Repräsentation
überwuchert werden. Was wir heute, im
weiten Abstand von jener Zeit, als We¬
sen des Rokokos und zugleich feinste
Blüte französischer Kultur ansehen, die
ewig Feste feiernde Welt des Rokokos,
ist in gewissem Sinne bezeichnend für
Frankreich überhaupt Es rührt daher
die uns kaum begreifliche Sucht des
Franzosen, so früh wie möglich sich
ein Vermögen zu erwerben und als
Rentner von seinen Zinsen zu leben. Es
ist im Grunde das alte Ideal des Nur-
Gesellschaftsmenschen und die damit
verknüpfte Verachtung der Arbeit und
der nur sachlich bedingten Leistung,
das hier in einer lächerlichen Form sich
verallgemeinert hat Gewiß ist auch
darin eine gewisse Idealität, daß sich
der Mensch erst abschindet, um sich
hinterher zu langweilen, aber die Ge¬
fährlichkeit dieses Standpunktes leuch¬
tet ohne weiteresein. Denn daß es wirk¬
lich Standesrücksichten sind, die diesen
Zustand bedingen, nicht Aussichten auf
ein behagliches Dasein, geht daraus her¬
vor, daß der Mann so lange nicht mit
den Rentnern verkehren kann, die er be¬
dient solange er hinter dem Ladentisch
steht aber sofort wenn er selber Rent¬
ner geworden ist Aus demselben
Grunde verzichtet der französische
Bourgeois noch immer auf Komfort im
Hause, dessen einziger annehmbarer
Raum der Empfangssalon, der Gesell-
schaftsraum ist, dessen Räume aber um
so schmuckloser und notdürftiger wer¬
den, je mehr sie den individuellen Be¬
dürfnissen der Familie und ihrer ein¬
zelnen Mitglieder reserviert sind. Je¬
dem, der in Frankreich gereist ist, ist
ja bekannt, wie der Ort an dem man
nur allein sein kann, verwahrlost und
voller Unbequemlichkeit ist Auch hier¬
in ist eine Entwicklungslinie zu erken-
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nen, die von dem Kontrast zwischen
der Mönchszelle und den prächtigen
Gemeinschaftsräumen, den Refektorien,
Kreuzgängen und Klosterkirchen Frank¬
reichs ansetzt
Obwohl wir mit der französischen
Kathedrale und dem Salon auch die
gute Stube übernommen haben, empfin¬
det doch jeder, wie gerade die Pflege des
eigenen Heimes etwas spezifisch Deut¬
sches ist, und wie sich in der Sorgfalt,
die der Mensch den Dingen, mit denen
er sich umgibt, zuteil werden läßt, ein
eigentümlich deutscher Idealismus, der
des Sachverwalters kundgibt. Auch das
kann zur Lächerlichkeit werden, wie
das Rentnertum des französischen Bour¬
geois, wenn wir an die Hausfrau den¬
ken, die den ganzen Tag Staub wischt
und ihre ganzen persönlichen Bedürf¬
nisse hingibt, um Dinge, die ihr dienen
sollten, in Ordnung zu halten. Sein
Wert offenbart sich schon, wenn wir
an die alten norddeutschen Bauernhäu¬
ser denken mit ihrem gepflegten Haus¬
rat, wo die Dinge der Umgebung selbst
ein Wohlgefühl auszuatmen scheinen,
das sich auf uns überträgt, oder an die
gemütlichen Biedermeierstuben, in de¬
nen jedes Stück Möbel die Sorgfalt,
die ihm geschenkt ist, mit einem Lä¬
cheln zurückzugeben scheint. Und es
wird zu einer Art von sachlichem He¬
roismus, wenn nun aus dieser Hingabe
an die Sache heraus Pflichten des öf¬
fentlichen Lebens mit jener Gewissen¬
haftigkeit erfüllt werden, die nicht nach
dem persönlichen Nutzen fragt, son¬
dern nur danach, ob man die Sache
gut gemacht habe. Wie sehr gerade in
Gewissenhaftigkeit sachlicher Pflichten
die französischen Beamten hinter den
deutschen zurückstefaen, ist ja bekannt.
So halten die Ausländer den Deutschen
für unfrei, weil er sich ohne Murren
den polizeilichen Verordnungen fügt,
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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
216
die ihm auf Schritt und Tritt in Deutsch¬
land begegnen. Der Ausländer sieht
daran nur den Befehl, die Auslassung
der Obrigkeit, der Deutsche die sach¬
liche Ordnung, der zuliebe er sich
selbstverständlich der Verordnung fügt.
III.
Aus diesem Gegensatz von Gesell¬
schaftspflichten und Heimkultur ver¬
stehen wir auch die verschiedene Stel¬
lung der Frau in Frankreich und
Deutschland. Aus der* nordischen Hof¬
kultur heraus, d. h. aus der Tatsache,
daß sich das Gesellschaftsleben nicht
wie in der Antike vorzugsweise in der
Öffentlichkeit, sondern im Hause, im
Salon abspielte, hat die Frau als Herrin
des Hauses bald jene höfische Bedeu¬
tung erlangt, daß auch ihre Würde da¬
von abhängt, über wie viele sie herrscht,
von wie vielen sie verehrt wird, wie
viele ihr huldigen, und ebenso der Wert
des Mannes in der Gesellschaft, wie
vieler Frauen Gunst er erringt. Für die
Pflichten der Galanterie und Koketterie,
die beides spezifisch französische Worte
sind und uns etwas Tadelndes be¬
deuten, haben wir kein deutsches Wort.
Sie bedeuten auch hier die Einfügung
der Beziehungen von Mann und Frau in
die Regeln eines verfeinerten Gemein¬
schaftslebens und damit zugleich eine
außerordentliche Idealisierung dieses
Verhältnisses. Denn sie stellen nicht
nur wieder an Mann und Frau im Be¬
nehmen, in der Haltung, in der Klei¬
dung, im Ausdruck beständig gestei¬
gerte Ansprüche, für deren Kulturbe¬
deutung der höchste Beweis die franzö¬
sische Minnepoesie ist sondern sie ha¬
ben auch zu jener Ethisierung des gu¬
ten Tones geführt, daß in der Gesell¬
schaft alles vermieden werden muß,
was anstößig ist, d. h. was dieses all¬
gemeine Verhältnis der Galanterie zu
einem individuellen machen würde.
Darum haben sich auch hier für diese
Beziehungen Formeln, Zeremonien her¬
ausgebildet, von denen der Handkuß ja
auch bei uns noch als Zeichen des guten
Tones seine Bedeutung hat Für Frank¬
reich ist bezeichnend, daß Frauendienst
und Frauenkult das ganze Leben durch¬
dringen und überall zuerst das „Cher-
chez la femme“ ausgesprochen wer¬
den muß. Das Gesellschaftliche dieser
Galanterie gibt sich ja auch darin kund,
daß, je höher eine Dame in der Gesell¬
schaft steht, sie um so mehr die Ver¬
pflichtung hat, zu gefallen und sich ent¬
sprechend zu schmücken, und anderer¬
seits Anspruch auf Verdirung, wie im
Mittelalter die Schloßfrauen, die sich
ihre Hofminnepoeten hielten und sie
bezahlten. Das hat heute so wenig mit
ehelicher Treue zu tun wie damals.
Vielmehr bedeutet, ähnlich wie bei der
französischen Liebenswürdigkeit die
Freundschaft keinen Platz mehr hat,
so auch die Liebe, die individuelle und
heftige Empfindung nichts mehr, und
auch die Ehe wird, meist von den El¬
tern bestimmt, nur nach Standesrück¬
sichten geschlossen, ohne deshalb un¬
glücklich zu sein, denn das Glück be¬
ginnt ja erst beim Eintritt ins gesell¬
schaftliche Leben.
Weder die Vernunftehe noch die Ga¬
lanterie sind dem deutschen Leben
fremd, und gerade im Offiziers- und
Hofleben, dem größten unserer Residen¬
zen wie dem kleinsten auf unseren Rit¬
tergütern, sind sie durchaus zu Hause.
Es beweist das wieder, wie durch
und durch militärisch gerade die fran¬
zösische Kultur ist Aber als bezeich¬
nend deutsch empfinden wir doch
gerade das individuelle und sich des¬
halb ganz von der Welt abschließen¬
de Verhältnis von Mann und Frau, die
Alleinigkeit des Besitzes, und ein tie-
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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
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fes Gefühl, womöglich eine den gan¬
zen Menschen ergreifende Leidenschaft
als Grundlage der Ehe. Das kann na¬
türlich eine sittliche Vertiefung und
Innigkeit bedeuten, aber doch auch
einen Egoismus des Besitzes. Bedeut¬
sam wird es erst wieder durch die
sich daraus ergebenden sachlichen Auf¬
gaben gemeinschaftlicher Lebensfüh¬
rung, bei denen nach deutschem Her¬
kommen die Frau die Verwaltung des
Hauses und die Aufziehung und Er¬
ziehung der Kinder übernommen hat
Die deutsche Frau ist in erster Linie
Hausfrau, die französische Dame nicht
Nicht als ob die französische Frau eine
schlechte Mutter wäre. Im Gegenteil,
der persönliche Ehrgeiz erstreckt sich
auf die Kinder mit und aller Stolz und
alles Standesgefühl äußern sich in zärt¬
lichster Sorge um die Kinder. Deshalb
überläßt man doch die praktische Ar¬
beit bei der Aufziehung der Kinder,
wenn man es sich leisten kann, anderen.
Man gibt sie in den ersten Jahren aufs
Land zur Amme, ihre Gesundheit zu
kräftigen, französische Witzblätter sind
voll von Witzen über die komischen
Situationen, die sich aus dem Besuch
der natürlichen Mutter bei der Nähr¬
mutter ergeben. Dann kommt die
Schule, möglichst als Internat, und wie¬
der in einer Art Fortsetzung des
Klosterlebens. Durch möglichst viele
Examina wird dem Zögling Gelegenheit
geboten, den Sinn für das eine Rolle
spielen auszubilden. Bei allen mög¬
lichen Gelegenheiten gibt es einen con-
cours und Prämien. Es ist oft genug
m Frankreich darüber geklagt worden,
wie durch dieses Bildungssystem die
sachliche Vertiefung des Wissens zu¬
rücktritt hinter dem Glänzen mit Er¬
folgen. Das Resultat ist immer die Vor¬
bereitung für die Welt, der große Mo¬
ment besonders für das junge Mädchen,
der, wo sie in die Gesellschaft einge-
führt wird, um ihre Selbständigkeit zu
genießen, indem sie sich neuen Kon¬
ventionen unterwirft Wir denken uns
dagegen die deutsche Frau gerade in
der Fürsorge um das leibliche und
seelische Wohl ihrer Kinder auch da
noch selbsttätig, wo sie sich Bediente
genug für alles Häusliche halten kann.
Und auch bei unseren Landedelfrauen
spielt doch immer der Begriff einer
Frau hinein, die das Hauswesen in Ord¬
nung hält, die Mägde auszuschelten ver¬
steht und mit dem Schlüsselkorb um¬
hergeht Erst neulich berichtete ein
Ausländer von seinen Eindrücken in
Deutschland und sagte von der deut¬
schen Frau, daß sie eine Stellung wie
ein Dienstmädchen einnehme. Mit dem¬
selben Rechte hätte er auch sagen kön¬
nen, daß unsere Minister Arbeiter seien.
Es liegt dieser Einschätzung dieselbe
Verständnislosigkeit gegenüber den
sachlichen Werten, mit denen die freie
Persönlichkeit sich abgibt zugrunde,
mit der wir oft französische Verhält¬
nisse einfach als oberflächlich oder un¬
sittlich abtun. Obwohl auch wir das
Pensionat als letzte Vorbereitung der
höheren Tochter für die Welt kennen,
möglichst eins, in dem man Französisch
lernt, so ist doch die deutsche Erwei¬
terung der Stellung der Frau in der
Frauenfrage gegeben, der Berechtigung
zur sachlichen Betätigung im Beruf, und
nichts pflegen sich unsere Frauenrecht¬
lerinnen so sehr zu verbitten als Ga¬
lanterie. Das Verhältnis der französi¬
schen Frau zum Manne ist dagegen
noch immer das alte ritterliche, Schutz
des Schwachen durch den Stärkeren
und deshalb Unterordnung des Schwä¬
cheren, — das französische Recht hat
nicht die gleichberechtigte Stellung der
Frau innerhalb der Ehe wie das deut¬
sche — andererseits Herrschaft der Frau
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Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
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in der Gesellschaft, deren Mittelpunkt
sie bildet Eine Frauenfrage wie die
deutsche gibt es in Frankreich kaum.
Welche Bedeutung die Stellung der
deutschen Hausfrau und Mutter auch
für die Welt hat wird erst klar, wenn
wir daran denken, was an geisti¬
gen und sittlichen Kräften gerade im
Sinne der deutschen sachlichen Kultur
unsere Größten der Mutter verdanken.
Welche Bedeutung die deutsche Frauen¬
bewegung für die öffentliche Stellung
der Frau hat wird sich erst heraus-
steilen, wenn sich die Berufe so diffe¬
renziert haben werden, daß die Mit¬
arbeit der Frau am öffentlichen Le¬
ben nicht nur eine Konkurrenz für den
Mann, sondern eine so notwendige Er¬
gänzung wird, wie früher die Leitung
des Hauswesens. Welche ideelle Be¬
deutung aber und sittliche Erhöhung
der Stellung der Frau in dem franzö¬
sischen Frauenkultus liegt, besonders
gegenüber der antiken und orientali¬
schen Auffassung, das wird einem erst
deutlich, wenn man daran denkt, daß
dieser Frauenkult sich im Marienkult
zur religiösen Bedeutung hat erheben
können und die ganze Entwicklung des
Christentums im Katholizismus bedingt
hat. Man versteht nun, warum der Ka¬
tholizismus dem Franzosen näher liegt
als der Protestantismus. Denn im Ka¬
tholizismus des entwickelten Marien-
kultus, der hohen Zeremonien in den
festlichen Kathedralkirchen, der Hier¬
archie der Heiligen und der strengen
Bindung und Regelung des Denkens
und Glaubens haben wir die höchste
Entfaltung des französischen Geistes
überhaupt. Deshalb kann der Franzose
skeptisch sein, Verächter und Bekämp-
fer der Religion, aber nicht protestan¬
tisch. Denn das bedeutet ein indivi¬
duelles Verhältnis der Gläubigen zu
Gott, jeder sein eigener Priester, ein
unzeremonielles, deshalb auch unkirch¬
liches und vor allem eine Rechtferti¬
gung des tätigen Lebens im religiösen,
nicht eine Abkehr von jenem. „Mais le
protestantisme“, sagt Taine, „est contre
la nature du Frangais.“ Der Deutsche
tritt in die Öffentlichkeit defensiv, er
protestiert gegen den Zwang des Ge¬
meinschaftslebens, der Franzose aggres¬
siv, um selber den Zwang seiner Person
der Menge aufzuerlegen.
IV.
Daher ist die französische Kultur
eine durch und durch rhetorische. Der
Deutsche ist von Haus aus verschlossen.
Wenn wir daran denken, daß zum
Kommandieren auch Herrschergesten,
zum Predigen auch Gewalt der Worte
gehören, dann werden wir das positiv
Großartige der französischen Rhetorik,
und zwar sowohl in der bedeutenden
Geste französischer Porträts wie in den
Parlaments- und Volksreden verstehen.
Die kurzen zündenden Worte Napo¬
leons an seine Soldaten sind auch ein
Teil seiner Feldherrntaten. UndBossuets
Leichenreden sind künstlerisch nicht
weniger bedeutend wie die Rhetorik der
Türme französischer Kathedralkirchen.
Und eine ganze Kultur hat an den Wor¬
ten mitgearbeitet, die Viktor Hugo bei
seiner Rückkehr nach Paris am 5. Sep¬
tember 1870 sprach. (Berichtet von Wil¬
helm Cahn.)
„Die Worte fehlen mir, um auszu¬
drücken, wie sehr mich dieser herz¬
liche Empfang bewegt. Bürger, ich
hatte euch gesagt: ,An dem Tage, da
die Republik wiederkehrt, werde auch
ich wiederkehren.* Hier bin ich. Zwei
große Dinge rufen mich: Die Republik
und die Gefahr.
Paris retten, ist mehr als Frankreich
retten, das heißt: Errettung der Welt.
Paris ist der Mittelpunkt der Mensch-
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■ 221
heit Paris ist die geheiligte Stadt I Wer
Paris angreift, vergreift sich am Men¬
schengeschlecht!
Und wißt ihr, warum Paris die Stadt
der Zivilisation ist? Weil Paris die
Stadt der Revolution ist! Daß ein sol¬
cher Herd des Lichts, ein solcher Mittel¬
punkt der Geister, der Herzen und der
Seelen, das Hirn des Weltgedankens,
vergewaltigt, zerschmettert, im Sturm
genommen werden könnte, durch wen?
Durch einen Überfall von Wilden? Das
kann nicht sein, das wird nicht sein.
Nie, nie, nie!
Paris wird triumphieren! Durch Ein¬
heit werdet ihr siegen! Seid einig, und
ihr seid unüberwindlich! Laßt uns Brü¬
der sein, und wir werden siegen! Nur
durch die Brüderlichkeit retten wir die
Freiheit“
Wenn wir den französischen Aus¬
druck „Paris, c’est le centre du monde“
mit dem deutschen „Paris ist der Mittel¬
punkt der Welt“ vergleichen, dann will
uns scheinen, als ob in der französi¬
schen Sprache, im Wortschatz, Wort¬
klang, Rhythmus und Syntax schon
diese Rhetorik, das Hervorheben, Poin¬
tieren, Akzentuieren — unwillkürlich
greift man zu französischen Ausdrücken
—, sich objektiviert hat, als ob schon
der Klang, das Nasale, Sonore eine tö¬
nender« Wucht hineinbrachte, und es
muß doch einmal gefragt werden, ob
nicht auch das sich von den kirchlichen
Zeremonien mit ihren gesungenen Wor¬
ten herleitet. Und sicherlich hat die
Betonung der letzten Silbe etwas außer¬
ordentlich Aggressives. „En avant!“
Das Französische ist die geborene Kom¬
mandosprache. Der deutsche Satz ver¬
bindet, hebt nichts Einzelnes hervor,
sondern laßt die Bedeutung erst aus dem
sachlichen Sinn des Ganzen hervor-
gehen.
. Die deutsche Abneigung gegen diese
Rhetorik bezeichnet Satze wie die Victor
Hugos als Phrase. Unsere Unfähigkeit
aber zum rhetorischen Ausdruck hat
sich, zum Teil doch auch als wirk¬
licher Mangel, in diesem Kriege in den
Manifesten namhafter Männer gezeigt
Wie dem Deutschen aber die Gabe ab¬
geht, durch Worte und Pathos am rech¬
ten Orte Eindruck zu machen, und die
Eindruckskraft, den Gestus und die
Mimik der Sprache mitzubenutzen, so
wird es andererseits dem Franzosen
schwer, dort darauf zu verzichten, wo
sachliche Bedingungen die Produktion
bestimmen sollten, in Kunst und Wissen¬
schaft Der Franzose fühlt sich auch im
Denken und Dichten immer in Gesell¬
schaft oder von einer Menge umgeben,
auf die er Eindruck machen will.
„Die Franzosen verleugnen ihren all¬
gemeinen Charakter auch in ihrem Stil
nicht. Sie sind geselliger Natur und
vergessen als solche nie das Publikum,
zu dem sie reden; sie bemühen sich,
klar zu sein, um ihren Leser zu über¬
zeugen, und anmutig, um ihm zu ge¬
fallen.“ (Goethe-Eckermann, 14. April
1824.)
Es ist schon bezeichnend, daß nir¬
gends wie in Frankreich das Wesen
wissenschaftlicher Gesellschaften und
Kongresse ausgebildet ist. Wie Rang
und Titel setzt man auf seine Visiten¬
karte „Membre de la soci6t6 des Anti-
quaires de l’Ouest“. Audi diese sod6t6
hat ihr StandesgefühL „Nulle pari“, sagt
Tarne, „nous ne pensons mieux qu’en
soci6t6; le jeu des physionomies nous
exdte; nos id6es si promptes naissent
en feclair au choc des idöes d’autrui.“
Darum macht der Franzose bei Zitaten
in seinen Büchern immer zugleich eine
Verbeugung. „Mon savant confröre...
l’auteur trfes 6rudit de...“ Dieses Den¬
ken in der Gesellschaft hat sich auch in
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der Sprache ausgedrQckt. Wir sagen:
Abhandlung, der Franzose: discours; wir
sagen: Vortrag, der Franzose: Confe¬
rence. Wo wir in der Geistesgeschichte
Namen bedeutsamer Einzelpersönlich¬
keiten nennen, können die Franzosen
mit Stätten der Zusammenkunft auf¬
warten, das Hötel de Rambouillet, Port
Royal. Der französische Salon bedeu¬
tender Frauen ist für die französische
Aufklärung mitverantwortlich. Und aus
dem Salon hat sich auch die franzö¬
sische Akademie entwickelt, die höchste
und gesetzgebende Instanz des franzö¬
sischen Geisteslebens, in die der Aus-
erwählte mit großen Zeremonien aufge-
nommen wird, eine Art literarischen
Hofes, dessen Hauptaufgabe es ist,
durch Reinigung der Sprache Regeln
des geistigen Verkehrs einzuführen.
Auch wir haben Akademien, aber sie
sind im wesentlichen Vermögensverwal¬
terinnen zur Unterstützung von For¬
schungen, und wir wüßten nicht, daß
die Akademie das Ziel höchsten Ehr¬
geizes deutscher Gelehrter ist, um das
man sich bewirbt und um dessen Er¬
reichung man wochenlang bei den ge¬
rade herrschenden Akademikern anti¬
chambriert In Deutschland bedeutet
akademisch fast immer etwas Tadelndes,
den Gegensatz zu freier, ungehemmter
Schöpferkraft. Auch in der französischen
Kunst haben die Schulen und Konven-
tikel ihre Rolle gespielt, bei den Pamas-
siens, den Impressionistes. Verlaine ließ
sich, als eine Zeitschrift Photographien
von Dichtern in ihrem Heim haben
wollte, im Caf6 photographieren.
Auch das Zusammenarbeiten mehrerer
Autoren, Scribe und Augier, der Frferes
Gonoourt, läßt sich auf dieser gesell¬
schaftlichen Basis als etwas Französi¬
sches verstehen.
Darum nimmt in der französischen
Dichtung auch die Konversation einen
so breiten Raum ein, und das moderne
Konversationsstück ist die direkte Fort¬
setzung der klassischen Tragödie, für
die Radne verlangte die „action simple,
soutenue de la violence des passions
(Pathos I), de la beaut6 des sentiments
(Noblesse!) et de l’616ganoe de l’expres-
sion“, und noch wieder des geistlichen
Schauspiels des Mittelalters. Wer im
Stück redet, redet gleichzeitig zum Pu¬
blikum, wie der französische Schauspie¬
ler es tut, und die Gesellschaftsfähig-
keit seiner Sprache ist Pflicht, da er ja
nicht etwas Besonderes darstellen will,
sondern auf seinesgleichen Eindruck
machen will. Deshalb kann der Hof
in der klassischen Tragödie auf der
Bühne Platz nehmen, wie im Kabarett
das Publikum mitspielt, oder die Ritter
den Helden der Chanson de geste un¬
mittelbar Beifall spenden, und Priester
und Menge in Wechselrede das kirch¬
liche Fest vollziehen. Das Schauspiel
ist immer eine Art von gesellschaftli¬
chem Fest, und die Forderung der Ein¬
heit von Zeit und Ort ist nur ein Aus¬
drude dafür, daß sich das Schauspiel
innerhalb der Gesellschaft wie ein Stück
Wirklichkeit abspielt Deshalb ist es
auch üblich, wie in einer Gesellschaft,
sich nicht nach Anfang oder Ende im
Kommen und Gehen zu richten, son¬
dern nur etwa einen Akt des Stückes
im Theater anzusehen, immer aber in
großer Toilette zu erscheinen, um im
Foyer selber die Konversation weiter¬
zuspielen. Der deutsche Geschmack
wird am besten durch Lessings Kampf
gegen Voltaire und die Regeln von Zeit
und Raum illustriert. Wir verlangen
Handlung, Schicksal, Charaktere, und
für nichts so sehr die vollste Freiheit
und Einsamkeit als für die künstlerische
und wissenschaftliche Produktion. Zu¬
rücktreten der eigenen Person, Sich-
selbstvergessen erscheint uns selbstver-
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Original frorn
INDIANA UNIVERSITY
225
Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
226
stündliche Pflicht* gegenüber einem
künstlerischen Werk.
Wir wollen uns dessen Inhalt zu
eigen machen. Der Franzose will kriti¬
sieren, so wie der Schauspieler ge¬
fallen will und zum Publikum redet.
Die Deutschen sind deshalb nicht nur
die großen Übersetzer, Erschließer aller
Literaturen, auch das Problem der deut¬
schen Kritik ist immer wieder das einer
sicher gehenden Hermeneutik, von der
philologischen Interpretation bis zur
einffihlenden Nachdichtung des Impres¬
sionismus. Für den Franzosen besteht
der Genuß darin, Prädikate auszuteilen,
Schmeicheleien oder Boshaftigkeiten zu
sagen, wie im Klatsch gesellschaftli¬
cher Unterhaltung die Abwesenden
durchgenommen werden. Diese litera¬
rische und gesellschaftliche Kritik ist
in Frankreich selbst Literatur gewor¬
den, und Diderots Salon, Ste-Beuves
Causeries du Lundi sind den Künst¬
lern gegenüber etwas Ähnliches wie
Bossuets Leichenreden gegenüber den
Berühmtheiten seiner Zeit. Auch die
französische Philosophie ist in erster
Linie Gesellschaftskritik. Montaigne,
Montesquieu, La Bruyfere, Voltaire, alle
sind sie echte Vertreter französischen
Geistes durch diese Kritik von Welt
und Menschen. Ihr Denken ist politisch
und moralisierend. Ihre Psychologie ist
die des Weltmannes, der in der Gesell¬
schaft sich ein Urteil über menschliche
Schwächen gebildet hat, und wenn er
nun einmal nicht mehr mittut, sondern
nachdenkt, notgedrungen skeptisch ist.
Daraus ging in Frankreich eine eigene
Gesellschaftswissenschaft, die der So¬
ziologie eines Comte, Guyau, Tarde
hervor. Echt deutsch bemüht sich ein
Kant um die Rechtfertigung der Ob¬
jektivität der Welt, der Sachlichkeit,
und begründet anstatt der Menschen¬
rechte die Menschenpflichten, oder be-
Internationale Monatsschrift
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müht sich Hegel um die Systematik der
geschichtlichen Entwicklung des Gei¬
stes, und reine unpersönliche Wissen¬
schaft und Technik gedeihen auf deut¬
schem Boden am besten.
Ein französischer Naturgelehrter, sel¬
ber ein glänzender Stilist, Buffon, hat
es ausgesprochen: Le style est l’hom-
me. Das soll nicht heißen, im Stil er¬
faßten wir die Eigenart eines Men¬
schen, denn Stil heißt Beherrschung
der Ausdrucksmittel im Sinne des
Klassizismus, nicht individuelles Sich-
gehenlassen, und der ganze Satz be¬
sagt, im Stil, in der Ausdrucksweise
wirkt der Mensch, kommt seine Person
zur Geltung. Auf die Kunstmittel, die
Form kommt es an, nicht auf die
Sache. Daher auch in der Wissenschaft
der Konversationston, die rhetorische
oder witzig gefällige Wendung, das
Bemühen, klar zu sein, d. h. aber, sich
mit Schwierigkeiten, die der Leser nicht
fassen kann, überhaupt nicht abgeben.
Auch hier bedingt die gesellschaftliche
Verfassung leicht ein Umgehen von
Problemen, ein Sichrichten nach dem
Eindruck der Worte als Selbstzweck.
Die deutsche Formlosigkeit sündigt
demgegenüber gewiß oft in einer
Gleichgültigkeit gegen Schönheit und
Eleganz des Ausdrucks. Aber ein Vor¬
wurf sollte das nie dort werden, wo
die Schwierigkeiten eines Werkes auf
dem Mangel an Voraussetzungen be¬
ruht, die der Leser mitbringt. Klarheit
bedeutet uns nicht Leichtverständlich¬
keit, sondern sachliche Präzision, Treff¬
sicherheit des Ausdrucks. Kant seinen
verschnörkelten Stil vorwerfen heißt:
verkennen, daß hier Probleme einen
Ausdruck gefunden haben, auf die die
Sprache noch nie eingestellt wen, und
daß diesen Problemen gegenüber auch
Kants Stil eine ungeheure sprachliche
Leistung bedeutet, aber freilich weit
8
Original from
INDIANA UNIVERSITY
227
Richard Hamann, Deutsche und französische Kultur und Kunst
228
entfernt ist von gesellschaftlicher Ele¬
ganz und Klarheit Den Deutschen führt
der sachliche Zusammenhang zum Sy¬
stem und Lehrbuch, den Franzosen der
Konversationston zum Aphorismus, Es¬
say, zur Aufzeichnung von Erinnerun¬
gen, Briefen, Impressions, Causeries, die
man einem anderen in den Mund legt
wenn man sie von sich aus nicht äußern
will. Wieder denken wir an Montaigne.
La Bruyöre, Voltaire, Montesquieu.
Und noch einen anderen Sinn könnte
man diesem le style est l’homme ge¬
ben. Der Stil, das ist das groß Mensch¬
liche. Der Stil ist Zeichen von Kultur,
Gegensatz von Natur. Wen würde man
nennen, wollte man den großen Einzel¬
persönlichkeiten eines Kant Shake¬
speare, Goethe, Beethoven, Rembrandt
französische Namen entgegenhalten? Ei¬
nen Victor Hugo, einen Watteau, einen
Corneille oder Racine? Doch nicht.
Aber die Gotik, der Stil Louis XIV.,
das Empire. Frankreich ist das Land
der großen Stile. Die Zentralisation
des Lebens und der gesellschaftliche
Ausdrude haben bewirkt, daß Frank¬
reich in seinen Kulturschöpfungen jene
Einheitlichkeit aufweist, die wir Stil
nennen, und daß im Mittelalter, aber
auch seit den Tagen Ludwigs XIV.
die französische Kunst tonangebend für
den Stil Europas wurde. Denn das Be¬
deutsame ist immer, daß dieser Stil
wirklich Form des ganzen Lebens ist
Darum steht auch die Kunst voran, in
der sich das Leben abspielt, und die
auch eine Art der Menschheit ist, sich
zu kleiden: die Baukunst In der Bau¬
kunst haben die Franzosen, wie in der
Mode, ihren Geschmack, ihr Formbe¬
dürfnis offenbart Die Kunst ist eben
selber ein Hauptmittel, dem Leben der
Gemeinschaft Regel zu geben, es zu
steigern und zu erhöhen. Wieder sehr
im Gegensatz zu Deutschland, wo die
Kunst in erster Linie Ergänzung des
Lebens ist und gerade Erfindung, Neu¬
heit, das Genialische und Besondere gel¬
ten. Hier wird Kunst Befreiung vom
Zwang. Deshalb ist aber Frankreichs
Kunst und Kultur nur dort wahrhaft
groß und imposant wo sie sich auf ei¬
ner strengen repräsentativen und gesell¬
schaftlichen Ordnung des Lebens auf¬
baut, und in der Baukunst hat Frank¬
reich den erhabensten Ausdruck seines
Stiles hinterlassen. Es sind die Zeiten des
Mönchstums und des romanischen Sti¬
les, des Rittertums und der Gotik, des
Absolutismus und des Stiles Louis qua-
torze. Darin aber liegt zugleich ein
geschichtliches Urteil. Die Größe der
französischen Kultur liegt in der Ver¬
gangenheit Frankreich steckt noch
heute im ancien r6gime seiner klassi¬
schen Epoche.
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Original from
[ND1ANA UNfVERSITY
229 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 230
Gräfin Elise von Ahlefeldt
im Leben Lützows und Immermanns.*)
Von Harry Maync.
Um psychologisch ganz sicher und
richtig urteilen zu können, müßten
wir eine unzweideutige Beantwortung
der heiklen und unzarten Frage er¬
halten, ob die Liebe der beiden pla¬
tonisch geblieben sei oder nicht. Das
ist offenbar auch Gottfried Kellers Mei¬
nung: „Ich selbst durchschaue das
Iirnnermannsche Verhältnis nicht ge¬
nug — schreibt er an Elisens Biogra¬
phin —, um mir ein bestimmtes Urteil
zu bilden, und das, was mir zu einem
kurzen und bündigen Bescheide fehlt,
ist derart, daß man nicht wohl sich
darnach erkundigen kann." 28 ) Es ziemt
auch uns nicht, dem weiter nachzu¬
forschen, und so viel glauben wir auch
ohne das zu erkennen, daß der sehr
sinnliche Mann bei der entschieden un¬
sinnlichen Frau nicht einmal einen mä¬
ßigen Ersatz für die ersehnte Ehege¬
meinschaft fand und schwer und bitter
unter dem Aufreibenden und Entner¬
venden einer Leidenschaft litt, der das
natürliche Ziel vollen Sich-Auslebens
versagt war. Wieviel an Hingabe blieb
ihm die Geliebte schuldig, wenn sie
ihm in «ill den Jahren des Zusammen¬
lebens nicht einmal dasDuverstattete! 29 )
Grillparzers Seufzer über die Natur oder
vielmehr Unnatur seines Verhältnisses
zu Kathi Fröhlich, seiner „ewigen“
Braut, paßt auch hier: „Wir glühten,
aber ach, wir schmolzen nicht 1“, nur
daß hier, anders als dort, die Frau die
Verantwortung trifft. Mit Lenaus Schick¬
•) Siehe H. 1.
28) Ermatinger-Bächtold 452.
29) Vgl. das «Sie* bei Assing 144,155 u. ö.
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sal vergleicht Sophie Schwab 30 ) nach'
der Lektüre des Assingschen Buches
bedauernd das Immermannsche. Ge¬
wiß hat dieser sein eigenes Liebesieben
vor Augen, wenn er am Schlüsse seiner
„Ghismonda“ die Heldin sich des „gro¬
ßen Fehltritts" zeihen läßt, Liebe, wie
es noch keine gab, empfangen, und nur
Selbstsucht dafür gegeben, um des arm¬
seligen Rufes und äußerer Rücksichten
willen dem Zuge des Herzens Schran¬
ken gesetzt zu haben. So trifft auch die
Gräfin die meiste Verantwortung für
Immermanns Leiden und ihr eigenes
tragisches Geschick, das Keller darin
erkennt, daß „sie es zu vorsichtig, zu
vorsehungsartig uncLgut machen wollte
... anstatt wie die anderen Menschen¬
kinder das Glück auf dem geraden
Wege menschlicher Dinge zu wagen". 31 )
Aber auch Immermann trägt seinen
Teil der Schuld und hat das wieder¬
holt bekannt Wie klar und richtig
war die ganz allgemeine Darlegung
in seinem „Brief über die falschen
Wanderjahre" vom Jahre 1822: „Die
Verwirrnisse in der sittlichen Welt
entstehen aus zwei Quellen. Einmal, aus
den Stürmen der Leidenschaft und den
zügellosen Trieben verwilderter Her¬
zen; dann aber auch aus der Hart¬
näckigkeit, die sich für Charakterstärke
ausgibt, aus der Anhänglichkeit an einen
Begriff, wenn die Sache verschwunden
ist und aus der feigen Scheu, frühere
Irrtümer einzugestehen und sein Leben
30) Kerners Briefwechsel mit seinen Freun¬
den II 498f.
31) Ermatinger-Bächtold 452.
8 *
Original from
INDIANA UNtVERSITY
231 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben Lfltzows und Immermanns 232
stets wahr und natürlich zu leben.“
Nun aber sah er seinen Irrtum ein und
stellte ihn doch nicht ab, wurde sich
selbst untreu und ein Opfer seines
Schweigens, als er unhaltbaren Zustän¬
den Dauer gönnte. Nicht, daß er schlie߬
lich mit Elise brach, ist seine Schuld,
sondern daß er es zu spät tat. Auch
Keller, obwohl durch die schiefe Assing-
sche Darstellung einseitig gegen Immer¬
mann voreingenommen, gibt ihm in
einem Brief an die Biographin doch
hinsichtlich der Lösung recht. Launig
vertritt er seine unmaßgebliche Mei¬
nung, das ganze Unglück wäre ver¬
hütet worden, wenn der junge Mensch,
so Immermann hieß, sich nicht in die
Frau eines anderen verliebt hätte.
„Denn sosehr ich als Dichterling die
Leidenschaft zu erheben verbunden bin,
so sehr brauche ich für dieselbe auch
eine natürliche Grundlage der Zweck¬
mäßigkeit und Möglichkeit. Daß die
Gräfin nachträglich von Lützow ver¬
stoßen [!] und frei wurde, war für
Immermann bloß ein Zufall. Es gefällt
mir überhaupt schlecht, wenn junge,
noch unfertige Menschen ihre Augen
auf Frauen werfen; es ist eine ver¬
kehrte Welt, die sich an Immermann
dadurch rächte, daß er im Schwaben-
alter und als verpflichteter Mann erst
das tat, was er früher hätte tun sollen.“ 32 )
Der schwach gefügte Bund bricht nicht
mit einemmal zusammen. Wir sehen
ihn langsam allmählich zerbröckeln,
aber noch der stürzende sucht sich
krampfhaft zu behaupten. Er ging auch
nicht sowohl an äußeren Einflüssen,
als vielmehr letzlich an sich selbst und
seiner eigenen Unnatur zugrunde. We¬
der eine Ehe, noch eine Liebschaft, noch
eine Freundschaft, sondern ein Ge¬
misch von allen, konnte er keiner von
ihnen Genü ge tun. Es blieb eine halbe,
32) Ermatinger-Bächtold 455.
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eine unorganische und ungesunde Le¬
bensgemeinschaft.
In seinem Trauerspiel „Kaiser Fried¬
rich II.“ läßt Immermann den Helden
zu König Enzius sagen:
„Wo wc^re Liebe ohne Leidenschaft?
Und Leidenschaft, die man ums Ziel betrügt.
Ist fressend Feuer und ein ätzend Gift.“
Das feste Band der Ehe hätte auch
Auseinanderstrebendes zu halten ver¬
mocht Als Gatte Elisens hätte Im¬
mermann es leichter übersehen kön¬
nen, daß sie alterte, indes er selbst
als Mann in den sogenannten besten
Jahren auf der Höhe des Lebens stand,
wäre er auch gegen den Eindruck weib¬
licher Jugend mehr gefeit gewesen.
Eine Ehe hätte endlich auch nach außen
hin das Leben der beiden weniger ge¬
teilt verlaufen lassen. So aber bewegten
sie sich in eigenen Kreisen, die sich
nur zum Teil schnitten. In Häusern,
in denen die Gräfin nicht verkehrte,
fand Immermann Interessen und Be¬
ziehungen, die nicht auch die ihren wa¬
ren. Vor allem schenkte ihm das Glück
in der ebenso klugen wie liebenswerten
jungen Frau des Geheimen Obertribu¬
nalrats v. Sybel in Düsseldorf eine
neue, wahre Freundin, die ihm gemüt¬
lich mehr zu geben hatte als die Grä¬
fin und dieser damit, ohne es irgend¬
wie darauf anzulegen, bei ihm Abbruch
tun mußte. Mit Amalie v. Sybel ver¬
band ihn das unbefangene Verhältnis
vollen Verständnisses und vollen Ver¬
trauens, dessen er so sehr bedurfte;
diese natürliche Freundschaft wog für
ihn manches auf, was die unnatürliche
Liebesfreundschaft mit Elise an Span¬
nungen und Trübungen in sein Dasein
trug.
Des Prinzen Wort im „Auge der
Liebe“: „Mir ist nichts verhaßter als
ein Schwärmer; glaubt, ich bin ein der¬
ber Sohn der Erde!“ gilt auch für den
Original fram
INDIANA UNIVERSITY
233 H. Maync, Gräfin Elise von Ahiefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 234
Dichter selbst. Aber die sein Leben
teilte, war eine Schwärmerin, die in
einer eingebildeten Welt der Phantasie,
der Phantastik webte. Ihn hungerte
nach nahrhaftem Brot, und er sah sich
dauernd nur mit Kuchen abgespeist.
Als Schiller sich von Charlotte v. Kalb
Charlotten v. Lengefeldt zuwandte,
schrieb er: „Alle romantischen Luft¬
schlösser fallen ein, und nur, was wahr
und natürlich ist, bleibt bestehen.“ Das
mußte auch Immermann erkennen. Nur
allzubald hatte die Wesensverschieden¬
heit zwischen ihm und Elise sich in
Mißverständnissen und Verstimmungen
dargetan. Wie vielsagend ist die knappe,
verhaltene Eintragung des Dichters in
sein Tagebuch vom 6. Mai 1832: „Es
geht mir mitunter schlimm, die Launen
und Befangenheiten im Hause werden
oft sehr drückend und nötigen mir häu¬
fig ein ganz negatives Verhalten auf,
um die Tage im Elemente des Erträg¬
lichen zu halten. Ich bleibe aber doch
meistens ruhig dabei. Es ist eben die
Ernte, die aufgeht und weiter nichts.“
Dieses negative Verhalten war sein gro¬
ßer Fehler. Zu erklären sucht es ein
nach dem Bruch an Freund Schnaase
gerichteter Brief vom 12. September
1839 als eine Folge seiner „großen Ab¬
hängigkeit von der Gräfin“: „Sie war
mehrere Jahre älter als ich, sie stand
in der Sonnenhöhe einer schönen, klu¬
gen, vornehmen Frau, zu deren Erinne¬
rungen Könige und Kaiser gehörten, als
ich noch ein unbekannter junger Mensch
war. Dieses Unverhältnis blieb immer¬
dar, und während sie mich zu be¬
friedigen [?] 33 ) schien, behielt sie
doch eigentlich immer das größte Über¬
33) Zwei Briefe an Schnaase sind bei Rieh.
Fellner, Geschichte einer deutschen Muster¬
bahne S. 106ff. (Stuttgart 1888) gedruckt. Das
bat Kloevekom übersehen, als er sie in
seiner oben angeführten Schrift (S. 57ff.)
gewicht über mich. Ich habe mich vor
niemand je so gefürchtet, wie vor ihr.
Ich scheute mich daher durch katego¬
rische Erklärungen verletzende und wie
es schien fruchtlose Szenen herbeizu¬
führen. Ich schwieg, und dieses Schwei¬
gen hat sie über den Abgrund verblen¬
den helfen, der lange zu ihren Füßen
ausgehöhlt war. Wahrscheinlich würde
sie, wenn sie ganz bestimmt die Über¬
zeugung bekommen hätte, mich sonst
einzubüßen, mich in den letzten Jahren
auch geheiratet haben. Diese Überzeu¬
gung aber in ihr zu schaffen, hätte es
eines Helden bedurft, denn mit gewöhn¬
lichen Mitteln war auf sie nicht zu
wirken.“
Wir haben noch eine Reihe anderer
Zeugnisse Immermanns über die Zeit
des Zusammenlebens, bei denen frei¬
lich zu beachten ist, daß sie nach der
erfolgten Lösung niedergeschrieben sind
und zumeist in Briefen an die neue
Geliebte. Er spricht von „allen Täu¬
schungen, Sonderbarkeiten, zweideuti¬
gen Windungen verirrter Gefühle“, die
er an der Seite der Gräfin durchge¬
macht habe, und von der „Dürre und
Trostlosigkeit“ 34 ), in die er versunken
gewesen sei. Die „reine, echte, dauernde
Freude“ habe er nie an dieser Liebe
haben können: „Entzückungen hatte ich
wohl, aber keinen stillen Frohmut.
Immer war es mehr, als sei ein schöner
leuchtender Komet am Horizonte er¬
schienen, als daß man das Gefühl ge¬
habt hätte, die liebe warme Gottessonne
wäre aufgegangen.“ 35 ) Wiederholt 85 *)
ersetzt er das Wort Liebe durch Leiden¬
schaft, „weil der starken und heftigen
Empfindung von Anfang an viel Irres
nochinalsveröffentlichte. Beide Wiedergaben
weichen mehrfach voneinander ab, ich folge
im allgemeinen der Kloevekornschen.
34) Putlitz II 276. 35) Putlitz II 290.
35 a) Putlitz II 254, I 97 f.
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
235 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben Lützows und Immermanns 236
und Wirres beigemischt war. Unser
Verhältnis entwickelte sich meistenteils
von jeher nur in der Form des Kamp¬
fes zwischen zwei entgegengesetzten
eigenartigen Naturen, denen ganze Re¬
gionen des anderen Teiles dunkel und
unzugänglich blieben.... Ich darf mit
Wahrheit sagen, daß ich in diesen vier¬
zehn Jahren zwar oft angeregt, ent¬
zückt und hingerissen, nie aber
eigentlich glücklich gewesen bin,
fern sei es aber von mir, das, was mir
einst teuer war, und, wenn auch in
anderer Art, ewig teuer bleiben wird,
zu beschelten. Nein! Wenn ich litt, so
war es mein böser Stern, nicht die
Schuld der Armen, die ja oft gar nicht
wußte, wie tief sie mich verletzte.“ 36 )
An einer anderen Stelle gedenkt er der
„beklagenswerten Sicherheit“ ihres Da¬
hinlebens, ihres Wahns, er sei im
Grunde wohlbefriedigt: „Nun waren
freilich meine Verstimmungen und Trüb¬
sinnigkeiten, meine zunehmende Ent¬
fernung von ihr und mein stets genaue¬
res Anschließen an andere Menschen zu
interpretieren, dafür stellten sich denn
Redensarten von: ,der Männer Wankel¬
mut, Zerstreuungssucht, von der Her¬
zensleere der Autoren und Dichter 4 als
bereite Auslegungsmittel ein und bau¬
ten ein Schattenreich falscher Vorstel¬
lungen zusammen, welche die unglück¬
liche Frau in das Leid gebracht haben
und noch jetzt ihr tiefstes Unglück sind.
Ich hatte seit Jahren die Überzeugung,
daß mein Zusammensein mit der Grä¬
fin nur noch ein zufälliges sei und jede
wirkende Ursache den morschen Bau
zertrümmern könne.“ 37 )
5.
Gerade als die Gräfin ihr fünfzig¬
stes Lebensjahr vollendete, lieferte das
Schicksal dem Dichter den Beweis, daß
36) Putlitz I 97f. 37) Putlitz I lOOf.
er, obwohl selbst auch schon zweiund-
vierzigjährig und ergrauenden Hauptes,
doch noch Ansprüche an Jugendglück
machen durfte, denn immer ist ja, nach
einem Paralipomenon der Goetheschen
„Nausikaa“, „der Mann ein junger
Mann, der einem jungen Weibe wohl¬
gefällt".
Dieses junge Weib war nicht weniger
als vierundzwanzig Jahre jünger als
der Mann, dem sie bestimmt war, alles
Entbehren über Hoffen und Erwarten
hold zu lohnen. Im Bunde mit ihr
durfte der Dichter in reifen Jahren eine
zweite Jugend beginnen, deren Dauer
allerdings ein ungütiges Schicksal nur
allzukurz bemaß.
Marianne Niemeyer war gleichfalls in
Magdeburg aufgewachsen und in der
Familie Ferdinand Immermanns wie zu
Hause. So war sie auch dem Dichter
nicht fremd geblieben: „Marianne hatte
mir schon einen Eindruck gemacht“
sagt er in einem Briefe, „als sie, noch
halbes Kind, horchend mir gegenüber¬
saß mit gespannter Teilnahme, und ich
glaubte in ihren dunkelen, fragenden
Augen ein Schicksal zu lesen; aber seit¬
dem hatte ich ihren Namen oft gleich¬
gültig von den Meinen nennen hö¬
ren.“ 38 ) Schon lange mutterlos, lebte
sie seit dem kürzlich erfolgten Tode
ihres Vaters, eines angesehenen Arztes
und bedeutenden Menschen, bei ihrer
Großmutter in Halle, und diese feinge¬
bildete Frau war die Witwe des be¬
kannten Kanzlers der dortigen Univer-
tät und Leiters der berühmten Francke-
schen Stiftungen, mit dem auch Immer¬
mann als Student wiederholt in Berüh¬
rung gekommen war. Ferdinand Im¬
mermann hatte die Stelle des Vormunds
bei Marianne übernommen, und in sei¬
nem Magdeburger Hause traf der Dich¬
ter im September 1838 die damals
38) Putlitz II 223.
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Original frum
INDIANA UNIVERSITY
237 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 238
neunzehnjährige wieder. „Nie“, schreibt
er, „ist ein Eindruck rascher, reiner,
ruhiger gewesen.“ 39 )
Mehr denn zwei Wochen durfte er
damals neben ihr hergehen, aber schon
am zweiten Tage wußte er, was ihm
hier bereitet war, und alsbald ergab
auch sie sich dem Eindruck des festen,
fertigen Mannes, dessen starkes Herz
das ihre suchte. Sie war ihrerseits noch
rührend unfertig und eckig, nicht ohne
die Herbigkeit der unentwickelten Na¬
tur, aber auch von all dem keuschen
Zauber unverbildeter Jungfräulichkeit.
Sie war noch ein Kind an Leib und
Geist; sie war nicht schön, hatte nichts
Begeisterndes, Hinreißendes. Aber auch
das braune Mädchen mit dem gelben
Teint und der zu kurzen Oberlippe, oft
knabenhaften Mutwillens voll und un¬
behilflich der Außenwelt gegenüber,
war nach dem Goetheschen Worte, das
Immermann von ihrem Abbilde, der
blonden Lisbeth, braucht, eine Natur;
eine sicher wurzelnde, frei der Sonne
entgegenwachsende Pflanze, die schon
in frühen Keimen die gesunde Frucht
ahnen ließ. Ein starkes und glühen¬
des Kind nennt sie der Dichter und
erkannte sogleich in ihr den klugen
Sinn, der sich nicht umnebeln, den
festen, eigenwilligen Charakter, der sich
nicht gewaltsam umbiegen läßt. Un¬
harmonische Jugenderlebnisse hatten
ihr neben allem Frohsinn einen frühen
Ernst geliehen, ein heftiges Tempera¬
ment machte ihr zu schaffen. Ihrem
gleichfalls von Widersprüchen nicht
freien Charakter war dieser Mann dör
gemäßeste; hier konnte sie lernen, ohne
sich gemeistert zu fühlen, hier fort¬
schreiten, ohne sich zu verlieren. So
durfte der Dichter der so viel Jünge¬
ren die Hand zu bieten, so durfte sie
dem reifen, auf dem Gipfel des Le-
39) Putlitz II 224.
bens stehenden Manne, den ihre Nei¬
gung verjüngend ihr näher brachte, die
Hand zu reichen wagen, und dieselbe
Liebe, die seinem Leben als verklärende
Abendsonne leuchtete, war der Morgen¬
schein, unter dessen belebendem Glanz
ihr junges Dasein sich zuerst der Welt
öffnete.
Aber nicht rasch und leicht fügte sich
der Bund. Beide genossen zunächst,
ohne der Zukunft nachzufragen, das
Glück der täglichen Gegenwart im ver¬
trauten Kreise, bei der Lektüre der
ersten „Münchhausen“-Bücher und an¬
derer Immermannscher Werke, denen
das junge Mädchen sehr lebhaften und
freudigen Anteil entgegenbrachte. Es
freute sie, wenn der kluge Mann sprach,
daß sie verstehen konnte, wie er es
meine. Aber die rasch erblühte beider¬
seitige Neigung blieb unausgesprochen,
und gar an eine Ehe wagte, aus ver¬
schiedenen Gründen, keins von beiden
vorerst zu denken. Am Morgen vor
des Dichters Abreise gab ihm Marianne
die offen im Beisein der Familie er¬
betene Erlaubnis, an sie zu schreiben,
und er hinterließ dem Bruder noch ein
in der Nacht entstandenes Gedicht
für sie als Abschiedsgruß. Jetzt durfte
sie sich geliebt fühlen und wurde sich
ihrer Gegenliebe bewußt. Da war es
Ferdinand, der den Wünschen des teu¬
ren Bruders hemmend in den Weg
trat. Als Vormund Mariannens hielt er
es für seine Pflicht, von der seiner
Hut Anvertrauten Entsagung zu for¬
dern. Er weihte sie in des Dichters
häusliche Verhältnisse ein, stellte ihn
als einen Mann hin, der nicht frei über
sich verfügen könne, und erhielt dem¬
zufolge ihr Versprechen, vorderhand
von jedem Verkehr mit jenem abzu¬
sehen.
Karl Immermann reiste nach Ham¬
burg weiter, um dort verabredeter-
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
239 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 240
maßen mit der Gräfin, die ihre Fami¬
lie in Dänemark besucht hatte, zusam-
menzutreffen. „Ich ging zu ihr — sagt
er in seinem geheimen Tagebuche —
mit tiefem Mitleid und mit einem Schau¬
der über die Natur und Gestalt der
menschlichen Dinge. Aber ich spürte
keinerlei Reue, keine Beklemmung,
keine Verlegenheit in mir und würde,
wenn sie mir in den ersten Augen¬
blicken unseres Wiedersehens eine Ge¬
wissensfrage vorgelegt hätte, dieselbe
der Wahrheit gemäß beantwortet ha¬
ben. Ich muß also entweder der Ver¬
stockteste, Leichtsinnigste der Men¬
schen sein, oder es ist in den Vorgän¬
gen meines Herzens etwas Erlaubtes
und Berechtigtes.“ 40 ) Es schien ihm
indessen, so führt er ebenda weiter aus,
in diesem Augenblick unmöglich, mit¬
telbar oder unmittelbar an dem be¬
stehenden Verhältnis zu rütteln; aber
ebenso fest stand es auch für ihn, daß
er Marianne fortlieben müsse: „Ich habe
diese Liebe im Gemüt ergriffen, weil
ich sie im Gemüt ergreifen mußte. Sie
ist aus dem tiefsten und richtigsten
Bedürfnis entsprungen, rein in ihrer
Gestalt, bescheiden in ihren Ansprü¬
chen. Mir soll vorderhand genügen,
von Mariannen zu hören, hin und wie¬
der an sie zu schreiben. Beglücken
mich dann wieder einige Zeilen von
ihrer Hand, darf ich hoffen, sie wieder¬
zusehen, wie ich sie verließ, so bin ich
zufrieden.“ Wir sehen, er ist weit ent¬
fernt, sich Hals über Kopf dem neuen
Eindruck zuzuwenden, dem Glück, das
sich ihm so unerwartet gezeigt, sogleich
unbedenklich Tür und Tor zu öffnen.
Im Gegenteil, er sucht sich mit dem Ge¬
danken der Entsagung vertraut zu
machen: „Diese Liebe hat etwas von
der Dantes zu Beatricen, denn Jugend
und Natur werden Marianne ihren Weg
40) Putlitz II 236.
führen, ihr Bild wird mir vielleicht in
den Armen eines anderen Mannes aus-
löschen, ich sehe das vorher. Aber es
kann doch alles sich milde lösen, wenn
die Menschen nur nicht grausam an
dieser Blüte rütteln und zupfen.“ 41 )
Mit Elise zusammen reiste er von
Hamburg nach Düsseldorf zurück, mit
der Absicht (so schrieb er im nächsten
Jahre rückblickend an Schnaase), „daß
alles beim alten bleiben sollte“. 42 ) Und
als der „Freund“ der „lieben Marianne“
den in Aussicht gestellten ersten Brief
sandte, da sprach er zu ihr zwar innig
und warm, aber doch nicht, wie sie
hätte erwarten können, als ein Wer¬
bender, sondern mehr im freundschaft¬
lichen Ton des Magdeburger Zusam¬
menseins. Ihrem Versprechen getreu,
antwortete Marianne, die wieder nach
Halle zurückgekehrt war, nicht, aber
nach ernster Selbstprüfung bat sie den
Vormund, ihr das verpfändete Wort
zurückzugeben; sollte der Dichter auch
nicht ihr Gatte werden, so wollte sie
doch den Freund behalten. Ehe indessen
Ferdinand ungern die Erlaubnis erteilte,
den Brief knapp und gemessen zu er¬
widern, hatte Immermann in noch ern¬
sterer Selbstprüfung und harten Seelen¬
kämpfen seinen Entschluß gefaßt Es
war stärker als er; nicht bloß ein ver- v
späteter Johannistrieb, den er hätte aus¬
rotten können und müssen, sondern die
echte, große Mannesliebe, die nur durch
die ungesunden Bedingungen allzu¬
lange im Wachstum zurückgehalten
war. „Die Leidenschaft hatte sich“ —
wir können dies Wort seiner dreizehn
Jahre früher geschriebenen Novelle
„Der neue Pygmalion“ auf den Dichter
selbst anwenden — „zu spät bei ihm
eingestellt, als daß sie wie ein leichtes
Fieber hätte abgeschüttelt werden kön¬
nen.“ Jetzt fand er sich zu dem ange-
41) Putlitz II 237. 42) FeUner 107.
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Original fram
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241 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt
führten guten Grundsatz seines „Brie¬
fes über die falschen Wanderjahre“ zu¬
rück, jetzt lehnt er es ab (wie er es in
einem anderen Zusammenhang einmal
ausdrückt), etwas Falsches durchzu-
führen, um, wie man zu sagen pflegt,
konsequent zu bleiben und damit einen
Irrtum zu verewigen. 43 ) Aber wie in
seines jugendlichen Oberhof-Helden
Oswald feurigem Gemüt riß auch
in seiner unverbrauchten leidenschaft¬
lichen Seele diese Liebe, als eine wahre
und starke, tiefe Risse und Spalten,
ehe sie sich sicher in sein Leben ein¬
senken ließ. Am 16. November 1838
warb er bei Mariannens Großmutter um
die Geliebte: „In ruhelosen Tagen und
schlaflosen Nächten bin ich zur Klar¬
heit, zum Entschlüsse gekommen, mein
Gemüt hat ihn ausgetragen, wie ein
reifes Kind. Ich habe fest, stark und
unwiderruflich für mich den Wunsch in
mir empfangen, Ihre Enkelin die Mei*
nige zu nennen. Die Lösung der Frage,
ob meine ferneren Jahre sich in neuer
Jugend, in frischer Kraft entfalten oder
in Dumpfheit und Mißmut traurig ver¬
welken sollen, hängt von Mariannens
Ja oder Nein ab. Sie hat, weis mein tief¬
stes Bedürfnis fordert, und in ihrer jun¬
gen Brust trägt sie meine ganze Zu¬
kunft und die Lösung aller Rätsel, an
denen mein Leben sich bereicherte, aber
auch — blutete! Meine Liebe zu ihr
kann ich nur mit meiner ersten Ju¬
gendliebe vergleichen, gerade so voll,
ganz und warm fühl* ich mich ihr er¬
geben und gewidmet. Nachher traten
heftige und große Leidenschaften in
mein Leben; aber ich weiß, daß ein
Unterschied ist zwischen diesen und
dem, was ich jetzt nach einundzwanzig
Jahren wieder empfinde.“ 44 ) Außer mit
dieser ganz allgemeinen Anspielung be¬
rührte er weder in diesem, noch in
43) Putlitz II 267. 44) Putlitz II 239f.
im Leben Lützows und Immermanns 242
einem an Marianne selbst beigefügten
Briefe sein Verhältnis zur Gräfin mit
einem Worte. In ihrem mit Zustim¬
mung der Großmutter abgehenden Ant¬
wortschreiben verleugnete Marianne
zwar nicht ihre Neigung, verhehlte dem
Geliebten aber ebensowenig, daß seine
ihr bekannt gewordenen Beziehungen
zu jener anderen ihr die Annahme sei¬
nes Antrags nicht erlaubten. Und nun
gab Immermann der Geliebten rückhalt¬
los den vollen Einblick in seine Le¬
bensverhältnisse. Da wurden ihr Her-
zenswirmisse enthüllt, von denen ihre
Unschuld nichts geahnt hatte. In köst¬
lichen Briefen, die Schreiber und Emp¬
fängerin in gleichem Maße ehren, legte
der Dichter dem jungen Mädchen offen
dar, welche Wolken noch über ihrem
ersehnten Glück hingen. Da spülte,
nach dem schönen „Münchhausen“-
Wort, der Tag seinen Schaum heran,
das Bildnis des Liebsten zu verunreini¬
gen, und das Dumpfe, Sonderbare
pochte ans Tor, aber Iphigenien-Wahr-
haftigkeit und reine Menschlichkeit
sühnten menschliche Gebrechen; die
Schlacken fielen ab, tiefes Mitleid mit
dem geliebten Manne machte das Mäd¬
chen stark und treu und befreit von
großer Beklommenheit, durfte die Gläu¬
bige doch endlich sagen: „Das ist
nicht Oswald, das ist der Zufall."
Zunächst aber und für Monate hieß
es geduldig warten, denn die Gräfin,
völlig außer sich über des Dichters
Eröffnung, war nicht geneigt, einfach
den Platz zu räumen. Wir begreifen,
wie furchtbar der Schlag für sie sein
mußte. Um eines Kindes willen wollte
der Freund sie gehen heißen, der ihr
ein halbes Menschenalter in liebender
Verehrung angehört, dem sie ihr tiefstes
Seelen- und Geistesleben geweiht, der
den Inhalt ihres sich abwärts neigen¬
den Lebens gebildet hatte! Und Immer-
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Original frum
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243 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 244
mann, von ihrem leidenschaftlich aufbe¬
gehrenden Seelenschmerz innerlichst be¬
troffen, dessen, was er ihr dankte, voll
bewußt, und vor allem lange Zeit nicht
fähig, den Gedanken völliger Trennung
von der doch noch immer geliebten
Frau auszudenken, wagte nicht die letz¬
ten Folgerungen zu ziehen und über
sie hinwegzuschreiten. Ihr selbst viel¬
mehr überließ er die Entscheidung und
verurteilte damit sich und Marianne zu
Monaten bangen Harrens. Lange währte
es, bis sich Elise einigermaßen in die
neue Sachlage gefunden hatte und sich
zu klaren Entschlüssen durchzuringen
vermochte. Das Zusammenleben in
einem Hause bereitete ihr und dem
Dichter tiefen Schmerz und bittere Qual.
Mit unendlichem Mitgefühl war er
Zeuge ihrer Leiden, selbst leidend mit
ihr und darob in neuen Zwiespalt ver¬
strickt. Und in all diese Wirrnisse sah
sich die junge Braut mithineingerissen;
auch sie hatte Schwerstes durchzu¬
machen. „Nimm’s nicht übel, daß ich
Dir so viel vorklage“, schreibt ihr ein¬
mal der Verlobte. „Ich habe ja keinen
sonst, gegen den ich mein Herz er¬
gießen könnte. In meiner Seele sieht es
sonderbar aus. Wenn ich nur weinen
könnte, da würde mir besser werden.
Beweinen die verlorenen Jahre, die ver¬
dorbene Jugend, das tragische Men¬
schengeschick! Diese herrliche Frau,
dieses königliche Gemüt, und’so inner¬
lich elend geworden! In so vielen Din¬
gen so klar und vernünftig, nur in
einem Punkte unvernünftig, und darum
in das Leid geraten was Du kennst!“ 45 )
Ja, der Dichter glaubte zeitweilig wohl
gar, nur wenn Elise bleibe, dürfe Ma¬
rianne zu ihm kommen; teilen müsse
die Gattin mit den alten Ansprüchen
der Freundin! „Ich weiß recht wohl,
was ich an der Gräfin verliere. Mit
45) Putlitz II 290.
allen meinen Erinnerungen ist sie ver¬
wachsen, überall wird sie mir anfangs
fehlen. Ihr Schicksal geht mir nahe,
als sähe ich meine Mutter foltern. Eine
Wehmut wird mich noch oft ergreifen,
vielleicht zuweilen ein ungeheurer
Schmerz, und nicht eher werde ich ganz
glücklich an Deiner Seite sein, als bis
sie, versöhnt, gefaßt, mir, Dir und unse¬
rem Hause als Freundin angehören
wird.“ 46 ) Und als Marianne sich diesem
Gedanken in berechtigter Abwehr wider¬
setzte, erwiderte er ihr: „Mehr als mo¬
mentane Aufwallungen dürfen diese Re¬
gungen der Eifersucht und eines unan¬
genehmen Gefühls bei dem Gedanken
an eine mögliche dereinstige Nähe der
leidenden Frau nicht werden, denn Du
fühlst es, mein geliebtes Kind, daß die¬
ser Punkt Dir eigentlich als eine sitt¬
liche Pflicht gesetzt ist. Immer inniger
muß Dich die Überzeugung durchdrin¬
gen, daß ich Dich nur lieben durfte,
wenn ich in meiner Seele das unver¬
brüchliche Gelübde tat, jene Frau nicht
kalt und herzlos fallen zu lassen, daß
es also an Dir ist, Deinem Freunde in
tugendhafter Liebe die Haltung seines
Gelübdes zu erleichtern, es selbst mit
halten zu helfen.“ 4T )
Noch eine zweite Vertraute teilte
seine Leiden und Zweifel, seine Seelen-
und Gewissenskämpfe: Amalie v. Sybel.
Diese lebenskluge und herzenswarme
Frau, die auch der Gräfin freundschaft¬
lich nahestand und mit ihr zu fühlen
wußte, gewährte ihm Erleichterung durch
rückhaltloseste Aussprache und tropfte
immer von neuem Mäßigung dem heißen
Blute. Der Freundin vertraute er man¬
ches unverhüllt an, womit er die Braut
verschont. „Vergeben Sie mir, daß ich
Sie bekümmere. Ich habe ja aber sonst
niemand auf der Welt, bei dem ich
Trost finden kann.“ Er vergleicht seine
46) Putlitz II 255. 47) Putlitz II 275f.
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245 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 246
Leiden mit denen des Laokoon und
spricht von der „Raserei“ der Gräfin,
die sie ihm verursacht. Vor allem
hetzte sie, immer im guten Glauben
ihres Rechts, den Bruder gegen ihn auf,
der wiederum Mariannen bedrängte
und beunruhigte. Seine wohlgemein¬
ten, von einer etwas engbrüstigen Mo¬
ral getragenen „Predigten“ beantwor¬
tete der Dichter mit bogenlangen Nie¬
derschriften der Rechtfertigung und der
Abrechnung. Elise fuhr darin natur¬
gemäß nicht gut: „Sie können nicht
glauben,“ schreibt Immermann am
24. Januar 1839 an Frau v. Sybel, „wie
widerlich es mir ist, ein Lebensgebilde,
welches mir doch manches Gute trug,
so zu anatomieren. Die Poesie der Er¬
innerung geht damit ganz verloren. Ha¬
ben sie mich aber nicht Schritt vor
Schritt endlich dahin getrieben?“ 48 ) In
Briefen an Freund Schnaase nennt er
seine Verlobtenzeit wiederholt die
„wonnevollste und schrecklichste“ sei¬
nes Lebens, ein „furchtbares“ Jahr und
„schreckliche Tage“. 49 )
Wie ein von den Furien verfolgter
Orest erscheint uns der Dichter, doch
endlich löst sich der Fluch, schwin¬
det der Alb. Für ein Graf-von-Gleichen-
Verhältnis waren beide Frauen zu gut.
Und freiwillig weicht die über fünfzig¬
jährige Gräfin von der Schwelle. Wohl
fehlte es nicht an Klagen über Undank
und Verstoßung; aber sie war zu edel
und vornehm, um ihre Liebe in Haß
und Rachsucht zu verkehren, zu be¬
sonnen, um auf alte Rechte zu pochen,
die keine sittlichen Rechte waren. Am
17. August 1839 verließ sie Düsseldorf,
um in Italien Heilung zu suchen. Doch
selbst damit ist der Bann noch nicht
sofort gebrochen. „Ich habe meine
Freundin", schreibt Immermann an
Schnaase, „b is Coeln begleitet, unser Ab-
48) Fellner 104 ff. 49) Fellner 109 ff.
schied war der wehmütigste, und ich
habe hier ihrem Andenken die heißesten
Tränen meines Lebens geweint. Erst
wenn der Mensch abscheidet, weiß mein
ganz, was man an ihm besessen, und so
geschah es denn auch hier.“ So stark
war ihre Macht auf ihn, nicht nur auf
sein Pflichtgefühl und seine Dankbar¬
keit, sondern auch auf sein Herz! Zwei
Tage nach ihrer Abreise, einen Tag vor
der seinigen nach Halle zu Marianne,
schüttet er Frau v. Sybel sein zerris¬
senes Herz aus: „Ich muß es gestehen,
meine Empfindungen wandern mit der
Reisenden und nicht nach Halle. Viel
tun, so hoffe ich zu Gott, die Umgebung
und die schreckliche Einsamkeit, in der
ich leben muß. Das ist wenigstens noch
mein Trost. — Ich schicke Ihnen die
letzten Briefe Mariannens. Suchen Sie
aus den herzlichen Worten des lieben
Kindes und aus sich selbst mir Frieden,
Klarheit, Wahrheit zu bereiten und den
entsetzlichen Gedanken von mir zu ent¬
fernen, daß ich mich geirrt und den¬
noch nur immer die Gräfin geliebt
habe!... Mitunter will Marianne durch¬
brechen, wie die Sonne zwischen Wol¬
ken. Aber immer kommen die Wol¬
ken wieder vor. Es ist ein Zustand, un¬
beschreiblich, und der seltsamste Bräu¬
tigam, der je gewesen.“ 60 )
Erst die Nähe, der Besitz der Gelieb¬
ten verscheuchte für immer die düsteren
Schatten. Am 2. Oktober trat er mit Ma¬
rianne vor den Altar, und seine vita
nuova, die den Menschen wie den Dich¬
ter auf seine Höhe führt, hebt an.
6 .
Unsere Hauptquelle für dieses unge¬
heure, den ganzen Mann ein- und um¬
schmelzende Seelenerlebnis sind seine
bei Putlitz abgedruckten Briefe an die
Braut. Da malt kein schwärmender
50) Fellner 105f.
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247 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LOtzows und Immermanns 24$
Jüngling der Geliebten phantastische
Bilder von Blütenträumen, da bietet ein
in harter Lebensmühe und schwerem
Seelenleid zum Manne Geschmiedeter
einem neben ihm doppelt rasch heran¬
reifenden Mädchen seine späte Mannes¬
liebe ; nicht lodernde Glut, sondern dauer¬
hafte Wärme, Sein volles, sehnsüchtiges
Herz, sein tiefes,bisher nie ganz befriedig¬
tes Gemüt sind gefesselt,nicht durch den
geistigen Zauber einer hochstehenden
Frau, sondern durch echtes Weibtum.
Mensch will zu Mensch sich finden in
schrankenloser Hingabe. Kein Winkel
der Seele soll dem andern unbekannt
bleiben. Und so zieht hier der Mann
vor dem Weibe, mit dem er ganz eins
werden will, die Summe seiner Existenz
in eingehenden, nichts weniger als schön¬
färbenden Selbstschilderungen. Er zeigt
ihr, wieerzum widerspruchsvollen Cha¬
rakter ward, wie sich das Leben ihm
fügte und, nicht ohne eigene Schuld,
trübte und wirrte. Die Darstellung
seines vergangenen Liebeslebens zumal
wird hier zur Ohrenbeichte. Er legt
seine Weltanschauung dar, sein religi¬
öses Glaubensbekenntnis ab. Er ent¬
wirft seine Meinung über das Verhältnis
der Geschlechter, wonach der Mann der
positive, das Weib — und da hatte die
Gräfin ja versagt I — der hinnehmende
Teil sein und bleiben müsse. Dasselbe
Hohelied von Art und Wert und Hei¬
ligkeit der wahren Ehe erklingt hier,
das gleichzeitig in die Oberhof-Ab¬
schnitte des „Münchhausen“ eingeht.
Nur daß, was dort in reine Poesie um¬
gesetzt erscheint, hier stellenweis etwas
lehrhaft und maßgeblich zum Ausdruck
gelangt, entsprechend dem väterlichen
Gefühl, das Immermanns Liebe zu der
Braut beigemischt erscheint. Er führt
auch aus, was er von ihr erhofft, die er
mehrfach seinen guten Engel nennt, in
deren Armen er Heilung für die schwer
verwundete Brust ersehnt. Wir sehen,
wie aus dem Anschauen der Geliebten
des Dichters Weibesideal, die blonde
Lisbeth, sich gestaltet. Auch geistige
Lebensgemeinschaft erwartet er von der
Gattin, aber auf der natürlichen Grund¬
lage der rein menschlich-geschlechtli¬
chen. Und daß er nicht zuviel erwartet,
beweisen ihm ihre Gegenbriefe, in de¬
nen sie wissensdurstig und gelehrig,
dabei aber selbständig und nicht kritik¬
los auf alles eingeht, was er zur Spra¬
che bringt Wann und verständig ur¬
teilt sie auch über seine Schriften, die
sie sämtlich liest, um den Mann ihres
Herzens und ihrer Zukunft darin wie¬
derzufinden, und wo sie nicht folgen
kann oder anderer Meinung ist da
spricht sie es offen aus. Es ist kein hal¬
bes Kind mehr von ungetrübter Unbe¬
fangenheit das freudig sich anschickt,
die Schwelle der Ehe zu überschreiten;
ein junges Weib, reif und ernst über
seine Jahre, ist sich der ganzen Trag¬
weite seines Entschlusses bewußt. Von
dem tiefdunklen Hintergründe dieser
Briefe heben sich doppelt leuchtend die
Persönlichkeiten der Schreiber ab. Es
bedürfte nicht der ausdrücklichen Ver¬
sicherung Immermanns: „In den Brie¬
fen an dich, da bin ich ganz wie ich bin,
auf diese Briefe kann der ewige Richter
über mich das Urteil sprechen.“ 51 ) Diese
vertrauensvolle Offenheit wirkt an sich
schlechthin überzeugend und gibt die¬
sen menschlichen Zeugnissen einen ho¬
hen Quellenwert
Ebenso deutlich trägt die Darstellung
Ludmilla-Assings 5S ) den Stempel der
Voreingenommenheit und übelwollenden
Parteilichkeit an der Stirn. Die eifrige
Advokatin Elisens sieht in Marianne
nur den Störenfried und unberufenen
Eindringling. Sie sudit überall den Ein¬
druck zu erwecken, als sei Immermann
51) Putlitz II 242. 52) Assing 153ff.
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249 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben LQtzows und Immermanns 250
der fast wider seinen Willen und je¬
denfalls zu seinem dauernden Unheil
von Marianne Verführte, der Gräfin
abspenstig Gemachte. Marianne soll ihn
in Magdeburg durch auffallendes Ent¬
gegenkommen erst auf sich aufmerk¬
sam gemacht haben. Der Verkehr mit
einem so jungen Mädchen sei dem
Dichter „pikant und neu" gewesen, und
durch die kurze Bekanntschaft, die Ent¬
fernung, die Hast und Überstürzung
habe sein Verhältnis zu ihr „einen An¬
flug von Leidenschaftlichkeit“ erhalten.
Seinen ersten Brief habe sie „auf der
Stelle“ erwidert. Die Kanzlerin Nie¬
meyer wird als bekannte Heiratstifterin
hingestellt; sie habe Immermanns Wer¬
bung bei ihr veranlaßt und Marianne
„sogleich“ ihr Jawort gegeben. Bald
hätten mehrere Personen des Düssel¬
dorfer Kreises um die Verlobung ge¬
wußt, nur Elise nicht: „Immermann
wagte nicht Elisen zu gestehen, was
er getan; sein böses Gewissen nahm
ihm den Mut dazu.“ Von andern habe
sie es erfahren müssen; der Dichter
habe ihr schließlich nur scheu und feig
auf seinen Schreibtisch, den sie allein
zu ordnen pflegte, und dessen Papiere sie
sämtlich lesen durfte, einen Brief gelegt,
der ihr alles entdeckte. Über die Zeit
nach den ersten Stürmen, als der Dich¬
ter und Elise wieder scheinbar ruhig
wie früher nebeneinander lebten, schreibt
L Assing: „Immermann vertraute einem
Freund, wenn er sich das alles so vor¬
her vorgestellt hätte, er würde sich nie
zu der Heirat entschlossen haben! Nun
war es zu spät; er glaubte [1] sich ge¬
bunden.“ Schon auf der Hochzeitsreise
habe ihn die Enttäuschung überkom¬
men und die Reue gepackt. Er habe
Augenblicke der Verzweiflung empfun¬
den, in denen er mit Leidenschaft nach
Elisen verlangte; er habe auch Mari¬
annen veranlaßt, ihr zu schreiben und
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sie flehentlich zu bitten, zu ihnen nach
Düsseldorf zurückzukehren. Das sei
aber jetzt zu spät gewesen.
Davon ist so viel richtig, daß Immer¬
mann die Hoffnung nährte, Elise werde
nach der geplanten größeren Reise nach
Düsseldorf zurückkehren. „Nur auf dem
Boden der Erinnerung“, schreibt er
am 12. September 1839 an Schnaase 53 ),
„kann sich die Erinnerung ausheilen,
vom Herzen aus muß das Herz herge¬
stellt werden, die sittliche Tat, welche
von ihr verlangt wird, ist, daß sie ihr
Geschick als Geschick und nicht als
Verbrechen einesanderen begreifen lernt,
daß sie mich mit gutem Herzen als
besten Freund annimmt, das kann wie¬
der nur geschehen, wenn der Freund
ihr nahe ist.“ Und in demselben Briefe
lesen wir: „Habe ich die Katastrophe
nicht von ihrem Haupte abgewendet,
so stand es doch bei mir, gut zu ma¬
chen, inwieweit ich gut machen kann.
Damit ist zunächst das Gelübde ge¬
meint, welches meine seit vorigen No¬
vember erschütterte Seele getan hat —
Das Gelübde, immerdar ihr treuester
und innigster Freund zu bleiben und
kein Mittel unversucht zu lassen, wel¬
ches sie zu mir in diese heilige und
fromme Sphäre, versöhnt und beruhigt,
bringen mag. Nur unter dem Schirm
dieses Gelübdes habe ich mir Marianne
verstauet, und die Haltung desselben
gehört so notwendig und wesentlich
zu meiner Zukunft, wie meine Liebe
und Treue gegen Marianne. — Ob mir
mein Vorhaben (nämlich sie mir zu
versöhnen) gelingt, wer kann es wis¬
sen? Verletztes weibliches Gefühl ist
durchaus etwas Inkommensurables —
was wir aus unserm Gesichtspunkte
heraus uns in diesen Regionen zusam¬
menstellen, reicht nicht aus gegen die
nagende Empfindung einer Frau.“
53) Kloevekorn 69!. u. Fellner 1101.
Original frn-m
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251 H. Maync, Gräfin Elise von Ahlefeldt im Leben Lfitzows und Immermanns 252
Er hat der Gräfin Dank und Freund¬
schaft bewahrt, sie nie mehr ein har¬
tes Wort über ihn geäußert, aber wie¬
dergesehen haben sie sich nicht 54 ) Mit
ihrer Freundin Johanna Dieffenbach
und deren jungem Freunde Philipp
Kaufmann bereiste die Gräfin Ober¬
italien bis Florenz hinunter und Tirol.
Anfang 1840 nahm sie ihren festen
Wohnsitz in Berlin. Alte und neue Be¬
kanntschaften mit wertvollen Menschen
wie Cornelius, Rauch, Wilhelm v. Hum¬
boldt Tieck, Steffens, Beuth, Raumer,
Krummacher, Gustav zu Putlitz, Fedor
Wehl, beseelten und vergeistigten ihr Le¬
ben mit edler; kunstgeweihter Gesellig¬
keit Der Zauber ihres Wesens blieb ihr
treu; auch soll ein dänischer Graf noch
um ihre Hand angehalten haben. So
verbrachte sie, wenn auch mehr be¬
glückend als beglückt, einen friedlichen
Lebensabend. Tief erschütterte es sie,
als schon im August 1840 ein jäher
Tod den ehemals geliebten Freund hin¬
wegriß. Über seiner Bahre reichten sich
Elise und Marianne aus der Ferne die
Hand und traten in einen fortgesetzten
brieflichen Verkehr. Und wie die Gräfin
des Dichters Mutter und Geschwistern
treu verbunden blieb, so erwies sie
dauernde warme Teilnahme auch sei¬
ner Waise, die Marianne selbst ihr zu¬
führte. Der versöhnende Ausklang fehlt
also nicht Elisens letzte Jahre waren
durch Leiden getrübt die doch ihren
Sinn und Geist nicht mitzutrüben ver¬
mochten. Am 20. März 1855 ging sie
hinüber.
54) Am 21. Mai 1840 schreibt der gemein¬
same Freund Konsistorialrat Möller an Elise:
„Ich komme nach einiger Zeit nach ... Düs¬
seldorf. Dort werde ich Immermann von
Ihnen erzählen und auch, was Sie ihm ge¬
sagt wünschen, in zarter Weise mitteilen.“
(Assing 284.) Den Inhalt dieser Mitteilung
können wir nur mutmaßen.
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7.
Es ist ungerecht, wenn nach Elisens
Tode Marianne als Biographin ihres
Gatten in ihr den bösen Genius des
Dichters erblicken wollte. Hatte doch
Immermann selbst seiner Frau gegen¬
über betont, daß die Gräfin neben dem
Widersinnigen und Zweideutigen, das
sie in sein Leben gebracht, ihm doch
auch in unendlich vielen Beziehungen
die reichste Fördemis gegeben, ihn
überhaupt erst zum Manne gemacht
habe. 55 ) Marianne war gereizt durch Lud¬
milla Assings voraufgegangene öffent¬
liche Beurteilung, die noch weit unge¬
rechter ist: mit Elisen sei sein guter
Genius von dem Dichter gewichen, die
begeisternde Muse von ihm ent¬
flohen! 56 )
Die Sache liegt doch vielmehr so.
Wenn der Dichter in letzter Stunde
noch die höchsten Stufen erklomm,
seinem letzten großen Werk, dem
„Münchhausen", eine Seele einzuhau¬
chen vermochte, die so gut wie alle
seine früheren Werke vermissen ließen,
so dankt er das ohne jede Frage Ma¬
riannen und ihrem Eintritt in sein Le¬
ben. In den „Epigonen“ war es ihm
noch nicht gelungen, den schönsten
dichterischen Stoff zu meistern, in vol¬
ler beglückender Wesenheit das Weib
55) Putlitz I 101.
56) Assing 163. 167. Schon auf S. 2 ver¬
sichert sie, Immermanns Lorbeer wäre ohne
den Sonnenschein von Elisens Nähe nie so
schön erblüht. — Hebbel berichtet am 16. Sep¬
tember 1843 (Briefe II286) an Elise Lensing:
Heine behauptete von Immermann, „er habe
sich dadurch getötet, daß er das jahrelang
bestandet^ Verhältnis mit derFrau v.Lützow
aufgehoben und ein neues mit einer jungen
Person angeknüpft habe. Der Tod, sagte er,
ist nicht so zufällig, als man denkt, er ist
das Resultat des Lebens, und man bedenke
sich wohl, wenn man in späteren Jahren
noch eine Haupt-Veränderung machen will.
Das finde ich außerordentlich wahr.“
Original frum
INDIANA UNIVERSITY
253
Nachrichten und Mitteilungen
254
darzustellen. Cornelie hatte — von dem
mignonhaften Literaturwesen Flämm-
chen sehen wir ganz ab — zu viel vom
blumenhaften Engel, Johanna zu viel
von der hohen Königin. Die schlichte
Natur, von wahrer Liebe umgoldet, war
in sein Dichten noch nicht eingegan¬
gen, weil sie das Lebfen ihm noch nicht
gesellt hatte. Nun wurde auch ihm
noch die Erfüllung, erblühte auch ihm
noch die schönste Blume des Daseins,
die den Künstler ja stets mit zwiefacher
Frucht begnadet: das Weib, das sein
Herz erfüllt und sein Leben beglückt,
weist als Muse zugleich dem dunklen
Künstlerdrange den rechten Weg, es
verkörpert sich selbst durch geheimnis¬
voll-mystische Transsubstanliation in
seinem Werke. Der Schritt von Cor-
nelie und Johanna zur blonden Lis-
beth, der zugleich der Schritt von dem
vielfach noch schemenhaften Zeitbilde
der „Epigonen“ zu dem selbgewachse-
nen, naturwahren und lebenswarmen
Oberhofidyll des „Münchhausen“ ist,
dieser Schritt konnte nicht getan wer¬
den, ohne daß eine reine, erlaubte
Liebe, der die natürliche Erfüllung
ward, dem Dichter die Hand reichte,
ihn aus Schlinggewächs und Moder¬
grund zu heben.
Nachrichten und Mitteilungen.
Becker, C. H., Das türkische Bildungs¬
problem. Bonn 1916, F. Cohen.
Hunderttausende treiben jetzt praktisch
Völkerkunde; man denkt in Kontinenten.
In Fürst Bismarcks „Gedanken und Er¬
innerungen“ ist davon noch weniger die
Rede; mehr bereits in Graf York v. Warten-
burgs „weltpolitischen Umrissen“, welche
knapp ein Jahrzehnt später als jene er¬
schienen. — Wertvolle Einzelschritten zur
Seelenkunde derjenigen Völker, welche
zur Zeit unsere Freunde oder Feinde bil¬
den, gibt es trotz der großen Nachfrage
danach wenige; so konnte ich bei einem
dienstlichen Aufenthalt in Sofia in der
Bibliothek der „deutschen Kolonie* kein aus¬
giebiges Werk über Bulgarien auftreiben.
Ähnlich stand es mit der Türkei; im Laufe
des Krieges sind aber die so erwünschten
Bücher entstanden, so durch Reinh.
Junge, C. F. Endres, Ewald Banse,
P. Krause u. a. Eine bedeutsame Ergän¬
zung dieser Werke bildet, weil in die tief¬
sten Gegensätze zwischen Abend- und Mor¬
genland einführend, die Bonner Kaiserge-
burtstags-Rede des Islamisten C. H. Becker.
Der Orient hat eine alte selbständige
Kultur scholastisch-mittelalterlicher Art; der
Obergang derselben zur Neuzeit vollzieht
sich vor unseren Augen. Was haben wir
Deutsche als Helfer in dieser Krisis zu tun?
Die Türkei ist kein Nationalstaat etwa
wie Japan, sondern ein Nationalitätenstaat.
% des Osmanischen Reiches haben aber
dieselbe Religion, den Islam, und damit
dieselbe Grundlage ihrer geistigen Ver¬
fassung; letztere ist besonders wirtschaft¬
lich der abendländischen unterlegen; es
fehlt die Beweglichkeit.
Können überhaupt oder sollen die 15
Millionen Islambekenner in der Türkei oder
gar die 200 Millionen Muhammedaner ins¬
gesamt moderne Menschen werden und
wenn, auf welchen Wegen?
Spätes Griechentum, iranisch-persische
und jüdisch-christliche Gegenströmungen,
allenfalls buddhistische Einflüsse waren bei
der Bildung des alten Islams tätig; das zu¬
erst genannte Element am stärksten, ins¬
besondere dessen Intellektualismus. Das-
griechische Gelehrtentum in alexandrini-
scher Einseitigkeit und Bindung und das
religiöse Gebot, im Koran verankert, bilden
die Mittelpunkte; hierbei ist die Wissen¬
schaft die Magd der Theologie wie in un¬
serem deutschen Mittelalter. Die islami¬
sche Pflichtenlehre (Scheria—das religiöse
Gesetz) und die Mystik, ihnen untergeord¬
net Dogmatik und Philosophie, beherrschen
aber noch heute die Welt des Ostens etwa
wie bei uns in den vorlutherischen Zeiten.
Die religiöse Reglementierung des Lebens
+ Mystik führten, weil in der modernen Zeit
unausführbar, zu einer Kluft zwischen Ge-
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
255
Nachrichten und Mitteilungen
256
setz und Wirklichkeit, d. h. zu laxer, indo¬
lenter Lebensauffassung, zur Unterhöhlung
der Pflicht selbst. Das Arbeitsbedürfnis
machte der Beschaulichkeit und Träumerei
Platz. Der bei uns ja auch noch nicht ganz
überwundene Kurialstil, ein entsetzlicher
Formalismus treten hinzu; der türkische
Beamte »spiegelt sich in der Tinte“, wie
Bismarck von seinem Gegner Gortschakoff
zu sagen pflegte.
Aus diesen immanenten Widerständen
kann man die Langsamkeit des Eindringens
abendländischer Einflüsse in den Osten in
alter und neuerer Zeit erklären, aus ihnen
auch die Prognose stellen und die Schwie¬
rigkeiten der Zukunftswege ermessen. 1869
wurde schon eine Bildungsreform (Univer¬
sität und Volksschule) in großem Stil ver¬
sucht. Vieles steht heute noch auf dem
Papier; Geldmangel, Passivität der nachge-
ordneten Beamten! Französische Überset¬
zungen, französische Zeitungen wirkten
bisher noch am stärksten. In den Schulen,
in der katholischen Kongregation und der
mission lalque, etwa unserem deutschen
Schulverein vergleichbar, wurde die fran¬
zösische Sprache gefördert, in ihr kann sich
der gebildete Orientale üben, gewisse
Dinge, z. B. der Technik oder Politik, leich¬
ter ausdrücken als in seiner Muttersprache;
letztere ist noch nicht beweglich genug.
Damit kam der französische Firnis in den
Osten (Moden,Leichtfertigkeit, „Aufkläricht“),
kurz das, was man auch Levantinertum
nennen kann.
In neuerer Zeit tritt der türkische Natio¬
nalismus als Gegensatz auf (Turanismus):
Zurück zur völkischen Literatur! geht der
Ruf. Die Wissenschaft des Abendlandes
klärte den Osten über seine eigene große
Vergangenheit auf; als Bagdad und Cor¬
doba in Blüte und Kultur standen, herrschte
bei uns noch Inquisition und Scheiterhaufen.
Daß die Selbständigkeit und Arbeit des
Einzelmenschen den Europäer aufwärts
getrieben, daß wir uns staatlich und religiös
ungeheuer differenzierten und entwickelten,
übersieht der Orientale dabei. Er neigt
auch dazu die augenblicklichen großen mili¬
tärischen und politischen Erfolge seines
Volkes zu überschätzen in ihrer Bedeutung
für die geistige Hebung der Massen, wel¬
che nur durch jahrzehntelange phantasie-
freie, stetige Binnenarbeit zu schaffen ist.
Aber diese Geistesverfassung muß der
für deutsche Kultur im Orient Kämpfende
fest im Auge behalten; er muß selbst erst
den Orient zu ergründen und Hand in
Hand mit den Orientalen zu wirken suchen,
nicht ihn erdrücken wollen. Stetige Ent¬
wicklung in gemeinsamer Arbeit auf natio¬
nal-türkischer Basis — das ist das schwere
deutsche Zukunftsprogramm im Osten;
bitter not ist ein türkischer Volksschul¬
lehrerstand; 24000 syrische Kinder sind
durch den Krieg schulfrei geworden. Boden¬
ständige Reform der türkischen Bildung,
welche aus der Buchgelehrsamkeit heraus¬
zubringen ist und zur Freiheit, zu eigener
Anschauung zu erziehen ist. Historisch-
kritische Methoden müssen an türkischer
Überlieferung mit Vorsicht geübt werden
und langsam zu der noch völlig fehlenden
Selbstzucht des Denkens führen.
Noch schwieriger ist der Schlußstein des
türkischen Bildungsproblems, d. h. der mo¬
derne Arbeitsgedanke, welchem Überlie¬
ferung, Klima, Bedürfnislosigkeit, Steuer¬
system, Frauenfrage. Beamtentum u. a. ent¬
gegenstehen. Vielleicht wälzt diesen Stein
des Sisyphus, aber mit anderem Erfolg als
in der Sage, das osmanische Genie, das
irgendwo sich schon entwickelt Vielleicht
die harte Not.
Der Alt-Türke hatte keine „Zivilkourage“
(Bismarcks Lieblingsausdruck); auf die Des¬
potie als Folge des Trockenklimas, weil
Wasserversorgung nur durch Zentrokratie
möglich ist, weist B. nach Reinh. Junges
(Das Problem der Europäisierung tür¬
kischer Wirtschaft, Weimar 1916) Vor¬
gang hin.
Und noch eine Bemerkung zum Schluß:
Zwischen Konstantinopel und den Provin¬
zen ist ein himmelweiter Unterschied; Dr.
Lamec Saads Buch (16 Jahre als Quaran-
tänearzt in der Türkei bei Dietr. Reimer
1913) erhärtet das.
Victor Hehn betitelt in seinem klassi¬
schen »Italien* eines der Kapitel: »Rat¬
schläge, die nicht im Baedeker stehen; für
denjenigen, der in den Orient als Pionier
deutschen Wesens in höherem Sinne zieht,
wüßte ich keine kürzere und keine bessere,
vor Enttäuschungen und Entgleisungen
schützende Vorbereitung als die Beckersche
Rede. B. Laquer-Wiesbaden.
FOr die Schriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlceltus, Berlin W30, Luitpoldstraße 4.
Drude von B. O.Teubner ln Leipzig.
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[INDIANA UNIVERSITY
INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
11. JAHRGANG
HEFT 3 1. DEZEMBER 1916
Miguel de Cervantes.
Von Heinrich Morf.
Von Miguel de Cervantes ist im letz¬
ten Frühjahr auch bei uns viel die Rede
gewesen. Man hat aus Anlaß der drei-
hundertesten Wiederkehr seines Todes¬
tages, zu Ende April, in Feuilletons und
Sonntagsblattern seiner gedacht und
auch Gedenkfeiern abgehalten. Doch
galt diese Erinnerung fast ausschlie߬
lich seinen Büchern. Cervantes selbst
verschwand hinter seinen Helden, der
Künstler hinter seiner Schöpfung. Von
seinen Lebensschicksalen wurde wenig
mehr berichtet, als daß er bei Lepanto
verwundet, nachher in algerische Ge¬
fangenschaft geraten sei, auch später in
mißlichen Verhältnissen gelebt und so¬
gar mit dem Gefängnis Bekanntschaft
gemacht habe. Cervantes verdient es
aber wohl, daß die, die sich an seinen
Geschichten ergötzen, ihn auch als Men¬
schen näher kennen lernen. Und so
soll hier post festum von seinem Leben
die Rede sein.
In der kastilischen Universitätsstadt
Alcalä, in grüner Talebene am Henares,
einige Wegstunden östlich von Madrid,
ist am 9. Oktober 1547 Miguel de Cer¬
vantes getauft worden. Seinen Geburts¬
tag kennen wir nicht Für die Anschau¬
ungen jener Zeit bedeutet der Eintritt
in die kirchliche Gemeinschaft die
wiikliche Geburt des Menschen.
Über Spanien gebot zur Zeit Kaiser
KarlV., in dessen Reich die Sonne nicht
unterging. Was bedeutete damals in
diesem Weltreich der kleine Junge eines
obskuren Wundarztes.... aber das Reich
Karls V. ist längst in Trümmer gegan¬
gen, während in dem Weltreich des
Geistes, das jener bescheidene Sohn
kastilischer Erde sich gründen sollte,
die Sonne heute noch nicht untergeht
Die Familie läßt sich nur wenig weit
zurückverfolgen. Man begegnet in einer
Urkunde von 1533 einem Juristen Juan
de Cervantes, der mit einiger Wahr¬
scheinlichkeit als Miguels Großvater an-
gesprochen wird. Sein Vater Rodrigo
war, wie gesagt, ein bescheidener Wund¬
arzt unbemittelt, aber kinderreich, des¬
sen berufliche Tätigkeit durch Taubheit
behindert war.
Miguel war das vierte von sieben
Kindern; er hat drei Brüder und drei
Schwestern. Der Bruder Rodrigo und
die beiden Schwestern Andrea und
Magdalena spielen in seinem Leben
eine besondere Rolle.
Ist Miguel in Alcalä herangewachsen
und gebildet worden? Wir wissen es
nicht Wir wissen nichts über die er¬
sten einundzwanzig Jahre seines Le¬
bens — nichts. Wir finden in diesen
zwei Jahrzehnten einige urkundliche
Spuren des Vaters Rodrigo oder einzel¬
ner Familienglieder in Alcalä, Vallado¬
lid, Sevilla, Madrid. Diese letztere Stadt
scheint in den sechziger Jahren der ei¬
gentliche Wohnort der Familie gewesen
zu sein. Aber über den jungen Miguel
berichtet während 21 Jahren kein Do¬
kument Solch urkundliches Dunkel
9
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
259
Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
260
liegt auch noch über manchem späte¬
ren Jahre seines Mannesalters, und es
ist kaum zu hoffen, daß die Archive
Spaniens noch viel Neues hergeben
werden, nachdem C. P6rez Pastor
die große Ernte seiner Documentos Cer-
vantinos hasta ahora inöditos (1897 bis
1902), 161 Stücke, eingebracht hat. 1 )
Diese Dokumente lehren uns freilich
kaum neue literarische Tatsachen. Sie
sind Zeugnisse der Wechselfalle einer
soldatischen und bürgerlichen Existenz
und zeugen mehr von Not und Drang¬
sal als von Freuden des Lebens. Es
sind Schuldverschreibungen, Gerichts¬
akten usw. — die papierenen Trümmer
einer Tragödie des Geldes.
Die erste Spur Miguels birgt ein ver¬
gilbtes Blatt der Pariser Nationalbi¬
bliothek: da steht ein banales Huldi¬
gungsgedicht an die spanische Köni¬
gin Isabel von Valois (1560—1568):
„Soneto de Mig. de Ceruantes“, das
nicht naher datiert ist. Daß er in
früher Jugend schon sich in der Dich-
kunst übte, versichert uns der Greis.
Zu Madrid scheint Miguel die Schule
besucht zu haben, wenigstens stellte ihn
ein Madrider Schulvorsteher dem Pu¬
blikum als nuestro caro y amado disci-
pulo vor, und zwar aus folgendem An¬
laß:
Isabel von Valois war im Oktober
1568 gestorben. Der loyale Direktor der
städtischen Lateinschule, J. Löpez de
Hoyos, gab im folgenden Jahre (1569)
1) Unser Wissen vom Leben des Cer¬
vantes hat Fitzmaurice Kelly mit treff¬
licher Kennerschaft zusammengestellt und
damit die beste kritische Biographie des
Dichters geliefert ( Cervantes , a Memoir,
Oxford 1913). Was die jüngsten spanischen
Jubiläumspublikationen nun an neuen Er¬
gebnissen gebracht haben mögen, ist hier¬
zulande nur den Titeln nach bekannt Der
Krieg hat auch unsere literarische Zufuhr
aus Spanien fast gänzlich unterbunden.
einen Bericht über das Ende und Be¬
gräbnis der Königin heraus, der von
lateinischen und spanischen Gedichten
begleitet war. Unter den spanischen be¬
finden sich sechs Stücke von Miguel
de Cervantes; darunter eine Elegie, von
der ausdrücklich gesagt ist, daß Cer¬
vantes sie en nombre de todo el Estu-
dto, also im Namen der ganzen Schule,
verfaßt hat
War Miguel mit 22 Jahren noch
Schüler dieser Anstalt und ergänzte er,
als alter Junge, eine bisher allzu lük-
kenhaft gebliebene Schulbildung? Oder
war er Lehrer der Anstalt da er bei
solcher Gelegenheit das gereimte Wort
für sie ergreift? Jedenfalls war der
Madrider Schuldirektor stolz auf die¬
sen Angehörigen, den er so nachdrück¬
lich für seinEstudio in Anspruch nimmt
und im Namen der Schule die tote
Königin feiern laßt
Daß Miguel Universitatsstudien ge¬
macht habe, ist unerwiesen und nicht
wahrscheinlich. Er ist kein studierter
Mann. Das soll die Universitäten nicht
verdrießen.
Das nämliche Jahr 1568 führt ihn
von der Madrider Schule weg in die
weite Welt hinaus, die seine eigentliche
Schule werden sollte. Gegen Ende des
Jahres 1568 scheint er in Spanien Hand¬
geld genommen zu haben und Soldat
geworden zu sein. So kommt er nach
Italien. Zu Weihnachten 1569 finden
wir ihn in Rom. Ein charakteristisches
Dokument bezeugt uns diesen Aufent¬
halt. Vater Rodrigo läßt nämlich zu
Madrid für seinen in Rom weilenden
Sohn Miguel das Zeugnis ausstellen,
daß dieser Miguel legitimer Abkunft
sei, daß die Familie väterlicher- und
mütterlicherseits keine Mischung jüdi¬
schen oder ketzerischen Blutes erfah¬
ren habe, daß sie nicht etwa Konver¬
titen, sondern Altchristen reinster Wur-
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Original frum
INDIANA UNIVERSITY
261
Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
262
zel seien: somos muy buenos cristianos
oiejos, limpios de toda rate. Im alten
Spaniöi war die Frage altchristlicher
Herkunft wichtig genug. Oft ist davon
auch im Don Quijote die Rede, und
auch Sancho Pansa betont die Reinheit
seiner Abstammung: „Ich bin ein Christ
von altem Blut, und das ist genug, um
ein Graf zu werden“, meint er.
Im Herbst 1570 sticht Cervantes mit
der Flotte Don Juans d’Austria gegen
die Türken in See und nimmt am 7. Ok¬
tober an Bord des Flaggschiffes La
Marquesa teil an der Seeschlacht von
Lepanto, in welcher die türkische See¬
macht gebrochen wurde.
Es ist bezeugt, daB an diesem welt¬
geschichtlichen Tage der dreiundzwan-
zigjährige Marinesoldat sich durch Tap¬
ferkeit auszeichnete. Zwei Büchsen¬
schüsse trafen seine Brust, und ein drit¬
ter verstümmelte seine linke Hand...
nun größeren Ruhme der Rechten (pa-
ra gloria della diestra), wie er einmal
mit einem prächtigen Soldatenwort
sagt
Trotz der Verletzung blieb er Soldat.
Sein jüngerer Bruder Rodrigo gesellte
sich zu ihm, und über ihrer beider Waf¬
fendienst hat Miguel später (1590) in
einer Denkschrift an den König berich¬
tet Aus den Erlebnissen seiner Solda¬
tenjahre schöpft er häufig genug in
seinen Wethen. Die Freude und die Not
des Waffenhandweihs spricht aus Emst
<md Scherz mancher Stelle des Don
Quijote.
Die Brüder machten 1572 die Kriegs-
iahrten gegen Korfu und Messenien
(Navarino) und im folgenden Jahre die
Eroberung von Tunis mit Lange Mo-
n ®te des Gamisondienstes verlebt Mi-
8®el in Neapel, gelegentlich auch in
Palermo. Zwischenhinein sehen wir
d® als Kämmerer im Dienste des Kar¬
dinals Acquaviva zu Rom. Diese ita-
Difltlzed by Gougle
lienischen Lehrjahre mag er wohl ge¬
nutzt haben. Seine späteren Werke zei¬
gen ihn italienischer Bildung volL
Rasche Beförderung war ihm in Ita¬
lien nicht beschieden. 1574 ist er erst
Offiziersaspirant Da reift der Plan in
ihm, nach Spanien zurückzukehren und
sich dort um ein Kommando zu bewer¬
ben. Er erhält Urlaub, verläßt Neapel,
in Begleitung seines Bruders, mit Emp¬
fehlungen seiner höchsten Vorgesetz¬
ten versehen: des Vizekönigs und Don
Juans d’Austria. Gerade diese Empfeh¬
lungen sollten ihm zum Unheil aus-
schlagen.
Das Schiff, das die' beiden den
heimatlichen Gestaden entgegentrug,
wurde nach tapferer Gegenwehr von
berberischen Seeräubern überwältigt
am 26. September 1575. Miguel und Ro¬
drigo wurden gefangen und nach Algier
in die Sklaverei gebracht
Auf die sechs bis sieben Jahre ruhm¬
reichen Kriegsdienstes folgten fünf volle
Jahre Sklavendienst Sein 28. bis 32. Le¬
bensjahr, Jahre der Vollkraft, hat Cer¬
vantes in dieser demütigenden Stellung
verbracht, unter schweren Leiden und
Gefahren, „wodurch ich“, wie er später
einmal sagt, „Geduld in den Widerwär¬
tigkeiten lernte“.
Sein Bruder Rodrigo war glücklicher;
schon im Sommer 1577 war es der Fa¬
milie gelungen, ihn loszukaufen. Auf
Miguel aber, bei dem man die Briefe
hochgestellter Gönner gefunden, wurde
ein viel höheres, für die Familie uner¬
schwingliches Lösegeld gesetzt, da die
maurischen Herren sich von seiner offi¬
ziellen Bedeutung eine übertriebene
Vorstellung machten.
Cervantes hat später, 1580, als er, frei
geworden, den Boden Afrikas verließ,
einen summarischen Bericht über die
Zeit seiner Gefangenschaft aufgesetzt
der von den notariell beglaubigten
9*
Original from
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263
Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
264
Zeugnissen von zwölf seiner Leidens¬
genossen begleitet ist und somit ein Do¬
kument von zweifelloser Echtheit dar¬
stellt Dieser Bericht lehrt uns nicht wie
das tägliche Leben des Sklaven sich ge¬
staltete. Wir hören von strenger Ketten¬
haft und grausamer Behandlung. Cer¬
vantes schleppte sich in Algier mit einer
Kette am Fuße. Aber es gab auch Zeiten
ansehnlicher Bewegungsfreiheit für ihn.
Beinen Lebensunterhalt mußte er sich
selbst verdienen. Die maurischen Her¬
ren scheinen ihre Sklaven, wenigstens
die wertvolleren, wesentlich als Wertob¬
jekte fflr den künftigen Loskauf behan¬
delt und deren tägliche Arbeit nicht wei¬
ter wirtschaftlich ausgebeutet zu haben.
Literarisch fruchtbar ist diese Zeit,
wie leicht begreiflich, für ihn nicht ge¬
worden. Dieser berberische Raubstaat
bot ihm während fünf Jahren nichts, was
sich mit den geistigen Gaben Italiens
vergleichen läßt Anregungen durch ara¬
bische Literatur scheint gänzlich zu feh¬
len. Doch blieb Muße zu allerlei Reime¬
reien, von denen indessen nur wenig auf
uns gekommen ist
1577 richtet er an den einflußreichen
Sekretär Philipps II. Mateo Väzquez
eine poetische Epistel, in der er sein Un¬
glück erzählt und um Hilfe bittet. „Füh¬
len lernte ich des fremden Joches
schwere Last:
Sentf de ajeno yugo la gran carga“
heißt es da in Danteschem StiL Die Epi¬
stel hatte keinen Erfolg. Die Nachwelt
hat dieses autobiographische Dokument,
das sie seit 1863 kennt, mit mehr Mit¬
gefühl gelesen als der Adressat, wenn
es anders bis zu ihm gelangt ist.
Viermal unternahm Cervantes den
Versuch, aus Algier zu entkommen.
Jedesmal vereitelte ein unglücklicher
Zufall oder der Verrat eines treulosen
Genossen den Anschlag und brachte
dem Gefangenen schwere Fesselung,
Mißhandlung, Lebensgefahr.
Der erste, etwas naive Versuch war
kläglich mißlungen, als im Sommer 1577
ein zweiter, fast abenteuerlicher mit dem
Bruder Rodrigo verabredet wurde, der
in jenen Tagen, losgekauft, nach Spa¬
nien heimkehren durfte. Rodrigo sollte
einige Wochen später mit einem spa¬
nischen Schiff sich heimlich einer be¬
stimmten Stelle der algerischen Küste
nähern, wo ein Dutzend christliche Skla¬
ven, die sich zum Versteck seit Mona¬
ten eine Höhle gegraben hatten, seiner
warteten. Der Plan wurde verraten, das
Versteck ausgenommen (Ende Septem¬
ber 1577). Cervantes, vor den türki¬
schen Vizekönig von Algier, Hassan
Pascha, geführt, nahm die ganze Ver¬
antwortung auf sich: er sei der Anstif¬
ter des ganzen Fluchtversuchs; er habe
die andern. Schuldlosen, verführt Und
er blieb bei dieser Erklärung angesichts
von Folter und Tod.
Dieses ritterliche Benehmen scheint
dem Vizekönig imponiert zu haben. Er
kaufte den Sklaven Cervantes seinem
bisherigen Herrn ab und versetzte ihn
in seinen Kerker, wo derselbe cargado
de cadenas y hierros mit Hilfe eines
maurischen Boten einen neuen Flucht¬
plan schmiedete, der wieder entdeckt
wurde und damit endete, daß dieser
Bote gepfählt und Cervantes zu schwe¬
rer Prügelstrafe verurteilt wurde (März
1578).
Bei der Entdeckung eines neuen, vier«!
ten Fluchtplans, anderthalb Jahre spä<
ter, nahm Cervantes wieder die ganz^
Verantwortung von seinen Leidens*
genossen weg, auf sich. Den Strick unQ
den Hals und die Hände auf den Rücke^
gebunden, wie ein Delinquent, der zuna
Galgen geführt wird, bleibt er vor den
Vizekönig bei dieser Erklärung und antj
wortet mit solch unerschrockener Sicher
Original from
INDIANA UNIVERSITY
265
Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
266
heit auf die Fragen seines argwöhni¬
schen Herrn, daß dieser ihm auch dies¬
mal das Leben schenkt und sich be¬
gnügt, ihn von neuem für fünf Monate
gefesselt einzukerkern — donde pasö
muchos trabajos.
Die Geschichte weiß von manchem
Helden zu berichten, der für andere,
Schwächere, sich zu opfern bereit war
und dabei Schmach und Tod ruhig ins
Antlitz sah — aber sie hat uns kein sub¬
limeres Bild aufbewahrt als das dieses
spanischen Hidalgo Miguel de Cervan¬
tes, der, die Hände auf den Rücken ge¬
bunden, den Strick um den Hals, vor
dem türkischen Machthaber steht, sich
weigert, seine Mitschuldigen preiszu¬
geben, alle verfänglichen Fragen schlag¬
fertig pariert und mit dem Schilde sei¬
ner Geistesgegenwart das gemeinsame
Geheimnis des Fluchtplanes deckt —
der, gefesselt, mit den überlegenen Waf¬
fen des Geistes ficht und siegt. Das ist
ein wahrer Ritter des Geistes, der über
seiner Not steht Dieses Geistes Kind
ist das Buch, das ihn unsterblich ge¬
macht hat Das Bild dieser Szene, von
der Hand eines Künstlers gestaltet,
müßte eigentlich sein Buch schmücken,
auf daß der Leser über Don Quijote,
dem Ritter von der traurigen Gestalt
die herrliche Gestalt seines Schöpfers
nicht vergesse. Tausende lesen bei uns
den Don Quijote, ohne dem Autor einen
Blick zu schenken. Neben den Hunder¬
ten von Bildern, die Don Quijote und
Sancho Pansa darstellen, wünschte man
ein Bild aus dem Leben des Meisters,
eben jenes, das ihn in der tiefsten Not
seines Lebens als Sieger zeigt
In all den Jahren hatte sich Miguels
Familie eifrig bemüht, die Mittel für den
Loskauf des unglücklichen Sohnes und
Bruders zu beschaffen. Die Familie hat
Schuldner, gegen welche sie gerichtliche
Schritte unternimmt Die Höhe ihrer
Forderung, über 1000 Dukaten, erfüllt
uns mit einiger Verwunderung. Die Ver¬
hältnisse sind wenig durchsichtig; er¬
folgreich scheinen die Schritte der Jahre
1576 und 78 nicht gewesen zu sein. Da¬
neben wendet man sich an die könig¬
lichen Behörden, freilich mit sehr mäßi¬
gem Ergebnis: da 30 Dukaten, dort ein
Geschenk an Waren zum Weiterverkauf.
Schließlich werden 250 Dukaten zusam¬
mengebracht Aber Hassan Pascha ver¬
langt für seinen Sklaven 500 Goldduka¬
ten: 500 escudos de oro en oro.
Der natürliche Vermittler eines sol¬
chen Loskaufs war der Trinitarierorden,
der ja ad redemptionem captiuorum ge¬
gründet worden war und dessen wei߬
gekleidete Mönche unzählige Male die
Fahrt nach den Korsarenstaaten mach¬
ten. Den Trinitariern übergab die Fa¬
milie die Angelegenheit Sie kam in die
Hand des braven Paters Juan GiL An
die fehlende Hälfte der Kaufsumme
steuerte der Orden selbst sowie ein spa¬
nischer Unterstützungsfonds einiges bei.
Den Hauptteil (220 Dukaten) schossen
die christlichen Kauflgute in der Stadt
Algier vor, um, wie es im Dokument
vom 19. September 1580 heißt „den Mi¬
guel de Cervantes aus Madrid, mittlerer
Statur, bärtig, mit verstümmeltem lin¬
ken Arm, davor zu bewahren, daß er im
Maurenland untergehe".
Und das war keine Phrase. Die Ge¬
fahr dieses Untergangs drohte. Hassans
Amtsperiode war abgelaufen. Er war im
Begriff, nach Konstantinopel zurückzu¬
kehren. Der Tag der Abreise war da.
Schon waren Hassans Christensklaven
an Bord seines Schiffes in Eisen gelegt
Cervantes unter ihnen. In wenigen Stun¬
den sollte das Schiff in See gehen — wie
mag dem Ärmsten da zumute gewesen
seinl Im letzten Augenblick wurde mit
Hilfe der Kaufmannschaft die Kauf¬
summe zusammengebracht Cervantes,
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INDIANA UNIVERSITY
207
Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
268
seiner Fesseln ledig, von Bord des Schif¬
fes geholt, befreit und Spanien und der
•Welt erhalten. Wie wenig fehlte, daß
er mit 33 Jahren auf dem Sklavenmarkt
Konstantinopels namenlos verschwun¬
den wßre.
So war er frei; aber bis er bei den
Seinen in Madrid eintraf, sollten noch
drei Monate vergehen.
Ihm drohte Anfechtung von seiten
eines Übelwollenden. Dagegen rief er
die Hilfe des Paters Juan Gil an und
setzte jenen Bericht über sein Leben in
der Sklaverei auf, den die Aussagen von
zwölf Zeugen beglaubigten. 7 Diese Zeu¬
gen rühmen, jeder in seiner Weise, Cer¬
vantes’ Charakter und Lebensführung,
der als guter Christ und ritterlicher
Mann sich der armen Mitgefangenen
mitleidvoll angenommen, sie vor schlech¬
ter Behandlung geschützt und ihren Un¬
terhalt bestritten habe — er, der selbst
nichts besaß. Sie bezeugen seine her¬
vorragende Stellung in dem Kreise, nen¬
nen ihn einen klugen und feinen Men¬
schen, der in allem besondere Anmut be¬
sitze: tiene especlal gracia en todo. Der
Pater fügt eigenes hohes Lob hinzu und
erklärt, daß Cervantes in den fünf Jah¬
ren sich so bewährt habe, daß er be¬
sonderer königlicher Gnade würdig er¬
scheine. Erwägt man dabei auch das
große Opfer, das die christliche Kauf¬
mannschaft in der elften Stunde für ihn
bringt, so mögen wir wohl heute diese
fünfjährige Gefangenschaft dafür prei¬
sen, daß sie uns solche Gewißheit über
die sittliche Persönlichkeit des Cervan¬
tes, einen solchen Einblick in sein vor¬
nehmes, starkes, reizvolles Wesen ge¬
schenkt hat.
Die Heimbeförderung der losgekauf¬
ten Sklaven pflegte truppweise über Va¬
lencia zu geschehen. Dort wurde Cer¬
vantes im November 1580 gesehen. Dem
Zeremoniell, das die Heimkehrenden
empfing und auf das er in der Espanola
tnglesa hinweist, wurde gewiß auch er
unterworfen. Am 18. Dezember ist er zu
Hause in Madrid, nach reichlich elfjäh¬
riger Abwesenheit Die Freude des Wie¬
dersehens mochte groß sein. Aber es
mußte den Sohn und Bruder bedrücken,
daß die Familie an seiner Befreiung sich
finanziell verblutet hatte. Auch die Mit¬
gift der beiden unverheirateten Schwe¬
stern soll daraufgegangen sein.
Was uns die Loskaufakten über die
äußere Gestalt unseres Helden lehrten,
das wird durch seine eigenen späteren
Angaben ergänzt: er hat kastanienblon¬
des Haar, lebhafte, helle Farbe, freie
Stirn, muntere Augen, gebogene, doch
wohlgebildete Nase; er trug vollen Bart,
einen großen Schnurrbart über dem klei¬
nen Mund. Es ist leider kein Porträt
von unanfechtbarer Echtheit von ihm be¬
kannt Nimmt man eine Bemerkung
jener Selbstschilderung wörtlich, so stot¬
terte Cervantes.
Es waren bewegte Zeiten in Spanien.
Eben hatte Philipp II. von Portugal Be¬
sitz ergriffen, und eine Expedition gegen
die Azoren stand bevor. Daß Miguel
unter diesen Umständen in den Heeres¬
dienst zurückkehrte, erscheint natürlich.
Er erklärt auch ausdrücklich, mit Bru¬
der Rodrigo in Portugal und auf den
Azoren in des Königs Dienst gestanden
zu haben. Die Urkunden, die für den
Sommer 1581 seine Anwesenheit in Por¬
tugal und im Kriegshafen von Carta¬
gena bezeugen, widersprechen dem kei¬
neswegs. Bei all dem spann er keine
Seide, denn wir sehen ihn nach der
Rückkehr von den Azoren im Herbst
1583 für seine Schwester Magdalena
einige Rollen Tuch für 30 Dukaten ver¬
pfänden.
So kam er denn arm zurück. „Im
Reiche der Armut gibt es keinen Ärme¬
ren als den Soldaten“, sagt er einmal im
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Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
269
Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
270
Don Quijote, „denn der Soldat muß sich
lediglich an seinen elenden Sold halten,
der spät oder niemals eintrifft“ Davon
wußten die Cervantes ein Lied zu sin¬
gen. Als nämlich Bruder Rodrigo im
Jahre 1600 bei Nieuport in Flandern ge¬
fallen war, da gelang es den armen Ge¬
schwistern nur nach jahrelangen Be¬
mühungen, einen kleinen Teil des
rückständigen Soldes sich zu erstreiten.
Mitte der achtziger Jahre ging Cer¬
vantes als königlicher Kurier einmal
nach Oran, eine Mission, die er offen¬
bar seiner guten Kenntnis afrikanischer
Verhältnisse verdankte. In diesen Jah¬
ren ist ihm eine natürliche Tochter ge¬
boren worden, die in der Taufe den Na¬
men Isabel de Saavedraerhielt und
die er später legitimierte, ohne viel
Freude an ihr zu erleben.
Daß er nun auch als Literat seinen
Weg sucht wird immer deutlicher. Er
pflegt literarische Beziehungen, gibt den
Büchern seiner Kollegen Lobgedichte
mit auf den Weg, wie das damals Sitte
war. Er selbst schreibt an einem großen
Schäferroman vom treuen Elicio und
der schönen, spröden Galatea, dessen
ersten Teil er im Sommer 1584 einem
Madrider Verleger für 100 Dukaten ver¬
kauft, und der im Frühjahr 1585 erscheint
Die Gcdatea ist ein Buch ohne Ur¬
sprünglichkeit, ganz nach berühmten
Mustern, besonders italienischen, ge¬
bildet, zusammengesetzt aus Liebes-
reden in Prosa und modischen Ver-
*o. in denen petrarkistische Spielerei
benscht Den „geistvollen Schäfern und
sdiönen Schäferinnen“ erscheint die
Nymphe Kalliope und trägt in endlosen
^ven einen adulatorischen Katalog
der zeitgenössischen Dichter vor, in wel-
<d>em neben Cervantes’ Freunden auch
die berühmten Namen der Herrera,
UisdeLeön, Göngoraund des jun-
geoLope de Vegaerscheinen.
Audi mit der Bühne versucht er es,
doch sind von den 20 bis 30 Stücken,
die er in diesen achtziger Jahren ge¬
schrieben haben will, nur zwei erhalten.
Von sieben anderen kennen wir wenig¬
stens die Titel, und eines davon, La Con-
fusa, sei auf der Bühne sehr bewundert
worden: Pareciö en los teatros adrrd-
rable. Erhalten sind die Numancia, ein
dramatisiertes Epos voll patriotischer
Eloquenz, die einst Fichte ergriffen hat,
das mit allegorischen Figuren arbeitet
und eine pathetische Schilderung vom
freiwilligen Untergang der belagerten
Numantiner gibt, und El trato del Argei ,
die Dramatisierung einer Liebesge¬
schichte auf dem Hintergrund algeri¬
schen Sklavenlebens, doch ohne jedes
Kolorit des Selbsterlebten, Selbstge¬
schauten, das wir hier erwarten wür¬
den. Er ist kein Dramatiker.
Ein solches Stück scheint ihm etwa
20 Dukaten eingetragen zu haben.
Als er 25 Jahre später auf diese Zeit
seiner Bühnenarbeit zurückblickt, tut er
es nicht ohne Stolz. Er habe, was Lope
de Rueda und Naharro so glück¬
lich begonnen, weiter gefördert mit
Stücken, wie der Numancia, und er habe
den Mut gehabt, die Comedias von fünf
auf drei Akte zu reduzieren und sei der
erste gewesen, der, unter allgemeinem
Beifall, den inneren Menschen mit sei¬
nen Gedanken auf die Bühne gebracht und
moralische Figuren dargestellt habe. Hier
mag er doch wohl die Bedeutung seiner
Stücke und den Beifall, den sie gefunden,
aus der Feme der Erinnerung übertreiben.
Auf solche Einnahmen aus Büchern
und Dramen baute er wohl seine Exi¬
stenz, als er mit 38 Jahren, im Dezem¬
ber 1585, ein neunzehnjähriges Mädchen
aus dem weinberühmten Esquivias, Ca¬
talina de Salazar, heiratete. Es war
eine Liebesheirat, denn die Mitgift war
sehr bescheiden.
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INDIANA UNfVERSITY
271
Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
272
Wieviel er von seiner Brautwerbung
in seinen Roman Galatea hineingeheim-
nist haben mag, wie viele der kunstvol¬
len Lieder des Elido seiner eigenen
Liebe Ausdruck geben, können wir nicht
wissen.
Die Ehe blieb kinderlos, und so trat
später die heranwachsende Isabel in die
Lücke.
Aber Bücher und Dramen scheinen
ihren Mann nicht zu nähren. Wirklichen
Bühnenerfolg kann er eben doch kaum
gehabt haben. „Ich fand andere Beschäf¬
tigung", sagt er später, „und ließ Feder
und BühnenspieL" „Die Arbeit der Büh¬
nendichter ist unglaublich, ihre Sorgen
außerordentlich, und sie müssen viel ver¬
dienen, wenn sie nicht am Schlüsse des
Jahres schwer verschuldet sein wollen“,
heißt es im „Gläsernen Assessor".
Wir sehen Cervantes schon 1585 mit
Handel beschäftigt. Urkunden zeigen
ihn in dieser Zeit zu Esquivias (1584/86),
Madrid (1585), Sevilla (1585). Dann wird
er (1587) mit vierzig Jahren Verwal¬
tungsbeamter — zu seinem Unheil. Denn
der Mann, der in literarischen Träumen
lebte, fand sich in der Ziffern- und Para¬
graphenwelt der Verwaltungsgeschäfte
nicht zurecht, und am Ende all der Nöte
und Wirren dieser unerfreulichen Tätig¬
keit wartete seiner — das Gefängnis.
Ein Stoß von Protokollen, Rechnun¬
gen, Buchhaltungsnotizen, die uns er¬
halten geblieben sind, führt den Biogra¬
phen heute in das Labyrinth dieser
Schwierigkeiten hinein, das ihn nicht so
leicht entläßt Hier erübrigen sich die
vielen Einzelheiten dieser geschäftlichen
Tätigkeit, die den Dichter im Süden,
besonders in Andalusien festhielt Zu
schriftstellerischer Arbeit fand er dabei
wenig Gelegenheit
Cervantes, der hier nun zum ersten
Male mit dem Beinamen Saavedra er¬
scheint war zuerst bei der Verprovian¬
tierung der großen Flotte, der Armada,
beschäftigt, mit welcher Philipp II. Eng¬
land zu erobern beabsichtigte. Er hat
die Hoffnung und nachher die Trauer,
die sich an dieses gigantische Unter¬
nehmen knüpften, in Verse gebracht Er
ging in seinen Requisitionen mit sol¬
chem Eifer ans Werk, daß er mit den
kirchlichen Behörden in Konflikt ge¬
riet und ihm sein Vorgesetzter Mäßigung
empfahl
Die Besoldung war kärglich; sie
schwankte zwischen 10 und 12 Realen
für den Tag, Reisekosten inbegriffen,
und die Staatskasse blieb mit den Aus¬
zahlungen im Rückstände. Wie hätte da
ein vermögensloser Beamter nicht in
Schwierigkeiten geraten sollen? In sei¬
ner Bedrängnis bewarb er sich (Mai
1590) bei Philipp um eine Beamtung in
Amerika, in Guatemala, Columbia, Boli-
via oder Neu-Granada. Er beruft sich
dabei auf seine 20 Dienstjahre seit Le-
panto, auf seine Wunden, auf die Ver¬
armung der Familie durch sein algeri¬
sches Sklaventum, auf seine Dienste in
Portugal und den Azoren, in Oran und
Andalusien — y en todo esto tiempo
no se le ha hecho merced ninguna .*)
Wie ein Kehrreim zieht sich durch den
Schriftsatz die Bitte um eine königliche
Gnade, das „se le haga merced“! Diese
schlichte Zusammenfassung zwanzig¬
jähriger treuer unbelohnter Dienste
greift ans Herz. Sie hatte keinen Erfolg
bei der spanischen Bürokratie. Der Re¬
ferent fügte am Rande der Bittschrift
erledigend hinzu: busque por acä! „Er
soll sich hierzulande etwas suchen I“
So geht denn die Mühsal weiter. Daß
er im Herbst 1592 einen Ausweg nach
dem Gebiete der Bühnendichtung ver¬
sucht, scheint keine Erleichterung ge¬
bracht zu haben. Die sechs comedias,
2) 'Und in all der Zeit ist ihm keinerlei
Gnade zuteil geworden.’
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INDIANA UNIVERSITY
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273
Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
274
die er einem Sevillaner Theaterunter-
nehmer zu liefern versprach, das Stück
zu 50 Dukaten, sind wohl ungeschrieben
geblieben.
In der zweiten Hälfte 1594 wird er
mit einem Tagesgehalt von 16 Realen
ab Steuereinnehmer in der Provinz Gra¬
nada beschäftigt Was dann in den
nächsten zehn Jahren (1595—1604) seine
Tätigkeit war, wissen wir nicht. Ein Amt
scheint er nicht mehr gehabt zu haben.
Amtliche Beschäftigung würde urkund¬
liche Spuren zurückgelassen haben. Ein
paar zerstreute Sonette sind spärliche
Zeugen literarischer Tätigkeit. Was an
archivalischen Dokumenten über seine
Person aus diesen Jahren erhalten ist,
spricht fast nur von Armut und Not. Es
fehlt das Geld für Nahrung und Klei¬
dung. Er wohnt wohl in Sevilla, wenn
er nicht zeitwebe geradezu verschollen
ist. Ist er mit seiner Frau vereinigt? Lebt
seine Frau bei den Schwestern? Magda¬
lena und Andrea wohnen in den neun¬
ziger Jahren zu Madrid. Magdalena
nimmt 1599 des Bruders natürliche
Tochter Isabel als Haus- und Nähmäd¬
chen zu sich.
Es ist kaum anzunehmen, daß Cer¬
vantes im Mai 1595 persönlich nach Za¬
ragoza gegangen sei, um dort den be¬
scheidenen Silberpreis in Empfang zu
nehmen, der ihm für ein Gedicht auf den
h eiligen Jacinto zugesprochen worden war.
Mit der Abrechnung über die von ihm
eingezogenen Steuern blieb er im Rüde¬
stand. Der Zusammenbruch eines Sevil-
laner Bankhauses, dem er von diesen
Staatsgeldem anvertraut hatte, war da¬
bei auch im SpieL Cervantes wurde
nach Madrid befohlen, um über eine feh¬
lende Summe von rund 200 Dukaten Re¬
chenschaft abzulegen. Er schob die Rebe
auf und wurde daraufhin in Sevilla auf
königlichen Befehl im September 1597
verhaftet.
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Drei Monate saß er im Gefängnis.
Zeitgenössische Berichte sagen uns,
welch ein Ort des Jammers und der Ver¬
kommenheit dieses Sevillaner Gefäng¬
nis damals war. Die realistische Schil¬
derung des Gaunertums, die Cervantes
in seinen Novellen gibt, mag hier ihre
Wurzeln haben.
Seinem Antrag auf Freilassung wurde
schon am 1. Dezember stattgegeben.
Doch scheint er nicht zur Rechnungs¬
ablegung nach Madrid gegangen zu sein,
denn er wird 1599 von neuem dazu auf¬
gefordert.
Im Mai 1600 bezeugt zum letzten Male
eine Urkunde seine Anwesenheit in Se¬
villa. Sie bleibt überhaupt für mehrere
Jahre die letzte Urkunde, die von ihm
Nachricht gibt. Wahrscheinlich ist, daß
er 1602 wiederum gefangen gesetzt wor¬
den ist Die ganze Angelegenheit ist für
uns wenig durchsichtig, und wir können
nicht mehr erkennen, welche Schuld an
den beklagenswerten Vorgängen der be¬
drängte Poet gehabt haben mag. Daß er
nicht gegen Treue und Gewissen gehan¬
delt, dafür zeugt sein übriges Leben.
In der Vorrede zum Don Quijote sagt
Cervantes bekanntlich, daß die dürre
Gestalt seines Helden von ihm im Ge¬
fängnis erzeugt worden sei, „wo jede
Unbequemlichkeit ihren Sitz hat, wo
jedes widerwärtige Gelärm zu Hause
ist“. Man darf diese Erklärung wohl auf
die neue Haft im Gefängnis zu Sevilla
beziehen. Denn 1602 ist er sicher schon
mit der Gestalt seines Hidalgo beschäf¬
tigt, wenn er auch zunächst nur eine
kurze Novelle damit bildete, welche die
sechs ersten Kapitel des späteren Ro¬
mans, die erste Ausfahrt des Helden, be¬
handelte. Über dieser Skizze muß ihm
dann die Lust gekommen sein, von dem
närrischen Rittertum seines Helden wei¬
ter zu fabulieren. Im Sommer 1604
kennt Lope de Vega das Manuskript und
Original fro-m
INDIANA UNIVERSITY
275
Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
276
urteilt in einem Privatbrief mit gering¬
schätzigem Spott Ober Werk und Autor.
Das Werk erschien im Druck zu Ma¬
drid um Neujahr 1605. Zur ersten kur¬
zen Ausfahrt des Ritters ist eine zweite
gefügt, auf der ihn der Knappe Sancho
begleitet, und der Autor stellt am Schluß
eine weitere Fortsetzung mit einer drit¬
ten Ausreise in Aussicht.
Aus den fünf Jahren, die dieser Ver¬
öffentlichung vorangehen (1599—1604),
tritt keine Spur literarischer Tätigkeit
von ihm hervor. Was mag da sein Le¬
ben gewesen sein, als er die heitere Ge¬
schichte seines Narren zusammenfabu¬
lierte, dessen Gestalt er im Elend des
Gefängnisses ersonnen!
In Spanien hatten inzwischen große
Veränderungen stattgefunden. Phi¬
lipp III. hatte 1598 den Thron bestie¬
gen, und seit 1601 war von ihm Vallado¬
lid zur Hauptstadt an Stelle von Madrid
gemacht worden (bis 1606).
Im April 1605 finden wir Cervantes
in diesem Valladolid, doch mag er
schon im Jahre zuvor in der neuen Kapi¬
tale gewohnt haben. Hier also erlebte
er den großen Erfolg seines Weites,
dessen sich auch gleich der portugie¬
sische Nachdrude bemächtigte. Freilich,
der ganze Gewinn dieses Erfolges floß
dem Verleger zu, dem er sein Manu¬
skript verkauft hatte. Der Dichter hatte
längst gelernt, sich zu bescheiden: Zwar
habe ich große Wünsche, doch begnüge
ich mich mit wenig.*)
Cervantes widmete seine Bücher nach
der damaligen Sitte einer hochgestellten
zahlungsfähigen Persönlichkeit mit
schwungvollen Worten. Was ihm der
Herzog von B6jar, ein bekannter Mä¬
zen, für den Don Quijote / zukommen
ließ, wissen wir nicht. Jedenfalls hielt
das doppelte Honorar des Verlegers und
3) Con poco mi contento, aunque deseo
Mucho. (Vlage cap. IV.)
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des Gönners nicht lange vor. Kurz nach
Erscheinen des Buches mußte Cervan¬
tes von jenem drei Dutzend Dukaten
borgen.
In Valladolid schrieb er auch einen
Teil seiner Novellen, so den „Gläsernen
Assessor“, ein Bild partieller Narrheit,
wie der Don Quijote und die „Eng¬
lische Spanierin“, die aber erst nach
Jahren erschienen.
Auch für das Theater begann er wie¬
der zu arbeiten, vielleicht schon in Val¬
ladolid. Aber der erfolgreiche Bühnen¬
dichter von ehedem fand jetzt keine
Bühne mehr, die seine Stücke annahm.
Er konnte sie, wie er melancholisch sagt,
wegschließen und zu ewigem Still¬
schweigen verdammen.
Als sein Don Quijote / erschien, stand
Cervantes im 58. Jahr. Er hatte bisher
weder Schatze gesammelt noch litera¬
rischen Ruhm erworben. Was bis jetzt
von ihm gedruckt worden war, in 35
Jahren vielfach gehemmter literarischer
Tätigkeit beläuft sich auf zwei Dutzend
Sonette und Lieder und den ersten Teil
eines Schäferromans. Seit fünf Jahren
hatte er überhaupt ganz geschwiegen.
Wäre er Mitte der Fünfzig gestorben,
wer spräche heute von ihm? Was wü߬
ten wir von ihm, wenn er im Alter
Shakespeares, 52 jährig, dahingegangen
wäre? Weder sein Don Quijote noch
seine Novellen wären vorhanden. Es ist
eine eigentümlich späte Produktion, die
ihm Ruhm gebracht hat: die Frucht des
sechsten und siebenten Jahrzehnts sei¬
nes armen Lebens.
Seines armen Lebens! Grell wird
diese armselige Existenz durch ein ba¬
nales Vorkommnis beleuchtet.
In einer Sommernacht des Jahres 1605
wurden die Insassen des Hauses, in wel¬
chem Cervantes zu Valladolid wohnte,
durch Hilferufe aufgeschreckt. Sie fan¬
den vor der Haustür in seinem Blute lie-
Original from
INDIANA UNtVERSITY
277
Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
278
gend einen Mann, der im Zweikampf
schwer verwundet worden war. Es war
«in liederlicher Gesell, den, wie es
scheint, der rächende Degen eines Ehe¬
mannes durchbohrt hatte. Nach zwei
Tagen starb er, ohne seinen Gegner zu
nennen. Es folgte eine gerichtliche Un¬
tersuchung des Falles. Die Akten zei¬
gen uns, daß die Wohnung des Cervan¬
tes in einer ärmlichen Vorstadt an der
Calle del rastro lag, wo ihn und die Sei¬
nen ein übervölkertes Miethaus beher¬
bergte. Er war mit seiner Frau vereinigt,
und auch die beiden Schwestern lebten
bei ihm, die ältere, Andrea, mit einer
Tochter und Magdalena mit Isabel: fünf
Frauen um den alternden Mann in
drangvoller Enge.
Es lag die gerichtliche Untersuchung
des Falles in den Händen eines Alkal-
den, der auf den Hintertreppenklatsch
des Miethauses hörte und seinen Ver¬
dacht auf die Familie Cervantes lenkte.
Der Alkalde machte kurzen Prozeß mit
diesem Armeleutehaus und verhaftete
neun der Insassen: den Miguel de Cer¬
vantes mit seiner Tochter Isabel sowie
Schwester Andrea samt deren Tochter
und vier weitere Frauen.
Nach dreitägiger Untersuchungshaft
mußten sie alle wieder entlassen wer¬
den, freilich nicht ohne daß auf die Le¬
bensführung der jungen Isabel ein
Schatten fällt
Nun verlieren wir Cervantes und seine
Familie wieder für drei Jahre aus den
Augen, bis zum Sommer 1608.
Man vergegenwärtige sich hier den
Stand der urkundlichen Überlieferung
noch einmal: Im Mai 1600 zeigt uns ein
Zeugnis den Cervantes in Sevilla. Dann
wissen wir bis Herbst 1604 nichts Au¬
thentisches mehr von ihm. Vom Sep¬
tember 1604 bis Sommer 1605 läßt die
Publikation des Don Quijote 1 ihn von
neuem aus dem Dunkel auftauchen: er
ist in Valladolid, und der blutige Rauf¬
handel eines Abenteurers zeigt uns seine
armselige Häuslichkeit Dann ver¬
schwinden er und die Seinen wieder für
drei Jahre in der Nacht der Zeit. So
ziehen acht dunkle Jahre seines Lebens
an uns vorüber, aus deren Mitte plötz¬
lich Don Quijote auftaucht, das Zeug¬
nis seiner Genialität und die demüti¬
gende Verhaftung, das Zeugnis seiner
Misere. Vor- und nachher schweigt die
Geschichte jahrelang über ihn.
Im „Gläsernen Assessor“ verabschie¬
det sich der unglückliche Held von Val¬
ladolid mit den Worten: „O Hauptstadt!
Du sättigst mit Überfluß die schamlo¬
sen Gaukler und lässest die anständigen
Menschen Hungers sterben.“ Das mochte
die Empfindung des Cervantes sein, als
er, wir wissen nicht wann, Valladolid
den Rücken kehrte.
1608 taucht er zu Madrid auf, wohin
der Hof zurückgekehrt war und wo der
Dichter nun die letzten acht Jahre sei¬
nes Lebens in verschiedenen Quartieren
verbringt.
Nochmals ziehen ihn die Finanzbe¬
hörden zur Rechenschaft (Nov. 1608) we¬
gen der alten Schuld von 1594. Jetzt
endlich scheint die vierzehnjährige
Schwierigkeit ihre Lösung zu finden,
vielleicht durch Freundeshilfe.
Tochter Isabel ist Witwe geworden
und plant eine zweite Heirat Die finan¬
ziellen Machenschaften, die dieser zwei¬
ten Eheschließung vorangehen, machen
einen sehr unerfreulichen Eindruck. Sie
sehen Schiebungen verzweifelt ähnlich.
Isabel erscheint als der böse Geist ihres
schwachen Vaters. Während sie und ihr
ebenso undelikater Mann, LuisdeMo-
lina, zu Geld kommen, kommt der
arme Vater in die peinlichste Lage. End¬
lose Rechtshändel sind die Folge. Die
Tochter entfremdet sich dem Vater und
den Verwandten.
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280
Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
1609 tritt Cervantes einer neugegrün¬
deten frommen Bruderschaft bei, die
sich die Confratemitas „der unwürdigen
Sklaven des heiligsten Sakramentes"
nannte und der Bekämpfung der prote¬
stantischen Ketzerei diente. Am 17. April
unterzeichnet er seine Beitrittserklärung
als esclavo del santlsimo sacramento
Miguel de Cervantes. Er war einer der
emsigsten unter den 400 Brüdern — so
wenig haben wir Grund, in dem Verfas-
des Don Quijote eine Art Freidenker zu
suchen. Er ist ein frommer Sohn seiner
rechtgläubigen Heimat.
Auch seine Frau und seine Schwestern
schlossen sich enger dem kirchlichen Le¬
ben an und traten als Tertianer dem
Franziskanerorden bei, worin er selbst
ihnen später (1613) folgte. Kurz darauf
starben die beiden Schwestern. Die Be¬
stattung der Andrea (1609) bezahlte der
Bruder Miguel mit zwei Dukaten. Die
Bestattung der Magdalena (1611) bestritt
der Orden, dessen Register unter Mag¬
dalena, hermana de Cervantes, den la¬
konischen Vermerk trägt: era pobre,
sie war eben arm.
So wurde es stiller um den nun Sech¬
zigjährigen.
Jetzt bemüht er sich (1611) erfolglos
um ein Amt beim Grafen Le mos, dem
Vizekönig von Neapel. Er erschien wohl
zu alt — zu alt für ein Amt, aber nicht
zu alt, um in all dem Elend literari¬
sche Meisterwerke vorzubereiten. „Man
schreibt ja nicht mit den grauen Haa¬
ren, sondern mit dem Geiste, der mit
den Jahren zu reifen pflegt“, sagt er
1615. Doch fällt es auf, wie wenig die¬
ser Mann, der seit zwei Jahrzehnten für
seinen Unterhalt wesentlich auf den Er¬
trag seiner Feder angewiesen war, in
der Öffentlichkeit von sich hören läßt
und zum Druck befördert. Die Not des
Daseinskampfes hat eben doch lähmend
auf seine Produktion gewirkt
Mit dem Jahre 1612 läßt sich ein Um¬
schwung erkennen, und die letzten vier
Jahre bringen eine reiche Ernte. Cervan¬
tes nimmt teil am literarischen Leben
der Hauptstadt Aus einem Briefe Lope’s
de Vega lernen wir, daß Cervantes im
Frühjahr 1612 der Sitzung einer der mo¬
dischen Akademien beiwohnte. Lope las
dort einige Verse vor und lieh sich dazu
Cervantes’ Brille, über deren schlechte
Beschaffenheit er sich spöttisch äußerte.
Ihre Gläser glichen schlecht gemachten
Spiegeleiern, meinte er.
Im Sommer des nämlichen Jahres legt
Cervantes dem Zensor seine zwölf No-
velas ejemplares vor, und im September
verkaufte er die Sammlung um etwa.
130 Dukaten an seinen Madrider Ver¬
leger. Er widmete ihren Druck (1613)
dem Vizekönig von Neapel, den er sei¬
nen wahren Gebieter und Gönner nennt,,
und der ihm nun wirklich zu Hilfe
kommt, denn Cervantes wird ihm auch,
seine letzten drei Werke zueignen. Die¬
ser Graf Lemos und dessen Vetter, der
Kardinal-Erzbischof von Toledo, sind
die Stützen seiner letzten Jahre gewor¬
den. Cervantes hat, was sie ihm erwie¬
sen, in Worten tiefster Dankbarkeit ge¬
priesen. Zweifellos verdankt er die¬
sem späten werktätigen Gönnertum die
Schaffensfreudigkeit, die wir plötzlich
in den letzten Jahren bei ihm beobachten
und die so zuversichtlich und erquickend
aus den Vorreden seiner vier letzten Bü¬
cher spricht. Das sei jenen beiden Gran¬
den nicht vergessen. Ihnen ist es zu ver¬
danken, daß Spanien seinen großen Sohn
nicht elend hat zugrunde gehen lassen.
Die Novelas ejemplares enthalten eine
autobiographische Vorrede, aus deren
stolz-bescheidenen Worten das Gefühl
eigenen Wertes, etwas wie ein Glücks¬
gefühl, spricht In kurzem, so erklärt er
auch, werde der Leser die Fortsetzung
des Don Quijote nebst anderem erhal-
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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
ten. Er traut sich noch viel zu, obschon
er nun schon 64 Jahre zahle, seine
Schultern sich runden und sein Schritt
nicht mehr leicht sei.
An der Feier der Seligsprechung der
Teresa de Jesus (Sept 1614) betei¬
ligt er sich mit einem Lied, und gegen
Ende des Jahres erscheint seine in Ter¬
zinen gereimte literarische Heerschau
nach italienischem Muster, die er Viage
del Parnaso nennt, im Drude. Diese
„Pamaßreise" enthalt mancherlei Auto¬
biographisches. Er spricht in wehmü¬
tigen Scherzen von der Ungunst des
Schicksals, das ihn verfolgt. Im Kreise
der Poeten, die Apoll auf dem Parnaß
versammelt, wird Cervantes denn auch
kein Platz angewiesen. Er muß stehen
bleiben. Diese Unbilligkeit veranlaßt ihn,
dem Gott zu sagen, was er alles schon
in seinem Dienste geleistet, wie er von
Jugend auf gedichtet und dabei seine
Feder nie zur Satire erniedrigt habe. So¬
nette, Romanzen habe er verfaßt und in
mannigfachen Liedern seine Hoffnun¬
gen in den Wind gesät Den Don Qui¬
jote habe er zur Vertreibung der Melan¬
cholie geschrieben, omnium horarum
Uber; in den Novelas habe er der kastili-
sehen Sprache neue Wege gewiesen, als
ein überlegener Erfinder, und einen wei¬
teren Roman sei er zu drucken im Be¬
griff... Ja, sagt da Apoll, es geht nicht
allen gleich gut und du hast das Glück
nicht festzuhalten verstanden — „leg’ du
deinen Mantel zusammen und setz’ dich
drauf r „Ich habe ja keinen Mantel“,
wendet Cervantes ein. „Nun,“ erwidert
der Gott, „auch so freue ich mich, dich
zu sehen. Die Tugend ist der Mantel,
mit dem die Armut ihre Blöße deckt“
Ich neigte mich, erzählt der Dichter,
dem wahren Spruch und blieb stehen —
denn es gibt keinen guten Platz ohne
Gunst oder Reichtum. Und während er
so stand, zog in strahlendem Gewände
282
eine Lichtgestalt herauf. Er fragte einen
Begleiter nach der herrlichen Erschei¬
nung. „Kennst du denn die Göttin der
Poesie nicht?“ gibt dieser zurück. Und
Cervantes: „Ich habe sie immer nur in
armseligem Gewände gesehen.“
Jetzt trifft ihn ein schwerer Schlag.
Er war in der Niederschrift der ver¬
sprochenen Fortsetzung des Don Qui¬
jote bis zum 59. Kapitel gelangt, als er
Kunde davon erhielt, daß ein Unbekann¬
ter ihm zuvorgekommen war und an sei¬
nem Eigentum sich vergriffen hatte. Der
nannte sich Alonso Fernändez de
Avellaneda aus Tordesillas und
hatte im November 1614 zu Tarra-
gona einen zweiten Teil (segundo
tomo) des Don Quijote drucken lassen.
Das war ein literarischer Gauner¬
streich, und das Übelste daran ist die
Vorrede, in welcher dieser Avellaneda,
der sich als der Beleidigte aufspielt, mit
den autobiographischen Worten des ihm
persönlich unbekannten Cervantes sei¬
nen Spott treibt, ihn wegen seiner ver¬
stümmelten Linken und wegen seines
Alters verhöhnt, ihn einen alten Gecken
nennt, dessen zänkische, neidische Art
ihn einsam und freudlos gemacht habe.
Er gibt weiter der Freude Ausdruck, ihm
den Gewinn der Fortsetzung seiner Ge¬
schichte hiemit abzuknöpfen. Sie ist wohl
ein hundsgemeines Stüde, diese Vorrede.
Sie hat Cervantes schwer getroffen, wie
man an der aus Emst und Scherz ge¬
mischten Abwehr erkennt, die er seiner
eigenen Fortsetzung des Don Quijote
1615 voranstellt
Über den Inhalt des Avellanedaschen
Buches hat er sich in den letzten Kapi¬
teln des Don Quijote bei einem halben
Dutzend Gelegenheiten humorvoll ge¬
äußert und dabei auch seinen beiden
Helden, dem Ritter und dem Knappen,
amüsante Urteile über jene erlogenen
Geschichten in den Mund gelegt
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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
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Wer war dieser Avellaneda? Das
Dunkel dieses Namens ist bis jetzt nicht
aufgehellt. Cervantes selbst hat ihn für
ein Pseudonym gehalten. Geschäftlichen
Erfolg hat das mittelmäßige Buch nicht
gehabt
Kurz bevor indessen Cervantes die¬
sen zweiten Teil seines Don Quijote
herausbrachte (gegen Ende 1615) er¬
schien seine Sammlung von sechzehn
neuen Theaterstücken: acht Schauspie¬
len und acht Schwänken (Ocho come-
dias y ocho entremesses nuevos). Er
nennt, sie neu, weil das Publikum sie
noch nicht kennt denn sie sind nicht
aufgeführt worden, wie auf dem Titel
der Zusatz: nunca representados besagt.
Es ist ein melancholischer Zusatz, denn
Theaterstücke werden geschrieben, um
auf geführt zu werden, besonders wenn
man von der Feder leben soll. Wieviel
Hoffnungen eines kämpfenden Dichters
liegen unter dieser Inschrift begraben:
nunca representados! Die Stücke pa߬
ten eben nicht mehr in eine Zeit in wel¬
cher Lope de Vega die Bühne be¬
herrschte. Cervantes gibt seiner Aner¬
kennung für Lope’s Kunst in der Vorrede
Ausdruck. Doch, meint er, sollte man
im Reiche des Lope die Arbeiten anderer
Dramatiker — er nennt etwa zehn Na¬
men — nicht vergessen. Cervantes ur¬
teilt über Lope gerecht aber kühl. Er
hatte keinen Grund, Lope zu lieben.
Wenn er dann, von der unerhörten
Fülle der Lopeschen Schöpfungen re¬
dend, deren Reihe mehr als 10000 Bogen
umfasse, hinzufügt: und all diese seine
Stücke hat Lope auch wirklich auffüh¬
ren sehen: todas las ha visto represen-
tar, so klingt sein resigniertes nunca re¬
presentados doppelt traurig.
Als am 27. Februar 1615 der Zensor
Torr es sein anerkennendes Urteil über
das Manuskript des Don Quijote 11 nie¬
derschrieb, konnte er sich nicht enthal¬
ten, ein Vorkommnis der letzten Tage zu
erwähnen, obschon dies in einer amt¬
lichen Beurteilung ungewöhnlich war.
Nämlich: Französische Edelleute, die er,
Torres, neulich bei einem Besuche auf
der Botschaft getroffen, hätten sich mit
höchsten Lobpreisungen nach Cervan¬
tes erkundigt, dessen Werke sie genau
kannten. Er habe ihnen mitteilen
müssen, dieser Cervantes, den aufzu¬
suchen sie so große Lust hatten, sei alt,
von Stande Soldat, aus adeligem Hause
und arm. Worauf einer der Franzosen
ihm erwiderte: Also einen solchen Mann
hat Spanien nicht mit großem Reichtum
und mit Unterhalt aus dem Staatsschatz
bedacht? Ein anderer aber habe lebhaft
bemerkt: Wenn die Armut ihn zum
Schreiben nötigt, so wolle Gott, daß er
niemals Überfluß habe, damit er mit
seinen Werken, während er selber arm
ist, die ganze Welt bereichert.
So war nun sein Ruhm auch ins Aus¬
land gedrungen. 1614 war sein Don Qui¬
jote / ins Französische übersetzt worden.
Während diese Werke 1615 zur Aus¬
gabe gelangten, vollendete Cervantes
einen Abenteuerroman in vier Büchern,
den er schon wiederholt angekündigt
hatte, und der, wie er sagte, mit Heli-
dor wetteifern sollte: Die Drangsale des
Persiles, des Königssohnes aus der
ultima Thule. Die beiden ersten Bücher
bringen das übliche Wirrsal romanti¬
scher Geschehnisse zu Wasser und zu
Lande. Die beiden letzten Bücher führen
den Helden als Pilger durch Spanien
nach Rom. Manches Abenteuer dieser
Pilgerfahrt könnte im Don Quijote
stehen. Die Figur des Maultiertreibers
Bartolome aus der Mancha ist vom
Stamme Sancho. Hier hat Cervantes
offenbar Schnitzel seines größeren Wer¬
kes verwendet
Er hatte noch mancherlei vor. Er
wollte seine Galatea von 1585 vollenden.
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Heinrich Morf, Miguel de Cervantes
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trug sich mit einem Werke El famoso
Bernardo und mit einem anderen, dessen
Titel lauten sollte: „Die Gartenwochen“.
Nichts davon ist auf uns gekommen.
Es ist Oberhaupt keine literarische Zeile
von seiner Hand erhalten geblieben, son¬
dern nur Aktenstücke und ein Privat¬
brief.
Er war, als er den Persiles abge¬
schlossen hatte, schon schwer krank.
Der quälende Durst, über den er
klagt, laßt ihn als Diabetiker erschei¬
nen. In der Vorrede des Romans kleidet
er das Bekenntnis dieser Krankheit in
die humorvolle Erzählung eines Erleb¬
nisses, das ihm auf einem Ritt von Es-
quivias nach Toledo mit einem Studen¬
ten begegnet sei Scherzend erhebt er
sich, wie Moliöre, über sein Verhängnis
und schließt: „Lebt wohl, Scherze,
lustige Einfalle, fröhliche Freunde; ich
bin am Sterben und wünsche, euch bald
und froh im andern Leben wiederzu¬
sehen.“
Zu Anfang April 1616 kann er das
Haus nicht mehr verlassen, und am 18.
empfing er die letzte Ölung von dem
nümlidien Franziskaner, der seine bei¬
den Schwestern absolviert hatte. In
einer Stunde der Erleichterung, folgen¬
den Tages, bringt er seine letzten Zei¬
len zu Papier: es ist die Widmung des
Persiles an den Grafen Lemos. Es fällt
ihm ein alter Vers ein, der leider nur zu
gut zu seiner Lage passe:
„Schon im Bügel mit dem Fuße,
Schon des Todes Schauder fühlend
Schreib’ ich, Herr, Dir dies zum Gruße ...
Gestern gab man mir die letzte Ölung,
und heute schreibe ich dies. Die Zeit
ist kurz, die Schauder nehmen zu, und
die Hoffnung nimmt ab...“ Und wenn
er hinzufügt: Sollte ein Wunder ge¬
schehen und ich am Leben bleiben, dann
würde der Graf die versprochenen „Gar¬
tenwochen“, den Bernardo und das Ende
der Galatea zu Gesicht bekommen, so
klingt dieser nachdrückliche, wenn auch
hoffnungslose Hinweis auf Unvollende¬
tes wie eine Bitte, der opera interrupta
sich anzunehmen.
Sie sind spurlos verschwunden.
Cervantes starb vier Tage später, am
Abend des 23. April, in seiner Wohnung
an der Calle delLeön zu Madrid. Er
ruht, im Franziskanerrock bestattet,
irgendwo unter den Steinen des Kloster¬
friedhofs der Trinitarierinnen der Calle
de Lope de Vega. Das Sterbehaus steht
nicht mehr. An seiner Stelle, an der Ecke
der Calle del Leön und der Calle de Cer¬
vantes, ist längst ein Neubau errichtet.
Der Persiles erschien zu Anfang 1617
und brachte einen posthumen Erfolg.
Die Gattin, die bei Miguels Tode
50 Jahre alt war, überlebte ihn noch um
10 Jahre. Das Wenige, was wir von ihr
wissen, spricht für sie. In schwierigen
Lagen hat sie sich taktvoll und klug be¬
nommen. In dem Testament, das sie
1610 aufsetzte, hatte sie ihm nicht viel
zu vennachen. Das aber sollte ihm zu
freier Verfügung bleiben wegen der
großen Liebe und der guten Kamerad¬
schaft, die sie beide verbunden habei
por el mucho amor y buena oompania
que ambos hemos tenldo. Die Worte
sind ein schönes Motto zu einem Leben
zu zweit, und man möchte in ihnen gerne
mehr sehen als eine bloß notarielle
Formel —
So lebte und starb der Dichter des
Don Quijote. Er lebte, als ein Idealist,
Sinn und Geist seines Buches — ein
tapferer Streiter, den die Not des Lebens
nicht zu bezwingen vermocht hat.
Es gibt wenige Künstlerleben, von
deren Betrachtung man mit dem Gefühle
solcher Dankesschuld scheidet, wie das
Leben des Cervantes. Dabei gilt unser
Dank einem Manne, der selbst dank¬
baren Herzens war und von der Dankbar-
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INDIANA UNIVERSITY
287
Hanns Heiss, Der viamische Anteil an der französischen Literatur
288
keit so sdhön wie kein zweiter ge¬
sprochen hat „Unter den schwersten
Sünden, die die Menschen begehen,"
läßt er Don Quijote in einem Trink¬
spruch sagen, „bezeichnen etliche den
Hochmut als die ärgste. Ich aber sage,
es ist die Undankbarkeit, und ich halte
mich dabei an den üblichen Spruch, daß
der Undankbaren die Hölle voll ist.
Diese Sünde habe ich, soviel an mir lag,
immer zu vermeiden gestrebt von dem
Augenblick an, wo mir der Gebrauch der
Vernunft geworden, und wenn ich die
guten Werke, so man mir erweist, nicht
auch mit guten Werken vergelten kann,
so setze ich an deren Stelle den innigen
Wunsch, sie zu vollbringen. Und wenn
der nicht genügt so mache ich sie öffent¬
lich bekannt Denn wer die Wohltaten,
die er empfängt öffentlich erzählt und
verkündet der würde sie auch mit sei¬
nen Wohltaten vergelten, wenn er es
vermöchte. Denn großenteils stehen die,
welche empfangen, weit unter denen,
welche geben; und so ist Gott über allen,
weil er allen der Geber ist und die Ga¬
ben der Menschen können denen Got¬
tes nimmer gleichkommen, da ein un¬
endlicher Abstand dazwischen ist Aber
dieses Unvermögen, diese Armut wird
gewissermaßen durch die Dankbarkeit
ersetzt“ 4 )
So soll auch die Nachwelt ihr Unver¬
mögen, dem großen Dichter mit guten
Werken zu vergelten, durch die Dank¬
barkeit ersetzen.
Bu&gue por acä: Such’ dir etwas in
der Heimat! hatte ihm die Bureaukratie
geantwortet als er 1590 um ein über¬
seeisches Amt bat So suchte er denn
in der Heimat und die schlechte Brille,
über die andere spotteten, hinderte sein
Auge nicht hier einen Schatz zu finden,
der ihn reicher machte und für die
Menschheit-mehr bedeutete als all die
Schätze, die er drüben hätte sammeln
können.
4) Don Quijote übersetzt eingeleitet und
mit Erläuterungen versehen von Ludwig
Braunfels, Straßburg, K. J. Trübner 1605,
IV p. 219.
Der vlämische Anteil an der französischen Literatur.
Von Hanns Heiss.
I.
Vlamen, vlämisch — wenn man das
Wort ausspricht, steigen zunächst Gale¬
rie-Erinnerungen auf, Erinnerungen an
Maler, die man überall in Europa ge¬
sehen hat, da sie kaum in einer noch so
kleinen und kümmerlichen Sammlung
fehlen. Man denkt an Jordaens, der ein
Antwerpener war, an den Antwerpener
Van Dyck und den anderen, zufällig in
Deutschland geborenen Antwerpener
Rubens, an Snyders, Jan Fyt Comelis
de Vos, Brouwer, an die de Heem, an
die Teniers, an die Familie der Brueghel,
an die Brüder Hubert und Jan van Eyck,
die aus dem Limburgischen stammen,
aus der Gegend, wo deutsches, wallo¬
nisches und vlämisches Gebiet aufein-
anderstoßen. Man erinnert sich an Dar¬
stellungen biblischer Vorwürfe, an Kreu¬
zigungen, Anbetungen, Marterszenen, an
Engel, Heilige und Madonnen, auf deren
feinen, süßen oder leidenden Gesichtern
der Abglanz erdentrückter Verklärung
liegt, die noch erfüllt sind von der inni¬
gen Frömmigkeit des Mittelalters, von
seiner liebevollen Versenkung in die
unbegreiflichen Geheimnisse der Reli¬
gion. Man erinnert sich an Darstellun¬
gen aus dem bäuerischen und bürger-
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INDIANA UNfVERSITY
289
Hanns Heiss, Der vlämiscbe Anteil an der französischen Literatur
290
liehen Leben Flanderns, an Schmause'
reien und Zechgelage, an Frauenhäuser,
wo runde, fette Dirnen sich räkeln, an
verräucherte Schenken, wo Männer bei
Karten und Würfeln hocken, an Kirch-
weihszenen, wo ein ganzes Dorf sich
in Rausch austobt, Männer, Weiber,
Kinder, alles runde, fette Menschen, die
Männer den Wanst angeschwemmt, die
Weiber mit dicken Waden, breiten Hüf¬
ten und hochwogenden Brüsten, alle
betrunken, das Gesicht von Lachen ver¬
zerrt und alle in ihrer Lustigkeit ani¬
malisch und viehisch, genau so unbe¬
fangen und schamlos wie ihre Hunde.
Man erinnert sich an Stilleben, wo zwi¬
schen kupfernen Kesseln, Bechern aus
getriebenem Gold, Gläsern und Blumen-
krügen verlockend Speisen aufgehäuft
sind: rosige Fleischviertel, Hasen und
Wildschweine im Fell, Geflügel, Fi¬
sche, Hummern, Äpfel, Pfirsiche, Me¬
lonen, Trauben, Käse in solcher Menge,
daß die Tische sich zu biegen scheinen,
und daß man sich fragt für was für ein
Volk von gefräßigen Riesen, für was
für pantagruelische Gastmähler diese
Berge von Nahrung zusammengetragen
sind. Und dann erinnert man sich an
die großen Tafeln eines Jordaens und
eines Rubens, an dies Gewühl von
nackten, halbbekleideten, bekleideten
Leibern, die alle vollsaftige, wohlgefüt¬
terte, fleischstrotzende Vlamen undVla-
minnen sind, gleichviel ob sie sich im
Olymp oder im Alten und Neuen Te¬
stament bewegen, gleichviel ob sie
Faun, Faunin, antiker Genius, Held,
Gott und Göttin heißen oder Susanna
im Bad und Bathseba, und die alle über¬
schäumen von unbändigem Lebens¬
drang, sauberer, schöner und pathetischer
als die Kirmesbauern eines Teniers oder
Brouwer, aber nicht minder lebensdurstig
und animalisch, voll naiver Freude nach je¬
dem Genuß langend, den die Sinne bieten.
Internationale Monatsschrift
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Neben der italienischen und der nie¬
derländischen Malerei, mit der sie eng
verwandt ist, bedeutet die vlämische
Malerei eine der ganz großen Leistun¬
gen europäischer Kunst Und was sie
besonders auszeichnet ist die mystische
Vertiefung in religiöse Jenseitsstim¬
mungen, die aus den Werken der Pri¬
mitiven leuchtet, daneben aber, und
weit mehr noch die entschieden dies¬
seitige Lebensbejahung, wie sie am
wuchtigsten, am jubelndsten Rubens
verkörpert Weitabgewandter Mystizis¬
mus, ekstatische Inbrunst und ein unbe¬
kümmertes, vorbehaltloses, heidnisches
Schwelgen in irdischer Wollust: das
scheinen die zwei Pole und die beiden
wichtigsten Merkmale der vlämischen
Rasse zu sein, die so unüberbrückbare
Gegensätze hervorgebracht hat wie den
doctor extaücus Ruysbroek im 14.
Jahrhundert und die Maler des 17. Jahr¬
hunderts — der vlämischen Rasse, de¬
ren Leben sich manchmal ausnimmt,
als wäre es nichts als ein ausgelasse¬
nes, tierisches Schlemmen ohne ande¬
res Ziel als die Befriedigung der derb¬
sten und rohesten Instinkte, und die
sich doch mit einer im tiefsten See¬
lischen wurzelnden Kraft erhoben und
unter unsagbaren Qualen gegen die spa¬
nische Knechtung gekämpft hat, nicht
bloß um die Freiheit, sich am Leben zu
freuen, gegen den Zwang mönchischer
Askese zu verteidigen, sondern für Frei¬
heit im edelsten Sinn, für nationale Un¬
abhängigkeit, Freiheit des Glaubens und
eines religiösen Ideals.
n.
Vlamen, so nannte man ursprüng¬
lich nur die Bewohner der ehemaligen
Grafschaft Flandern. 1 ) Mit der Aus-
1) Ober die Vlamen, vläm. Frage usw.
gibt es besonders seit Ausbruch des Kriegs
eine reiche Literatur. Alles Wissenswerte
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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur
292
dehnung ihrer Marken dehnte sich auch
der Name aus, und jetzt nennt man
seit langem Vlamen alle Niederdeutsch
redenden Bewohner von Belgien, auch
die von Brabant und Limburg. Das Kö¬
nigreich Belgien zerfallt ja der Volks¬
sprache nach wie nach der Stammes¬
zugehörigkeit der Belgier in zwei große
Teile, deren Grenze seit Jahrhunderten
ziemlich unverändert geblieben ist. Im
südlichen Teil, der die Provinzen Lüt¬
tich, Luxemburg, Namur, Hennegau
und den südlichen Zipfel von Brabant
umfaßt wohnen Romanen, die fran¬
zösische Dialekte, vor allem das Wal¬
lonische sprechen. Im nördlichen Teil,
in den Provinzen Ost- und Westflan¬
dern, Antwerpen, Limburg fast ganz
und Brabant wohnen die Vlamen, in
denen sich fränkisches mit sächsischem
und friesischem Blut dann auch mit
spanischem Blut und einem starken
Einschlag gallo-romanischen Bluts ver¬
mischt hat, der ihre letzte Eigenart be¬
dingt Volkssprache der Vlamen sind
niederfränkische Mundarten, denen auch
eine vlämische Schriftsprache zur Seite
steht, die im wesentlichen die Schrift¬
sprache des Königreichs der Nieder¬
lande ist Nur machen sie, und zwar
seit langem, weder von ihren Mund¬
arten noch von ihrer Schriftsprache eif¬
rigen Gebrauch. Vom frühen Mittel-
alter an erliegen sie der Anziehung
französischer Kultur; französische Ein¬
flüsse sind seit dem frühen Mittelalter
übermächtig in ihrem staatlichen, gei¬
stigen und religiösen Leben und mit
diesen französischen Einflüssen ver¬
drängt auch die französische Sprache
findet man bei Franz Jostes, Die Vlamen
im Kampf um ihre Sprache und ihr Volks¬
tum (siehe Internat Monatsschrift, Aug.
1916, Sp. 1406ff.) und bei Paul Oßwald, Bel¬
gien (Teubner 1915, Aus Natur und Geistes¬
welt Bd. 501).
mehr und mehr die heimischen Mund¬
arten, auf die verächtlich herabzusehen
zum guten Ton gehört
Es hat eine Zeit gegeben, wo der
Name Vlaeminc gleichbedeutend war
mit: feingebildeter Mann. Als aber wäh¬
rend und nach der Blütezeit Belgiens
unter burgundischer Herrschaft der
Adel und das Patriziertum französisch
geworden waren, begann das Wort in
Flandern selbst Bauer, Tölpel zu bedeu¬
ten. An der fortschreitenden Verwel-
schung änderte die spanische Herrschaft
sowenig als die österreichisch-habs-
burgische, die sie im 18. Jahrhundert
ablöste. Und als die Gebiete von der
französischen Republik erobert und
nachher dem Kaiserreich Napoleons ein¬
gefügt wurden, schien das Schicksal
des Vlämischen überhaupt für immer
besiegelt Die Revolution ging daran,
das Vlämische gewaltsam auszurotten
wie alles, was nicht französische Schrift¬
sprache war. Die napoleonische Regie¬
rung setzte die Unterdrückung fort. Sie
war freilich von zu kurzer Dauer, um
auf die Massen zu wirken; aber die
oberen Schichten widerstanden ihr um
so weniger, als sie im völligen Auf¬
gehen in Frankreich bei ihrer nationa¬
len Gleichgültigkeit und Wurzellosig¬
keit nur eine Erfüllung alter Sehnsucht,
jedenfalls kein Unglück erblickten.
Der Sturz Napoleons brachte einen
scharfen Gegenstoß. Als Belgien an die
Niederlande fiel, wurde das Franzö¬
sische unterdrückt, doch ohne daß das
Vlämische daraus Vorteile gezogen
hätte;. Denn die Holländer versuchten,
Vlamen wie Wallonen in Holländer um¬
zuwandeln. Die fünfzehn Jahre, die die
Herrschaft der Oranier währte, reichten
hin, um sie als unerträgliche Fremd¬
herrschaft empfinden zu lassen. Die
Erbitterung, die noch durch konfessio¬
nelle Feindseligkeiten geschürt wurde.
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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur
204
machte sich Luft in der Revolution von
1830, aus der schließlich das König¬
reich Belgien in seiner modernen Ge¬
staltung entstand. Die Verfassung des
neuen Königreichs räumte dem Vlämi-
schen dieselben Rechte als staatlich an¬
erkannte Sprache wie dem Französi¬
schen ein. Aber die Gleichberechtigung
blieb auf dem Papier stehen. Wie vor
der holländischen Herrschaft war
Kenntnis des Französischen notwendig,
am ein staatliches Amt zu bekleiden,
französisch war die Sprache der Ver¬
waltung und vor Gericht; das Franzö¬
sische beherrschte durchaus den Schul¬
unterricht, eroberte das kirchliche Le¬
ben und auf dem Umweg über die Kir¬
che wieder das Alltagsleben.
III.
Bald nach 1830 geschah es zwar,
daß Vlamen sich zusammenschlossen,
um für ihre Sprache und ihr Volkstum
einzutreten. Gelehrte und Dichter rie¬
fen die vlämische Bewegung ins Leben,
der Hendrik Conscience das Gewicht
seines großen, auch außerbelgischen
Rufes lieh, die in der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts langsam er¬
starkte und bis zum Ausbruch des
Weltkriegs manchen kleinen Erfolg zu
verzeichnen hatte. Aber wer ihre Ge¬
schichte näher betrachtet, hat den Ein¬
druck, daß hier unendlich viel müh¬
same, aufopfernde Arbeit geleistet wor¬
den ist zu der die Errungenschaften
in keinem rechten Verhältnis stehen,
eine Arbeit, die denen, die sie geleistet
haben, nirgends, auch beim eigenen
Volk nicht. Dank und Lohn eingebracht
hat Die Schwierigkeiten, die es zu
überwinden galt waren zu groß, wenn
nicht unüberwindlich. Denn die Haupt-
Schwierigkeit ist nicht etwa politischer
Art liegt nicht in der Eifersucht der
Wallonen, in den Gegensätzen zwischen
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Liberalismus und Klerikalismus, in un¬
terirdischen Machenschaften Frank¬
reichs oder in den tausenderlei Neben¬
interessen, die mit der Frage verquickt
sind — sondern sie liegt bei den Vla¬
men selbst in der Trägheit und dem
offenen Widerwillen, auf die die vlä¬
mische Bewegung gerade in der vlä-
mischen Bevölkerung trifft Das Volk
freilich im engeren Sinn ist heute wie
im Mittelalter der Sprache und dem
Wesen nach vlämisch, unberührt von
französischem Geist und französischer
Kultur, aber eben zu unberührt von
Geist und Kultur überhaupt, als daß es
der vlämischen Bewegung Rückhalt bie¬
ten könnte. In allen anderen Kreisen
aber, von den Halbgebildeten bis zu
den geistig Hochstehenden hinauf, sind
die flamtngants, wie man die selbst¬
bewußten, für Vlamentum kämpfenden
Vlamen heißt, nur weiße Raben, die sich
in der Unzahl ihrer französisch gesinn¬
ten Stammesbrüder, der franskiljons,
verlieren. Die Vorurteile gegen alles,
was aus der Heimat kommt, die Sympa¬
thien für alles, was aus Frankreich
kommt, die Ehrerbietung vor der Über¬
legenheit Frankreichs sind zu stark, sind
das Ergebnis einer so alten und durch¬
greifenden Entwicklung, daß Änderun¬
gen erst in einer fernen Zukunft mög¬
lich sein werden, wenn sie überhaupt
möglich sein sollen. Es handelt sich ja
um weit mehr als eine Sprachenfrage,
nicht bloß darum, daß die gebildeten
Vlamen lieber Französisch als Vlämisch
sprechen, lesen und schreiben, sondern
darum, daß sie französisch denken und
fühlen, daß sie französisches Denken
und Fühlen im Elterhaus lernen und es
nie mehr verlernen, weder auf der
Schule, noch auf der Hochschule, noch
sonst im Leben. Ganz Belgien, das vlä¬
mische so gut wie das wallonische Bel¬
gien, ist geistig lind kulturell nur ein
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Hanns Heiss, Der viamische Anteil an der französischen Literatur
296
Anhängsel von Frankreich, eine fran¬
zösische Provinz, und die geistigen und
kulturellen Mittelpunkte Belgiens mit
der Hauptstadt Brüssel an der Spitze
sind nur Vorstädte der wahren belgi¬
schen Hauptstadt, und die ist Paris.
Wir können es bedauern, aber wir
dürfen die Tatsache nicht wegleugnen:
gerade die tüchtigsten und wertvoll¬
sten Vlamen haben für das Vlamen-
tum nichts getan oder ihm sogar ent¬
gegengewirkt, weil sie alles Heil vom
Anschluß an das Franzosentum er¬
warteten. Das zeigt sich recht deut¬
lich in der Literatur. Denn als das
vlämische Volk nach jahrhunderte¬
langer Dürre und Armut endlich Dich¬
ter und Werke hervorbrachte, eben¬
bürtig den Dichtem und Werken der
anderen europäischen Nationen, darun¬
ter einen Dichter, der zu den Großen
unserer Zeit und wohl aller Zeiten ge¬
rechnet werden muß, da wurden diese
Werke in französischer Sprache ge¬
schrieben und gingen in die Weltlitera¬
tur ein als Bestandteil der französischen
Literatur.
IV.
Die Literatur der Vlamen — das ist
ein seltsames Problem. Taine spricht in
seiner „Philosophie de l’art“, in den Ab¬
schnitten, wo er die Blüte der vlämi-
schen und holländischen Malerei als
Erzeugnis von Rasse, Boden, Klima und
Zeitverhältnissen zu erklären versucht,
den Vlamen wie den Niederländern
überhaupt die literarische Begabung
ab*), da sie nur eine Reihe kleiner
Schriftsteller, aber kein einziges europä¬
isches Buch aufzuweisen haben. Taine
ist seitdem gründlich widerlegt worden.
Aber vor rund fünfzig Jahren, als er
seine Behauptung niederschrieb, durfte
2) Paris, Hachette, 11* 6d. 1904. Bd. I
S. 253.
er so schreiben. Was die Vlamen bis
dahin in der Literatur geleistet hatten,
war kaum der Rede wert, und das, was
der Rede wert war, war so herzlich
wenig, daß es sich im Nu aufzählen ließ.
Dieses Volk, das von genialer Bega¬
bung für die bildenden Künste strotzte,
das der Welt die unvergleichliche Fülle
seiner Maler von den van Eycks bis zu
Rubens und van Dyck schenkte, das
vom Mittelalter an seine fleißigen, auf¬
blühenden, immer reicheren Handels¬
städte mit der vielbewunderten Archi¬
tektur seiner Bürgerhäuser, seiner Hal¬
lenbauten, seiner Rathäuser, Türme,
dann auch seiner Kirchen und Klö¬
ster schmückte, dessen Kunsthandwerk
in den Arbeiten seiner Gold- und Sil¬
berschmiede, seiner Elfenbeinschnitzer,
seiner Teppichweber und Spitzenklöpp¬
lerinnen überall geschätzt und bestaunt
wurde — dieses Volk war und blieb
in seiner Literatur von einer Unfrucht¬
barkeit, die Rätsel zu raten aufgibt.
Woran liegt die Schuld? Ist es die poli¬
tische Unselbständgikeit des Landes,
das so oft seine Herren wechseln
mußte und immer wieder nur fremde
Herren eintauschte, das nacheinander
burgundisch, spanisch, österreichisch,
französisch und holländisch werden
mußte, ehe es belgisch sein konnte? Ist
es die unglückliche Lage, die Belgien
von jeher zum Zankapfel zwischen Eng¬
land, Frankreich, Deutschland und da¬
mit zum Schlachtfeld und Leichen¬
acker Europas gemacht hat? All das
Elend, die Vernichtung und Verwü¬
stung, die das Land mehr als einmal
heimgesucht haben, am schrecklichsten
im 16. Jahrhundert während der Kämpfe
gegen Philipp II. und Alba, an deren
Wunden es sich beinahe verblutet
hätte? Oder ist es einfach eine Schwie¬
rigkeit, die für die bildenden Künste
wegfällt, die aber auf die Entfaltung
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INDIANA UNfVERSITY
297
Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur
298
des Schrifttums lahmend wirken kann,
die Schwierigkeit, eine Sprache zu
wählen, sich für das Französische zu
entscheiden oder das Viamische oder
(nach der Entstehung der deutschen
Schriftsprache) fflr das Hochdeutsche?
Man mag sich den Kopf zerbrechen
Ober den wahren Grund, vielleicht ha¬
ben alle zusammengearbeitet — jeden¬
falls erschöpft sich bis in die jüngste
Vergangenheit herauf die künstlerische
Leistung des Vlamenvolkes ganz in
Malerei, Architektur und Kunstgewerbe.
Nur durch das, was die Vlamen in
Malerei, Architektur und Kunstgewerbe
hervorbrachten, hatten sie teil an der
künstlerischen Leistung Europas. Was
sie literarisch hervorbrachten, nahm
sich daneben kümmerlich aus, und der
Name fast keines ihrer Dichter hatte
nur annähernd den Klang, den die Na¬
men ihrer Maler, auch nur der klei¬
neren, haben, gleichviel ob es ein Dich¬
ter war, der seinem Stamm treu in
einer deutschen Mundart oder Sprache
schrieb, oder einer, der verwelscht eine
französische Mundart oder das Schrift-
französisch vorzog.
Ein berühmter Dichter der deutschen
Literatur des Mittelalters ist ein Vlame
von Geburt, Heinrich von Veldecke,
den ein dankbarer Nachfahr lobt, daß
er das erste Reis in deutscher Zunge
impfte. 3 ) Rund hundert Jahre nach sei¬
ner Aeneis und seinen viel nachgeahm-
ten Minneliedem, im 13. Jahrhundert,
schuf ein Vlame in Anlehnung an den
französischen Roman de Renart ein
Epos von Reinecke Fuchs, das als das
beste Werk des mittelalterlichen Tier-
3) Zur vläm. Literatur nichtfranz. Sprache
vgL Jan te Winckel, Die niederländische
Literatur in Pauls Grundriß der germani¬
schen Philologie (Straßburg, TrQbner) Bd. II,
<md Stecher, Hist de la litt nöerlandaise
® Belgique (1887).
epos gilt und das im 14. Jahrhundert
ein anderer Vlame erweiterte und fort¬
setzte. Vom 14. Jahrhundert ab ent¬
standen in den Rhetorikerkammem eine
Art von literarischen Zünften, die sich
die Pflege vlämischer Dichtung, vor
allem die Abfassung und Aufführung
geistlicher Schauspiele angelegen sein
ließen. Aber die tote Zeit hatte schon
begonnen. Jahrhunderte muß man über¬
springen, ehe man nach Heinrich von
Veld ecke wieder einen berühmten vlä«
mischen Dichter anführen kann: Hen-
drick Consdence, den Romandichter,
der im 19. Jahrhundert aus einer Gruppe
von vlämischen Schriftstellern hervor¬
ragt. Er wurde bei uns immer gelesen;
sein „Löwe von Flandern“ prangt heute
in den Schaufenstern der Buchhändler.
Die meisten unter uns werden sich aus
der Kindheit an ihn erinnern, werden
mit Vergnügen an ihn zurückdenken
wie an andere Bücher, die man einmal
gern gelesen hat und nach denen man
doch nie mehr greifen würde. Denn
Consdence hat alles mögliche, was ihn
liebenswert macht und weswegen man
ihn der Jugend empfehlen kann; aber
um ein Dichter der Weltliteratur zu
sein und neben die großen Europäer
gestellt zu werden, dazu fehlen ihm zu
wichtige Eigenschaften.
Ganz ähnlich ist das Bild, das die
vlämische Literatur französischer Spra¬
che bietet *) Nur daß sie auch im Mittel-
4) Das Hauptwerk darüber ist die unvol¬
lendet gebliebene Histoire des lettres beiges
d’expression frangaise von Francis Nautet,
zwei Bände (Brüssel, Rozez, Bibi, beige des
connaissances modernes, Nr. 7 und 25/26).
Eine sehr flüchtige Obersicht, die sich auf
Zusammenstellung der wichtigsten Namen
und Tatsachen beschränkt, gibt Hubert
Effer, Beiträge zur Geschichte der französi¬
schen Literatur in Belgien. Wiss. Beil. z.
JB. der städt Oberrealsch. zu Düsseldorf.
Ostern 1909.
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Hanns Heiss, Der viamische Anteil an der französischen Literatur
300
alter keinen berühmten Dichter nennen
kann, obwohl in Flandern, in Brabant
und im Hennegau ein reges literarisches
Leber aufblühte, das seinen Höhepunkt
in Mecheln, am Hof der kunstsinnigen
Margarete von Österreich, der Regen¬
tin der Niederlande, erreichte. Aber die
Dichter sind Romanen, Pikarden, Wal¬
lonen, mit Ausnahme eines einzigen,
des Viainen Georges Chastelain, der im
15. Jahrhundert am Eingang der soge¬
nannten burgundischen Schule der Rhe¬
toriker steht Dann beginnt auch hier
die Zeit der Erstarrung. Unter der fran¬
zösischen Herrschaft rührt sich wieder
etwas literarisches Leben, d. h. von 1800
ab gibt es eine Menge von Belgiern,
die schriftstellerisch arbeiten. 5 ) Aber
was sind das für unbedeutende Dich¬
terlinge, Epigonen, die in den ausge¬
fallenen Gleisen französischer Moden
einhertrotten, und die sich von den
Franzosen nur dadurch unterscheiden,
daß der Geschmack, in dem sie schrei¬
ben, in Frankreich schon ein paar Jahr¬
zehnte früher in Mode war! 1830 sagt
der Belgier Claes mit vollem Recht 6 ):
„Wozu es verheimlichen ? Es gibt keine
belgische Literatur, wir haben keine na¬
tionale Literatur. Der Patriotismus darf
uns nicht hindern, offen zu sein. Wenn
uns jemand etwas zeigen kann, was
man eine belgische Literatur nennen
könnte, so hatte er eine große Ent¬
deckung gemacht.“ Nur ein Mann aus
jener Zeit ist einigermaßen bekannt und
verdient nicht ganz vergessen zu wer¬
den: Andrö van Hasselt, dem die Bel¬
gier für die Erforschung ihrer Ver-
5) Eine sehr eingehende Abhandlung
darüber von Fritz Masoin, Histoire de la lit-
törature frangaise en Belgique de 1815 ä 1830
in M&noires couronn£s et autres möm. p.
p. I’acad6mie royale des Sciences, des lettres
et des beaux-arts de Belgique (Bd. 62,
November 1002).
6) Angeführt bei Masoin S. 9.
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gangenheit Dank schulden, der aber
als Lyriker nichts darstellt als einen
unselbständigen, von den Musen ver¬
lassenen Nachbeter der französischen
Romantik und Victor Hugos.
V.
Ein paar Jahre, ehe Claes seine mut¬
losen Worte aussprach, war in Deutsch'
land, in München, ein Vlame geboren
worden, der als erster die kommende
Blüte belgischen Schrifttums ankündi-
gen sollte: Charles de Coster. 7 ) 1858
veröffentlichte de Coster einen Band
„Legendes flamandes“, der zwar von
dem Pariser Modeprofessor Emil De¬
schanel in einer Vorrede warm empfoh¬
len wurde, der aber trotzdem fast keine
Beachtung fand, zum Teil wohl des¬
halb schon, weil das altertümelnde,
Balzac abgelauschte Französisch des
Buches vielen Lesern den Zugang ver¬
wehrte. 1867 gab de Coster seine „Le¬
gende d’Ulenspiegel et de Lamme Goed-
zak“. Mit nicht besserem Erfolg. Ein¬
sam, unverstanden, nach einem Dasein
voll von Not, Entbehrungen und Bitter¬
keiten starb er 1879. In den meisten
französischen Literaturgeschichten fehlt
sein Name.
Man hat den Eulenspiegelroman eine
belgische oder vlämische Bibel genannt:
er ist in der Tat ein Nationalepos. An
Eulenspiegels Wiege prophezeit die
Hebamme Katheline: „Zwei Kindlein
sind geboren, das eine in Spanien, der
Infant Philipp, das andere in flandri¬
schem Land, der Sohn von Claes, der
später Eulenspiegel geheißen werden
wird- Philipp wird Henker werden, da
er von Karl V., dem Mörder unseres
Landes, gezeugt ist; Eulenspiegel wird
ein großer Gelahrter in lustigen Reden
7) Zu de Coster vgl. besonders Nautet,
Bd. I S. 99 ff.
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301
Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur
302
und Jugendschnurren sein, aber sein
Herz wird gut sein, da er Claes zum
Vater hat, den wackeren Arbeitsmann,
der es versteht, in aller Rechtschaffen¬
heit. Ehrlichkeit und Gutmütigkeit sein
Brot zu verdienen. Karl, der Kaiser, und
Philipp, der König, werden durch das
leben sprengen. Schlimmes tuend in
Schlachten, Erpressungen und anderen
Verbrechen- Claes, der die ganze Woche
arbeitet nach Recht und Gesetz lebt
und der lacht anstatt über seine harten
Plagen zu weinen, wird das Vorbild der
guten Arbeiter Flanderns sein. Eulen-
Spiegel, immer jung, der niemals ster¬
ben wird, wird durch die Welt streifen,
ohne sich je an einem Ort ansässig zu
machen- Bauer wird er sein, Edelmann,
Maler, Bildhauer, alles zusammen. Und
wird so durch die Welt wandern,
lobend, was schön und gut ist, und über
die Dummheit spottend mit vollem
Maul. Claes ist dein Mut du edles Volk
von Flandern, Soetkin deine wackere
Mutter, Eulenspiegel dein Witz, ein zier¬
liches, liebliches Mädchen, Eulenspie-
gels Gefährtin und unsterblich wie er,
wird dein Herz sein, und ein- dicker
Fettwanst, Lamme Goedzak, wird dein
Magen sein.“
Der Schelm der alten deutschen
Volkssage und die um ihn sind, werden
bei de Coster Verkörperungen des Vla-
mentums. Gutherzig und zugleich ver¬
schlagen, unerschöpflich an Listen, ge¬
fräßig, einem tüchtigen Trunk nie ab¬
hold, gern karessierend, was ihm über
den Weg läuft, Bürgersfrau, Schenkin
oder Dirne, und doch in der Seele
seiner Jugendliebsten treu, von derb¬
fröhlichem Humor, immer bereit, Scha¬
bernack zu spielen, zu lachen und die
anderen zum Lachen zu bringen — so
tobt er sich zunächst aus in traditionel¬
len Eulenspiegeleien, die häufig mehr
unflätig als geistreich sind. Wächst
aber dann über sie hinaus, reift zum
Mann und sogar zum Helden empor,
da er sein Vaterland unter den Spaniern
bluten sieht Die alte Katheline wird
gefoltert und verliert den Verstand;
sein Vater stirbt den Ketzertod auf dem
Scheiterhaufen; er selbst wird gefol¬
tert; seine Mutter wird gefoltert und
siecht hin, bis sie stirbt. Die Asche
seines Vaters schlägt ihm an die Brust;
die Erinnerung an eigenes Leid und das
Leid seiner Nächsten, all das Wehkla¬
gen, das ringsum in flandrischen Lan¬
den seufzt mahnt ihn, Rache zu neh¬
men, nicht zu erlahmen in dem Krieg,
den er gegen die Unterdrücker führt
und aus dem er hervorgeht, nicht als
Sieger, aber unbesiegt, wie die Heimat
Grausamkeit und Qualen unverwüst¬
lich überdauernd. Sein Körper liegt auf
dem Rasen, wo er zusammengebrochen
ist. Nele, seine Liebste, kniet weinend
bei ihm. Ein Bauer hebt das Grab aus
und bettet ihn in den Sand. Der Bürger¬
meister und die Schöffen gucken zu. Der
Pfarrer pustet vor Vergnügen, ehe er
sein Gebet spricht Plötzlich arbeitet sich
Eulenspiegel niesend aus dem Grab,
springt dem Pfarrer an die Gurgel, der
davonläuft, und beutelt den Bürgermei¬
ster und die Schöffen: „Begräbt man
Eulenspiegel, den Witz der Mutter Flan¬
dern, Nele, ihr Herz? Auch Flandern
kann schlafen, aber sterben, nein! Komm,
Nele!“
Der Roman wurde vor mehreren
Jahren in Deutschland ausgegraben
und mit der Bereitwilligkeit, mit der
wir Deutsche ausländische Literatur
lobpreisen, wurde er sofort von Über¬
setzern und Kritikern zu einem der
ragenden Werke der Weltliteratur ge¬
stempelt. Die Franzosen waren vor¬
sichtiger als wir in unserer beifall¬
freudigen Allerweltsneugierde, obwohl
das Buch der Sprache nach ihnen ge-
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INDIANA UNfVERSITY
303
Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur
304
hört Ob sie wirklich sehr viel versäumt
haben? Die Schwänke Eulenspiegels
und seine Kämpfe sind in einer losen
Reihe von Bildern gestaltet, und gewiß
sind einige davon recht eindringlich,
manche durch den treuen, farbigen Rea¬
lismus, der das Leben in flandrischen
Häusern, Wirtsstuben und auf flandri¬
schen Gassen etwa in der Art des Brou-
wer oder von Teniers d. J. malt, andere
durch das seherische *Pathos, zu dem
de Coster sich steigert Daß die Vlamen
den Roman lieb haben, weil sie in ihm
Geruch ihrer Scholle spüren, Heimatluft,
und zwar Luft aus der großen, traurigen
und stolzen Zeit ihrer Geschichte, das
läßt sich wohl begreifen. Aber um über
die Grenzen vlämischer Bezirke hinaus
zu fesseln, dazu ist er doch weder naiv
und ungekünstelt volkstümlich genug,
noch auch Kunstwerk genug.
VI.
De Coster starb, als es gerade überall
in Europa in der Literatur gärte, als sich
überall, in Frankreich voran, der Natu¬
ralismus durchsetzte, als sich aber auch
mitten im Naturalismus schon die ersten
Anzeichen eines nahenden Rückschlags,
die ersten Anzeichen einer vorläufig noch
unsicher tastenden, neuromantischen, ins
Mystische und Symbolistische schillern¬
den Kunst verrieten. Um diese Zeit er¬
wacht mit einemmal Belgien aus seinem
totenähnlichen Schlaf. 8 ) Moderne Lite-
8) Es gibt außer den Kapiteln von Nautet
mehrere Darstellungen der modernen bel¬
gischen Literatur, darunter das für den
reichsfranzösischen Standpunkt und Ge¬
schmack häufig sehr bezeichnende und da¬
her interessante Buch von Albert Heumann,
Le mouvement littöraire beige d’expression
frangaise depuis 1880 (pröface p. M. Camille
Jullian de l'Institut. Paris, Mercure de France.
2* 6d. 1913). Ober die nachher einzeln er¬
wähnten Vlamen, van Lerberghe, Demolder,
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ratur -und Kunstzeitschriften werden be¬
gründet : „La jeune Belgique“, „La sodfetö
nouvelle“, „L’art moderne“, „La Wallo¬
nie“; andere Zeitschriften folgen. Per¬
sönlichkeiten mit Führereigenschaften
erstehen, denen es gelingt, die zerstreu¬
ten Kräfte zu sammeln und das Publi¬
kum aus seiner Gleichgültigkeit aufzu¬
rütteln. Junge Vlamen und Wallonen,
unter den letzteren Albert Giraud, Iwan
Gilkin, scharen sich um die zwei Män¬
ner, die das größte Verdienst um die bel¬
gische Renaissance haben, um Max Wal¬
ler und den viel älteren Romandichter
Lemonnier, den sie den Vater der moder¬
nen Literatur Belgiens nennen. Wo so
lange alles dürr schien, offenbart sich
plötzlich eine Fülle dichterischer Bega¬
bungen, in beiden Teilen des Landes zu¬
gleich, aber bei den Vlamen entschieden
mehr und eigenartigere als bei den Wal¬
lonen. Und was bisher noch nie geschah,
geschieht nun: sogar Paris interessiert
sich für sie, tut sie nicht mehr mit dem
spöttischen Lächeln ab, das der Haupt¬
städter für den schwerfälligen, unele¬
ganten Verwandten aus der Provinz hat.
Der „Mercure de France“, der damals in
Frankreich dasselbe bedeutete wie bei
uns Michael Georg Conrads „Gesell¬
schaft“ und die „Freie Bühne“, nimmt sie
gastlich auf. Pariser Verleger drucken
Bücher von ihnen; Pariser Theater spie¬
len Stücke von ihnen. Auf dem Umweg
über Paris und Frankreich werden sie
endlich auch in der Heimat bekannt, wo
man immer gewohnt war, nur das zu
Eekhoud, Rodenbach, Lemonnier und Ver-
haeren gibt es eine Unmenge von Auf¬
sätzen in französischen und deutschen Zeit¬
schriften, zum Teil auch Monographien, die
man in allen bibliographischen Hilfsmitteln
aufgezählt findet. Bibliographische Listen
bieten auch Nautet und Heumann. — Vgl.
jetzt auch Kösters Aufsatz im Juliheft der
Internat Monatsschrift. Dieser Aufsatz hier
war schon eingesandt, als jener erschien.
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305
Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur
300
bewundern, was vorher Paris approbiert
hatte. Die Aufmerksamkeit schlägt über
Belgien und Frankreich hinaus, schlägt
immer weitere Wellen. Belgien hält
seinen Einzug in die europäische Lite¬
ratur.
Seitdem ist die belgische Literatur
reich an Namen von gutem Klang. Frei¬
lich sind manche, die man im ersten Eifer
der Mode überschätzte, bereits wieder
vergessen. Manche sind nur anständiger
Durchschnitt Manche sind um kein Haar
anders und nicht besser als die Pariser
Boulevardschreiberei, in der sie aufgin¬
gen. Manche versprachen Ernstes, sind
aber nicht zur vollen Reife gelangt. Man
könnte eine Anzahl Vlamen hervorheben,
lebende und heute schon tote, die sich
damals neben den nationalfranzösischen
Schriftstellern ihren Platz schufen. Da
ist von Albert Samain abgesehen, der
geborener Franzose war, Charles van
Lerberghe zum Beispiel, der unstet in
der Welt herumwanderte, in Frankreich,
England, Deutschland, Italien, in dessen
Lyrik sich alle möglichen Einflüsse kreu¬
zen, Einflüsse von Dichtern, wie Dante
Gabriele Rossetti, und Einflüsse von Ma¬
lern wie Botticelli und Leonardo da Vinci,
denen er nach eigenem Bekenntnis wich¬
tige Anregungen für sein Hauptwerk „La
chanson d’Eve“ verdankt, und der in
einem kleinen Drama „Les flaireurs“ als
erster die Wirkungen erprobt hat, die in
Maeterlincks Dramen bald nachher so
neu und unerhört schienen. Oder Eugene
Demolder, der in seinen Romanen und
Erzählungen am liebsten in der Ver¬
gangenheit Flanderns untertaucht, um
vlämisches Schwelgen in irdischem Froh¬
sinn, dann auch (aber schüchterner) vlä-
mische fromm-einfältige Gläubigkeit zu
gestalten. Oder George Eekhoud, der
als unerbittlicher, vor keiner Roheit
and Scheußlichkeit zurückschreckender
Wirklichkeitsschilderer von dem harten.
rauhen, armen Leben der Bauern seines
Kemperlandes oder von dem Abschaum
einer Hafenstadt wie Antwerpen erzählt.
Oder Eekhouds Widerspiel, der früh
verstorbene George Rodenbach mit der
etwas langweiligen Trostlosigkeit seiner
müden, bleichsüchtigen, ewig klagenden
Lyrik und seinem auch bei uns seinerzeit
viel gelesenen Roman „Bruges-la-morte“,
wo er die über Brügge ausgegossene,
verschleierte Trauer im Spiegel eines
sehr unwahrscheinlichen, sehr sentimen¬
talen Neurastheniker-Erlebnisses einzu¬
fangen versucht
Aber drei ragen heraus von auffallen¬
derem Wuchs: Camille Lemonnier, Mau¬
rice Maeterlinck und als letzter und
größter: Emile Verhaeren.
VH.
Lemonnier, in dem, wie der Name ver¬
muten läßt vom Vater her romanisches
Blut floß, wird vor allem als der wohl¬
wollende, begeisterte Förderer der Jun¬
gen und Jüngsten fortleben. Sein Werk
war schon leis angestaubt als er vor
mehreren Jahren starb. Er ist alt gewor¬
den und hat in seinem langen Dasein
eine echt vlämische, unheimliche Frucht¬
barkeit entfaltet hat außer kunstkriti¬
schen Studien und dem Denkmal das er
seinem Vaterland in „La Belgique“
setzte, Romane und Novellen dutzend¬
weise in die Welt geschickt Er hat nicht
immer mit der gleichen Strenge gegen
sich selbst gearbeitet hat, als er einmal
berühmt weit, viel leichte Marktware für
die Pariser Zeitungen geliefert und die
Mühelosigkeit mit der er schrieb, hat
ihm oft geschadet Daß man ihn den
belgischen Zola heißt deutet in einem
Atem Lob und Vorwurf an. Ohne Zwei¬
fel hat ihn der französische Naturalis¬
mus, besonders Zola, beeinflußt Wer
sich davon überzeugen will braucht nur
einen Band aus seinen Anfängen in die
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307
Hanns Heiss, Der vl&mische Anteil an der französischen Literatur
308
Hand zu nehmen, zum Beispiel die „Con-
tes flamands et wallons (seines de la
vie nationale)“ von 1873, die scharf ge¬
gen seine spätere Art abstechen: gemüt¬
liche, durchaus zimmerreine Geschich¬
ten, die in ihrer anspruchslosen Bieder¬
keit an Consdence und von ferne an
Dickens gemahnen. Und doch trennt
ihn auch später Entscheidendes von den
Franzosen um Zola. Wer fühlen will, wie
eigenpersönlich, bodenständig Lemon-
nier bei aller Beeinflussung geblieben
ist, kann zu irgendeinem seiner nach 1880
entstandenen Romane greifen, zum Bei¬
spiel zu dem frühen „Un mäle“ (1881).
Der Held dieses Romans, dessen
Handlung sich in wallonischem Land
unter wallonischen Bauern abwickelt,
ist der Wilderer Cachaprfes. Halbwild
im Forst bei armen Holzhauern auf-
gewachsen, hat er von Kindheit auf
nichts anderes gelernt und getrieben als
die Jagd, die alle Instinkte des Natur¬
menschen in ihm ausbildet und vervoll¬
kommnet; verführt eines Tages die Stief¬
tochter eines wohlhabenden Bauern;
sucht dann Vergessen, als sie, seiner
überdrüssig, ihm den Abschied gibt; jagt
wieder nächtelang im Wald, vertrinkt
und verjubelt in den Dörfern den Erlös
seiner Beute, gefürchtet und beneidet,
bis ihn durch Verrat sein Schicksal er¬
eilt Förster lauem ihm auf, im Hand¬
gemenge tötet er einen, lebt kurze Zeit
vogelfrei noch wilder als vorher, erliegt
schließlich der Übermacht und verkriecht
sich, angeschossen, mit einer tödlichen
Wunde, um im Wald zu sterben, wie er
einst im Wald geboren wurde.
Cachapr&s ist der Held des Romans,
aber ebenso wie Cachaprös ist Held der
Wald selber, der undurchdringliche, aus¬
gedehnte, unendliche Wald mit den we¬
nigen Menschen, die unberührt von je¬
der Kultur im Schweiß ihres Angesichts
darin fronen, mit dem Getier, das ihn
erfüllt und mit dem Leben seiner Bäu¬
me und Pflanzen. Und Held ist in wei¬
terem Sinn das belgische Land und das
belgische Volk, dessen Sinnesfreude sich
in einer breit und prächtig ausgemalten
Kirchweihszene in einem riesenhaften
Rausch von Alkohol, Streit Tanz und
Paarung austollt Daß Lemonnier aus
der Liebesgeschichte eines Wilddiebes
weder ein Salontiroleridyll noch eine
Ganghoferiade gemacht hat überrascht
nicht Das hätte auch ein naturalisti¬
scher Franzose nicht getan. Aber wenn
man sich nach Vergleichsmöglichkeiten
umguckt, um sich über seine Eindrücke
klar zu werden, fällt einem überhaupt
kein Franzose ein. An Süddeutsche muß
man denken, an Schönherr, Ludwig Tho-
ma, Queri; nur daß dem Belgier die Be¬
wältigung seines Stoffes freskenhafter
gelungen ist daß er nicht im amüsanten
Schnörkel einer Simplizissimus - Anek¬
dote stecken bleibt Ein Franzose, ein
Pariser hätte kaum so frisch und üppig,
mit solcher Unmittelbarkeit diese bun¬
ten Schilderungen aus der Dorfwelt ge¬
ben können; zwischen ihn und seine
Bauern hätte sich störend das Bewußt¬
sein seiner Überlegenheit über das Vieh
gedrängt; er hätte kaum diese Wald¬
schilderungen geben können, die das
Schönste an Lemonniers Roman sind,
und hätte sicher nicht diesen Cachaprös
zeichnen können, der so ganz Natur¬
wesen ist, eins mit den Tieren, denen er
nachstellt eins mit den Bäumen, unter
denen er schläft auf die er klettert —
ein zottelhaariger, heidnischer, faunisch-
lüstemer, roher, grausamer und dabei
doch zarter Regungen fähiger Waldgott
mitten im katholischen und industriellen
Belgien des 19. Jahrhunderts.
VIIL
Wenn man Maeterlinck da sucht wo
er am echtesten und reinsten ist wo er
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300
Hanns Heiss, Der vläraische Anteil an der französischen Literatur
310
ohne Rücksicht auf Erfolg und Mode nur
sich selbst lauscht, in den kleinen Dra¬
men seiner Frühzeit, in„Pell6as etMCli-
sande“ zum Beispiel oder in „L’intruse“
oder „La mort de Tintagile“ oder in den
Meditationen des „Tresor des Humbles",
nodi ehe er mit „Monna Vanna“ zum
einträglichen Kassenstück abschwenkt
und sein Grübeln zur Erbauung mondä¬
ner Leser und Leserinnen in dünne phi¬
losophische Plaudereien verwässert —
so wird man keinen schärferen Gegen¬
satz zu Lemonnier finden als ihn.
Müdigkeit, die auf allen Gliedern la¬
stet, Weltflucht, Angst vor dem Leben
und der Wirklichkeit, aber auch Angst
vor dem Tod, Angst und wieder Angst
nach allen Seiten hin, ein Befangensein
in dumpfer, lähmender Trauer, ein ver¬
zweifeltes Sichfügen, das jede Anstren¬
gung fast von vornherein als unnütz,
zwecklos ablehnt und das sich willenlos
einem dunklen Schicksal entgegentrei-
ben läßt: das sind die Stimmungen, die
Maeterlink in seinen symbolischen Spie¬
len zum Ausdruck bringt. Und gewiß
spiegelt sich in diesen Stimmungen die
Erschöpfung, Mutlosigkeit und Ratlosig¬
keit eines dekadenten Geschlechts; ge¬
wiß ist Maeterlinck am Ende des Jahr¬
hunderts nicht der einzige in Europa, der
solche Stimmungen gestaltet; aber er ge¬
staltet sie besonders suggestiv, mit einer
entnervenden Eindringlichkeit, die durch
Mark und Bein geht Deshalb schien er
überall so eigenartig und ungleich be¬
deutender, als er ist; deshalb übersah
man, wie enge Grenzen seiner Einge¬
bung und seiner Kunst gezogen sind.
In Frankreich haben wie bei uns viele
über ihn und die kindische Einfalt Steif¬
heit und Unbeholfenheit seiner Puppen
gelacht Aber viele haben wie bei uns
die seltsamen Schauer auf sich überrie¬
seln lassen, die von ihren hilflosen Ge¬
bärden, von ihren naiven, rührenden
Worten auagehen. Maeterlincks Dramen
sind alle erfüllt von der bangen Er¬
wartung irgendeines Unglücks: etwas
Schreckliches, Drohendes steht draußen
vor der Tür und wird gleich hereintap-
pen, auf plumpen Gespensterfüßen, wird
blind um sich schlagen und Menschen
töten. Und das Gefühl, das sich dem
Leser oder Zuschauer aufzwingt ist viel¬
leicht kein tragisches im hergebrachten
Sinn, aber jedenfalls eine merkwürdig
starke, herzbeklemmende, die Kehle zu¬
schnürende Erschütterung.
Man liest zum Beispiel „La mort de
Tintagile“. Wir bewegen uns wie im¬
mer bei Maeterlinck in einem Traum¬
land, inmitten von traumhaften Schatten
ohne Fleisch und Blut. Eine Drohung,
die wir nicht begreifen, schwebt un¬
heimlich über dem kleinen Tintagile.
Seine Schwestern, der greise Aglovale
wachen neben ihm in dem uralten Turme.
Umsonst Tintagile wird ihnen entführt
Seine Schwester Ygraine, eine Lampe in
der Hand, eilt seinen Spuren nach,
in atemloser Jagd durch Gänge und über
Treppen, bis ihr ein ungeheures eisernes
Tor den Weg versperrt Hinter dem Tor
hört man ganz schwach die Stimme des
kleinen Tintagile: mach auf, Schwester,
bitte mach schnell auf, oder ich muß ster¬
ben! Und Ygraine sucht nach einem
Spalt zerschürft sich Finger und Nägel,
schlägt mit der Lampe auf das Tor ein
und zerbricht sie. Aber drinnen fleht
Tintagile weiter: mach doch aut Schwe¬
ster, schnell, schnell, bitte mach auf, bitte
nur ein ganz klein wenig, ich bin ja so
klein, ich kann schon durch die Öffnung
schlüpfen, um Gottes willen, bitte mach
auf! Und Ygraine quält sich, und Tinta¬
gile bettelt, bis man hinter dem Tor Tin-
tagiles Körper fallen hört. Und es ist
nicht bloß Angst vor dem Tod, vor Nacht
und Vernichtung, was hier auf den Leser
überspringt, sondern ein unendliches, ge-
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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur
312
steigertes Angstgefühl, in* dem alle
Ängste vor allem unbegreiflichen Ge¬
schehen der Welt in eins Zusammenflü¬
ßen, ein Angstgefühl, wie man es manch¬
mal in bösen Träumen erlebt und das
schon den Wahnsinn streift — Angst des
Sterbenden, der sich sträubt, Angst des
Nächsten, der trauernd zurückbleibt,
Angst ohnmächtiger Menschen, die den
Menschen neben ihnen von einem Un¬
sichtbaren zu Boden geworfen schauen
und die denken müssen, wie nah die
Stunde ist, wo dieses Unsichtbare, Un¬
bekannte die Tatze nach ihnen selbst
ausstreckt.
Das Unbekannte ist der Held von Mae¬
terlincks Dramen, und es nimmt darin,
wie der Dichter in der Vorrede zu seinem
gesammelten Theater betont 9 ), am häu¬
figsten die Form des Todes an, des
gleichgültigen, blindtastenden und blind-
treffenden Todes. Ein Dämmerraum, in
dem verträumte, verschüchterte, zittern¬
de Wesen sich aneinanderschmiegen, die
keine heftige Bewegung, kein lautes
Wort, kaum zu atmen wagen, um ja nicht
die geheimnisvolle Gefahr aufzuwek-
ken, die in der Finsternis lauert — so
sah Maeterlincks Welt ursprünglich aus.
Und das Unbekannte, Unsichtbare, Über¬
sinnliche ist ihm die große Frage ge¬
blieben, auch als er sich in späteren Me¬
ditationen von lähmender Lebensvemei-
nung befreite, als er ein anderes Ziel und
einen anderen Inhalt des Lebens als den
Tod, das schwarze Nichts am Ende zu
ergründen trachtete und schließlich auf
mancherlei Umwegen zu einem lauen,
zaghaften, reichlich seichten Optimismus
gelangte, der aus Vergangenheit und Ge¬
genwart leise, aber ganz leise und ge¬
dämpfte Hoffnungen auf eine bessere
Zukunft der Menschheit abliest. „Alles,
was nicht über unsere Erfahrungs- und
9) Thöätre, 3 Bände. (Brüssel, P. Lacom-
blez, Paris, Per Lamm, 2* 4d. 1901).
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Alltagsweisheit hinausgeht, gehört uns
nicht und ist unserer Seele nicht würdig.
Alles, was man ohne Angst lernen kann,
verkleinert uns“, heißt es einmal in sei¬
nem Aufsatz über Novalis. 10 ) Die Tat¬
sache, daß Maeterlinck Ruysbroek und
Novalis liebt und beide übersetzt hat,
daß er mit Plotin, Porphyrius und Swe¬
denborg vertraut ist, weist auf seine
inneren Verwandtschaften hin. Er ist ein
ferner Erbe der Mystik.
IX.
An Lemonnier, den naturalistischen
Epiker, an Maeterlinck, den mystischen
Grübler, reiht sich Verhaeren, der Lyri¬
ker. Verhaeren hat mehrere Dramen ge¬
schrieben, zwei Bücher über Rembrandt
und Rubens, von denen das letztere ein
prachtvoller Hymnus auf den ihm blut&-
und geistesverwandten Maler ist Aber
er ist seinem Wesen nach Lyriker, einer,
in dem alles singt und musiziert, nur daß
sein Singen und seine Musik beträchtlich '
anders klingt als das, was man sich ge¬
meinhin unter Lyrik vorstellt, ein stür¬
misches Gewoge von Tönen, Rhythmen
und Melodien, wie man sie vor Verhae¬
ren noch nicht in der Literatur gehört
hatte.
Verhaeren begann in den achtziger
Jahren mit zwei Versbänden, in denen
die polaren Merkmale vlämischer Natur
und vlämischen Lebens nacheinander
zum Ausdruck kommen. In „Les Fla-
mandes“ das Animalisch-Sinnliche, das
gefräßige, trunkene, geile Schlemmen
der Kneipen, Frauenhäuser und Kirmes¬
sen, wie es die flandrischen Meister in
ihren Tafeln festgehalten haben, mit Bil¬
dern aus dem Tagwerk und der Umge¬
bung der flandrischen Bauern, mit Land¬
schaften, Stilleben, Tierstücken, alles lei¬
denschaftlich beobachtet, leidenschaft-
10) In Le trösor des Humbles (Paris,
Mercure de France, 9* öd. 1896) S. 164.
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INDIANA UNtVERSITY
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Hanns Heiss, Der vl&mische Anteil an der französischen Literatur
314
lieh, bunt und bewegt hingeworfen, mit
der malerischen Begabung, die Verhae-
ren wie jeder Vlame besitzt, aber noch
ohne hervorstechende Eigenart. In „Les
Moines“ dagegen der von spanischer
Flamme durchglflhte Katholizismus,
die große katholische Vergangenheit des
Landes, die noch fortdauert in der As¬
kese und Glaubensinbrunst seiner Kir¬
chen und Klöster. Dann brach eine
Krankheit Aber Verhaeren herein, die ihn
jahrelang körperlich und seelisch folterte.
Und die Schmerzen, die gedrückten,
trostlosen, bangen, verzweifelten Stim¬
mungen dieser Marterzeit spiegeln sich
mit einer wehtuenden Schärfe und Of¬
fenheit in ein paar Versbänden, die im¬
mer mehr eigenen Klang gewinnen, die
mehr und mehr seinen schöpferischen
Reichtum, seine unbändige Kraft, vor
allem aber in ihrer grausamen, fast sadi¬
stischen Selbstzerfleischung, in der Wut
ihres Aufbäumens und Hinausschreiens
die ungeheure, feurige, vulkanische Hef¬
tigkeit und Wildheit seines Tempera¬
ments ahnen lassen.
Die Genesung stellt sich ein. Die Ge¬
sundheit kehrt zurück, robust, aber ver¬
feinert um das viele, was Leiden dem
Menschen schenkt Langsam findet Ver¬
haeren, der die Gegenwart floh, der sich
scheu vor der Welt absperrte, um sich
in seine qualvolle Einsamkeit zu vergra¬
ben, den Weg in die Welt und in die Ge¬
genwart zurück, entdeckt sie, bestaunt,
wie groß und schön sie sind, und gibt
sich, hingerissen und überwältigt, der
Welt und der Gegenwart hin. Verhaeren
ist nicht der erste, der es versucht hat,
modernes Leben künstlerisch zu erfassen
und für die Literatur zu erobern, es nicht
mehr durch die Dichterbrillen verflosse¬
ner Jahrhunderte anzuschauen, es nicht
mehr als häßlich, unwürdig, unedel ab-
zulehnen, weil es überlieferten Schön¬
heitsvorurteilen nicht entspricht und un-
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angenehm aus idyllischen Träumereien
aufscheucht Aber nach dem Amerika¬
ner Walt Whitman, den er ganz spät
kennen lernte und der bei aller Ähnlich¬
keit doch in ganz anderem Sinn modern
und Sänger des modernen Lebens ist
nach Whitman und neben und vor dem
Skandinavier Johannes V. Jensen ist Ver¬
haeren der erste, dem es vollauf gelun¬
gen ist modernes Leben in dichterische
Werte umzusetzen und dem neuen In¬
halt die neuen notwendigen Formen,
Ausdruck und Rhythmus zu schaffen.
Und das Geheimnis des Gelingens? Jl
laut cdmer pour däoouurir auec genieß,
sagt er einmaL Verhaeren hat sich als
erster vollauf und ohne Einschränkung
als Kind seiner Zeit gefühlt hat seine
Zeit und ihr Leben leidenschaftlich ge¬
liebt das Zeitalter der Technik und der
exakten Wissenschaften in seinen ent¬
scheidenden Ausprägungen, das Zeit¬
alter der Maschinen, Fabriken, Hochöfen,
Lokomotiven, Dampfer, Banken, Bör¬
sen, die harte, lärmende, tösende, aufge¬
peitschte, staubige, rußige, hastige, atem¬
lose, nervöse Wirklichkeit der Bahnhöfe
und Handelshäfen, der Millionenstädte
und Industriezentren in Belgien, Eng¬
land, Frankreich, Deutschland mit dem
dumpfen Wimmeln der namenlosen
Massen, in denen der einzelne nur das
winzige Rad eines riesenhaften Räder¬
werks ist
Die engen Rahmen alter Poeten¬
ästhetik sind gesprengt. Jede, gleichviel
welche Äußerung modernen Lebens ist
begriffen, sympathisch erfühlt, ist per¬
sönliches Erlebnis und Dichtung gewor¬
den: der Donner von Zügen, die über
Brücken rasseln, ebenso wie das licht¬
scheue Treiben in den Bordellstraßen
eines Matrosenviertels oder der Kampf
um Macht in einer stürmischen
Parlamentssitzung oder das nüchterne
Zimmer, von wo aus am Telephon irgend-
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INDIANA UNIVERSITY
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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur
316
ein Großindustrieller, Handelsherr oder
Bankherr den Gang seiner vielfältigen,
über den Erdball verzweigten Unterneh¬
mungen leitet Verhaeren darf sich an
Themen wagen, an denen jeder andere
scheitern müßte, die höchstens zur Öde
gereimter Leitartikel zu taugen scheinen.
Forscherarbeit in Laboratorien, Wissen¬
schaft und Zweifel, Verfall der Religio¬
nen, Ringen nach Wahrheit, Kreisen des
Goldes, Rede eines Volkstribunen (es
kann auch ein Minister oder Diktator
sein): man schämt sich beinahe, derar¬
tige Inhalte anzudeuten, und wer Ver¬
haeren nie gelesen hat wird sich schau-
demd, im voraus gähnend abwenden.
Aber fast immer (nicht immer, aber mei¬
stens, besonders in den letzten Bänden)
glückt ihm das, was Stefan Zweig 11 )
sehr treffend „die dichterische Verbren¬
nung der Welt in Visionen ohne den
Rückstand von Philosophie und Erkennt¬
nis“ nennt Die Wirklichkeit unserer
Tage ersteht in Verhaerens Strophen, be¬
wältigt verklärt, vergeistigt, idealisiert;
aber beileibe nicht verklärt vergeistigt,
idealisiert im verrufenen Sinn, sondern
dadurch groß und schön gemacht daß
herausgeholt ist, was in ihr Großes
und Schönes steckt, das Märchenhafte,
Lyrische,
le travail fou et ses ftevres lyriques,
et sa lueur enorme ä travers les esprits, '*)
Anspannung der Kraft Wucht der Tat
und die Beziehung auf ein fernes erhabe¬
nes Ziel, dem die Menschheit entgegen¬
schreitet — kurzum das Pathos der Ge¬
genwart
Verhaerens Dichtung ist ein berausch¬
ter Lobgesang auf Menschenverstand
und Menschenarbeit Arbeit des Gehirns
und schwieliger Fäuste, auf den Kampf
11) £m. Verhaeren. (Leipzig, Insel vertag,
2. durchges. Auflage 1913) S. 153.
12) Les Forces tumultueuses (Paris, Mer-
cure de France, 0° 6d. 1912) S. 19.
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ums tägliche Brot und um Höheres in
jeder Form. Hoffnungsseliger Glaube
an eine herrliche Zukunft der Mensch¬
heit trägt diesen Lobgesang, wanne
Nächstenliebe, die zu einem ganz un¬
doktrinären, mitleidenden Sozialismus
wird. Und eine inbrünstige, unbedingte,
vorbehaltlose Lebensbejahung durch¬
leuchtet ihn, eine so gesteigerte, über das
Ich hinausflutende Liebe und Lebensbe¬
jahung, daß sie dem Dichter sein Ich,
seinen eigenen Körper teuer werden läßt
und Gegenstand der Selbstvergötterung
als Stück des Weltalls und daß sie ihn
sich eins fühlen läßt mit allem, was ihn
umgibt, mit Mensch und Tier und
Pflanze, mit Welle und Wind. In einem
seiner Bücher 13 ) — es führt den viel¬
sagenden Titel „Les forces tumultueu¬
ses“, die ungestümen, tobenden Kräfte —
findet sich ein Gedicht „Un soir“, ein
Bekenntnis, das diese ekstatische Durch¬
dringung des Lebens und der Welt,
Verhaerens brennend optimistische Le¬
bensbejahung, ihre Zuversicht, ihre Be¬
geisterung und Trunkenheit in ein paar
wundervoll gehämmerten Strophen aus-
drückt
Celui qui me lira dans les stecles, un soir,
Troublant mes vers, sous leur sommeil ou
sous leur cendre.
Et ranimant leur sens lointain pour mieux
comprendre
Comment ceux d’aujourd'hui s'gtafent ar¬
mes d’espoir,
Qu’ il sache, avec quel violent glan ma joie
S'est ä travers les cris, les rävoltes, les pleurs,
Ru£e au combat fier et mäle des douleurs,
Pour en tirer l'amour comme on conquiert
sa proie.
J’aime mes yeux figvreux, ma cervelle, mes
nerfs,
Le sang dont vit mon cceur, le coeur dont
vit mon torse;
J’aime l’homme et le monde et j’adore la
force
Que donne et prend ma force ä l’univers.
13) S. 165 f.
Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
317
Hanns Heiss, Der vlfimische Anteil an der französischen Literatur
318
Car vivre c’est prendre et donner avec Hesse.
Mes pairs, ce sont ceux-lä qui s’exaltent
autant
Que je me sens moi-möme avide et haletant
Devant la vie intense et sa rouge sagesse.
Heures de chute et de grandeur! — tout se
confond
Et se transforme en ce brasier qu’est l’exi-
stence;
Seul importe que le dösir reste en partance,
Jusqu’ä la mort, devant l'öveil des horizons.
Celui qui trouve est un cerveau qui com-
munie
Avec la founnillante et large humanitö.
L'esprit plonge et s’enivre en pleine immen-
sit6;
11 faut aimer pour döcouvrir avec gönie.
Une tendresse enorme eraplit l’äpre savoir,
Q exalte la force et la beaute des mondes,
II devine les liens et les causes profondes.
0 vous qui me lirez, dans les siöcles, un soir,
Comprenez-vous pourquoi mon vers vous
interpelle?
C’est qu’en vos temps quelqu’un d’ardent
aura tirö
Du coeur de la nöcessitö möme, le vrai,
Bloc clair, pour y dresser l’entente univer¬
selle.
X.
Als Verhaeren in Frankreich bekannt
wurde, kam ihm wie seinen Landsleuten
die Gunst der Mode des Naturalismus
und dann des Symbolismus zugute, ka¬
men ihm die vielen und nicht bloß ober¬
flächlichen Ähnlichkeiten zugute, die ihn
mit der Kunst der Naturalisten und der
Symbolisten verbinden. Aber er hat doch
immer mehr verwirrt und erschreckt als
angezogen, und wenn man ihn als Bar¬
baren empfand, so geschah es weniger,
weil sein Naturalismus ebenso wie der
der Franzosen keiner noch so abstoßen¬
den Brutalit&t auswich, auch weniger
wegen der KOhnheiten, die er sich mit
dem französischen Vers, gelegentlich so¬
gar mit der Sprache erlaubte, sondern
aus dem richtigen Instinkt heraus, daß
hier einer zwar glanzend, wenn auch |
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sehr herrisch, die französische Sprache
meisterte, aber doch seiner ganzen Na¬
tur nach nicht Franzose war, nicht La¬
teiner, der Sohn einer anderen Rasse, die
durch ihre überschaumende Heftigkeit
und Ungebardigkeit auf die Lateiner
immer barbarisch gewirkt hat. Ge¬
rade das, was Verhaeren groß macht,
muß einen reinen Franzosen, einen rei¬
nen Lateiner beunruhigen, muß ihm mi߬
fallen: das Ungeheure, Maßlose, die
rohe, ungebrochene Kraft, die sich in
ihm entladt und die überlieferten For¬
men zerbricht, das Ekstatische, Visio¬
näre, Unheimliche, die Hingebung an
alles, die Lebensbejahung, die so weit
geht, daß sie ihn überall, auch im
Schmerz und im Häßlichen, noch Wol¬
lust und Freude entdecken laßt, wie sein
Ahnherr Rubens, an den Verhaeren über-,
haupt mehr als an irgendeinen anderen
Künstler gemahnt, auch noch aus einer
Kreuzigung oder Grablegung Christi
oder aus einem Höllensturz der Ver¬
dammten wahre Orgien der Farbenfreu¬
digkeit und der Lebensfreudigkeit zu
zaubern weiß.
Zwei Gedichtsammlungen heben sich
seltsam ab von Verhaerens übrigem
Werk, „Les heures claires" und „Les
heures d’aprfes-midi“, Liebeslieder von
unvergleichlicher Zartheit und Innig¬
keit an die eine geliebte, junge und dann
alternde Frau, Glut des Sommers und
letzter milder Glanz des Herbstes. Aber
die Liebe ist für Verhaeren wie ein Gar¬
ten, den er sich abseits vom Leben ge¬
pflanzt hätte, um in müden Feierabend¬
stunden den Kopf in einen treuen Schoß
zu betten.. Sich verliegen oder auch nur
der Liebe leben ist einem solchen Tem¬
perament fremd. Das Leben ist zu reich,
zu mannigfaltig, zu verlockend, als daß
es ihn im geborgenen Frieden von vier
Pfählen litte. Er gehört der Welt, und
die Welt gehört ihm. Gehört ihm als
Original from
INDIANA UNIVERSITY
319
Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur
320
Raub und Beute, als etwas, was immerzu
von neuem erobert, bezwungen, verge¬
waltigt werden muß. „Toute la vie est
dans l’essor“ ist einer seiner Leitsprüche.
Bewegung ist alles, jähe, ungeduldige
Bewegung, die vorwärts stürmt und an
sich reißt, Schwung, Drang, fieberndes
Begehren, nie Rasten, nie Beschaulich¬
keit, nie Sichbescheiden mit engem
Glück. Der Menschenschlag, der Ver-
haeren als der adeligste und vollkom¬
menste erscheint, ist der des Konquista¬
dors, des maltre, den er wieder und
wieder in den verschiedensten Verkör¬
perungen gefeiert hat: im Mönch, im
Feldherrn, im Bankherm, im Kaufherrn,
im Gründer, im Volksführer, im For¬
scher — immer der Herr, der Eroberer,
gleichviel, worauf sein Wille gerichtet
ist, wenn er nur herrscht und seinen Wil¬
len durchsetzt Und so einer ist er selber,
kein Sänger schöner Frauen, schöner
Interieurs, blauer Stunden, goldener
Landschaften, egoistischer Wehmut, ego¬
istischen Genießens, der Süßigkeit oder
Bitterkeit verträumten Menschenseins,
sondern einer, dem es am wohlsten
mitten im plebejischen Alltag ist, um¬
braust vom Lärm und vom Hasten der
Arbeit einer, der das Dröhnen von Ma¬
schinen liebt und Amkenbrand aus
nächtlichen Essen, der mit allem, was
seine Sinne erraffen, auch mit dem Sprö¬
desten, trotzig und leidenschaftlich ringt,
es zu gestalten. Nicht Eros ist sein
Schutzgott, sondern Hephaistos, und das
Werk, das er schafft, steigt auf: riesig,
Zierliches um Ungeschlachtes sich ran¬
kend, ungefüg, kyklopisch.
Die späteren Bände Verh^erens, be¬
sonders „La multiple splendeur“ und
„Les rythmes souverains“, sind geklär¬
ter, ebenmäßiger in der Form, ruhiger
in der Sprache, beschwichtigter, weni¬
ger wild und ungestüm im Rhythmus,
klassischer, wenn man so sagen will.
Aber Verhaeren bleibt der Nichtfran¬
zose, er ist Vlame, und nicht bloß als
menschliche und dichterische Persönlich¬
keit stärker als Lemonnier oder Maeter¬
linck, sondern auch als Rasseerschei¬
nung. Wenn die Franzosen je dazu ge¬
langen sollten, ihn ganz zu verstehen
und zu lieben, wenn er jemals ernsten
Einfluß (nicht bloß durch Äußerlichkei¬
ten) auf ihre Literatur ausüben sollte,
dann wäre es nur möglich dadurch, daß
die Franzosen nicht mehr dieselben
wären, die in einem Racine oder einem
Flaubert die vollendetsten Verwirkli¬
chungen ihres wählerischen, exklusiven
lateinischen Schönheitsideals sahen, son¬
dern Franzosen, deren lateinische Seele
einen Hauch fremden, germanischen,
barbarischen Wesens verspürt hätte.
Es ist kein Zufall, daß Verhaeren vor
allem in germanischen Ländern aufge¬
nommen worden ist, so namentlich bei
uns in Deutschland, wo er in Stefan
Zweig einen sich schmiegsam und liebe¬
voll einfühlenden Nachdichter und Deu¬
ter fand 14 ) und in vielen unserer jüng¬
sten und allerjüngsten Lyriker eifrige
Schüler, die es sich meist angelegen sein
lassen, ihm seine Genierüpeleien (mit
mehr Rüpelhaftigkeit als Genie) abzu-
gucken. Auf unser Verhältnis zu Ver¬
haeren hat der Krieg einen häßlichen
Schatten geworfen, seit Verhaeren sich
zu den lautesten und zornigsten Schrei¬
ern gegen Deutschland gesellte. Wir
wollen seine Gedichte über die Hunnen¬
greuel in Belgien, sein giftiges Pamphlet
„La Belgique sanglante“ l6 ) nicht beschö¬
nigen; wir legen sie zu den vielen an de-
ren Liebensw ürdigkeiten, die uns augen-
14) Zwei Bände des Inselverlags, der
eine ausgewählte Gedichte, der andere die
Dramen Helenas Heimkehr, Das Kloster,
Philipp II. enthaltend. Verhaeren ist auch
sonst vielfach ins Deutsche übertragen
worden.
15) Paris, Nouvelle revue frangaise 1915.
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INDIANA UNIVERSITY
321
Hanns Heiss, Der vlfimiscfae Anteil an der französischen Literatur
322
blicklich erwiesen werden. Aber wir
brau dien uns doch wenigstens, wenn wir
an die Zeit vor dem Kriege zurQckdenken,
bei Verhaeren unserer früheren Bewun¬
derung nicht zu schämen. Verhaeren ist
keiner von den Dutzendausländem, de¬
nen wir in törichter Überschätzung nach¬
gelaufen sind. Er ist auch kein Fremd¬
ling, dessen Erfolg sich nur durch be-
dientenhafte Verehrung für alles Aus¬
ländische erklären würde. Diesmal sind
wir ausnahmsweise nicht irre gegangen,
sondern haben einen Großen auf den
Schild gehoben, der verwandten Blutes
ist, mag er noch so sehr Oberflächenfran-
zose sein und sich hn Bann der Kriegs¬
hypnose noch so deutschenifeindlich und
deutschenfresserisch gebärden.
XL
„Verhaeren, Maeterlinck, es läßt sich
nicht leugnen, das ist etwas anderes, als
was es bei uns gibt, und auf manchen Sei¬
ten etwas, was uns überlegen ist,“ schreibt
Camille Jullian im Vorwort 16 ) zu Heu-
manns Buch. „Überlegen": das ist eine
Artigkeit, die wir im Mund eines Fran¬
zosen kaum zu ernst nehmen dürfen.
„Anders“: das ist gewiß; aber worin und
wodurch anders? Heikle Frage, mit der
man sich auf unsicheren Boden wagt
Man fühlt wohl dunkel, daß den vlämi-
schen Dichtem vieles gemeinsam ist was
sie von den Franzosen, auch von den
wallonischen Belgiern trennt und was
daher wahrscheinlich Besonderheit des
Volksschlags sein wird. Sobald man
aber versucht bestimmte Behauptungen
aufzustellen, klingen sie schief, gefähr¬
lich und angreifbar. Immerhin und bei
aller Vorsicht wird man (glaube ich)
auf zweierlei hinweisen können, was
an den Vlamen ins Auge springt: auf
den Sinn für das Malerische und die
16) S. 34.
Internationale Monatsschrift
Neigung zum Pantheismus. Nur darf
man nicht meinen, daß diese Eigen¬
schaften einen unbedingten Gegensatz
zu den Franzosen ausmachen. Panthe-
istisches Empfinden ist auch der fran¬
zösischen Literatur nicht durchaus
fremd; es äußert sich stark während
der Renaissance und nicht bloß bei ei¬
nem Rabelais, dann wieder im 19. Jahr¬
hundert bei Victor Hugo, um nur einen
Namen zu nennen, und in der ganzen
literarischen Bewegung vom Jahrhun¬
dertende, freilich überall womöglich
unter dem Druck ausländischer Ein¬
flüsse, dort des griechischen Heiden¬
tums, hier der modernen Naturwissen¬
schaft und germanischen Weltgefühls.
Und die Kunst des Malens, die übt
doch seit den Tagen der Romantik und
des Realismus, zum mindesten seit Bal¬
zac, Flaubert und Zola mit mehr oder
weniger Erfolg jeder Schriftsteller in
Europa, der auf sich hält!
Aber die Vlamen sind offenbar ihrem
Temperament nach Maler, unabhängig
von einer herrschenden Mode. Ihre ein¬
geborene Sinnenfreudigkeit setzt sich
um in Freude an der Außenwelt Freude
an Farben und Formen, am Spiel von
Licht und Schatten, in Lust zu beschrei¬
ben, und die Wirklichkeit die auf sie
eindringt und sie entzückt in Bildern
festzuhalten. Sie reden nicht umsonst
so gern von Malerei, berufen sich nicht
umsonst so gern auf große Maler, vor
allem auf die ihrer Heimat als deren
Erben sie sich fühlen. Von de Coster
an stehen sie immer, in engster Fühlung
mit Landsleuten, die Radiernadel, Pinsel
und Palette handhaben, mit Rops, mit
Khnopf, mit Rysselberghe und ande¬
ren. Lemonnier und Verhaeren sind
fleißige Kunstkritiker, und die Liebe,
mit der sie sich in Gemälde ver¬
senken und ihren Eindrücken davor
nachspüren, kommt ihrer Dichtung zu¬
ll
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323
Hanns Heiss, Der vlämlsche Anteil an der französischen Literatur
324
gute- Van Lerberghe 17 ) tritt um sich
anzuregen, “in Florenz vor die Tafeln
des Botticelli und Leonardo; er will
in Versen sagen, was sie mit Farben
und Linien gesagt haben. Verhaeren 18 )
bekennt in einem Brief: „Meine gei-
stigen Ahnen sind Maler; es ist, als
dächten sie in mir, wenn ich beschreibe
und arbeite... Ich fühle in mir Brue-
ghel und Jordaens“ (er hätte hinzu-
fügen sollen: Rubens). Von Lemonnier
haben wir ähnliche Bekenntnisse.
In Vethaerens Lyrik wirbeln Gedan¬
ken, Meinungen, Hoffnungen: der ganze
Komplex modernen Lebens wird besun¬
gen, und nichts ist vergessen, nicht ein¬
mal die Nüchternheit wirtschaftlicher
Fragen. Wenn aus solchen Stoffen Ge¬
dichte werden, wenn ihre künstlerische
„Verbrennung“ in Visionen meistens
glückt so geschieht es, weil Verhae¬
ren die Macht hat alles, auch rein Be¬
griffliches und Unanschaulichstes in an¬
schaulichen, farbigen, bewegten Bildern
zu sehen. Ein Wort zum Beispiel wie
Weltverkehr weckt ihm das Gesicht von
Schiffen^ die durch die Unendlichkeit
der Meere qualmen, von Häfen mit auf-
gestapellen Waren und Menschenge¬
tümmel, von' Landschaften an fernen
Küsten. Ein 1 Wort wie Arbeit weckt ihm
das Gesicht der Orte, wo Arbeit ver¬
richtet wird, der Gestalten, die sie ver¬
richten; Maler und Radierer muß man
nennen, wenn man vergleichen will:
Menzels Eisenwalzwerk, Theodor Hum¬
mel mit seinen Ansichten aus Braue¬
reien, Glasbläsereien, Maschinenfabri¬
ken, Josef Pennel, Frank Brangwyn und
andere. Sogar eine soziale Tatsache
wie die der Landflucht von der es ihn
in seinem Lied auf die Städte zu spre¬
chen drängt wird bei Verhaeren sinn-
17) Bei Heumann S. 138 f.
18) Aus einem Briet zitiert von H. Potez
in Revue de Paris, 15. Nov. 1910 S. 357.
lieh greifbar und körperhaft 19 ): der An¬
blick einer abendlichen Landstraße tut
sich aut wo zwischen Wäldern und
Feldern, 'durch Dörfer, an Wirtshäu¬
sern und Kapellen vorbei, ohne aufzu¬
hören, der müde Troß hungriger Men¬
schen zieht die ihrem Heim den Rük-
ken gekehrt haben, Weiber mit Kindern
um ihre Röcke, andere mit Hund
und Katze und Vogelkäfig, Fußgänger,
ihre Habseligkeiten in ein kariertes
Schnupftuch gebunden, Wagen und
Karren mit ausgemergelten Gäulen da¬
vor, alles der Stadt entgegen, die rot-
dampfend, unter rußigem, fettigem Him¬
mel ihre Saugarme ausstreckt; es ent¬
steht etwas, was annähernd wie man¬
che Tafeln des Pieter Brueghel wirkt,
wie seine tanzenden Bauern vor dem
Galgen zum Beispiel oder sein Gleich¬
nis von den Blinden. In den frühesten
Bänden Verhaerens, besonders in „Les
Flamandes“ scheint manches Gedicht
geradezu aus Galerie-Erinnerungen ent¬
sprungen zu sein; später hat er solche
Erinnerungen nicht mehr nötig. Wie er
sehen kann und wiedergeben kann, was
er sieht, zeigt jeder Band. Jeder Band
strotzt von Bildern, und wer sich über¬
zeugen will, wie reich Verhaeren als
Maler ist, wie er Verschiedenstes trifft,
immer mit derselben glücklichen Kunst,
nicht bloß Schilderungen aus der Mo¬
derne, aus der Industriewelt, der
braucht nur in ihrem frischen Schmelz
und ihrem getragenen Pathos die ideale
Paradieslandschaft zu bewundern, die
den Reigen der „Rythmes souverains“
eröffnet, oder irgendwo die „Heures
claires“ mit ihren unvergeßlich zarten,
duftigen Blumenstöcken und Garten¬
stimmungen aufzuschlagen.
Vielleicht erklärt sich aus dieser Ver-
19) Les villes tentaculaires pröcödöes des
Campagnes hallucinöes (Paris, Mercure de
France, T 6d. 1911) S. 87«.
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Original from
INDIANA UNfVERSITY
325
Hanns Heiss, Der vlämiscfae Anteil an der französischen Literatur
326
anlagung der Vlanjen zugleich, warum
ihre dramatische Literatur so arm ist.
Sie sind mehr Maler als Psychologen.
Der einzige unter ihnen, den man als
Dramatiker ernst nehmen darf, Mae-
terlinck, fesselt ja auch nicht durch
Psychologie, sondern dadurch, daß er
Puppen auf die BQhne stellt und sie
Grausiges erleben läßt, dadurch, daß er
in außerordentlich vereinfachten, men-
schenähnlichen Wesen gewisse elemen¬
tare Seelenzustände, Todesschrecken,
Angst und Schauer aller Art eindring¬
lich gestaltet Mehr als das Theater
liegt den Vlamen der Roman, und zwar
der unpsychologische Roman nach na¬
turalistischem Rezept in dem die Um¬
gebung, die Dinge ebenso wichtig oder
wichtiger sind als die Menschen, in
dem die Menschen eigentlich erst durch
die Dinge, zwischen denen sie hausen,
durch die Luft die sie atmen, durch
ihr Milieu lebendig gemacht werden.
De Costers Eulenspiegel-Epos zerflat-
fert in eine Anzahl aneinandergereihter
Bilder, und was einem vom Lesen im
Gedächtnis haften bleibt, ist nicht etwa
die innere Entwicklung des Helden,
sondern der oder jener Bildausschnitt
eine Schankstube zum Beispiel mit rau¬
fenden Kerlen. Lemonniers „Un mäle“
hebt an mit der Schilderung einer Mor-
genlandschaft; andere Bilder folgen,
Landschaften, prachtvolle darunter, In¬
nenansichten, Genreszenen; sie sind
nicht alle im Umfang einer Riesenfreske
wie die Schilderung der Kirmes; aber
sie nehmen im Vergleich zur Handlung
unverhältnismäßig viel Raum ein; sie
sind um ihrer selbst willen da, die
Handlung bedeutet hier wie in anderen
Romanen Lemonniers nur den Rahmen,
der sie umschließt und der oft genug
in den Fugen zu krachen droht; und
endlich und vor allem: sie sind das Interes¬
santeste und Wertvollste am ganzen Buch.
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XII.
Der Anfang von Lemonniers „Un
mäle“ hat symbolische Bedeutung. Im
Wald erwacht der Tag. Der Morgen
graut es wird heller. Laub und Gras
regen sich. Vögel rufen, der Wald wird
lauter. Die Luft wird wärmer. Die
Sonne steigt höher und weckt zuletzt
den Menschen, der in der Mailandschaft
verloren schlief — verloren zwischen
Pflanzen und Getier, eins mit ihnen,
Stoff vom selben Stoff, wie die ganze
Menschheit verschwistert mit der Erde
und dem A1L
Die malerische Kunst der Vlamen
wurzelt in einem Gefühl des Verwach¬
senseins mit der umgebenden Natur, in
einem Pantheismus von triebhafter und
ungewöhnlicher Stärke. Pantheistisches
Weltempfinden liegt den Vlamen im
Blut Ihre Maler sind erfüllt davon,
und ebenso die vlämischen Dichter, die
nicht in französischer Sprache schrei¬
ben, der Lyriker Guido Gezelle, dem es
gelang, seinen Pantheismus mit seinem
Christentum zu versöhnen, oder in un¬
seren Tagen ein Stijn Streuvels*: Das
pantheistische Weltempfinden erscheint
bei den einzelnen Vlamen verschieden
abschattiert es ist aber bei/jällen vor¬
handen. Bei Lemonnier isti.es betont
materialistisch, obwohl auch er (wohl
ätherischen Leserinnen zu heb) Aus¬
flüge ins Spiritualistische gewagt hat
die ihm aber recht übel bekommen sind.
Bei Maeterlinck dagegen ist es betont
spiritualistisch. Das heißt: Maeterlinck,
der nicht mehr gläubiger- Katholik ist
und doch nicht trotziger, stolzer Dies¬
seitsmensch wie Verhaeren, schaut die
Welt ungefähr als eine Höhle, ringsum
von Felsen ummauert; er tastet die
Mauern ab, sucht ob nicht irgendein
Loch, irgendeine Spalte ihm einen Blick
ins Draußen, in eine andere Welt er¬
möglicht die er nicht sieht, die er aber
11 *
Original from
INDIANA UNIVERSITY
327
Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur
328
hartnäckig vermutet; er forscht nach
einem Drüben, das in das sinnlose und
trostlose Leben hier herüben Sinn und
Trost tragen solL Und wenn er müde
ist nach diesem Loch ins Blaue zu
suchen, ein wenig zweifelnd geworden,
bückt er sich, neigt sich über Pflan¬
zen und Tiere, um sie zu befragen. So
sind sein Buch „La vie des abeilles“ 20 ),
sein großer Aufsatz „L’intelligence des
fleurs“ 21 ) und seine Grabrede auf einen
kleinen Hund 22 ) entstanden. Er ver¬
sucht zu zeigen (nicht, ohne daß ihm
dabei gewaltsame Vermenschlichungen
und teleologische Willkürlichkeiten un¬
terlaufen), daß überall dieselben Ge¬
danken, dieselben Hoffnungen, die¬
selben Prüfungen und beinahe diesel¬
ben Gefühle 28 ) anzutreffen sind, ver¬
sucht Menschenleben und Menschen-
seele in ihrer Einheit mit dem Leben
und der Seele der Welt zu erfassen,
den Menschen einzureihen, Tiere und
Pflanzen zu lieben und zu begreifen wie
Brüder, in deren Mitte der Mensch
steht, nicht mehr abgesondert für sich
als Wuriderwesen und Krone der Erde.
Und worauf es ihm vor allem ankommt,
ist dies: Hoffnung einzuflößen, auf ver¬
schiedenen Wegen und Umwegen (da
ihm der selbstverständliche gesunde ju¬
belnde Optimismus Verhaerens fehlt)
aus dem Einklang zwischen dem Geist,
der unseren Körper bewegt, und dem
Geist, der^ alles bewegt, aus dem ver¬
schleierten Walten desselben Willens,
den er überall ahnt die Zuversicht zu
schöpfen, daß unsere Sehnsucht nach
einem besseren Zustand, naiver Men-
schenglaube an einen Endzweck des
Glücks und der Vollkommenheit sich
einmal erfüllen werde.
20) Paris, Bibi. Charpentier 1001.
21) Paris, Bibi. Charpentier 1907.
22) Le double jardin. Ebenda 1904.
23) L’inteUigence des fleurs S. 103.
Verhaerens stürmisches Draufgänger-
temperament braucht keine solchen Um¬
wege. Ihm ist — seitdem er genesen ist
genesen von Krankheit und dem Pessi¬
mismus, den (wohl unter dem Einfluß
der Krankheit und französischer Strö¬
mungen) seine ersten Bände verraten
— die Hoffnung auf eine strahlende Zu¬
kunft der Menschheit inbrünstige Gewi߬
heit Er hat vom Positivismus und von der
modernen Wissenschaft her den Glauben
an die Allmacht menschlicher Vernunft
und menschlicher Arbeit an die unbe¬
grenzte Fruchtbarkeit menschlichen For-
schens. Er sieht den Menschen von
morgen als Herrn seines Schicksals, von
letzten Dunkelheiten und Ratlosigkei¬
ten befreit als Eroberer der Erde, die
er nach seinem Willen umschafft und
der er sein Gesetz aufzwingt So sehr
Diesseitsmensch ist Verhaeren, daß er
sich gern, aber ohne Bedauern und
Heimweh in die frommen Stimmungen
seiner Knabengebete zurückversenkt
damit ähnliche Ekstase ihm den neuen
Glauben beschwinge. Und so sehr Dies¬
seitsmensch, daß er, losgelöst von jeder
Jenseitsreligion, alle Religionen bewun¬
dern kann — bewundern als erhabene
Werke von Menschenhand, die von
Menschengröße zeugen, am meisten den
Katholizismus wegen der ungeheuren
Anstrengung menschlicher Energie, die
ihn in der Vergangenheit zu einem so
gewaltigen, weltüberwölbenden Bau
auftürmte und die im Grunde nichts
anderes ist als die Energie, die sich in
der Organisation des Sozialismus oder*
in der Unterwerfung und Kolonisierung
des Erdballs durch Europa entlädt
Verhaeren fühlt sich an der Schwelle
eines goldenen Zeitalters, das er trun¬
kener, seherischer, überschäumender,
verzückter als die Männer des 18 . Jahr¬
hunderts ankündigt verzückter sogar
als Victor Hugo: im Jahrhundert das
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Original from
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329
Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur
330
anhebt, wird der traurig« Aufschrei
Faustens verstummen, jeder Zweifel
wird tot sein, der Kampf mit den Rät*
sein und Geheimnissen der Welt wird
siegreich zu Ende gekämpft sein, und
wenn der Mensch auf der Erde, wo er
allein atmet und schreitet, dann noch
Götter braucht, soll er selbst sie sein 24 ):
Et s’il lni laut des dieux encore — qu’il
les soit!
Aber dieser Stolz auf das Menschen-
tum, der bei aller lyrischen Trunken¬
heit nichts Frech-prahlerisches an sich
hat, sowenig Frech-prahlerisches wie der
Goethesche Prometheus oder der Kain
Leconte de Lisles, richtet sich nur ge¬
gen oben, gegen den Himmel der My¬
then und Evangelien. Dieses zuversicht¬
liche Diesseitsbewußtsein speist eine
Liebe, die feurig die Erde und alles Le¬
ben auf ihr umarmt, und wird von ihr
gespeist Liebe zu jeder Kreatur, Mit¬
leid mit jeder Kreatur, Hingebung an
jede Erscheinung und jede Kraft, Sehn¬
sucht, alles in sich zu saugen und sich
einzuverleiben, um durch das Leben
ringsum, das Alleben, das eigene flüch¬
tige Menschenleben zu schwellen und zu
beflügeln, es reicher, heißer, stärker,
wilder werden zu lassen — Weltver-
herrlichung und Verherrlichung des Le¬
bens, das ist das große, einzige, immer
wieder unerschöpflich in neuen Hym¬
nen abgewandelte Thema von Verhae-
rens Dichtung, die tausendstimmig in
hingerissener, schwärmerischer Dank-
* baifceit den Ruhm des Lebens singt Ein
Lob- und Preisgesang auf das Leben,
' gleichviel wie die Stunde es schenkt
gut oder schlecht schön oder häßlich,
zärtlich oder zornig, auf das Leben um
seiner selbst willen, weil es das Leben
ist auf das Leben, das ganze und un¬
zerlegbare, das vielfältige und doch
24) La science und Les cultes in Les
Forces tumultueuses.
eine, ohne Unterschied zwischen Tier¬
heit und Gottheit zwischen Sinnlichkeit
und Geistigkeit zwischen Fleisch und
Seele. Und da Verhaerens Tempera¬
ment alles, was er empfindet, in Par-
oxysmus, Fieber, Rausch, Verzückung
steigert so ist auch sein Weltgefühl
maßlos, ein fieberndes Berauschtsein,
und maßlos seine Hingebung an die Na¬
tur, seine Begierde, in ihr unterzutau¬
chen, sich in ihr aufzulösen. Mag er
dankbar seinen Körper preisen, seine
Hände, sein Herz, seine Lungen, seine
Augen, seine Nerven, sein Gehirn, oder
den Körper der Frauen preisen als herr¬
liches Teilstück der Welt die in ihnen
sich spiegelt mag er das Summen,
Brausen, Raunen, Schwirren, Zittern
von Asten, Blättern und Insekten um
sein Haus herum so tief in sich fühlen,
als wär er selbst Ast Laub, Gras und
Wehen von Flügeln, mag er zuzweit
mit der geliebten Frau im Garten ihrer
Liebe seine und ihre Liebe als Blühen
wie das Blühen der Bäume und Blumen,
als Leuchten wie das Leuchten von
Sonne und Luft erleben, mag er so mit
einem Baum verwachsen,, daß,, Säfte¬
trieb und Rhythmus des Baumes in
sein Blut Überströmen, od^ mag er im
Wind die weite Welt in seine Lungen
schlürfen, all das verstreiche Leben, das
der Wind über die Erd£ jagend in
Norden, Süden, Westen, Osten in sich
geschlürft hat — Rausch glüht immer
aus seinen Versen.
Mit diesem Weltgefühl betrachtet ge¬
winnt auch der Tod neue Bedeutung,
oder vielmehr: er verliert die alte. Er
verliert seine Schrecken, ohne zur Lok-
kung zu werden. Er bedeutet für Ver-
haeren nicht wie für Maeterlinck den
Anfang von etwas anderem, Vollkomm-
nerem, sondern einfach die Rückkehr ins
All, die Vollendung des Aufgehens und
Einswerdens. Ein Gedicht in „Les rytfr
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Hanns Heiss, Der vlämische Anteil an der französischen Literatur
332
mes souverains“ offenbart in mytholo¬
gischem Symbol, wie er vom Sterben
denkt. Nachdem er alle Taten getan,
alles erobert hat, nichts mehr erobern
kann, nicht mehr größer werden kann,
als er sich gemacht hat, erobert sich
Herkules singend den Tod in den Flam¬
men. Singend harrt er auf dem bren¬
nenden Scheiterhaufen aus, er, der
so angespannt und heftig gelebt hat,
daß er alles ist, was ist, Gewitter der
Berge, Wind der Wälder und Gebrüll
der Tiere, er, durch dessen Herz wie
Sturzbäche alle Menschenleidenschaften,
Freude und Trauer, rasten. Singend
und im Leiden selig gibt er seinen Kör¬
per wieder den Wäldern, Fluren, Wo¬
gen, Bergen und Meeren zurück:
ce corps en qui s’öcroule un morceau
d’univers.
XIII.
In die französische Literatur brachen
die Vlamen in einem entscheidenden
Augenblick ein. Der Naturalismus hatte
den Gipfel seiner Entfaltung schon
überstiegen und war eben daran, sich
zu erstiKÖpfen. Blutauffrischung war
überall dringend notwendig, aber kaum
nirgends notwendiger als in der Lyrik,
wo das”pä¥hassische Ideal einer un¬
persönlichen* unbewegten, in makello¬
ser Glätte iftWf Strenge kühl schimmern¬
den Kunst %fch überlebt hatte, wo man
sich nach mehr Lyrik im Sinn von Un¬
rast Fieber, seelischer Aufwühlung,
nach mehr Musik, nach Zertrümme¬
rung jeder Förmensteifheit sehnte, nach
einem neuen, biegsameren, beschwing¬
teren, von Ketten und Hemmschuhen
befreiten Vers. In den Jahren zwischen
1880 und 1900, die eine ausgesprochene
Zeit des Herumtastens und Experimen-
tierens bedeuteten, wurde kecker als je
vorher in Frankreich an der Tabulatur
des Versbaues gerüttelt. Von den Grup¬
pen und Grüppchen, die sich in Pariser
Kaffeehäusern über das Programm der
einzig wahren Dichtung der Zukunft
stritten, hatte jede ihre eigene, mehr
oder weniger großzügige und ver¬
schwommene Ästhetik, aber gemein¬
sam war ihnen allen die Sehnsucht
nach dem vers llbre, nach Erlösung
des Verses von den Kniffen, Verzwickt¬
heiten und Beckmessereien, von denen
er seit dem Mittelalter und der Renais¬
sance, besonders seit Malherbe, noch
am Ende des 19. Jahrhunderts starrte.
Romantiker wie Pamassier waren auf
halbem Weg stehen geblieben; was sie
nicht gewagt hatten, wollte die vers-
libristische Bewegung durchführen. ES
ist bezeichnend, daß damals eine Reihe
von Ausländem den Franzosen halfen:
Stuart Merill, ein Landsmann Walt
Whitmans, ein zweiter Amerikaner
Francis Vi616-Griffin und einer der wich¬
tigsten Führer der Symbolisten und De¬
kadenten, der Grieche Papadiamanto-
poulos, der sich Jean Moröas nannte.
Und dazu nun die Vlamen. Sie kom¬
men aus einem Land mit einer ganz
frischen Literatur, mit einer Literatur,
die überhaupt erst mit ihnen erwachsen
ist Sie fühlen sich zwar der Kultur
und der Bildung nach als Franzosen,
betrachten zwar das Französische als
ihre Muttersprache und die französische
Literatur als ihre geistige Heimat, ihre
künstlerische Vergangenheit Aber die
Überlieferungen, die Autorität der Aka¬
demie, der Kritiker, Metriker, Gram¬
matiker, die Summe ererbter Schulweis¬
heiten, die in Frankreich (zum Segen
und Unsegen der Literatur) immer von *
stärkstem Einfluß waren, halten sie
weit weniger in Bann. In ihnen ist
die freche Unbekümmertheit von jun¬
gen Barbaren ohne Glauben und Aber¬
glauben. Und wie ihr Französisch sich
nicht durchaus mit der reichsfranzö¬
sischen Sprache deckt da ihnen die
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•333
Hanns Heiss, Der vl&mische Anteil an der französischen Literatur
334
Ehrerbietung vor heiligen Vorschriften
und Verboten nicht von Kind auf an¬
erzogen wurde, da ihr germanischer In¬
dividualismus sich schlecht mit allge¬
mein verpflichtenden Normen abfindet,
so wagen sie es auch eher, mit dem
Vers nach ihrem Gutdünken umzusprin¬
gen. Ihr Beispiel gibt den Franzosen
Mut und Ansporn, und wenn es wirk¬
lich glückte, mehr als einen lächerlichen
Zopf abzuschneiden, so gebührt ihnen
ein großer, vielleicht der größte Teil
des Verdienstes daran. Das Ringen mit
der Form, das einen Verhaeren von
den Strophen der „Flamandes“ durch
den Formenwirrwarr und die Form¬
losigkeit seiner wildesten Bünde zu dem
gezügelteren und doch geschmeidigen,
innerlich freien Vers deT letzten Bünde
gelangen ließ, hat auch in Frankreich
Früchte getragen.
Was die Eigenart der Vlamen in der
französischen Literatur kennzeichnet
und zugleich die Rolle, die sie in der
europäischen Literatur um 1900 spielen,
laßt sich, glaube ich, in einem einzigen
Wort zusammenfassen: sie sind mo¬
dern. Die Vlamen, besonders ein Ver¬
haeren, sind durchaus moderne Men¬
schen, durchaus Kinder der Gegenwart,
von allen zeitgenössischen Künstlern
Europas am geringsten mit Tradition,
mit lähmenden Erinnerungen an Ver¬
gangenes belastet Sie sind groß ge¬
worden in einem Land, das eng um¬
grenzt ist dessen nationale Begrenztheit
aber durch die vielfältigen Beziehungen
und Interessen verwischt wird, die es
mit Nachbarländern verbinden, mit Eng¬
land fast ebenso wie mit Frankreich
und weit loser mit Deutschland. In¬
mitten eines ausgesprochen demokra¬
tisch empfindenden Volkes, in einem
Industriestaat, wo innige Fühlung mit
modernem Leben, Leben der Technik,
überseeischen Handels und weltum¬
spannenden Verkehrs sich beinahe not¬
wendig einstellen mußte; wo sie aus
nächster Nähe mit allen sozialpoliti¬
schen Fragen vertraut werden konnten,
die das moderne Leben aufwirft, wo
sie aus nächster Nähe und mit hinein-
gerissen das Aufeinanderprallen schärf¬
ster Klassengegensätze beobachten
konnten und den mühsamen, außeror¬
dentlich erbitterten Kampf um die wirt¬
schaftliche und kulturelle Hebung einer
dichten, selbstbewußten, aber in sehr
drückender Lage niedergehaltenen Ar-
beiterbevölkerung, die noch entschie¬
dener als anderswo ihr Heil allein vom
Sozialismus erwartet
Die riesige Welle sozialen Mitleids
und sozialer Propaganda, die, mit den
Anfängen der sozialistischen Bewegung
einsetzend, von Frankreich, von Victor
Hugo und Kleineren, wie Sue, aus¬
gehend, als die bezeichnendste Strö¬
mung des verflossenen Jahrhunderts
durch die europäischen Literaturen läuft
die durch das Werk von Dickens, das
Werk von Zola, von Tolstoi, von Björn-
stjerne und Ibsen, von Happpp^pn und
Dehmel flutet r— sie scheint bei den Vla¬
men (und immer wieder ipi^ man Ver¬
haeren als den größten und,,repräsenta¬
tivsten Vlamen hervorhebep) ihren Gip¬
fel zu erreichen. Bei Verheeren findet
man zusammengepreßt und mit der
wuchtigsten Energie gestaltet was über¬
all in Europa verstreut anklingt: düste¬
rer Gegenwartspessimismus, wie wir
ihn seit der Armeleutdichtung der
Naturalisten kennen, ein Hinunterstei'
gen ohne Scheu und Scham in die
dunkelsten und grauenvollsten Ab¬
gründe der Gesellschaft ein Hinein-
leuchten ohne Schonung in soziale
Schäden, in jedes menschliche Elend,
körperliches wie sittliches Elend — aber
dieser trostlose Gegenwartspessimismus
beglünzt und überglänzt von Mensch-
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%
Hanns Heiss, Der vlfimische Anteil an der.französischen Literatur
33$
heitsliebe, von einem schimmernden Zu¬
kunftsoptimismus, der der geplagten
Menschheit Erlösung und ein herrlidies
Morgen verheißt, Befreiung durch so¬
ziale Reformen oder Revolution, Fort¬
schritt hinauf zu Glück und Wahrheit
durch menschliche Wissenschaft, durch
menschliche Arbeit im allgemeinen, die
den Menschen vergöttlicht und ihm die
entgötterte Welt dienstbar machen»wird,
durch den Helden und Eroberer von
heute, der nicht mehr, den Sabel in der
Faust hoch zu Roß einhersprengt, son¬
dern im Kontor oder in der Fabrik oder
im Laboratorium zu suchen ist
Man kann Dichter von stillerer Art
von intimerer Kunst die wählerischer
sind, weniger larmen, nie abstoßen, sel¬
ten auf (die Nerven fallen, einen Stefan
George, einen Anatole France, einen
Henri de Rögnier, lieber haben als Ver¬
heeren. Aber es wird sich einem vor
Verhaeren, vor seinen Hymnen auf Le¬
ben und Erde, auf Heute und Morgen
immer zwingend das Gefühl aufdran¬
gen: hier steht der Dichter einer neuen
Zeit deren Umwälzungen wir alle
ahnen, die aber vorläufig noch keiner
so messianisch zu deuten und zu
singen weiß wie er, deren Inhalt und
Sehnsucht deren Ethos und Religion,
deren Tragik und Vertrauen keiner so
lyrisch beredt wie er in neue künst¬
lerische Werte umzuprägen weiß, ein
Dichter, in dessen Werk das ganze, ver¬
worren kreisende Dasein unserer Tage
nach Ausdrude ringt und der darum von
allen, die augenblicklich in Europa
schreiben, die meisten Aussichten hat zu
dauern und fernen Geschlechtern etwas
von uns zu sagen.
XIV.
Jahrhundertelang lebt vlämisches Volk
in Flandern, Brabant und Limbuig, ohne
eine Literatur hervorzubringen. Endlich
blüht in diesem Volke eine Literatur auf.
Dichter erstehen ihm, die der Rede wert
sind, darunter einer sogar von über¬
ragender Größe. Aber diese Literatur ist
dem Ausdruck nach französisch und be¬
reichert zunächst den romanischen An¬
teil an der Weltliteratur. Das ist be¬
dauerlich, aber es laßt sich begreifen als
das notwendige Ergebnis geschichtlicher
Entwicklung. Was hatten die vlämi-
schen Dichter tun sollen? Sich abson¬
dern und eine viamische Mundart oder
Niederländisch schreiben, wie es manche
Vlamen versucht haben und heute noch
versuchen, zum Beispiel ein Mann von
der Begabung Stijn Streuvels’? Das war
zu undankbar und hätte ihnen von vorn¬
herein den Weg zu europäischem breiten
Erfolg und zu europäischer breiter Wirk¬
samkeit erschwert, wenn nicht ganz
versperrt Hochdeutsch schreiben, das
ihnen allen eine fremde Sprache ist die
sie erst erlernen müssen, in der sie nicht
aufgewachsen sind und; von Kindheit an
gelebt haben?
Belgien liegt an der Peripherie von
zwei Kulturkreisen, dem deutschen einer¬
seits, dem französischen anderseits. Daß
der französische Teil Belgiens nach
Frankreich neigt ist nur natürlich. Aber
auch der deutsche Teil muß sich einem
dieser Kulturkreise anschließen, da er zn
klein und schwach ist um für sich
zu gedeihen. Nach dem deutschen
Kreis könnte die Stammesverwandt¬
schaft ziehen. Aber Deutschland, von
dem wie von Frankreich nur ein paar
Stunden Eisenbahnfahrt trennen, scheint
so weit und fern, unvertraut und au»
manchen Gründen wenig einladend.
Hinter der deutschen Kultur und Sprache
stand nie geschlossen wie hinter der
französischen ein politisch mächtiger
Staat, wie er allein einer Kultur und
Sprache Ausdehnungskraft und Werbe¬
kraft verleihen kann. Und als endlich
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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
338
nach (ton siebziger Krieg ein solcher
Staat sich bildete, da war es langst zu
spat, da war das viamische Belgien
längst erobert Eingewurzelte Oberliefe'
rangen, seit langem ererbte Sympathien
wiesen die -Vlamen nach Frankreich.
Und vielleicht war es noch etwas Tie¬
feres, was sie dorthin zog: die geheime
Sehnsucht nach romanischem Wesen
Klarheit und Schönheit die in jedem
Germanen schlummert und die seit dem
Mittelalter so viele unwiderstehlich nach'
Italien, dem ältesten Herd lateinischen
Ideals, hinuntergelockt hat
Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur.
Von Ph. Aronstein.
Das Problem des Engländertums ist
durch den Krieg, in dem wir uns mit
dem englischen Volke befinden, in den
Vordergrund des Interesses gerückt
worden. Und es hat nicht an Versuchen
gefehlt sich mit demselben auseinander-
zusetzen. Daß diese Versuche meist ein¬
seitig ausgefallen sind, ist nur zu er¬
klärlich. Indignatio facit versum, die Ent¬
rüstung macht zwar den Dichter, aber
nicht den objektiven Beurteiler. Ein¬
zelne geschichtliche Tatsachen bieten
ebensowenig wie einzelne Aussprüche
bedeutender Männer des eigenen oder
eines fremden Volkstums eine genü¬
gende Grundlage, um ein Volk zu cha¬
rakterisieren. Eine solche wird uns aber
geboten in seiner Literatur, wenn wir
sie in diesem Sinne zu lesen verstehen.
Das Schrifttum eines Volkes ist nichts
für sich Bestehendes. Es geht nicht an,
dasselbe in der Weise von seiner Politik,
den äußeren Formen seines Lebens
scheiden zu wollen, wie es etwa fran¬
zösische und englische Gelehrte mit Be¬
zug auf Deutschland zu tun pflegen. Das
ist törichte Selbsttäuschung. Es ist viel¬
mehr das Produkt und zugleich der
Spiegel dieses Landes. Zweck und Ziel
der Literatur ist, wie Hamlet das vom
Schauspiel sagt, „der Natur den Spie¬
gel vorzuhalten, der Tugend ihre eige¬
nen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild
and dem Jahrhundert und Körper der
Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu
zeigen“.
Von keiner Literatur gilt dies aber in
höherem Maße wie von der englischen.
Kann man die deutsche, wenn man sie
kurz kennzeichnen will, als eine Schule
der Ideen bezeichnen, erscheinen die der
Franzosen und Italiener als Reiche der
Form und der Schönheit, so ist die eng¬
lische von Chaucer bis auf Meredith in
erster Linie eine Schule des Lebens. Des¬
halb bezeichnet auch der bedeutendste
englische Kritiker des 19. Jahrhunderts,
Matthew Arnold, die Poesie einseitig als
Kritik des Lebens, eine Definition, die
eben auf dem Wesen und Charakter der
englischen Poesie aufgebaut ist und in
ihr ihre Begründung findet Indem sie
aber Kritik des Lebens ist, ist sie natür¬
lich vorzugsweise Selbstkritik, Kritik des
eigenen Volkstums. Dieses ist es vor
allem, das sich in der Literatur in allen
seinen sozialen Schichten spiegelt, in ihr
und durch sie in seinen Vorzügen und
Fehlem, seiner Stärke und seiner
Schwäche dargestellt verherrlicht und
getadelt idealisiert und karikiert er¬
scheint Dies geschieht in erster Linie
unbewußt naiv« Wenn Shakespeare, wie
Goethe rühmend hervorhebt, seine Rö¬
mer zu Engländern macht so tut er da¬
mit nichts anderes als Goethe selbst
dessen Iphigenie keine Griechin, son¬
dern eine Deutsche ist oder als Radne,
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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
340
•dessen Römer und Griechen französi¬
sche Adlige vom Hofe Ludwigs XIV. sind.
‘Nicht mit dieser unbewußten Selbstkri¬
tik, die so groß ist wie die Literatur
selbst, haben Wir es hier zu tun. Wir
beschränken uns vielmehr auf die be¬
wußte, absichtliche Beschäftigung der
englischen Literatur mit dem eigenen
Volkstum, die jedenfalls in ihrer Ge¬
samtheit ein bedeutendes Zeugnis für
die Erkenntnis dieses Volkstums bietet.
Wir werden kurz zu skizzieren versu¬
chen, wie die h&vorragendsten Geister
unter den Engländern im Laufe der Jahr¬
hunderte ihr eigenes Volkstum aufge¬
faßt haben, namentlich auch im Ver¬
gleiche und im Gegensätze zu anderen
Nationen; wie sie ihr nationales Ideal,
d.h. den Inbegriff der Eigenschaften, die
sie hochschätzten und auf die sie stolz
'waren, auf gebaut haben, und welcher Art
die Kritik ist, die sie an den Erscheinun¬
gen ihres nationalen Daseins geübt
haben.
I.
Das nationale Selbstbewußtsein nimmt
in England seinen ersten gewaltigen
Aufschwung im Zeitalter der Königin
Elisabeth, das den Sieg über die spani¬
sche Weltmacht im Jahre 1588 und die
Anfänge der englischen Kolonisation
und Seeherrschaft sah. Und dieses Er¬
wachen des nationalen Geistes findet
naturgemäß seinen Ausdruck in der
herrschenden Literaturgattung der Zeit,
dem Drama, welches damals die Funk¬
tionen von Buch und Zeitung und — kön¬
nen wir heute hinzufügen — des Kine-
matographen mit denen der Bühne ver¬
einigte, alle Regungen der Volksseele
treu spiegelnd. Daher zeigt sich in einem
großen Teile der dramatischen Literatur,
namentlich der neunziger Jahre des 16.
und des Anfangs des 17. Jahrhunderts,
ein kampfesfroher Patriotismus, ein ge¬
steigertes Bewußtsein der eigenen Größe
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und ein glühender Haß gegen die
Feinde, besonders eine antikatholische
und meist antispanische, oft auch anti¬
französische Tendenz. Diese tritt in man¬
chen Stücken der Dramatiker der Zeit
von Marlowe und Peele bis zu sol¬
chen flinken und schnellfertigen „Dra¬
menbauern“, wie Dekker und Tho¬
mas Heywood, die für den Tag im
Aufträge einer Schauspielergesellschaft
„abendfüllende“ Dramen allein oder zu
mehreren zusammenzimmerten, oft sehr
aggressiv und unkünstlerisch hervor.
Diesem poetischen Aufschwung ver¬
dankt auch die Gattung der „Historien* 4
oder vaterländischen Dramen ihre Ent¬
stehung und kurze Blüte, jene in ihrer
Art in der Neuzeit einzige Litera¬
turgattung, aus deren großer Masse —
man zählt innerhalb eines Zeitraumes
von 15 Jahren mehr als 220 Stücke die¬
ser Art von denen etwa die Hälfte er¬
halten ist — Shakespeares neun Histo-
'rien als Gipfelpunkt hervorragen. Sha¬
kespeare selbst hat sich von dieser
patriotischen Woge tragen lassen, und
wenn er auch in seiner breiten Mensch¬
lichkeit die Extreme des Hasses, der sich
in manchen Dramen seiner Zeitgenossen
ausspricht vermeidet, so ist er doch ein¬
seitig patriotisch, steht keineswegs den
Ereignissen objektiv gegenüber wie etwa
Schiller, verherrlicht die Engländer und
verkleinert ihre Feinde, die Franzosen,
die Gegner seines Helden Heinrichs V.
sowohl wie die Jungfrau Von Orleans,
die er als Hexe und Buhlerin darstellt.
Und in seinem Richard II. findet sich
die schönste Verherrlichung Englands in
der Literatur; es sind jene Worte, die
der sterbende Gaunt an seinen leicht¬
sinnigen königlichen Neffen richtet Da
heißt England „dies Bollwerk, das Natur
für sich erbaut, dies Kleinod in die Sil¬
bersee gefaßt, die ihre Dienste ihm als
Mauer leistet, als Festungsgraben, der
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341
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
342
das Haus beschützt vor weniger be¬
glückter Lander Neid"; so und in ähn¬
lichen Wendungen wird vor allem Eng¬
lands insulare Lage als sein größter Vor¬
zug und Schutz gepriesen.
Das hochgespannte Nationalgefühl
der Renaissanoezeit unterscheidet sich
seinem Wesen nach nicht von dem an¬
derer Völker. Es enthalt als Elemente
den Stolz auf die Taten der Väter und
die alte glorreiche Geschichte des Lan¬
des, die durch die Sage verklärt und
ähnlich, wie die der Franzosen, durch
keltische Einbildungskraft und eine
phantastische Gelehrsamkeit nach rück¬
wärts erweitert wird über die Idealge-
statt des Königs Artus bis auf Brutus,
den Enkel des Äneas, und die Freude
Ober die Vorzüge des Landes, seiner
Lage, „rings umfaßt vom stolzen Meere",
seinen Reichtum und seine Fruchtbar¬
keit Ein neues Element kommt hinzu
durch die große puritanische Revolu¬
tion des 17. Jahrhunderts, die das Kö¬
nigtum der Stuarts stürzte, und deren
Gipfelpunkt die kurze ruhmreiche Herr¬
schaft Cromwells bildet Es ist der Stolz
auf die Freiheit Englands im Gegensätze
zu der Knechtschaft, unter der andere
Völker seufzen, und vor allem der
Glaube, daß die Engländer „das auser¬
wählte Volk" seien im Sinne des bibli¬
schen Judentums. Nirgends erschallen
diese neuen Töne so kraftvoll als in den
Schriften, besonders den Sonetten und
den polemischen Poesieschriften des
größten Schriftstellers der englischen
Revolution, Miltons. Da wird England
gepriesen als das Land „des freien Ge¬
wissens, der Freiheit des Denkens", als
»die vollkommenste freie Nation der
Welt“. „Wir haben Grund zu glauben,"
»gt Milton in der berühmten Streit¬
schrift für die Freiheit der Presse, Areo-
Pagitica, „daß die Gunst und die Liebe
des Himmels uns besonders gnädig und
zugeneigt ist Warum sonst wurde diese
Nation vor jeder anderen auserwählt,
daß aus ihr wie aus Zion die erste Kunde
der Reformation in ganz Europa er¬
schalle? Hatten die Bischöfe nicht Wick-
liff als einen Ketzer und Neuerer unter¬
drückt, so hätte man vielleicht nie von
Huß, Luther und Calvin gehört. Aber
jetzt, wo Gott eine neue und große Zeit
in seiner Kirche beginnt, die Reform der
Reformation selbst, wem anders offen¬
bart er sich als seinem Diener und, wie
seine Art ist, seinen Engländern?“ Also
selbst den Ruhm der Reformation will
Milton Deutschland und der Schweiz
nicht lassen, sondern nimmt ihn für sein
Volk in Anspruch. Diese Oberhebung,
dies Besserseinwollen als andere Völker,
dieser Glaube, zu Gott in einem bevor¬
zugten Verhältnis zu stehen, auserwählt
zu sein, ist von jener Zeit an charakteri¬
stisch für das englische Volksbewußt-
sein und findet in seiner Literatur von
Milton bis zu Kipling, dem wilden Sän¬
ger der englischen Weltmission, man¬
nigfachen Ausdruck.
Die Zeit vor der sogenannten „glor¬
reichen Revolution" von 1688, d. h. dem
Siege der Aristokratie über das nach
Absolutismus strebende Königtum der
Stuarts bis zum Ende des 18. Jahrhun¬
derts, sah die innere Konsolidierung des
englischen Staatsgebäudes als einer par¬
lamentarischen Aristokratie mit dekora¬
tiver monarchischer Spitze und den Auf¬
bau des englischen Weltreiches infolge
der Siege über die Franzosen in Canada
und Indien, nicht zu geringem Teile mit
Hilfe deutscher Söldnertruppen und
durch das Bündnis mit Friedrich dem
Großen. Das ist auch die Zeit, in der das
englische Nationalbewußtsein seinen
spezifischen, es von dem aller anderen
modernen Völker unterscheidenden Cha¬
rakter und seine bleibenden Ausdrucks¬
formen gefunden hat Unter den Scbrif-
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343
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
344
ten, die hierzu beigetragen haben, ist die
erste Daniel Defoes, des Verfas¬
sers von Robinson Crusoe, Gedicht
The True-Born Englishman, „der
echte Engländer“. Diese Satire, die im
Jahre 1709 unter der Regierung Wil¬
helms III. erschien, richtet sich gegen
diejenigen, welche den aus den Nieder¬
landen gekommenen König und seine
holländischen Freunde als „Fremde“ an-
griffen und sich etwas darauf zugute
taten, „echte Engländer“ zu sein. Da¬
gegen weist Defoe darauf hin, daß die
Engländer ein Mischvolk aus zahlreichen
Rassen seien, und daß namentlich ihr
Adel, der so stolz auf seine „Echtheit“
poche, fremdgeboren sei, ein Sammelsu¬
rium von Normannen, Holländern, Schot¬
ten, Iren und den Nachkommen der zahl¬
reichen ausländischen Maitressen König
Karls II. Er sieht in diesem Mischcha¬
rakter eher einen Vorzug als einen Man¬
gel und rät seinen Landsleuten, gegen¬
einander Toleranz zu üben. Man kann
im allgemeinen sagen, daß sie diesen
Rat befolgt haben. Wenn das englische
Volk die Kinderkrankheit des National¬
bewußtseins: die Verketzerung der eige¬
nen Volksgenossen aus Gründen der Ab¬
stammung, so früh überstanden hat, so
ist das nicht zum geringsten Grade die¬
ser Satire zu verdanken.
Defoe entwirft in demselben Gedicht
eine humoristische Skizze „jenes hetero¬
genen Dinges, eines Engländers“, auf die
wir nicht näher einzugehen brauchen,
da sie sich im wesentlichen deckt mit
der berühmteren, die wir dem aus
Schottland stammenden Arzt John Ar-
buthnot verdanken. Er ist der Schöp¬
fer des Typus des Engländers gewor¬
den durch seine „Geschichte John
Bulls“ (zuerst erschienen 1712). Das
Ganze ist eine politische Allegorie, die
den spanischen Erbfolgekrieg zum Ge¬
genstand hat, den sie darstellt als einen
Rechtsstreit zwischen Lord Stolz (Spa¬
nien), Ludwig Pavian (Ludwig XIV.), Ni-
oolaus Frosch (Holland) und John Bull
oder Stier (England). Diese Allegorie
interessiert uns heute kaum noch in ih¬
ren Einzelheiten. Was besonders von
Interesse ist, ist seine Charakteristik des
Engländers, zu der die damals herr¬
schende Klasse der Grundbesitzer Mo¬
dell gestanden hat. John erscheint da
als ein ehrlicher, aufrichtiger, choleri¬
scher, kühner Bursche, leicht zum Streit
geneigt, besonders wenn jemand ihn
meistern will, für Schmeichelei sehr
empfänglich, launisch, geschäftstüchtig,
aber doch nachlässig in seinen Rechnun¬
gen und daher leicht zu betrügen, dabei
ein fröhlicher Zecher, der seine Flasche
und ein gutes Essen liebt. Dieser Typus,
bei dem die äußere Behäbigkeit nicht
fehlen darf, ist seitdem unzählige Male
in Bild und Wort nachgezeichnet wor¬
den, mit liebevollem Humor in den Skiz¬
zen des Amerikaners Washington Irving
und mit scharfer Kritik zuletzt in einem
nachgelassenen Werke von George Me-
redith, von dem noch die Rede sein
wird.
Gleichzeitig mit dieser ihrem Wesen
nach sympathischen, positiv-konstruk¬
tiven Kritik beginnt aber auch die an¬
greifende und negativ zersetzende, die
sich gegen die Auswüchse des politi¬
schen Lebens richtet Von jenem selben
Arbuthnot stammt die Satire „die
Kunst der politischen Lüge". Die
Schrift definiert die politische Lüge als
„die Kunst, die Leute zu einem guten
Zwecke von heilsamen Falschheiten zu
überzeugen“, und erörtert weiter die
Rechtmäßigkeit der politischen Lüge, wer
sie ausüben solle, ob bloß die Regie¬
rung oder auch das Volk, die verschie¬
denen Arten derselben, wie sie beschaf¬
fen sein müsse, um Glauben zu finden,
welche von den beiden Parteien es am
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•*b45
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
346
weitesten darin gebracht habe, die Or¬
ganisation derselben, wie man einer
Lüge widersprechen solle, ob durch die
Wahrheit oder eine andere LQge, und so
manches andere. Die kleine Schrift ist
außerordentlich witzig und mutet uns
heute, wo die Kunst der politischen Lüge
so virtuos, unter einer so glanzenden Or¬
ganisation und mit so unendlich durch
die Technik vervollkommnten Hilfsmit¬
teln in England geübt wird, geradezu
aktuell an. Sie ist mit ihrer anscheinen¬
den Ernsthaftigkeit und trockenen Sach¬
lichkeit ganz im Stile der Schriften des
größten englischen Satirikers, des Freun¬
des und Zeitgenossen Arbuthnots, Jo¬
nathan Swift, gehalten. Auch dieser,
der schärfste und bitterste unter den
Geistern, die verneinen, hat manchen Bei¬
trag zur Kritik des Englündertums gelie¬
fert Da sind vor allem seine blutigen
Satiren auf die Beraubung, Verarmung
und planmäßige Ausbeutung seines Hei¬
matlandes Irland durch die Engländer,
die „Tuchmacher-Briefe“ und an¬
dere Flugschriften, mit ihnen der Vor¬
schlag, die kleinen Kinder der Armen in
Irland zu schlachten und an den Ta¬
feln der Reichen zu verzehren, damit sie
nicht ihren Eltern zur Last fallen und
dem Gemeinwohl nützlich seien — ein
grausiger Hohn auf die Unterdrückung
und Aussaugung Irlands—; dazu gehört
auch jenes wunderbare Buch, das heute
noch neben Robinson Crusoe die Freude
der Kinder ist ohne daß diese ahnen,
daß es im Grunde eine Satire auf die
Menschheit und besonders auf eng-
lischeVerhältnisse darstellt „Gullivers
Reisen“. Ein Beispiel möge das erläu¬
tern. Im sechsten Kapitel des zweiten
Buches, das die Reise Gullivers zu den
Riesen von Brobdingpag behandelt gibt
Gulliver dem König einen Bericht über
die Verfassung und die Einrichtungen
Englands; dieser aber kommt nach den
Lobreden Gullivers auf die beste aller
Verfassungen usw. und den Antworten,
die der englische Patriot auf seine Frage
gibt, zu dem Schlüsse, daß die Englän¬
der „die verderblichste Rasse häßlichen
kleinen Gewürms seien, die die Natur je
auf der Oberfläche der Erde habe her¬
umkriechen lassen“. Es ist die Kehrseite
des parlamentarisch-aristokratischen Sy¬
stems, die Bestechlichkeit, die Selbst¬
sucht der Parteien und ihre Intrigen,
die Verkehrung des Rechtes zugun¬
sten der Mächtigen und Reichen, die in
Swifts Meisterwerk — es erschien im
Jahre 1726, also in den Anfängen jenes
Systems — mit unerbittlicher Schärfe
dargestellt wird.
Es ist bezeichnend und kein Zufall,
daß die beiden zuletzt genannten Kriti¬
ker des Engländertums, Arbuthnot und
Swift, keine Engländer im engeren Sinne
waren, sondern der Herkunft nach der
eine ein Schotte, der andere ein Irländer.
Wir können im allgemeinen die Beob¬
achtung machen, daß die kritische Be¬
schäftigung mit Fragen des englischen
Volkstums vielfach von Schotten und Ir¬
ländern ausgegangen ist Das ist psy¬
chologisch ganz natürlich. Um über ein
Volk, dem man angehört, einigermaßen
unbefangen urteilen zu können, ist es si¬
cherlich von Nutzen, gleichzeitig, sei es
durch Geburt oder durch besondere gei¬
stige Bildung einen Standpunkt außer¬
halb einzunehmen, von dem aus die
Dinge in ihrer Idealität sich darbieten.
Es ist das eine Beobachtung, die auch
durch die Literaturen anderer Völker,
z. B. der deutschen; bestätigt wird.
Auch das Kampflied des englischen
Imperialismus, der kraftvolle, wenn auch
reichlich schwülstige Ausdruck von Eng¬
lands Wille zur Seeherrschaft stammt
von einem Nicht-Engländer, dem Schot¬
ten'James Thomson, dem sentimen¬
talen Dichter der „Jahreszeiten“. Das
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347
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
348
„Rule Britannia“ wurde zuerst im
Jahre 1740 als Sdiluß des patriotischen
Maskenspiels Alfred gesungen. Hier
wird prophetisch, als göttliche Bestim¬
mung, verkündet, daß Britannien die
Wogen beherrschen werde, daß Briten
nie Sklaven sein werden; es wird die
Freiheit der Briten der Knechtschaft
anderer, „nicht so gesegneter“ Nationen
gegenübergestellt und nicht weniger als
die Unterwerfung des Ozeans und jedes
Gestades, das er bespült, verheißen.
Keine Nation besitzt ein anerkanntes
Nationallied, das den Willen zur Macht
sowie das Gefühl der Überlegenheit
über alles Fremde so deutlich und so
kraftvoll, so unbedingt zum Ausdruck
bringt Wie zahm, wie sentimental er¬
scheint dagegen unser von Feinden und
Übelwollenden so verlästertes „Deutsch¬
land, Deutschland über alles“ mit sei¬
nem Preise deutscher Frauen, deutscher
Treue, deutschen Weins und deutschen
Sanges! Um dieselbe Zeit wie das „Rule
Britannia“ entstand übrigens auch die
offizielle englische Nationalhymne „G o d
save the King“, über deren Verfas¬
ser und Komponisten nur Vermutungen
bestehen, die aber in ihrem kriegeri¬
schen Tone durchaus der Stimmung
jener Zeit entspricht.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts
waren die Verhältnisse in England zu
einer gewissen Stetigkeit gelangt. Der
Sieg des aristokratischen Parlamentaris¬
mus war entschieden, das Königtum,
vertreten durch die hannoverschen Ge¬
orge, die erst in der dritten Generation
sich als Engländer fühlten, hatte nur
noch die Bedeutung einer dekorativen
Spitze und der Aufrechterhaltung der
Verbindung mit der Vergangenheit Da¬
mit setzt auch gleich die Kritik des Be¬
stehenden in der Literatur ein, und zwar
vom Standpunkt des Humanismus
des 18. Jahrhunderts. Diese Kritik
ist aber nicht direkt, sei es offen oder
verhüllt wie im Zeitalter von Defoe und
Swift, durch Pamphlet und Satire, son-
dem, da die Literatur sich jetzt von der
Politik gelöst hat und ein eigenes Da¬
sein führt, indirekt, gelegentlich, beiläu¬
fig durch den realistischen Roman,
der die Rolle des Dramas in der Renais¬
sance übernimmt und in noch höherem
Grade wie dieses ein treuer Spiegel de»
Lebens ist. Die Romane von F i e 1 d i n g,
Smollett und Goldsmith sind voll
von scharfer Satire auf die Schäden und
Mängel, die mit dem herrschenden Sy¬
stem eng verbunden waren. Wir sehen
hier deutlich die Kehrseite jener Frei¬
heit, die Montesquieu und Voltaire
ihren Landsleuten und der Welt als Mu¬
ster vorhielten, die Bestechlichkeit des
Parlaments und der Minister, den hefti¬
gen, alles unterwühlenden Parteigeist,
die Mißbräuche und die Käuflichkeit der
Ämter in Kirche, Heer und Verwaltung,
die Klassenjustiz, die den gentleman
milde behandelte und sein Eigentum
durch harte Gesetze schützte, aber blu¬
tige Strafbestimmungen für die klein¬
sten Vergehen des Volkes zur Hand
hatte, vor allem die Schuldhaft mit ihren
geradezu grotesken Auswüchsen: alles
das wird in Romanen und Zeitschriften
schonungslos gegeißelt Es ist wieder¬
um bezeichnend, daß die schärfste Kri¬
tik von zwei Schriftstellern ausgeht die
der Peripherie des Reiches angehören,
dem Irländer Oliver Goldsmith und
dem Schotten Smollett 1 ) Auch bei
ihnen aber verdrängt die Kritik nicht
das stolze Bewußtsein der Überlegen¬
heit über andere Völker, speziell über
die damals allein in Betracht kommen¬
den Franzosen. Und dieser Stolz stützt
sich in erster Linie auf den vermeint-
1) Vgl. dazu Aronstein, England um die
Mitte des 18. Jahrhunderts, in den „Neueren
Sprachen“ Bd. III 1895.
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349
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
350
lieben Vorzug der Freiheit. Mit fei¬
nem Humor verspottet der liebenswür¬
dige Verfasser des „Landpredigers von
Wakefield“ diesen Stolz in einem Essay
in seinem „Weltbürger“. Da wird ge¬
schildert, wie ein Schuldner, der durch
die Gitter seines Gefängnisses spricht,
ein Lastträger, der stehen geblieben ist,
um sich etwas auszuruhen, und ein Sol¬
dat sich über die Folgen des französi¬
schen Einfalls in das Land unterhalten.
.Mir ist besonders um unsere Freiheit
bange,“ ruft der Gefangene aus, „wenn
die Franzosen siegen sollten, was würde
aus der englischen Freiheit werden?
Liebe Freunde, die Freiheit ist das Vor¬
recht des Engländers, wir müssen sie
mit Lebensgefahr verteidigen. Die Fran¬
zosen sollen sie uns nicht rauben; es
ist nicht zu erwarten, daß Menschen, die
selbst Sklaven sind, unsere Freiheit
brechen würden, wenn sie siegten.“ Der
Lastträger nennt sie alle Sklaven, die
nur dazu gut seien, Lasten zu tragen,
und der Soldat bekräftigt mit einem
Fluche seine Befürchtung für die Reli¬
gion, wenn die Franzosen kommen soll¬
ten. Die köstliche Szene dürfte auch
beute noch Parallelen in England fin¬
den, wenn wir für französische Knecht¬
schaft und Papismus den „preußischen
Militarismus“ und die deutsche Ungläu¬
bigkeit setzen.
Die ganze Kritik der Schriftsteller des
1& Jahrhunderts berührt aber doch nicht
die Grundlagen des nationalen Glau¬
bens, die Überlegenheit der Engländer
über alle anderen Völker der Welt, ihren
weltgeschichtlichen Beruf zur Seeherr¬
schaft und den Individualismus als Fun¬
dament und Eckstein des nationalen
Lebens. Sie entnimmt vielmehr diesem
nationalen Ideale die Maßstäbe, cm der
äe die Wirklichkeit mißt, und be¬
schränkt sich auf die Aufdeckung von
Mißbräuchen und Widersprüchen in der
Anwendung und Durchführung dieser
als unumstößlich geltenden Theorien.
Und dieser nationale Glaube wird ge¬
stärkt durch das Gefühl der sittlichen
Überlegenheit, das, wie schon vorher
dargelegt, in der Zeit des Puritanismus¬
entstanden, durch die religiöse Renais¬
sance des 18. Jahrhunderts, den Metho¬
dismus der Wesley und Whitfield, neue
Nahrung erhält Diese Bewegung, die die
breiten Schichten der englischen Mittel¬
klasse tief und nachhaltig ergriffen hat v
hat zweifellos segensreich auf das pri¬
vate sittliche Leben gewirkt aber sie hat
anderseits ebenso unzweifelhaft die gei¬
stige Entwicklung gehemmt und ein mo¬
ralisches Pharisäertum großgezogen,,
das die geistige Freiheit einengte und
unterdrückte. Wenn auch die sog. „Auf¬
klärung“ mit dem Deismus der Collins,
Toland und Tindal in England begonnen
hat so ist sie doch dort in den Ansätzen
stecken geblieben und hat ihre weitere
Entwicklung und ihr Emporblühen zu
einem neuen Humanismus erst in
Deutschland gefunden.
So erscheint das 18. Jahrhundert in.
der Entwicklung des englischen Natio¬
nalbewußtseins als die Blütezeit der
Höhepunkt eines naiven, unbewu߬
ten Dogmatismus, eines festen
Glaubens der Nation an sich selbst der
wohl Kritik im einzelnen verträgt und
selbst für notwendig hält, aber im übri¬
gen fest aufgebaut ist auf der wenig¬
stens theoretischen Freiheit des einzel¬
nen, und der die Bestimmung des engli¬
schen Volkes zur Weltherrschaft zur See
und seine Überlegenheit über andere.
Völker, besonders auch in sittlicher Hin¬
sicht als seine beiden Hauptglaubens¬
sätze umfaßt
II.
Die Französische Revolution,,
die das politische Denken auf dem euro¬
päischem Festlande, so nachhaltig beein-
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351
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
352
flußt und umgestaltet hat, hat die starke
nationale Selbstbejahung in England
kaum irgendwie beeinträchtigt. Sie
wurde in England von liberalen Politi¬
kern und Dichtern, wie Wordworth und
Coleridge, zuerst freudig begrüßt, sie
hat auch ihre Enthusiasten gehabt, wie
Thomas Paine, den Verfasser der
„Rights of Man“, ferner den vielseiti¬
gen Joseph Priestley, der als Frei¬
denker, Chemiker, Physiker, Philosoph
und politischer Schriftsteller gewirkt
hat, aber diese unbedingten Anhänger
der französischen Revolutionsgrund'
Sätze sind in England immer eine abseits
stehende Sekte, eine einflußlose Minder¬
heit geblieben, und weder Byrons bei¬
ßende Satire und Auflehnung gegen das
Bestehende noch Shelleys prachtvoller
revolutionärer Idealismus haben daran
viel geändert Die Wirkung der Franzö¬
sischen Revolution ist eine ganz andere
gewesen. Sie hat das nationale Lebens-
gefühl des Engländertums nicht umge¬
staltet oder beeinträchtigt sondern es
vielmehr gestärkt indem sie es aus
einem unbewußten zu einem be¬
wußten, sich auch in der Idee
setzenden machte. Das plötzliche
Phänomen des großen Nachbarvolkes,
das seine Geschicke nach Ideen der Ver¬
nunft regeln, das kartesianische „Ich
denke, also bin ich“ aus dem Gehirn,
wo die Gedanken leicht beieinander
wohnen, in die Wirklichkeit das Reich
der Interessen, der Macht, der Leiden¬
schaften übertragen wollte, erregte zu¬
erst staunende Begeisterung in England,
dann aber, besonders als der revolutio¬
näre Geist immer wilder, immer hefti¬
ger gegen das Bestehende und alle ge¬
schichtlichen Mächte und Einrichtungen
wütete, die Gefühle des Gegensatzes,
des Widerwillens und Abscheus. Es ist
das große Verdienst des Irländers
Edmund Burke, diesen grundsätzli¬
chen Gegensatz begründet ihm glänzen¬
den Ausdruck gegeben, das unbestimmte
Gefühl der Abneigung gleichsam artiku¬
liert zu haben. Seine „Betrachtungen
über die französische Revolution“, die
1790 erschienen und eine ungeheure
Wirkung ausübten, stellen zum ersten
Male mit genialem Scharfblick der ab¬
strakten Anschauung die historische ge¬
genüber, dem idealen Staate die Berech¬
tigung des geschichtlich Gewordenen,
dem Rechte, das mit uns geboren ist
die Rechte des Staatsbürgers, im beson¬
deren Falle des Engländers, der nadb
Verwirklichung strebenden Idee die Vor¬
züge der geschichtlichen Kontinuität des
Aufbaues auf und Anschlusses an die
Vergangenheit kurz der französischen
Freiheit die englische. Burkes große Be¬
deutung für die Entwicklung des natio¬
nalen Lebensgefühls in England ist daß
er dem starken konservativen Zuge im
englischen Volke, dem Festhalten am
Alten, Worte und Gründe geliehen und
so die instinktive Abneigung eines prak¬
tischen Volkes gegen Ideen als solche
verstärkt hat So entstand als Reaktion
gegen die Revolution und ihre von Burke
schon 1790 vorausgesagten Folgen, den
Militärdespotismus und die langen
Kriege, eine Verehrung des Alten, Be¬
stehenden, ja alter Vorurteile und Mi߬
bräuche, die in ihrer hartnäckigen Ab¬
lehnung aller Vemunftgründe an das
Credo quia absurdum des Tertui-
lian erinnert Die Französische Revolu¬
tion hat in England das nationale Le¬
bensgefühl nicht untergraben, sondern
im Gegenteil fester begründet Der na¬
ive, unbewußte nationale Dog-
matismus des 18. Jahrhunderts
ist zu einem bewußten gewor¬
den.
Das 19. Jahrhundert ist was die eng¬
lische Verfassung, angeht die Zeit des
Obergangs von der Aristokratie zu einer
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353
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
354
sich immer erweiternden Demokratie.
Auf die Katholikenemanzipation im
Jahre 1829 folgt im Jahre 1832 die erste
große Parlamentsreform, dann in län¬
geren Abständen weitere Reformen und
Abschaffungen von Beschränkungen der
politischen Rechte bis auf die letzte Par-
lamentsreform von 1884/8& und ihren
Ausbau bis in die Grafschaften und
Kirchspiele in den Jahren 1888 und 1894,
ja wir können sagen, bis auf die Ab¬
schaffung des unbedingten Vetos des
Oberhauses im Jahre 1910. Diese Ent¬
wicklung vollzieht sich nicht planvoll,
einer Idee nach, sondern von Fall zu
Fall unter dem Drängen der nach Gleich¬
berechtigung verlangenden Volksschich¬
ten, immer nach hartnäckigem Wider¬
streben der bisherigen Machthaber, das
oft nur durch die wildeste Agitation, ja
durch drohende Revolution gebrochen
werden kann. Aber sie erfolgt doch
schließlich, im Gegensatz zu Frank¬
reich und den anderen Staaten des euro¬
päischen Festlandes, ohne offene Re¬
volution, Aufstände und Barrikaden¬
kämpfe auf dem Wege ordnungsmäßi¬
ger Gesetzgebung. Und so erschien sie
denn dem sich selbst bespiegelnden Eng-
ländertum und seinen festländischen li¬
beralen Bewunderern als, wenn auch äu¬
ßerlich ohne Methode, sich doch nach
inneren Gesetzen abspielend, ein natur¬
gemäßes, notwendiges Geschehen, ein
allmähliches Wachsen, wie das der
Pflanzen. Und England galt wieder ein¬
mal, wie zur Zeit der Voltaire und Mon¬
tesquieu, als das Idealland geordneter
Freiheit, wurde als das gelobte Land
freier Selbstbestimmung, das Muster
nnd Vorbild politischen Lebens in hohen
Tönen gepriesen. Seine Geschichte er¬
schien als der naturgemäße Fortschritt,
der anderswo durch widrige Verhält¬
nisse nur gehemmt und gehindert wor¬
den sei.
Internationale Monatsschrift
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Die bedeutendsten englischen Vertre¬
ter dieses Glaubens an die Überlegenheit
englischer Einrichtungen und Methoden,
die einflußreichsten Lobredner alles Eng¬
lischen waren Macaulay und Tenny-
son. Macaulay, der Schotte, hat die
Ideen Burkes weiter ausgebaut und im
einzelnen mit der Fülle seines Wissens
und der Kunst seiner Beredsamkeit be¬
gründet und erläutert Sein Hauptwerk,
die„GeschichteEnglands“, ist ihrer
Tendenz nach nichts anderes als ein Lob¬
lied auf die englische Verfassung und
die englische Freiheit als deren Grund¬
lage und größten Triumph er die Revo¬
lution von 1688, die Freiheitsurkunde
(„Bill of Rights“) und die Thronbe¬
steigung Wilhelms von Oranien ansah.
Er wird nicht müde, den Gedanken Bur¬
kes folgend und sie weiter denkend,
Parallelen zwischen der englischen und
der französischen Revolution zu ziehen.
Die französische Revolution bricht voll¬
ständig mit der Vergangenheit die eng¬
lische knüpft ängstlich an diese an, für
jeden Schritt nach Präzedenzfällen su¬
chend und die überlieferten Formen bis
aufs kleinste treu bewahrend; jene sucht
abstrakte Ideen zu verwirklichen und
findet ihre Vorbilder der Freiheit in der
Geschichte der unter ganz anderen Ver¬
hältnissen lebenden Griechen und Rö¬
mer, diese entnimmt ihre Ideale allein
der Geschichte und den Bedürfnissen
des eigenen Volkes; jene spricht von
allgemeinen Menschenrechten, diese
kennt nur Rechte des Engländers; jene
führt zu wildem Aufruhr und allgemei¬
ner Anarchie, die in einem Militärdespo¬
tismus endet und hat weitere heftige
Erschütterungen des Staates im Laufe
des 19. Jahrhunderts, die Revolutionen
von 1830 und 1848, zur Folge gehabt,
diese vereinigt „Umwälzung mit ver¬
jährtem Recht Fortschritt mit Stetig¬
keit, die Energie der Jugend mit der Ma¬
tt
Original fram
INDIANA UNIVERSITY
355
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
356
jestät unvordenklichen Alters“ und hat
in England den inneren Frieden bewahrt,
während alle Throne Europas wankten
— Macaulay denkt an die Revolution von
1848 —und die Bürger in den Hauptstäd¬
ten auf Barrikaden kämpften. 2 ) So ist
Macaulay der begeistertste und beredte
Advokat des politischen Engländertums,
der selbstzufriedene und optimistische
Bewunderer des eigenen Volkstums, des¬
sen Methoden und Lebensformen ihm
als der Gipfel menschlicher Weisheit,
ja als natumotwendig erschienen. Und
den Grund dieser Überlegenheit sieht er
in dem praktischen Charakter des eng¬
lischen Volkes, seiner angeborenen Ab¬
neigung gegen abstrakte Ideen. Sogar
auf die Philosophie, die doch das Reich
der Ideen ist, überträgt er diese selbst¬
gefällige Ansicht von der Überlegenheit
des englischen Geistes. Nirgends tritt
die Einseitigkeit Macaulays so grell her¬
vor wie in seinem Essay über Bacon.
Da schwelgt er förmlich in seiner Feind¬
schaft gegen allen Idealismus, seiner Be¬
geisterung für den bloßen und unmittel¬
baren Nutzen. „Wenn wir eine Wahl
treffen müßten“, heißt es da mit Bezug
auf den Philosophen Seneca, „zwischen
dem ersten Schuster und dem Verfasser
der Bücher über den Zorn, so würden
wir uns für den Schuster aussprechen.
Es mag schlimmer sein, zornig als naß
zu sein. Aber Schuhe haben Millionen
vor Nässe geschützt, und man kann
zweifeln, ob Seneca je jemanden vor dem
Zorn geschützt hat“ Was heißt das im
2) Vgl History of England Tauchn. Ed.
Ch. I. Bd. I. 85, ferner Ch. X, Bd. III, 446 ff.,
außerdem den Essay „History“, wo von dem
Einflüsse der Alten auf die politischen Ideen
der Franzosen die Rede ist, den Essay Ober
Mirabeau und besonders auch den Ober Hal-
lam’s Constitutional History.
Grunde anders, als daß die Bildung der
Seele, der sittliche Idealismus, die Er¬
hebung der Menschen über das Alltäg¬
liche ein unfruchtbares Beginnen, eine
Torheit und Nichtigkeit sei, von gerin¬
gerem Werte als Schusterarbeit? In
demselben Essay findet sich der be¬
kannte Ausspruch: „Ein Morgen in
Middlesex ist besser als ein Königreich
in Utopia“. Also besaß auch Macaulay der
erste beste Krautjunker mit seinem Hau¬
fen von „feinem Dreck“ mehr als Shake¬
speare mit seinem weltumfassenden
Reich des Geistes. Es ist der Standpunkt
des echten Philisters, den Macaulay hier,
wo er über Bacon schreibt, „das Haupt
aller Philister und darum ihnen auch
so zu Recht“, wie Goethe einmal sagt
(Gespräch mit Riemer am 13. 10. 1807),
mit Leidenschaft, ja, man könnte sagen,
mit einer Art von trockenem Fanatismus,
dem Fanatismus des Unglaubens, in sei¬
ner gewöhnlichen antithetisch-dialekti¬
schen Methode verficht. In der Tat be¬
saß er gar kein Organ für die Philoso¬
phie. Kant versucht er einmal zu lesen
und fand ihn „vollständig unverständ¬
lich, als ob er in Sanskrit geschrieben
wäre“.*) Und Plato schätzt er, der ein
Kenner der griechischen Literatur war,
nicht wegen seiner Philosophie, son¬
dern wegen seiner Kunst der Erzählung
und Beschreibung, seines Humors und
seines ausgezeichneten Griechisch, kurz
als Schriftsteller. Sokrates nennt er „bei
all seiner Geschicklichkeit einen seltsa¬
men, phantastischen, abergläubischen al¬
ten Burschen“. Kurz, er urteilt auch hier
als der Philister, der er war, allerdings
ein Philister von gewaltiger geistiger
Energie, ein Genie. (Schluß folgt)
3) Trevelyan, Life and Letters of Lord Ma¬
caulay p. 515.
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INDIANA UNIVERSITY
357
Richard Bürger, Germanistenwünsche
358
Germanisten wünsche.
Von Richard Bürger.
Als im Jahre 1816 die eben erst preu¬
ßisch gewordene Schulpforte — sie war
damals mehr als heute die „alte“ — von
der ihr gewiß wohlwollenden Regie¬
rung mit einem Sprungpferde zu eifri¬
gem Gebrauch bedacht wurde, flammte
in ihrem «engen Kreise ob dieses neumo¬
dischen Angebindes helle Entrüstung
auf: Wie man einer „literarischen“ An¬
stalt so etwas zumuten könne, meinte
der Rektor Ilgen, und das Ungetüm
wanderte auf jahrelanges Verschwinden
in eine entlegene Ecke.
Man würe versucht, anzunehmen, daß
diese Geschichte als typisch sich dem¬
nächst wiederholen könnte, wenn die
vielberufene Neuorientierung unseres
höheren Schulwesens nach dem Kriege
— und wer träumte nicht gern einmal
von diesen Zeiten? — ernsthaft ein¬
geleitet würde. Auch da wird alt und
jung aneinander geraten, und das Alter
wird sich seines reicheren älteren Be¬
sitzes allen Stürmern und Drängern ge¬
genüber mehr als einmal rühmen und
an ihm zähe festhalten. —
Nachdem der Geschichtsunterricht
erst jüngst, getragen von der be¬
deutsam angeregten Gegenwart, in
neue Bahnen hinübergeleitet wor¬
den ist, treten nun die Germanisten
in dem von ihnen geschaffenen Ver¬
bände mit umfassenden Wünschen
an die deutschen Regierungen heran. 1 )
Leichter und schwerer zugleich scheint
die Durchführung dessen zu sein, was
da in kurzen und doch so inhaltreichen
1) Eingabe des Deutschen Germanisten-
verbandes an die deutschen Regierungen
behufs Neuordnung des deutschen Unter¬
richts auf den höheren Schulen.
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Sätzen gefordert wird. Leichter: das
Schlagwort von der nun endlich zu bil¬
denden deutschen Schule hat die Stunde
seiner Entstehung überdauert und ver¬
langt ernsthafte Beachtung. Andrer¬
seits scheint diese zweite Reform, die
— nach der Geschichte — unserem ge¬
samten höheren Schulwesen zuteil wer¬
den soll, größere Schwierigkeiten in
sich zu bergen: Wenn im Geschichts¬
unterricht sich die Interessen mehr den
neueren und neuesten Zeitläuften zu¬
wenden sollen, so ist dies mit einer in¬
haltlichen Pensenverschiebung leicht zu
bewerkstelligen. Was die Germanisten-
eingabe fordert, ist zwar auch getragen
von der Gegenwartsbegeisterung, ist
aber mehr ein Bemühen, die Pflege un¬
serer Muttersprache nach rückwärts zu
verankern. Führt die Neuregelung des
Geschichtsunterrichts etwas aus dem
Betrieb der Geschichtswissenschaft her¬
aus und greift einer von ihr erst noch
zu leistenden Arbeit vor, so fühlt man
bei den Germanisten auf Schritt und
Tritt den Hauch der ihnen geläufigen
Fachinteressen. Die Empfänger der Ein¬
gabe mögen an der enzyklopädischen
Breite der Forderungen, die ihnen die
Entscheidung erschwert, Anstoß neh¬
men. Für uns soll dies kein Anlaß zu
Tadel sein.
I.
Die Germanistik ist — woran sie in
diesem Zusammenhänge und in dieser
Zeit erinnern kann — das Kind einer
Epoche voll ungeheurer Umwälzungen,
einer Zeit, die in der Pflege des deut¬
schen Altertums den besten Ausdruck
des neuen Zeitgeistes zu finden glaubte.
12 *
Original frn-m
INDIANA UNIVERSUM
359
Richard Borger, Germanistenwünsche
360
Sie hat aber auch weiterhin ihre Exi¬
stenzberechtigung als Wissenschaft über
die erste Geburtsstunde hinaus nach-
weisen müssen. Sie hat so neben dem
nationalen Zwecke ihrer Gründungszeit
eine allgemeine und dauernde Bedeu¬
tung im Rahmen der Geisteswissen¬
schaften gewonnen. Dieses doppelte Ge¬
sicht der germanistischen Wissenschaft
kommt in den Wünschen der Germani¬
sten gut zum Ausdruck. So sind z. B.
die Forderung nach vertiefter Betrach¬
tung des Mittelalters (S. 11), nach stär¬
kerer Pflege der Volkskunde (S. 12) ro¬
mantisches Erbgut aus der Zeit vor
100 Jahren. Fragen wir zunächst, mit
welchem Recht diese Wünsche hier zum
Ausdruck gelangen.
Man wird bei der Absicht inhaltlicher
Bereicherung für den Deutschunterricht
sich auf die Interessenspannweite be¬
rufen können, die unser geistig litera¬
risches Leben vor dem Kriege erreicht
hatte. Zugegeben, daß da manche Wege
über die Romantik zu einer tieferen
Betrachtung des Mittelalters hinführten.
Unser ganzes Denken war beherrscht
von der Sehnsucht, über eine bloß tech¬
nisch-rationalistische Anschauung der
Wirklichkeit zu einer gefühlsmäßig tie¬
feren Lebensdeutung zu gelangen. Es
ist wohl möglich und sogar wahr¬
scheinlich, daß sich diese Denkrichtung
auch noch nach dem Kriege weiter
festigt, und es ehrt den Germanisten,
wenn er für sein Fach das Recht, etwas
am Aufbau einer Lebensanschauung
mitzuarbeiten, in Anspruch nimmt Es
sind das jedoch Dinge, die bei einer
Neuordnung des Unterrichts nicht in
Betracht kommen; sie sind zu zarter,
persönlicher Natur und widerstreben
daher einer behördlichen Regelung.
Auch müßte sich die Wissenschaft erst
auf die mit der Erfüllung dieser Forde¬
rung sich ergebenden Verhältnisse ein-
Difitized by Gougle
richten, und ich sehe daselbst zunächst
nur Ansätze zur tieferen Erfassung des
klassischen Mittelalters, wie sie z. B. in
Schönbachs und besonders in Burdachs
Arbeiten vorhanden sind. Schließlich
bietet unsere klassische Literatur der
Zeit um 1800 selbst Anlaß genug zu
einer auf Lebensanschauung ausgehen¬
den, vertiefenden Behandlung.
Wir sind aber vielleicht überhaupt
nicht in der Lage, diesem eben ange¬
deuteten Zeitgeist zu stark die Zügel
schießen zu lassen. Der Krieg steht
uns allen und besonders der Jugend in
unzähligen konkreten Einzelheiten vor
der Seele; wir erleben ihn — Gott sei
Dank —mehr als Anlaß zu praktischem
Vergegenwärtigen und Miterleben, der¬
art, daß wir — zunächst — jede grü¬
belnde Selbstbesinnung meiden müs¬
sen. Es war anders, als nach 1800 die
romantische Denkweise in Deutschland
und anderwärts Platz griff. Man unter¬
lag mehr einer als hart und drückend
empfundenen Gegenwart und fühlte
den Riß zwischen der Realität und der
Möglichkeit seelischer Befreiung; für
diese zwiespältige Lebenserfassung
suchte man nach Bildern in der Ver¬
gangenheit Nichts von alledem heute 1
Die Fülle der praktischen Aufgaben, die
uns bevorstehen, nötigt uns eher, aus
unsrer Literatur der Jugend eine Reihe
biegsamer Denkformen zu vermitteln;
wir müssen uns hüten vor der Gefahr
der geistigen Systematisierung; sie
würde leicht die Folge einer besonderen
Behandlung der ersten Glanzzeit der
deutschen Literatur sein, zumal wir die
so gewonnenen neuen Gedanken auf
die Ideen unsrer Klassiker sozusagen
projizieren müßten, um sie zum Ver¬
ständnis zu bringen und ihnen Bedeu¬
tung zu geben.
Auch eine besondere Behandlung der
Volkskunde glauben wir, als zu roman-
Original from
INDIANA UNIVERSITY
361
Richard Borger, GermanistenwQnsche
362
tisch gedacht, ablehnen zu müssen.
Nach 1800 suchte und fand man im
„Volke" die letzten Helfer zur Über¬
windung des politisch verbildeten Staats¬
bürgers, der in der „grande armöe“
den Geist der Revolution der Welt auf¬
dringlich zuzuschieben schien. Man sah,
daß die politischen Zustande das, was
man bisher Volk nannte, aufgesaugt
hatten. Heute ist uns eine derartig das
Volk isolierende Betrachtung vollkom¬
men unverständlich; unser ganzesVolk
ist bis in die tiefsten Schichten hinein
zur Teilnahme am Schicksal des Vaterlan¬
des herangezogen worden. Wir Gebilde¬
ten selbst alle sind „Volk“, wir fühlen
das „Volk“ nicht so leicht im Gegensatz
zu anderen Gemeinschaftsbildungen. Es
ist der Sieg des Allgemeinen über den
Sondergeist, den wir erlebt haben und
weiter erleben. Zugegeben, daß hiermit
manche malerische 'Nuance, manches
Schöne, vielleicht für immer, verloren
worden ist- Aber die Tatsache ist nicht
zu bestreiten, und die Zeit verlangt statt
des Konservierens mehr Erfassen des
gegenwärtig Gegebenen. Die Volks¬
kunde — ein sehr umfassendes Gebiet
— war bisher eine Art Museum, zu be¬
häbig breiter Betrachtung einladend;
sie wird, wenn sie den Änderungen des
Tages sich anpaßt, sehr viel einfachere
Formen annehmen müssen, und statt
des weitausgreifenden Sammelns mehr
an die Nötigung zu geistiger Gesam-
meltheit (wenn das Wort erlaubt ist)
denken müssen.
II.
Sind so die Grundstimmungen,
welche die Anfänge der Germanistik
beherrschten, nur mit Einschränkung
für die Neuordnung des deutschen Un¬
terrichts zu verwerten, so bleibt nur
die Möglichkeit übrig, zwischen den
letzthin die germanistische Wissen¬
schaft kennzeichnenden Interessen und
den Bedürfnissen der Gegenwart eine
Verbindung herzustellen. Die Eingabe
unterscheidet Forderungen für den
Sprachunterricht und zur Behandlung
des deutschen Schrifttums; sie greift
hiermit auf die innerhalb der Germani¬
stik bestehende Gliederung und Arbeits¬
teilung, die ja durch die Sache selbst
gegeben ist, zurück. Sie fordert für die
Sprache, auch im fremdsprachlichen
Unterricht, durchweg Ausgehen von der
Muttersprache, wissenschaftliche Ver¬
tiefung im Sinne einer zu psychologi¬
scher und logischer Einsicht führenden
Behandlung, Beachtung der Dialekte
und der Wortkunde und besondere
Pflege der älteren Sprachstufe. Die¬
sen Wünschen entspricht für das
Schrifttum die Forderung einer breiten
Materialdarbietung für alle Stufen und
das Verlangen nach tieferer, weitaus-
greifender Erfassung der literarischen
Inhalte bis zur Einführung in philoso¬
phische Denkweise. Es ist kein Zwei¬
fel, daß jeder dieser Wünsche auf be¬
stimmte Arbeitsgepflogenheiten der Ger¬
manistik zurückgeht. Gleichwohl scheint
es mir geboten, Unterricht und Wissen¬
schaft einmal in ihrer gegenwärtigen
Form nebeneinanderzuhalten, um sich
von der Möglichkeit der gewibischten
Änderung zu überzeugen. Der Un¬
terricht im Deutschen steht in der
Mitte zwischen dem altsprachlichen,
der heute das Hauptgewicht auf die
Inhalte der Schriftwerke legt, und dem
neusprachlichen, dem wichtige Aufga¬
ben der Spracherlemung obliegen. Er
ist vor jeder Einseitigkeit somit be¬
wahrt. Allerdings ist zu beachten, daß
die jeweiligen Wissenschaften nicht
ganz diesem oben gezeichneten Zu¬
stande entsprechen. Die klassische Phi¬
lologie, als älteste und am reichsten
ausgestattete, pflegt die Spradifor-
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363
Richard Bürger, Germanistenwünsche
364
schung neben den literarischen Verhält'
nissen; sie hat Sogar — durch die be¬
sondere Betonung des Griechischen,
dessen Geschichte der allgemeinen
Sprachwissenschaft immer noch die
wertvollsten Aufschlüsse zu geben
scheint — in der Indogermanistik ge¬
wichtigen Einfluß. Die Germanistik
neigt mehr zur Vertiefung in das
Schrifttum; die Mehrzahl ihrer Ver¬
treter sind Literaturhistoriker; die Zeit
der Universalität Jacob Grimms, der
in Sprache und Literatur zu Hause war,
ist längst vorbei. In der Romanistik
steht augenblicklich das sprachliche
Interesse durchaus im Vordergründe.
Wenn demnach selbst in der Germani¬
stik nicht alle sprachwissenschaftli¬
chen Probleme bis zu ihrer neusten Be¬
arbeitung gebracht sein sollten, der Zu¬
stand der gesamten Sprachwissenschaft
ist eine Basis, auf der ein besser als bis¬
her gegründeter deutscher Sprachunter¬
richt in Zukunft gedeihen könnte. Ist
doch auf den Gebieten, welche die Ein¬
gabe nennt, in der Bedeutungslehre und
in der Dialektkunde, reichlich Vorarbeit
vorhanden, um dem Unterricht neues
Leben angedeihen zu lassen. Nur be¬
dürfte es einer wirklich eingehenden
Beschäftigung mit der sprachwissen¬
schaftlichen Seite ihrer Wissenschaft
für die Germanisten, deren Neigungen
sehr oft ausschließlich der literarischen
Kunstschöpfung gelten. Ich muß es mir
versagen, hier auf die hiermit in der
Eingabe — allerdings sehr vorsichtig
— verknüpfte Frage der Erlernung der
fremden Sprachen einzugehen. 2 ) War-
ten wir die Zeit ab, wo, statt der au-
2) Eingabe S. 14: 2. Der fremdsprachliche
Unterricht sollte daher erst beginnen, so¬
bald die in die höhere Schule eintretenden
Schaler sich in gemeinsamer Arbeit eine
einigermaßen breite, gleichmäßige Grund¬
lage an deutschen Spradikenntnissen er¬
worben haben.
genblicklichen — immerhin berechtig¬
ten — Erregung über die angeblich zu
weit gehende Erlernung der Sprachen
unsrer Gegner, eine ruhigere Überle¬
gung Platz greift; denn gerade hier
stehen große geistige und — was für
manche noch wichtiger ist — praktische
Werte auf dem Spiel.
Eher wäre schon die von unsrer Ju¬
gend so kräftig mitempfundene Freude
an einem reinen deutschen Ausdruck
als Ausgangspunkt für sprachliche Be¬
lehrung mit in Rechnung zu setzen.
Aber Vorsicht ist geboten. Nirgends
könnte, besonders bei einem Lehrer, der
erst neuerdings und gelegentlich die
sprachliche Seite des Deutschunterrichts
ins Auge zu fassen genötigt wird, die
Unterweisung leichter in trockner Be¬
lehrung enden als bei der Forderung
einer größeren Berücksichtigung der
hierher gehörenden Vorgänge und Tat¬
sachen.
Etwas weniger günstig scheint es
mit der Aussicht der Forderungen zu
stehen, die in literaturgeschichtlicher
Hinsicht von der Eingabe erhoben
werden. 3 ) Die germanistische Wissen¬
schaft ist hier zum Teil recht abseitige
Wege gegangen. Abgesehen von den
3) Die fQnf Thesen auf S. 12 verlangen
Behandlung der Dichtung im Zusammen¬
hang mit dem Dichterleben und dem Zeit¬
geist, von UII an die Erreichung der Fer¬
tigkeit, unter geeigneter Anleitung größere
Schriftwerke selbständig zu lesen, ferner
einen vierjährigen Lehrgang (fQrUII—Ol)
mit Behandlung der deutschen Literatur bis
zur Gegenwart und beständige Betonung des
gegenwärtig Lebendigen. In den oberen
Klassen sei es Aufgabe des Unterrichts einen
Einblick in die Grundtatsachen des Seelen¬
lebens zu vermitteln und den Sinn fflr Welt¬
anschauungsfragen anzuregen; die dem deut¬
schen Unterricht fremden Stoffgebiete seien
aufzugeben, und Erscheinungen volksfrem¬
den Ursprungs nur einzubeziehen, wenn sie
fördernd oder hemmend auf unser Geistes¬
leben eingewirkt hätten.,
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365
Richard Borger, GermanistenwQnsche
366
geschichtlichen und biographischen Ge¬
samtdarstellungen, abgesehen von den
ästhetischen Kommentaren zu den klas¬
sischen Dichtungen, hat ihre Arbeit der
Schule nicht unmittelbare Dienste ge¬
leistet Die Lachmannsche Textkritik,
von formwissenschaftlichen Idealen be¬
seelt hat mit der Feststellung eines
letzterreichbaren Tatbestandes eine rein
wissenschaftliche Höhe erklommen, die
unendlich erziehlich wirken könnte,
wenn sie dem Verständnis der Schüler
erreichbar wäre. Sie hat überdies einen
förmlichen Kult der literarisch entle¬
gensten Schriftwerke gezeitigt, so daß
mitunter die Frage: Wozu diese Arbeit?
nicht von der Hand zu weisen ist.
Demgegenüber hat die neuere Litera¬
turwissenschaft den Wert selbständiger
Eigenart gewonnen, besonders wenn
sie, von der Dichtung ausgehend, die
philosophischen und kunsthistorischen
Zusammenhänge aufsuchte. Nur an
diese Arbeiten denkt wohl auch die
Eingabe, wenn sie im Deutschunter¬
richt den Weg bis zur Einführung in
Philosophie und Kunst offen gehalten
wissen will. Es wäre wohl aber besser,
einfach beim Schriftwerk als Ausgangs-
und Endpunkt des deutschen Unter¬
richts zu bleiben und höchstens eine
Änderung der Interpretation zu ver¬
langen. Stand früher die Deutung zu
oft unter dem Kunstwerk und gefiel
sich im Zerfasern, so müßte nun vom
Lehrer eine mehr beherrschende Stel¬
lungnahme gefordert werden. Leicht
ist allerdings diese Arbeit nicht. Für
<tie älteren unter uns hieße dies sich
eingehend mit der wissenschaftlichen Li¬
teratur der letzten zwanzig Jahre befas¬
sen; da würde sich herausstellen, wie sehr
wir jetzt schon über die Literaturge¬
schichte Scherers, über E. Schmidts Les¬
ring u. a. m. hinausgekommen sind. Zu
einer wirklichen Reform scheinen mir
alle diese Anregungen jedenfalls nicht
auszureichen; der Unterricht im Deut¬
schen kann inhaltliche Bereicherung
statt bloß formalmethodisdier Weiter¬
bildung verlängern Es genügt nicht,
die Pforten der Wissenschaft einmal
recht breit aufzutun und ihrem umfas¬
senden Einflüsse die Schule zu unter¬
werfen. Alle Germanistik bleibt in der
Enge und ist begrenzt gegenüber dem,
was heute die Besten dem deutschen
Volke aus seinem eigenen Geistesbesitz
bieten wollen.
III.
Gegenüber diesem enzyklopädischen
Programm der Eingabe tut es gut, sich
der einfachen Formen des Geschichts¬
erlasses zu erinnern. Da wird nicht erst
nach wissenschaftlichen Anregungen
ängstlich Ausschau gehalten; es heißt
einfach: „Was verlangt die vaterländisch
bewegte Gegenwart?” Man möchte
wünschen, daß die Eingabe sich diese
Frage auch einmal gestellt hätte. Mit
andern Worten: Wenn wir im Unter¬
richt an der Hand von Schriftwerken
unsem Schülern sagen sollen, was
deutsch ist, dann gilt es zunächst ein¬
mal, ihnen eine Reihe unsrer besten
Schriftsteller, die bewußt vaterländi¬
sches Denken pflegten und verbreite¬
ten, unter diesem Gesichtspunkte vor¬
zuführen. Das ergibt eine Charakteristik
deutschen Wesens, die zwar nicht die
Fülle einer aus der Geschichte geschöpf¬
ten Darstellung aufweisen würde, die
aber zu den tiefsten Fragen psychischen
Erkennens Anlaß bieten könnte. Von
Lessing (wenn nicht schon von Luther)
wäre auszugehen. Seine Art der Kunst¬
betrachtung mit ihrer — so oft getadel¬
ten — begrenzten Beobachtungsfähig¬
keit hat etwas echt Deutsches, und trotz
aller Wandlungen, die wir erlebt ha¬
ben, bleibt sie den meisten unter uns
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Richard Bürger, Germanistenwünsche
36S
vertrauter, als man gemeinhin annimmt;
sie ist auch innerlicher, als die Beto¬
nung rein empirischer Beobachtung
zugeben mag. Sein dramaturgischer
Standpunkt wftre mehr aus den Fes¬
seln einer bloß dialektisch die Dinge
gegeneinander ausspielenden Auffas¬
sung zu lösen und grundsätzlich auf
nationales Kunstverlangen zurückzufüh¬
ren. Weiterhin würden Fichtes Reden
an die deutsche Nation Anlaß geben
zur Behandlung der Frage nach dem
Maßverhältnis zwischen deutscher Na¬
tion und Nation an sich. Sind wir heute
nicht ständig dieser Fragestellung un¬
terworfen? Bewußtes Deutschtum bie¬
ten dann noch E. M. Arndt und L. Jahn
— die beide noch zu wenig gelesen
werden —, die großen Bahnbrecher
historischen Denkens, Savigny und
Ranke. Gerade sie sind die Repräsen¬
tanten des klassischen Zeitalters des be¬
wußt empfundenen deutschen Patrio¬
tismus. Keine spätere Zeit hat uns der¬
artig den Sinn für unsre Eigenart ge¬
schärft, keine hat wie sie unsre Art
zu denken in der Welt verbreitet
und ihr Anerkennung erzwungen. Im
Kampfe gegen die Revolution und ihre
Epigonen erwuchs die Denkart eines
Savigny und eines Ranke. Ausgewählte
Abschnitte aus Savignys Beruf unsrer
Zeit, aus Rankes Geschichte der Päpste
und Deutscher Geschichte müßten un¬
bedingt der Schule geboten werden.
Vielleicht wäre auch noch etwas von
der Sonderart Schlossers, Dahlmanns,
ja selbst Leos nicht von der Hand zu
weisen. Eine Hochflut patriotischer Ge¬
fühle sahen erst wieder die sechziger
Jahre. Wieder war es wie 1810—30 der
Gegensatz zu Frankreich, an dem sich
unser Nationalgefühl stärkte. Hier
könnten Bismarcks „Gedanken und Er¬
innerungen“, dann aber auch besonders
seine Reden als Grundlage für die
Entwicklung unsres neudeutschenPatri >-
tismus dienen. Treitschkes hinreißen¬
des Pathos müßte sich hieran anschlie¬
ßen, er beherrscht ja bis in den
Sprachgebrauch hinein die unmittel¬
bare politische Gegenwart unsres Vol¬
kes, und Historiker, welche die Reichs¬
gründung behandelt haben, wie Sybel,
Lenz, Mareks, Fester usw., würden ein¬
zeln auch die Eikenntnis einer beson¬
deren Geschichtsauffassung und litera¬
rischen Eigenart vermitteln helfen. Daß
die Historiker in dieser Reihe im Mittel¬
punkte stehen, ist bei der Art wie sich
unser Patriotismus geschichtlich ge¬
gründet hat und weitererhält, nicht
zu verwundern. Die Besorgnis, daß man
so aus dem Rahmen eines reinen
Deutschunterrichts heraustreten könnte,
ist unbegründet Literatur, die nichts
weiter als Literatur sein will, bleibt un¬
fruchtbar. Eine um ein bestimmtes Pro¬
blem gruppierte Schriftstellerreihe je¬
doch, wie sie hier — sicher noch zu
ergänzen und zu verbessern — vorge¬
schlagen wird, bietet einen förmlichen *
Lehrkursus angewandter Philosophie,
und das ist es, was die Schule braucht,
nicht aber eine Einführung in die reine
Philosophie. Philosophische Fragen im
Leben auf suchen und erkennen ist wich¬
tiger als der Besitz fertiger philosophi¬
scher Weisheit wie ihn die Systeme
übermitteln. Gerade das Unfertig-Frag¬
mentarische, das die Behandlung eines
besonderen Falles nach dem hier ge¬
gebenen Vorschläge festzustellen ver¬
sucht hält den Blick offen für weitere
Fragestellung, wie sie Studium, Beruf
und Lebenserfahrung mit sich bringen.
IV.
Es ist gewiß, daß der Versuch einer
Vereinfachung der Wünsche der Ger¬
manisten, wie er hier unternommen
worden ist noch nicht an das Ziel
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369
Richard Bürger, Germanistenwünsche
370
aller dem Deutschunterricht jetzt gel¬
tenden Bestrebungen führt. Da ist noch
viel Arbeit zu tun, und von den ver¬
schiedensten Berufen her werden Rat¬
schlage erwünscht Das Wort von der
„deutschen Schule“, die kommen soll,
ist in diesem Zusammenhänge kaum
gestreift worden. Die Fülle der Pro¬
bleme, die es enthalt, ginge über den
Rahmen einer Erörterung unter Ger¬
manisten hinaus. Sollte der Wunsch
nach der Einheitsschule, die eine aus¬
gesprochen deutsche Schule sein müßte,
nicht in Erfüllung gehen, dann wäre
vielleicht noch Gelegenheit und Zeit,
wenigstens für die Behandlung von
Muttersprache und deutscher Dichtung
für alle Schulgattungen > ein festeres
Band gleichmäßiger Pflege zu knüpfen,
damit wenigstens das Gefühl der Zu¬
sammengehörigkeit an einem Punkte
unsres vielgespaltenen Schulsystems in
die Erscheinung träte. Ich glaube nicht,
daß dieser Gewinn für unser vaterlän¬
disches Denken und für weiter zu er¬
haltendes Zusammengehörigkeitsgefühl
zu verachten wäre. Vielleicht, daß auch
eine Art Austausch und gelegentliche
gemeinsame feierliche Pflege unseres
besten literarischen Besitzes denkbar
würe in Form von Deklamationsakten
und dramatischen Aufführungen. Hier
darf nicht eingewendet werden, es gäbe
nichts Gemeinsames, das die Schulgat-
tungen auf diesem Gebiete verbände.
Man sollte nicht vergessen, daß der
Versuch, im Erlebnisaufsatz den schrift¬
lichen Arbeiten des deutschen Unter¬
richts auch an den höheren Schulen
neue Bahnen zu weisen, letzthin von
der Volkschule ausging. Auch die in
der Eingabe vorgeschlagene Folge von
Märchen, Sage, Geschichte als Einfüh¬
rung in die höhere Kunstdichtung ist
an der Volkschule typischer und sau¬
berer durchzuführen. Für die Dialekte,
die Berufs- und Sondersprachen wird
der Volkschüler mehr Selbstbeobach¬
tetes mitbringen als der schriftsprach¬
lich erzogene Sohn der höheren Klas¬
sen. Sollte nicht, wenn nicht ein Aus¬
tausch, so doch ein Ausgleich inner¬
halb des deutschen Unterrichts, wenig¬
stens für die Jahre des schulpflichti¬
gen Alters, möglich sein? Die Sprach-
meister, von denen die Geschichte be¬
richtet, hatten, bis auf L. Jahn, eine
feste Hand, die durchgriff da, wo sie
bessern wollte. Auch die Übermittlung
einer tieferen Erkenntnis der Mutter¬
sprache verträgt ein gewisses Maß ord¬
nender Regelung; dies sollten wir Phi¬
lologen bei der weitgreifenden Kennt¬
nis, deren wir uns auf diesem Gebiete
rühmen, nicht vergessen und nicht über¬
mäßig behutsam zu Weihe gehen wol¬
len. Was die Jungwehr, als echte Nach¬
folgerin des Geistes L. Jahns, geleistet
hat, eine Überbrückung der Klassenge¬
gensätze auf eigenem Gebiete, dies
sollte dem Deutschen bei der schul¬
mäßigen Pflege seiner Sprache und sei¬
ner Dichtung in bescheidenerem Maße
auch erreichbar sein.
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371
Nachrichten und Mitteilungen
372
Nachrichten und Mitteilungen.
Nahrungsmlttel&mter Im alten Ägypten. Die
Volksemährung war bei uns bis zum Aus-
brache des jetzigen Weltkrieges der pri¬
vaten Tätigkeit überlassen, sie regelte sich
nach dem Gesetze von Angebot und Nach¬
frage. Erst die Absperrung von den großen
Märkten des Auslandes gab unseren Staats¬
und Gemeindebehörden sowie dem Reiche
Veranlassung, die Versorgung der Bewoh¬
ner mit ausreichenden Lebensmitteln plan¬
mäßig in die Hand zu nehmen. Im klassi¬
schen Altertume gab es wohl Stadtbelage-
rangen, aber keine so umfassenden Absper¬
rungen eines ganzen Landstriches. Gleich¬
wohl bestanden überall Nahrungsmittel-
ämter, die nicht der Kriegsnot entsprangen,
sondern zu den ständigen Verwaltungsein'
richtungen des Staates gehörten, Jahrhun¬
derte hindurch. So in Rom und in den
griechischen Stadtstaaten. Anlaß gab der
Umstand, daß die Zufuhr aus überseeischen
Gebieten infolge von Mißwadis und anderen
Ursachen starken Schwankungen ausgesetzt
war; das Nahrungsmittelamt hatte ständig
für Ausgleich zu sorgen, unterstützt durch
gesetzliche Maßnahmen des Staates. Eine
solche Maßnahme war z. B. das römische
Korn-Ausfuhrverbot für Sizilien in re¬
publikanischer Zeit, um den gesamten Korn-
ertrag dieser Insel für Rom zu sichern, oder
das Verbot der Ringbildung und der
Preistreibung in der römischen Kaiser¬
zeit Nicht immer genügten die Vorkeh¬
rungen zur Abwehr von Hungersnot; als¬
dann wurde Korn aus Staatsmitteln aufge-
kauft und zu mäßigen Preisen, später auch
umsonst an die Bürger Roms verausgabt
Die Unzulänglichkeit der römischen Korn-
Versorgung veranlaßte den Kaiser Augustus,
einen besonderen Nahrungsmitteldik-
tator (Praefectus Annonae) einzusetzen, der
für ausreichende Zufuhr des Korns in guter
Beschaffenheit zu sorgen, Maß und Gewicht
nachzuprflfen sowie die sachgemäße Lage¬
rung in den Staatsspeichern und die rich¬
tige Verausgabung zu leiten hatte; später
fiel ihm auch die Beaufsichtigung der Bäcker-
innung zu. Neben den genannten Ma߬
nahmen treffen wir allenthalben auch die
Einrichtung der Zwangsverkäufe: die
Grundbesitzer waren verpflichtet, alljährlich
einen bestimmten Bruchteil ihrer Ernte zu
mäßigem Preise an das Nahrangsmittelamt
ihrer Stadtgemeinde abzuliefern. Die Stadt-
gemeinde zu Athen war berechtigt, jährlich
den dritten bzw. achten Teil des gesamten
in der Landschaft Attika erzeugten Speise¬
öles — im Altertum kannte man keine
Butter, man verwendete dafür das Speiseöl—
zwangsweise zum Marktpreise anzukaufen.
Weit besser als über die anderen Län¬
der des klassischen Altertums sind wir über
Ägypten der griechisch-römischen
Zeit wie in Hinsicht aller Einzelheiten des
Verwaltungsdienstes*) soj auch in Hinsicht
der Nahrungsmittelversorgung unterrichtet,
und zwar dank den Papyrusurkunden, die
in den letzten zwanzig Jahren zu vielen
Tausenden dem ägyptischen Wüstenboden
entstiegen sind. Ägypten war das erste
Komland der alten Welt, der gesamte Ver¬
waltungsdienst drehte sich dortselbst fast
nur um Ackerbau und Kornsteuern. Da
lehren uns die Papyri mancherlei bewun¬
dernswerte Einrichtungen. Der ganze Acker¬
boden des Landes war entweder Staats¬
eigentum, oder — und zwar zu geringerem
Teile — in verschiedenartigen Formen als
Lehen an Einzelbesitzer vergeben. Das
Staatsland wurde durchweg verpachtet Die
Pächter und Lehenbesitzer zahlten ihre
Steuern nicht in Geld, sondern in Korn,
weil der Staat auf diese Weise das Korn,
das er zur Verschiffung über See benötigte,
unmittelbar in die Hand bekam. Zwischen¬
handel war in verständiger Weise ausge¬
schaltet Außerdem geschah die Zahlweise
im Girowege. In jedem Dorfe lagen näm¬
lich Staatsspeicher, dorthin brachte jeder
Bauer ohne Ausnahme seine gesamte Ernte,
dort wurden alle Bestände zusammenge¬
worfen und nur buchmäßig geschieden. Die
Abgaben zahlte man durch Wegschrift von
seinem Guthaben und durch Gutschrift auf
das Guthaben des Staates. Auch private
Zahlungen leistete man in Form von Korn
und im Girowege. Daneben waren aber
Bankwesen und Girogeldverkehr in Stadt
und Dorf reich entwickelt, weit mehr als
bei uns heute.
1) Siehe die soeben erschienene Schrift
des Verfassers „Antikes Leben nach den
ägyptischen Papyri“. Aus de* Sammlung
„Aus Natur und Geisteswelt“. Bd.565. Leipzig
1916, B. G. Teubner.
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373
Nachrichten und Mitteilungen
374
Man sollte glauben, daß ein Land mit
solchem Kornreich turne niemals in Hungers*
not geraten könnte. Dennoch geschah es
im Laufe der Jahrhunderte wiederholt, aber
nur deshalb, weil die Kornsteuern alle Jahre
in derselben Höhe unerbittlich beigetrieben
wurden, ohne Rücksicht auf fette und magere
Jahre, die durch starkes oder schwaches
Steigen des Nilstromes bedingt wurden.
Das römische Volk, welches ein Drittel des
Jahres mit Ägyptischem Getreide ernährt
wurde, ging voran. Für gewöhnlich aber
konnte ein Mangel in den Dörfern, wo
.jedermann Ackerbau und Viehzucht trieb,
nicht eintreten; anders in den ägyptischen
Städten mit ihrer starken, nicht dem Land*
bau zugewendeten Bevölkerung. Hier sorgte
'die Behörde für angemessene Zufuhr von
Lebensmitteln, und es gab in jeder Stadt —
sicher nachweisbar für die römische Zeit
— ein Nahrungsmittelamt. Diese Be*
hörde war von besonderer Wichtigkeit und
Ausdehnung in der Landeshauptstadt Alex*
andrien, woselbst das Nahrungsmittelamt
in fünf Unterteile, je einen für die fünf
Stadtteile dieser Riesenstadt des Altertums,
zerfieL
Wie ein zu Oxyrhynchos in Mittel*
■Ägypten gefundener Papyrus (Nr. 906) vom
Jahre 199 n. Chr. zeigt, stand dort an der
Spitze des Nahrungsmittelamtes ein Kölle*
gium von zwölf Beamten von
■denen monatlich abwechselnd jedesmal
sedhs die Geschäfte führten. Ihre Aufgabe
war es vor allem, für Brot zu sorgen. Die
Zahl Sechs hing damit zusammen, daß es
in der Stadt sechs Bäckereien gab, mit
denen je eine Mehlmühle verbunden war.
Jede Bäckerei wurde durch einen dieser
Beamten beaufsichtigt, der die pünktliche
Anlieferung des Kornes, das Mahlen und
Backen zu prüfen und dafür einzustehen
hatte, daß die erforderlichen Tiere zum
Treiben der Mühle sowie das nötige Heu
und Gerste zum Füttern dieser Tiere zur
Stelle waren. Täglich mußten in jeder Mühle
sechs Hektoliter Weizen ausgemahlen wer*
den, das sind in den sechs Mühlen 1060
Hektoliter monatlich, entsprechend der
Kopfzahl der Bewohner. So sorgte die Stadt
für den nötigen Bedarf an Brot. Die Maß*
nähme war in allen Städten ungefähr die
nämliche.
P*Um die nötige Zufuhr von Korn an die
Mühlen zu sichern, standen die städtischen
Nahrungsmittelämter mit den Staatsbehör*
den in Verbindung. Die Staatsbehörden
waren imstande, über den Kornbestand des
Gaues stets. die genaueste Auskunft zu
geben an der Hand statistischer Ober*
sichten. Jeder Dorfvorsteher führte nicht
nur genaue Listen über die Besitzrechte
am Ackerlande, sondern auch über die Art
der Verwendung. Kein Bauer konnte bauen,
was ihm gut dünkte, vielmehr hatte er nach
bestimmten Grundsätzen und in Beachtung
der Regeln für eine gesunde Fruchtwechsel*
Wirtschaft diejenige Feldfrucht zu bauen,
die fällig war, und auch in dem Umfange,
wie das an der Reihe war. Daß das ge*
schah, wurde von den Behörden überwacht
War die Saatzeit vorüber, so hatte jeder
Dorfvorsteher eine Statistik an die Gau*
Staatsbehörde einzureichen, woraus man
ersehen konnte, wie vielMorgen mitWeizen,
wie viel mit Gerste, mit Hülsenfrüchten und
sonstigen Früchten, und zwar für alles
Ackerland mit Einschluß des Privatlandes,
bestellt worden waren. Jede Gauhauptstadt
faßte diese Dorfberichte zusammen und
sandte die zusammenfassende Gau*Statistik
an die* Landeshauptstadt Alexandrien. Dort
konnte man sich also sehr bald nach be*
endigter Aussaat ein Bild von dem Um*
fange der bevorstehenden Ernte machen.
War die Ernte vorüber, so hatte jeder Dorf¬
vorsteher eine Statistik über die bis in
Bruchteile.von Scheffeln genau berechnete
Menge der verschiedenen Ernteerträge des
öffentlichen und privaten Ackerlandes an
die Gaustaatsbehörde einzureichen, diese
wiederum an die Zentralbehörde in Alexan¬
drien, und wenige Wochen später wußte
man in Alexandrien, wie viel Scheffel
Weizen, wie viel Scheffel Gerste usw. im
ganzen Lande geerntet worden waren. Die
weitere Berechnung, wie viel Korn zur Er¬
nährung des Volkes zu dienen hatte, war
dann bald gemacht, weil die Kopfzahl auf
Grund der alle vierzehn Jahre stattfinden¬
den Volkszählungen und der zwischen¬
durch geführten Zu* und Wegschreibungen
(an der Hemd von Geburts* und Todesan¬
zeigen) bekannt war.
Diese Saatstatistik, vor allem auch
die Erntestatistik könnte uns heute als
Vorbild zur gesicherten Durchführung der
Volksernährung dienen, vor allem auch die
Pflicht der Dörfer, bestimmte Früchte
in bestimmten Mengen anzubauen.
Für die Ernährung mit Brotgetreide bil¬
deten die oben erwähnten, in jedem Dorfe
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375
Nachrichten und Mitteilungen
376
vorhandenen staatlichen Kornspeicher einen
natürlichen Rückhalt, sie erleichterten auch
den städtischen Nahrungsmittelämtern ihre
Aufgabe. Neben dem Brote mußte aber auch
für Fleisch gesorgt werden. Das geschah
auf dem Wege vertraglicher Abmachun¬
gen zwischen dem Nahrungsmittelamte und
den Viehzüchtern unmittelbar, also unter
Ausschaltung eines Zwischenhandels. Vor
allem kam hierbei Schweinefleisch in
Betracht, wenigstens erwähnen die Papyri
häufig den Auftrieb von Schweinen, nie¬
mals — soweit bisher bekannt — von Rin¬
dern oder anderem Sdilachtviehe. In sol¬
chen Verträgen, deren wir mehrere besitzen,
verpflichteten sich die Schweinezüchter,
eine bestimmte Zahl von Schweinen für
den Markt einer bestimmten Stadt zu füt¬
tern und davon so viel jeweilig abzuliefern,
als von Fall zu Fall verlangt wurde. So
sicherte sich jede Stadt eine nach der Kopf¬
zahl ihrer Bewohner berechnete Anzahl
von Schweinen, wobei nicht nur mit einem
einzigen Züchter, sondern mit mehreren
gleichzeitig Abkommen getroffen wurden,
um die nötige Anzahl von Tieren 'festzu¬
legen. Die Tiere gehörten vom Tage des
Vertragsschlusses ab der Stadtgemeinde,
sie blieben bis zu ihrer Verwendung nur
in Kost beim Züchter. Die Abschätzung der
Tiere geschah durch die Nahrungsmittel-
beamten, der Abschluß der Verträge da¬
gegen durch den obersten Qaubeamten,
den sogenannten Strategen, weil die Züch¬
ter nicht bloß vertraglich, sondern auch
noch eidlich sich binden mußten. Der Eid
wurde nicht nur den Beamten auferlegt,
sondern grundsätzlich auch allen Privat¬
leuten, welche eine Leistung für die Öffent¬
lichkeit übernahmen. Der Züchter haftete
dem Staate für gewissenhafte Pflichterfül¬
lung mit seinem ganzen Vermögen, ja er
mußte sogar noch einen Bürgen stellen,
der dem Staate — ebenfalls mit seinem
ganzen Vermögen — als Rückversicherung
diente. Das war hart gegenüber unserer
heutigen Auffassung, aber wirksam. So
heißt es in einem Papyrus des Berliner
Museums (Nr. 92) vom Jahre 187 n. Chr.: „Ich
erkläre hiermit, indem ich schwöre beim
Genius des Markus Aurelius Kommodus
Antoninus, unseres Kaisers und Herrn, daß
ich 165 Schweine habe, die ich füttere zum
Auftriebe auf den Markt der Stadt Psen-
bellichis, und die ich liefern werde, sobald
es verlangt wird, andernfalls soll mich die
Strafe des Eidbruches treffen.“ Also neben
Vermögenshaftung noch Eidbruchstrafe.
Nach Auftrieb der Schweine trat der
Metzger in Tätigkeit. Auch dieser mußte
zur Sicherstellung der Volksernährung eid¬
liche Verpflichtungen eingehen und einen
Bürgen stellen, der ebenfalls eidlich sich ver¬
pflichten mußte. Etliche Papyri der Stra߬
burger Bibliothek, allerdings aus sehr spä¬
ter Zeit (566 n. Chr.), enthalten solche Bür-
gerfverpflichtung: „Ich verpflichte mich frei¬
willig und aus eigenem Antriebe, Bürge zu
sein für den und den Metzger, daß er das
Metzgergeschäft untadelig auf die Dauer
des folgenden Jahres ausübt und sein Ge¬
schäft nicht in Stich läßt, anderenfalls aber
ihn vor die Behörde zu bringen derart, daß
man ihn greifen kann“, usw.
Alle Gewerbe waren zu Zünften zu¬
sammengeschlossen, deren Vorstände (Zunft¬
meister) halbamtliche Eigenschaft besaßen.
Daß Metzger und Bäcker ihre Schuldigkeit
taten, dafür sorgten auch diese halbamt¬
lichen Zunftmeister. Nach den im Frieden
bei uns bestehenden Grundsätzen ist der
Bäcker oder Metzger nicht verpflichtet, auf
Verlangen an jedermann zu verkaufen; da¬
mals aber bestand diese Pflicht, doch nur
in Hinsicht der Nahrungsmittel.
Neben Brot und Fleisch waren es nach
Ausweis der Papyri noch Eier und Speise¬
öl (statt der heutigen Butter), gelegentlich
auch Obst, deren Zufuhr und Verkauf durch
die Nahrungsmittelbehörden nach festen
Regeln gesichert wurde. Es sind das die¬
selben Speisen, deren Sicherstellung audi
heute unsere Behörden in die Hand ge¬
nommen haben. In einem Papyrus aus dem
bereits genannten Oxyrhynchos vom Jahre
327 n. Chr. heißt es: „Ich verpflichte mich
durch heiligen Eidschwur, den Eierver¬
kauf auf dem Stadtmarkte auszuführen, und
zwar im Handverkaufe, zur öffentlichen
Nahrungsversorgung der Stadtbevölkerung,.
Tag für Tag, ohne Unterbrechung. Nicht
soll ich befugt sein, fortan unter der Hand
oder in meiner Wohnung Eier zu ver¬
kaufen“ usw. Hier sehen wir deutlich den
Unterschied zwischen privatem Handel im
Hause des Verkäufers und öffentlichem Ver¬
kaufe — zu behördlich festgesetzten Preisen
— im Dienste der öffentlichen Nahrungs¬
mittelversorgung auf dem Stadtmarkte.
Wiederum ist der Händler, wie oben, durch
Eidschwur gebunden. Die Zahl der Eier»
die zum Verkaufe gestellt werden sollen»
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Nachrichten und Mitteilungen
378
ist im Papyrus nicht angegeben, doch wird
dieser Punkt irgendwie anders geregelt ge*
wesen sein.
Ober die Versorgung der Städte mit
Speiseöl besitzen wir nur ein sehr frühes
Zeugnis, nämlich das Steuergesetz desjtönigs
Philadelphos aus dem 3. Jahrh. v. Chr. Dort
handelt es sich um die Verpflegung Alexan¬
driens, dessen ölbedarf in der Weise ge¬
deckt wird, daß auf bestimmten Gauen die
Verpflichtung lastet, eine genau vorgeschrie-
bene Anzahl von Morgen Landes mit Öl¬
früchten zugunsten Alexandriens dauernd
zu bestellen.
Ein Papyrus des Britischen Museums
endlich (Nr. 974) aus dem 4. Jahrh. n. Chr.
zeigt uns die Versorgung einer Stadt mit
Obst Auch hier hat der Händler einen
Bürgen zu stellen, und dieser gibt folgende
eidliche Erklärung ab: «Ich bin Bürge für
den und den Fruchthändler, daß er der
Stadt seinen Dienst ordentlich leistet in der
Zufuhr aller zeitgemäßen Obstarten, die in
tein Fach schlagen, in reichlicher Menge
und ohne Unterbrechung. Sollte man wegen
Vertragsbruches auf ihn fahnden, so will
ich ihn stellen, daß er seine Schuldigkeit
tirt, andernfalls will ich selber seine Pflicht
auf mich nehmen, oder es soll mich die
Strafe des Eidbruches treffen" usw. Wie
hier für Obst, so wird auch für andere
Friichtarten, insbesondere für Gemüse, ge¬
sorgt gewesen sein, wenn auch die Papyri
bislang darüber keine Auskunft geben.
Alle diese Maßnahmen zur Sicherung der
Volksernährung, leider nur lückenhaft durch
die Papyri uns überliefert, lassen sich durch
alle Jahrhunderte der griechisch-römischen
Zeit hindurch verfolgen. Dienststellung und
Titel der Beamten der Nahrungsmittelämter
wechselten im Laufe der Jahrhunderte, aber
der Grundsatz, daß die Öffentlichkeit für
geheberte Ernährung des Volkes zu sorgen
hatte, blieb derselbe.
Heidelberg. Prof. Dr. Preisigke.
Ba deutscher Irrlehrer des Auslands.
I.
Emsig hatte die Presse des Auslands da¬
für gesorgt, daß all die Äußerungen deut-
«eben Haders und deutscher Unzufriedenheit,
die sie in der letzten Zeit vor dem Kriege
wahrzunehmen glaubte, in vergrößerter und
vergröberter Aufmachung den gläubigen Le¬
iern aufgetischt wurden, um den unbeque¬
men Nebenbuhler herabzusetzen, womög¬
lich auszuschalten, da man mit ihm erfolg¬
reich nicht konkurrieren konnte.
Aber wie man als Kronzeugen des zyni¬
schen Imperialismus den General von Bern¬
hard i fand, so als Wortführer der „colossal
immorality“ Treitschke, des deutschen
Kultus der Macht Fr. Nietzsche, der die
deutsche Kultur der letzten Generation be¬
herrschte, der die Prinzipien des „Bismarckis-
mus" philosophisch begründete, der die
neuere deutsche Dichtung, Kunst und Philo¬
sophie wie keiner vor ihm beeinflußte, der
dem Denken und Fühlen der letzten Lustren
seinen Stempel unverkennbar aufdrückte.
Er ist neben Heine der deutsche Schrift¬
steller, der dem gebildeten Ausland am
bekanntesten ist; seine Urteile wiegen hier
so schwer, weil er auch der anerkannte
Philosoph des jüngsten Deutschlands ist
Er ist der Kronzeuge all derer, die die
deutsche Kultur für eine minderwertige,
rohe, barbarische halten, die neoen der fran¬
zösischen und — slawischen tief herabsinke.
Für den Leser bedeutete die Frage, welche
Schriften schon in die Zeit des umdüsterten
Geistes gehören, wenig oder nichts; was in
seinen Werken steht wird als gleichwertig
genommen.
Welches ist der Standpunkt Nietzsches?
„Deutsch denken, deutsch fühlen — ich kann
alles, aber das geht über meine Kräfte"
(XI 313). ’) Er tat sich auf seine vermeint¬
liche Abstammung von polnischen Adligen
und seine Verwandtschaft mit Chopin etwas
zugute, gerade wie Paul de Lagarde sich
seiner Verwandtschaft mit dem Eintagskönig
Theodor von Korsika rühmte. „Es gehört
selbst zu meinem Ehrgeiz, als Verächter
der Deutschen par excellence zu gelten.
Mein Mißtrauen gegen den deutschen Cha¬
rakter habe ich schon mit 26 Jahren ausge-
drückt — die Deutschen sind für mich un¬
möglich" (XI 373). Und warum dieser auf¬
fällige Haß gegen das Vaterland, der nur bei
Byron in solcher Schärfe ein Widerspiel
findet? „In Wien, in St. Petersburg, in Stock¬
holm, in Kopenhagen, in Paris und Neuyork
— überall bin ich entdeckt: ich bin es nicht
in Europas Flachland Deutschland" (XI312).
Was Platen, Heine, Schopenhauer u. a. zu
ähnlichen Ausfällen veranlaßte, trieb auch
Nietzsche: gekränkte Eitelkeit oder das Ge¬
fühl derVerkanntheit. Dazu kommt dleOber-
1) Ich zitiere nach der Leipziger Taschen¬
ausgabe.
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Nachrichten und Mitteilungen
380
sch&tzung f r a n z ö s i s c h e r Kultur.„ Au ch jetzt
noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten
und rafßniertesten Kultur Europas und die
hohe Schule des Geschmacks* (VIII 224).
„Als Artist hatfnan keine Heimat in Eu-
ropa außer in Paris* (XI 298). Von den
Engländern weiß er in der „Morgenröte*
zu rühmen (V 376), sie hätten „sich an die
Spitze der Wissenschaft gestellt*; doch die
Russen erhalten keine lobende Charakte¬
ristik, wenn er auch von Dostojewski mäch¬
tig beeinflußt wurde.
Was den Theoretiker in Deutschland be¬
sonders abstieß, war der Staat mit sei¬
nem gesetzmäßigen Triebwerk, seiner Ober¬
und Unterordnung, seiner das Kleinste re¬
gelnden Organisation — ein Zustand, der
jetzt goldene Früchte trägt. Das „frideri-
zianische Preußen*, dessen Geist das neue
Deutschland zu erfüllen drohte, war schon
den Romantikern ein Greuel gewesen und
ist’s allen Stürmern und Drängern, die lie¬
ber wie Goethe im „Götz* das Faustrecht
verherrlichen und wie Görres über den
„Racker Staat* herfallen. In diesem Sinne
redet auch der neue Zarathustra (VII69)
„vom neuen Götzen*: „Staat heißt das käl¬
teste aller kalten Ungeheuer.. Vernichter
sind es, sie stellen Fallen auf für viele und
heißen sie Staat: sie hängen ein Schwert und
hundert Begierden über sie hin...; dort,
wo der Staat aufhört, da beginnt erst der
Mensch, der nicht überflüssig ist.* Und öfter
wie einmal spottet er gegen „preußische
Schneidigkeit und Berliner Witz und Sand*
(VIII211) und bekam dabei das ganze literari¬
sche und künstlerische Ästhetentum zu La¬
chern, das ja wie er den „Bildungsphilister*
und die „heil’ge Ordnung* verabscheute.
Als der Einfall der deutschen Heere in
Belgien bekannt wurde, strategisch not¬
wendig, auch politisch gerechtfertigt, wie sich
erwies, da brauste ein Sturm der Entrüstung
durch den ausländischen Blätterwald, und
die Zeitung eines neutralen Staates zitierte
den Satz Nietzsches (aus VIII 211): „Es ist
heute vielleicht die gefährlichste und glück¬
lichste Verkleidung, auf die sich der Deutsche
versteht, dies Zutrauliche, Entgegenkom¬
mende, die Karten aufdeckende der deutschen
Redlichkeit: sie ist seine eigentliche Me¬
phistopheles-Kunst, mit ihr kann er es noch
weit bringen. Der Deutsche läßt sich gehen,
blickt dazu mit treuen blauen leeren deut¬
schen Augen — und sofort verwechselt das
Ausland ihn mit seinem Schlafrocke.*
Wie oft konnte man lesen, nicht das.
Deutschland Goethes und Schillers bekriege
man, sondern das „militaristische*. Das ist
so die Vorstellung Nietzsches (V 136):
„Wenn wir von deutschem Geiste reden,
so meinen wir Luther, Goethe, Schiller und
einige andere.* Aber seit die Deutschen
zur Macht kamen (1870/71), ist’s mit dem
Volk der Denker vorbei: „Die Macht ver¬
dummt* (X 284). „Wie viel verdrießliche
Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrodc,
wie viel Bier ist ih der der deutschen In-
-telligenz!“ (X 215). „Deutschland gilt immer
mehr als Europas Flachland* (X 287). Schon
1873/74 ist der junge Nietzsche überzeugt,
„daß die Deutschen bis jetzt keine Kultur
haben, so sehr sie auch reden und stolzie¬
ren mögen“ (II 198).
Mehr noch, die Deutschen haben überall,
wohin sie kamen, die bestehende Kultur ver¬
dorben. „Sie haben, seit einem Jahrtau¬
send beinahe, alles verfilzt und verwirrt,
woran sie mit ihren Fingern rührten“ (X 454).
„Alle großen Kultur-Verbrechen von vier
Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen..
Sie haben alles, was heute da ist, auf dem
Gewissen, diese kulturwidrigste Krank¬
heit und Unvernunft, die es gibt, den Na¬
tionalismus, diese növrose nationale, an der
Europa krank ist, diese Verewigung der
Kleinstaaterei Europas* (XI 370f.). „Soweit
Deutschland reicht, verdirbt es die Kultur*
(XI 294).
Ist es ein Wunder, wenn die Nietzsche-
aner des Auslandes mit ihrem Propheten
den Weltkrieg als einen Kreuzug für die
Kultur, gegen die Barbarei des kulturwid-
rigen Deutschlands erklären?
II.
Aber noch in anderer Hinsicht ist Nietz¬
sche dem modernen Ausland ein Irrlehrer
geworden — und das ist das Sonderbarste.
Der Weltkrieg, der nach den erlogenen Er¬
klärungen der Feinde und nach der Ansicht
weiter neutraler Kreise von Deutschland
angestiftet und begonnen wurde, ist nach
den Äußerungen fremder Zeitungen und
Zeitschriften eine Folge der Lehre Nietzsches,
der mit seinen Ideen zum mindesten das
ganze gebildete Deutschland berauscht
habe.
Es ist richtig: für den Skeptiker war der
militärische Geist stets etwas Hohes. Er
selbst war ein begeisterter Feldartillerist, und
es schmerzte ihn tief, als er durch eine
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Nachrichten und Mitteilungen
382
schwere Verletzung vor der Zeit der Waffe
entsagen mußte. Als der Krieg 1870 aus-
brach, bot er sich sofort dem Vaterlande an
und leistete als Krankenpfleger Dienste, die
ihm sehr schwerfielen. Und als er einmal
eine Heeresabteilung, Reiterei, Artillerie,
Infanterie in schimmernder Wehr, mit dröh¬
nendem Schritte vorbeiziehen sah, da, sagte
er zu seiner Schwester, .fohlte ich wohl,
daß der stärkste und höchste Wille zum
Leben nicht in einem elenden Ringen ums
Dasein zum Ausdruck kommt, sondern als
Wille zum Kampf, als Wille zur Macht und
Obermacht“ (IX, XI). Er schwärmt für die
militärische Erziehung. .Die gleiche Diszi¬
plin macht den Militär und den Gelehrten
tflcfatig; und näher besehen, es gibt keinen
tüchtigen Gelehrten, der nicht die Instinkte
eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Be¬
fehlen können und wieder auf eine stolze
Weise gehorchen ..., die Gefahr dem Be¬
hagen vorziehen; das Erlaubte und Uner¬
laubte nicht in einer Krämerwage wiegen“
(X 140). Seine .Zukunft“ träumt er sich
in einem .Militärdienst, so daß durch¬
schnittlich jeder Mann der höheren Stände
Offizier ist, er sei sonst, wer er sei“ (X52).
Er freut sich .der militärischen Entwick¬
lung Europas: die Zeit der Ruhe und des
Chinesentums ... ist vorbei* (IX 100). Im
Staat sieht er die .organisierte Unmorali-
tät... als Wille zur Macht, zum Kriege,
zur Eroberung, zur Rache“ (X 2). Der Krieg
ist ihm ein Kulturmittel: .er härtet ab, er
macht Muskel* (X 210). Er predigt: .Man
muß lernen, viele zum Opfer zu bringen
uncLseine Sache wichtig genug nehmen, um
die Menschen nicht zu schonen“ (X 181).
.Eine Gesellschaft, die endgültig und ihrem
Instinkt nach den Krieg und die Erobe¬
rung abweist, ist im Niedergang... Wenig¬
stens dürfte ein Volk ... sein Eroberungs¬
bedürfnis, sein Machtgelüst, sei es mit Waf¬
fen, sei es durch Handel, Verkehr und Ko¬
lonisation, als Recht bezeichnen — Wachs¬
tumsrecht etwa“ (X 7). In den Eroberern
sieht er die neuen .Barbaren“, die kommen
(X135)... .Man kann bei Naturen wie Cäsar
und Napoleon etwas ahnen vonjeinem .inter¬
esselosen* Arbeiten an ihrem Marmor, mag
dabei von Menschen geopfert werden, was
nur möglich. Auf dieser Bahn liegt die Zu¬
kunft des höchsten Menschen“ (X 178). Und
so ruft er prophetisch aus: .Die Deutschen
sind noch nichts, aber sie werden etwas...
Wir Deutschen wollen etwas von uns, was
man von uns noch nicht wollte — wir
wollen etwas mehr“ (X 140).
In dem .Willen zur Macht“, die Unkun¬
dige mit brutaler Gewalt verwechselten, sah
man die Aufforderung zur Eroberung, zur
Niederzwingung der Gegner; Deutschland,
sagte man, habe diese Philosophie ergriffen,
fühle den Beruf zum .Herrenstaat“, und der
Kaiser wandle in den Fußtapfen Cäsars
oder Napoleons (oder auch Tamerlans oder
Attilas), der an seiner Idee arbeite, „mag
dabei von Menschen geopfert werden, was
nur möglich*; der Militarismus Deutschlands
sei die in Praxis umgesetzte Philosophie
Nietzsches,dessen Leitspruch: „Werdet hart!“
nicht umsonst gesprochen wurde.
III.
Wenn sich nach diesen Gedankengängen
in einem neutralen Kopfe ein Zerrbild des
deutschen Wesens, des deutschen Willens
eigab, ist das wirklich verwunderlich? Eher
ist verwunderlich, daß Nietzsche fast zur
selben Zeit dem französischen Geiste assi¬
miliert wurde, als die puritanischen Englän¬
der in ihm den Geist des Belial entdeckten,
gegen den die christliche Kultur (Englands,
Rußlands, Italiens, Serbiens, Montenegros,
Japans) mobil gemacht werden mußte.
Und doch dürfen wir nicht vergessen, daß
Nietzsche als „Europäer“ sprach, der den
Kosmopolitismus der Romantik wieder neu
entfachte, in jener Zeit, da die Gründertage
manchen guten Deutschen am germanischen
Wesen irremachen konnten; dürfen nicht
vergessen, daß Nietzsche auf das Ausland
viel tiefer gewirkt hat als auf uns, und seine
Gegner bei uns viel zahlreicher und ge¬
schulter sind als anderswo. Und zuletzt sei
daran erinnert, daß Nietzsches Kampf gegen
alles Pharisäertum, gegen Plattheit, Selbst¬
genügsamkeit, Seelensattheit unser Denken
aufgerüttelt, die innere Vertiefung vorbereitet
hat, die nun die dira necessitas des Krieges
mit Riesenschritten vollendet. Nietzsches
idealer Mensch fordert, wie Wundt („Die
Nationen und ihre Philosophie“ S. 104—115)
so schön zusammenfaßt, .ideale Zwecke, in
denen sein Leben aufgehen muß, wenn es
für ihn lebenswert sein soll; und diese
Zwecke können, weil sie von ihm erstrebt
werden, wenn sein Leben ein Leben der
Tat sein soll, niemals ein fertiger, nur zum
Genüsse vorhandener Besitz, sondern sie
müssen an Werte gebunden sein, die nicht
unter ihm, sondern über ihm stehen. Hier
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Nachrichten und Mitteilungen
384
vollendet sich die Idee des .Oberniensdien“,
wenn wir diesen Namen für ein zu erstre¬
bendes Zukunftsideal beibehalten wollen,
indem sie sich mit der diesem auf die Tat
gestellten Ideal selbst schon immanenten
Idee der Hingabe verbindet. Hinter dem
Obermenschen Nietzsches steht so das Pflicht-
gebot: Du sollst dich selbst dahingeben für
die Aufgabe, die dir in der Welt gestellt
ist! Kein Zweifel, dieser Gedanke lebte
auch in der Seele Nietzsches ... Und zwei¬
fellos ist es dieser nicht zu entbehrende
Unterton, der in den Seelen vieler nachge¬
klungen hat, die von Nietzsche angezogen
wurden ... Nietzsche hat, vielleicht ohne
es selbst zu wissen, jedenfalls ohne es aus-
zusprechen, den deutschen Idealismus seiner
Wiedergeburt entgegengefQhrt ... in dem,
was den Kernpunkt aller Philosophie aus-
macht: in den Problemen der sittlichen
Lebensanschauung.“
Eduard Stemplinger-MOnchen.
Deutschland Im Urteil des Auslandes früher
und — jetzt Herausgegeben von Heinrich
Frankel. Mit Geleitworten von Peter
Rosegger, Gustav von Schmoller und
WilhelmWaldeyer. München 1916,Georg
Müller.
Das vorliegende Werk ist ein Kridgs-
buch und muß als solches beurteilt wer¬
den. Es ist aus dem Bedürfnis hervorge-
gangen, die Angriffe, die seit Ausbruch
des Krieges gegen Deutschland und das
deutsche Geistesleben gemacht worden
sind, zurückzuweisen und namentlich der
Herabwürdigung des deutschen Volkes durch
die Franzosen und die nach Frankreich ge¬
flüchteten deutschfeindlichen Elsässer ent-
gegenzuwirken. Zu diesem Zwecke hat der
Herausgeber eine große Anzahl von Ur¬
teilen, die von Vertretern verschiedener
Vblker seit Tacitus bis auf die Gegenwart
über Deutschland gefallt worden sind, zu¬
sammengestellt. Das Verzeichnis der Be¬
urteiler weist 271 Namen auf. Am zahl¬
reichsten und interessantesten sind die
Urteile der Engländer und Franzosen, ob¬
gleich die Auswahl nicht immer glücklich
und charakteristisch ist. Mehr oder weniger
typisch sind auch die Urteile der anderen
Völker, die der Herausgeber berücksichtigt
hat (Russen, Japaner, Italiener, Nordameri¬
kaner, Griechen, Bulgaren, Spanier, Argen¬
tinier, Iren, Danen, Norweger, Schweden,
Niederländer, Flamen und Schweizer). Die
meisten Vertreter dieser verschiedenen Völ¬
ker äußern sich zugunsten Deutschlands,
so daß durch ihre Aussagen die Ankla¬
gen, die seit Ausbruch des Krieges ge¬
gen die Deutschen erhoben worden sind,
sich in hohem Grade als ungerecht erwei¬
sen. Die Geleitworte von P. Rosegger,
G. v. Schmoller und W. Waldeyer sind
wertvoll insofern, als diese Männer frei von
chauvinistischer Oberhebung sind und die
Hoffnung hegen, daß die in diesem Buche
zusammengestellten günstigen Urteile zu¬
gleich zur Selbsterziehung des deutschen
Volkes mithelfen werden. So gibt Waldeyer
dem Wunsche Ausdruck: „Möchten alle
Deutschen, die das Buch lesen, sich fragen,
ob sie stets das Ihrige dazu getan haben,
der günstigen Urteile, die sie darin finden,
sich wert zu erweisen, und möchte so jeder
dazu beitragen, daß die uns zuerkannten
guten Eigenschaften unserer heranwachsen-
den Jugend bewahrt bleiben für und für!“
In diesen Worten ist schon angedeutet,
was Ober das Unternehmen als Ganzes
kritisch zu bemerken ist: daß es nament¬
lich im Auslande sicherer sein Ziel er¬
reicht, der gerechten Sache, für die es
eintiitt, wirksamer gedient hätte, wenn der
Herausgeber bei der Auswahl der Urteile
im Hinblick auf Deutschland wie auf Deutsch¬
lands Gegner von einer objektiveren Ge¬
sinnung getragen worden wäre. Von die¬
sem Vorbehalte abgesehen, ist die Lektüre
des vorliegenden Werkes lehrreich und
fördernd sowohl für die Freunde als auch
für die Feinde Deutschlands.
J. B.
POr die Schriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcelius. Berlin W30, LuitpoldstraBe 4.
Drude von B.O.Teubner ln Leipzig.
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Original frorn
INDIANA UNIVERSITY
INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
11. JAHRGANG HEFT 4 1. JANUAR 1917
Aus den Schützengräben.
Von P. D. Fischer.
Verehrte Freundin I
Sie wünschten meine Meinung über
das wundersame kleine Buch zu wissen,
das Sie mir neulich mit nach Hause
gaben. Ich komme Ihrer Aufforderung
um so lieber nach, als ich mich da¬
durch von einem Druck zu befreien
hoffe, den ich unter dem vielen Schwe¬
ren, womit der Krieg je länger, je härter
auf uns lastet, am widerwärtigsten
empfinde; ich meine den Druck der
Lügen und Verleumdungen, die unsere
Gegner von Beginn des Weltkrieges an
in einem bis dahin unerhörten Maße
gegen uns losgelassen haben, und deren
Verbreitung sie zielbewußt als eines
ihrer wirksamsten Kriegsmittel zu be¬
treiben nicht müde werden. Gehen sie
doch, England auch hierin an der Spitze,
90 weit, diejenigen ihrer Landesangehö-
rigen, die auf Grund ihrer eigenen
Wahrnehmungen gegen die eine oder
andere dieser Lügen Front zu machen
versuchen, wegen Landesverrats vor
den Strafrichter zu ziehen. Ein Spezial¬
gesetz, das die Verbreitung der Wahr¬
heit mit Strafe bedroht, etwa eine lex
Hobbouse, wäre ja wohl das Tollste,
was dieser Krieg an Rechtsirrungen zu
leisten vermöchte.
Und wir? Sollen wir uns auf den
landläufigen Trost beschränken, daß
Lügen kurze Beine haben? oder daß
Schimpfwörter keine Geschosse sind?
Sollen wir diese Gasbomben ihrer Ver¬
leumdungen ruhig über uns ergehen
lassen und ihnen lediglich die voll¬
endete Gleichgültigkeit unseres guten
Gewissens entgegenstellen? Kann es
uns wirklich gleichgültig sein, daß die¬
jenigen Nationen, die dem allgemeinen
Weltenbrand bisher noch in mühsam
aufrechterhaltener Neutralität gegen-
Überstehen, von den Schmähungen und
Drohungen unserer Gegner mehr und
mehr angesteckt werden? Nein, und
abermal neinl Zahmes Erdulden, stilles
Verachten ist auch diesem Punkt der
Kriegführung gegenüber vom ÜbeL
Auch hier gilt es, sich zu wehren; auch
hier ruft mutig sich zeigen, niemand
sich beugen, die Arme der Götter her¬
bei.
Ich bitte deshalb um die Erlaubnis,
meine Bemerkungen auf noch einige
andere Schriften aus den Schützengrä¬
ben ausdehnen zu dürfen, die mir neuer¬
dings in die Hand gekommen sind und
die mir, jede in ihrer Art, typisch für
den Geist unserer Feldgrauen, zugleich
aber die wirksamste Widerlegung der
wider uns erhobenen Beschuldigungen
zu sein scheinen. 1 ) Und wenn ich mir
für diese Bemerkungen einen Platz in
den auch Ihnen wohlbekannten blauen
Heften der „Internationalen Monats-
1) Leutnant Gotthold von Rhoden. Tü¬
bingen 1916 bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
— Ausgelöste Klänge. Briefe aus dem Felde
über antike Kunst. Berlin 1916, Weidmann-
sche Buchhandlung. — Leutnant Karl Feyer-
abend. Gedenkblatt der Brasilianischen Bank
für Deutschland.
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387
P. D. Fischer, Aus den Schützengraben
388
schrift“ erbeten habe, so ist dies in der
Hoffnung geschehen, daß diese Zeit¬
schrift, dem Sinne ihres BegrQnders
und dem ihres jetzigen Leiters gemäß,
auch gegenwärtig noch fortfährt, ein
Organ der Verständigung zwischen den
verschiedenen Kulturvölkern zu bilden,
und daß ihre Stimme auch jetzt noch in
neutralen Ländern, hier und da vielleicht
auch bei unseren Gegnern, gehört wird.
Ich beginne mit dem Heft, das die Er¬
innerung an Gotthold von Rhoden fest¬
zuhalten bestimmt ist ein Heft, dessen
Bekanntschaft ich Ihnen zu verdanken
hatte, als es noch lediglich dem Kreise
der Verwandten und Freunde zugäng¬
lich war, und mit dem Sie mich jetzt,
wo es auf vielfaches, wohl berechtigtes
Verlangen veröffentlicht worden ist
aufs neue beschenkt haben. Der Held
dieser Schrift einer der drei in diesem
Kriege vor dem Feinde gefallenen Söhne
des Konsistorialrates und Predigers
von Rhoden, ist als junger Theologe aus
seinem ersten Marburger Semester un¬
mittelbar bei Ausbruch des Krieges als
Freiwilliger zu den Waffen geeilt hat
es durchgesetzt sehr bald an die Front
zu kommen und ist zum Offizier beför¬
dert ein volles Jahr hindurch in den
Schützengräben im Westen mit vorbild¬
licher Einsetzung seiner vollen Jugend¬
kraft tätig gewesen, bis ihn am 15. Sep¬
tember 1915 in der Champagne die töd¬
liche Kugel traf. Einer von vielen Tau¬
senden; aber einer der Reinsten, von den
höchsten Idealen Beseelten. Einer, in
welchem sich die sittlichen Grundlagen,
auf denen die stärkste Kraft unserer
Heeresmacht beruht am restlosesten
ausgeprägt haben; einer zugleich, dessen
so früh unterbrochener Entwicklungs¬
gang die bündigste Widerlegung der
von unseren Gegnern über den preußi¬
schen Militarismus verbreiteten Ver¬
leumdungen darstellt
Wenn der treffliche Schwede R- Kjel-
16n in seinen „Ideen von 1914“ das deut¬
sche Pflichtgefühl dem westeuropäi¬
schen Individualismus gegenüberstellt,
so kommt in den Feldzugsbriefen des
Neunzehnjährigen trotz aller Zurückhal¬
tung der Gedanke der Unterordnung
unter das Ganze wiederholt zu über¬
raschend klarem Ausdruck. „Ich bin
nicht mehr ich,“ schreibt er am 11. De¬
zember 1914 von Arras, „sondern ein
Teil der Volkskraft die sich für das
Vaterland aufbrauchen und aufopfern
muß. Darum weg mit der ängstlichen
Sorge um meine Person I“ An der
Wende des großen Jahres schreibt er
den Eltern: „Das alte Jahr hat der un¬
sagbaren Not so viel gebracht das neue
wird noch mehr bringen. Im alten brach
im ersten Sturm der Begeisterung das
Beste der Menschenseele hervor, im
neuen heißt es Ausdauer, Bewährung.
Das wird schwerer sein: seid auch Dir
stark in der Liebe und bleibt es; verliert
nicht den guten Glauben an unser Volk
und bleibt stolz und getrost, auch wenn
ich nicht heimkehre; ich will keine
schwächliche Trauer.“ Ganz im Sinne
dieser Bitte hat der Vater das Wort mit
welchem der Sohn den Brief an einen
gleichfalls im Felde stehenden Freund
schloß:
„Kopf hoch und Augen geradeaus aufs
Ziel gerichtet!“
an den Schluß der Vorrede gesetzt, mit
der er die Briefe des Gefallenen der
Öffentlichkeit übergab.
Jedes Wort in diesen schlichten Brie¬
fen legt Zeugnis davon ab, wie inner¬
lich gefestigt dieser junge Krieger war.
„Als Zugführer, der für das Wohl¬
ergehen von 60 Mann verantwortlich ist,
habe ich meine Gedanken zusammenzu¬
nehmen. Wer hätte das denken können,
als ich noch ein fröhliches Studenten-
tum vor mir haben zu können glaubte I
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INDIANA UN1VERSITY
389
P. D. Fischer, Aus den Schützengraben
390
Aber vielleicht reift diese schwere Zeit
... Jetzt muß sich zeigen, was an dem
Menschen ist, ob er als innerlich ge¬
brochener, verlebter Mensch aus dem
Strudel der grausamsten Erlebnisse
heimkehren wird, oder ob ihn dieser ge¬
waltige Ansturm noch in seinem Charak¬
ter stärken konnte.“ Und als er am
30. Januar 1915 seinen Lieben mitteilt,
daß er über Nacht ein kgL preußischer
Leutnant geworden, sagt er: „dies ganze
militärische Leben, mit all seinen Förm¬
lichkeiten, dies Kriegsdasein — es ist
nur das Äußerliche, das Körperliche;
daß nur der Oeist stark und gesund
bleibe und die Seele rein!... Freuen
tue ich mich natürlich doch...“
Ausgesprochener Duellgegner, Absti¬
nent obgleich von der Familie, wie er
sagt in Freiheit dressiert, doch von den
strengsten sittlichen Grundsätzen be¬
herrscht, ist dem jungen Mann die An¬
passung an seine neuen Umgebungen
nicht leicht geworden. „Es geht mir“,
schreibt er nach Haus, nachdem er sich
entschlossen hatte, als Fahnenjunker Be¬
rufssoldat zu werden, „äußerlich ja ganz
gut Desto mehr muß ich innerlich
schwer arbeiten. Meinen Geist kann ich
auf keinen Fall dem Offizierkorps an¬
passen.“ In welchem Maße er sich trotz¬
dem die allgemeine Anerkennung seiner
neuen Berufsgenossen erworben hat, na¬
mentlich auch die seiner Vorgesetzten,
geht aus dem Briefe hervor, den sein
Hauptmann nach der Beförderung Gott-
holds zum Leutnant an dessen Vater
richtete. „Es mag ihm zuerst schwer ge¬
worden sein, sich einzuleben, und vor
allen Dingen wird er manche eigene An¬
sicht, die sehr anerkennenswert ist, dem
allgemeinen Weren un'erordnen müssen.
Aber gerade seine Ansichten, die zuerst
etwas übertrieben schienen, sind so
schätzenswert für uns alle, und er hat
sich durch sein Auftreten unter Vorge-
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setzten und bei seinen Untergebenen
viel Freunde erworben. Zu seinem vor¬
züglichen Charakter gesellen sich bei
ihm die guten Eigenschaften, die wir
gerade jetzt bei unseren Offizieren brau¬
chen: das enge Zusammenleben und
-fühlen mit den Leuten, das vorbildliche
Verhalten, die nicht ermüdende Aus¬
dauer und vor allem auch sein persön¬
licher Mut, gepaart mit unerschütter¬
lichem Gottvertrauen —“ Und wieder¬
um der junge Leutnant über diesen
Hauptmann: „Mein Hauptmann ist ein
Hauptmann — unbeschreiblich. Er ist
der vornehme Grundbesitzer, der durch
sein großartiges Organisationstalent
Großes zustande bringt, äußerst prak¬
tisch und weltgewandt... Seine Welt¬
anschauung ist durchaus nicht starr; er
ließ mich so viel reden, wie ich wollte —
natürlich nur auf seine Aufforderung
hin — und suchte mich von der Uner¬
fahrenheit und Unhaltbarkeit meiner
Ideen zu überzeugen... So rücksichts¬
los darf ich ja nicht sprechen, wie ich
wohl möchte; aber in all diesen Sachen
der Weltanschauung bin ich, Gott sei
Dank, mein eigener Herr, da kann mir
keiner dreinreden, da bin ich frei und
selbständig...“ Und als der junge Leut¬
nant bald darauf von seinem Regiment
zu einem neu gebildeten versetzt wird,
begleitet ihn sein bisheriger Hauptmann
eine Strecke lang und sagt ihm zum Ab¬
schied: „Bleiben Sie so.“
Stimmt dies Verhältnis zwischen dem
eben flügge gewordenen jüngsten Leut¬
nant und dem welterfahrenen Haupt¬
mann zu den Vorstellungen, welche die
Presse des Auslandes über den preußi¬
schen Militarismus verbreitet? Oder
stimmt damit die Stellung zu seinen Un¬
tergebenen, die persönliche Teilnahme,
die er für jeden von ihnen betätigt, das
Verständnis, mit dem er auf die ein¬
zelnen einzuwirken sucht? „Meine 60
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391
P. D. Fischer, Aus den Schützengraben
392
Schutzbefohlenen kenne ich nun alle bei
Namen; für einen Zwanzigjährigen be¬
reitet die Behandlung so verschiedener
Geister sicherlich manch Kopfzerbrechen
... Ich werde f Euch ein paar Adressen
schicken für Liebespakete..
In welchem Umfange der junge Offi¬
zier sich in den wahren Geist des preu¬
ßischen Militarismus einzuleben gewußt,
wie er nach oben und nach unten
den weitgehendsten Anforderungen ent¬
sprochen bat, das geht unwiderleglich
aus den Briefen hervor, die nach seinem
Heldentode der Hauptmann und der Re¬
gimentskommandeur an den Vater rich¬
teten, und andererseits aus dem rühren¬
den Schreiben des Burschen, das die
Liebe und die Bewunderung für den Da¬
hingeschiedenen wunderschön zum Aus¬
druck bringt —
Wie ganz anders das zweite Buch!
Wenn in den Feldpostbriefen von Gott¬
hold von Rhoden das Ringen einer jun¬
gen Seele, die Erlebnisse in den furcht¬
barsten Kämpfen sich anschaulich und
erschütternd, zugleich jedoch erhebend
abspiegeln, so erwecken die Briefe des
Landwehrleutnants Andrö Jolles aus
dem Felde über antike Kunst die Lud¬
wig Pallat veröffentlicht und mit einigen
prachtvollen Versen eingeleitet hat zu¬
nächst ein Gefühl des Staunens, ich
möchte sagen des Befremdens darüber,
daß Briefe dieses Inhalts aus dem Felde
herstammen. Dreißig bis vierzig Briefe,
alle ohne Anrede und ohne Schluß, nur
mit Zeitangabe, ohne Ort — alle offen¬
bar an dieselbe Empfängerin gerichtet
die wohl als Gattin des Absenders zu
denken ist alle mit Nachdruck und ma-
gistralem Ernst tiefste Fragen antiker
Kunst behandelnd — die dorischen
Tempel, Homer, archaische Kunstwerke,
Stilfragen, das griechische Drama,
Äschylos, Sophokles, Euripides und Ari-
stophanes: ist das mitten unter den
Schrecken des Weltkrieges möglich?
Wie ist es denkbar, daß der Leser nur
an ganz vereinzelten Stellen, vielleicht
drei- oder viermal in dem ganzen Buch
von 101 Seiten, und auch da nur ganz
flüchtig, etwas davon erfährt, daß rings
herum der Krieg tobt Einmal, unmit¬
telbar nach einer ebenso feinen als tief¬
sinnigen Charakterisierung der Kunst
des Sophokles, entschuldigt sich der
Verfasser, daß seine Briefe weniger
überdacht und weniger zusammenhän¬
gend sind. „Bei uns sind die Umstände
nicht danach, über Kunst zu schreiben
— ich versuche trotzdem, meine Gedan¬
ken aus dem Dreck zu retten.“
Eine Erklärung liegt vielleicht darin,
daß die Briefe sicherlich vor ihrer Ver¬
öffentlichung eine Redaktion erfahren
haben. Zunächst offenkundig in ihrer
Zusammenstellung nach dem Inhalt.
Denn sie sind in der vorliegenden Aus¬
gabe nicht nach ihrer Entstehung geord¬
net sondern nach bestimmten sachlichen
Gedankenfäden an- und hintereinander¬
gereiht; zwischen Briefe aus dem Juli
und August 1915 ist einer aus dem Ja¬
nuar 1915 eingeschoben; dann folgen
einige aus dem Mai und Juni 1915, unter
denen sich wieder einer aus dem
November 1915 befindet, und so fort.
Wenn also hier sichtlich eine Um¬
reihung und eine durchgreifende Neu¬
ordnung des Materials vorgenommen
worden ist, so liegt die Vermutung nahe,
daß auch der Inhalt der Briefe nicht un¬
verändert geblieben sein wird. Unter
anderem wird vermutlich viel Persön¬
liches, das in den Gedankengang der
Briefe über antike Kunst nicht paßte,
weggefallen sein; die Beziehungen des
Schreibers zur Empfängerin, die per¬
sönlichen Eindrücke, die er doch not¬
gedrungen als Offizier, als Teilnehmer
an gewaltigen Kriegshandlungen im
Kreidemorast der Champagne empfan-
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393
P. D. Fischer, Aus den Schützengraben
394
gen mußte, sind offenbar auf ein Ge-
ringstmaß zurückgeführt, das diesen
Briefen den Charakter des persönlichen
Gedankenaustausches fast raubt und sie
gelegentlich zu einer akademischen Vor¬
lesung oder noch naher zu Vortragen
io einem kunstwissenschaftlichen Pri¬
vatkolleg umstempelt Und der Zweck
dieses Privatkollegs? Wollte sich der
Schreiber erretten aus dem Wust des
Kriegsgetümmels, oder wollte er der
Gattin eine Anleitung geben, nach der
sie ihr Kind in die antike Kunst einzu-
führen vermöchte? Vielleicht sogar
wahrscheinlich, beides?
Aber — so, wie sie sind, können diese
Briefe aus dem Felde mit dem Dichter
sagen: Ich bin nun, wie ich bin; so nimm
mich nur hin. Und wer sie mit Auf¬
merksamkeit liest und vor einigem ge¬
legentlich etwas stark aufgetragenen
Geistreichtum nicht zurückscheut wird
in ihnen nicht nur eine höchst eigen¬
artige Bereicherung unserer Kriegslite¬
ratur, sondern eine Quelle mannigfaltig¬
ster Belehrung und Anregung kennen
und schätzen lernen. Sie wissen, ver¬
ehrte Freundin, daß wir uns in der klei¬
nen Graeca, von der ich Ihnen öfters er¬
zählt habe, in diesem Jahre mit Homer
beschäftigen. Ich kann aus unmittelbar¬
stem Eindruck die Wahrheit und das Zu¬
treffende von allem bestätigen, was der
Brief vom 15. August 1915 über Homer
sagt: „Als der blinde Sänger seine
Stimme erhob, da schwiegen alle Musen
und Künste; keiner konnte mehr einen
Finger rühren, atemlos horchten sie; wie
Josua die Sonne zum Stehen brachte,
so stand, als Homer sang, die Welt stille
... Wie macht er es, alle die Figuren,
die sich im Grunde so ähnlich sehen,
so verschieden zu charakterisieren.. „
nicht nur die Großen, sondern gerade
die Kleinen... Er beschreibt nicht,
macht keine psychologischen Andeutun¬
gen, Einzelheiten kennt er hierbei nicht
— und trotzdem 1 Da stehen sie deutlich
und fest Umrissen, stark wie die Wirk¬
lichkeit, schön wie Gedanken, alle ver¬
schieden, scharf gekennzeichnet... Ge¬
nau dieselbe Empfindung hat man bei
jedem Wort, was er spricht Sagt er
Haus, so sehe ich ein Haus, sagt er Tür,
so trete ich ein, sagt er Meer, so lecke
ich mir die Lippen und schmecke den
salzigen Geschmack... Wie macht er
das alles?... Ich weiß es ebensowenig,
wie ich Prometheus zugeschaut habe, wie
er beim Bache saß und Menschen schuf... *
Oder die wundersamen Gedanken, die
er „auf dem Kriegsschauplatz, kein ein¬
ziges Buch, nach allen Seiten abgelenkt“,
über die religiösen Probleme bei Äschy-
los vorträgt Ihm ist Äschylos ein Sturm,
der alle Naturgewalten entfesselt ein
Sturm, der aufbaut und nicht verwüstet
ein Geisterbeschwörer, der von seinen
Figuren besessen ist und dessen Perso¬
nen in einer Wolke von Ängsten und
Leidenschaften, Gespenstern und unbe¬
herrschbaren Mächten wandern. Wie
anders der milde, abgeklärte, mensch¬
liche Sophokles, nach dem er sich ge¬
legentlich wie von Sehnsucht angeweht
fühlt „So wie sich in dem Schreiben
über Äschylos mein ganzes Innere auf¬
wühlte, so kam mir beim Denken an So¬
phokles eine gewisse Linderung...“
Eine höchst eigenartige, ich möchte
sagen eine einzigartige Erscheinung, die¬
ser Landwehrleutnant der mitten aus
den Schrecken der Champagneschlacht
des vorigen Jahres seiner Gattin ein Pri¬
vatkolleg schreibt über antike Kunst
dieser Kenner des griechischen Thea¬
ters, der ihr aus dem Schützengraben,
ohne Hilfsmittet mit beständigen Un¬
terbrechungen die Entstehung des grie¬
chischen Dramas, die Grundlehren der
Poetik des Aristoteles, das Verhältnis
der großen griechischen Dramatiker vor-
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305
P. D. Fischer, Aus den Schützengräben
396
trögt Vortrage, die zu jeder Zeit Beach¬
tung verdienen würden, die aber, so ent¬
standen, ein vollgültiges Zeugnis von
dem Geist ablegen, der in unseren
Schützengraben solche Klange auslöst
und eine glänzende Widerlegung der
Schmähungen, die uns als kulturfeind¬
liche Barbaren verhöhnen.
In diesem Sinne mögen zum Schluß
noch die wenigen Blätter hier Erwäh¬
nung finden, in denen unser Freund
Max Schinckel namens der Brasiliani¬
schen Bank für Deutschland einem am
18. August d. J. gefallenen Beamten die¬
ser Bank, dem Leutnant Karl Feyer-
abend, ein ehrendes Andenken errichtet
hat. Bei Beginn des Krieges schlug sich
Feyerabend von Porto Alegre nach
Deutschland durch, um seine Kräfte dem
bedrängten Vaterlande zu widmen. Mit
welchem Heldenmut er dies getan hat,
geht aus dem Brief hervor, den nach
seinem Tode der Regimentskomman¬
deur an die Witwe gerichtet hat. Zur
Charakteristik des Gefallenen ist eine
Niederschrift von ihm über das Leben
unserer Soldaten mitgeteilt, die aus
einer früheren Stellung vor Ypern her¬
rührt, und der ich einige Sätze entneh¬
men möchte, da sie ohne Kommentar
den Mann, die Situation und das Ver¬
hältnis des Offiziers zu seinen Leuten
in schärfsten Umrissen vergegenwärti¬
gen : „Ein unterirdischer Gang, mit Bal¬
ken verstrebt, vorsichtig tastet sich der
Fuß auf den schlüpfrigen Brettern wei¬
ter, ein Fehltritt, und er versinkt fast
bis ans Knie in den Sumpf. Selten nur
erhellt ein Lichtstümpfchen spärlich die
Finsternis. Von Zeit zu Zeit schlagen
wir eine Zeltwand beiseite, die zum
Schutz gegen die herrschende Zugluft
ausgespannt ist An der einen Wand
hocken und liegen auf Bänken und ein¬
fachen Holzpritschen unsere Feldgrauen,
meist schlafend, nur die wenigen, die
das Glück haben, in der Nähe einer
Kerze zu wohnen, spielen Karten, lesen,
schreiben. Draußen lauert der Tod. Täg¬
lich mehrere Stunden lang fallen die
feindlichen Artilleriegeschosse nieder;
drinnen langweilige Stunden des War¬
tens. Jetzt bin ich bei meinem Zuge und
grüße die bekannten Gesichter.
Wenn es euch recht ist wollen wir
wieder etwas lesen I
Ein vielstimmiges: „Jawohl, Herr
Leutnant 1" ist die Antwort und so gut
es eben gehen will, drängen sie sich um
mich zusammen. Eine Kerze habe ich
selbst mitgebracht so daß mit einem
anderen Lichtstumpf der Raum beinahe
feenhaft erleuchtet wird.
Es ist Gottfried Kellers „Fähnlein der
sieben Aufrechten“, das wir zusammen
begonnen haben, von dem mir mal ein
Kamerad sagte, das könne man beinahe
jeden zweiten Tag wieder lesen. Und
einige Sekunden später ist Meister Kel¬
ler herniedergestiegen von seiner himm¬
lischen Höhe und erzählt seinen deut¬
schen Brüdern von seiner Schweizer
Heimat... Die Geschichte ist zu Ende;
alles hat gespannt gelauscht denn Mei¬
ster Gottfried versteht zu fesseln, ob er
nun mit wenig Worten den Zauber einer
Mondscheinlandschaft vom Zürcher See
vor uns aufleuchten läßt oder mit leise
quellendem Humor und jener Liebe, der
nichts Menschliches fremd ist uns den
Charakter und den Entwicklungsgang
seiner Gestalten zeichnet, oder ob er den
Blick aufs Ganze richtet aufs Vaterland
und auf die Notwendigkeit ihm zu die¬
nen und es in jedem Augenblick immer
wieder in erneuter Herrlichkeit aufzu¬
bauen. Solche Gedanken klingen in uns
an; jeder mißt sie nach seinen Erfah¬
rungen und wendet sie prüfend auf seine
Verhältnisse an, und wenn sich der kleine
Kreis trennt, dann ist keiner, der nicht
etwas mitgenommen hätte fürs Leben.
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Franz Jostes, Quido Gezelle
398
Das ist das seltsam Große dieser Zeit,
daß nun schon mehr als 20 Monate alle
Standes-, Klassen-, Konfessions- und
Parteischranken gefallen sind, daß alle,
ob hoch oder niedrig, reich oder arm, stu¬
diert oder ungelehrt, dieselbe klare, ein¬
fache Pflicht zu erfüllen haben, das
Vaterland zu verteidigen... Sehnen nach
Klarheit erfüllt uns alle; nur was klar
in uns geworden ist, befriedigt uns, frei¬
lich nur, um gleich wieder neues Sehnen
in uns wachzurufen, aber das ist der
Weg des inneren Fortschreitens. Und da
zeigt sich nun ein gut Stück kamerad¬
schaftlicher Hilfeleistung darin, daß wir
einander zu fortschreitender Klarheit
verhelfen, und wo der eigenen Kraft
Grenzen gezogen sind, uns mit den
großen geistigen Führern unseres Volkes
and der Menschheit verbinden ..
Und nun wendet Karl Feyerabend sei¬
nen Blick auf die Zukunft Wie wird’s
werden, wenn der Friede wiederkommt?
Werden auch unsere Heimgekehrten
wieder hineingezogen werden in die
alten Gewohnheiten? Sollen die alten
Parteiphrasen und -dogmen wieder um¬
gehen und heischen, daß man sie an¬
bete, unbesehen, mit Haut und Haar?
Und er richtet seine Hoffnung als
Heilmittel dagegen auf die deutschen
Bücher; nicht ihre Masse, wie sie ständig
den Markt überschwemmt sondern jene
kleine Zahl, die der Feldgraue draußen
im Unterstand gelesen, im Zwiegespräch
mit den Kameraden geprüft und wieder
geprüft und schließlich als goldhaltig
befunden hat Und er schließt seine Nie¬
derschrift mit Fichtes Wort:
„Dasjenige Volk, welches bis in die
untersten Stufen hinein die tiefste und
vielseitigste Bildung besitzt wird zu¬
gleich das mächtigste und glücklichste
sein unter den Völkern seiner Zeit, un¬
besiegbar für seine Nachbarn, beneidet
von seinen Zeitgenossen und ein Vorbild
der Nachahmung für sie.
Das sind wir Deutsche und wollen’s
immer mehr werden.“
So Karl Feyerabend.
Was bleibt uns übrig, als einfach ein
ehrfürchtiges Amen zu sagen I
Berlin, 20. November 1916.
Guido Gezelle.
Von Franz Jostes.
IL Seine Dichtung. 1 )
Gezelle ist ein moderner Dichter in
vollem Sinne des Wortes, und zwar er¬
scheint er als solcher von seinem ersten
Auftreten an. Daher auch der Mangel
an Verständnis für ihn bei denen, die
nur nach alten Leisten zu schuhen ver¬
mochten. Das Hauptcharakteristikum sei¬
ner Dichtung aber ist Wahrheit, Einfach¬
heit und Natürlichkeit:
.Hetgeen ik niet uitgeve en
hebbe ik niet in,
wie zal mij dat wijten te schänden?
1) Siehe Heft 2. November 1916.
Mijn herte en mijn tale, mijn
zede en mijn zin,
’t is al zoo van buten, ’t is
cd zoo van bin’:
*t ligt alles daar bloot op mijn banden!
Dan weg met de oneigne
tale en den schijn
van elders geborgde gepeizen;
mijn zijt gij niet, uw dat en
wille ik niet zijn,
dat in mij en aan mij is
dat heete ik mijn
oneigne, ik late uw, ... gaat reizen!“ *)
2) Was ich nicht ausgebe, habe ich nicht
in mir, mein Herz und meine Sprache,
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Franz Jostes, Guido Gezelle
400
Daran hielt er in Leben und Dich¬
tung allen Einwendungen zum Trotz fest:
.Wat ook alle pedagogen
Staande houden, hooge en fei,
onbelogen,
onbedrogen,
wilde waarheid, wilde ik wel.“ *)
Wohl bemerkt man zwischen den Ge¬
dichten der ersten und zweiten Periode
hie und da Unterschiede: jene weisen
in Wort und Bild begreiflicherweise noch
Spuren der herkömmlichen Dichterspra¬
che auf, aber mit der Zeit werden sie
immer seltener, ebenso wie die Fremd¬
wörter. Zugleich wächst seine Herrschaft
Ober die Sprache immer mehr, und
immer mehr Gewicht legt er auch auf
einen in Sinn und Klang genau treffen¬
den Ausdruck. Seine Anforderungen an
die Schärfe der Zeichnung, an die Ein¬
heitlichkeit des Bildes und die Festigkeit
des Rahmens, in den er es spannt, sind
mit den Jahren gewachsen. Aber das
alles berührt nicht das Wesen seiner
Dichtung, das ihn zu Gezelle und zu
einem Bahnbrecher gemacht hat
Reif in der Jugend, ist er im Alter
jung geblieben. Als er die verstaubte
Leier seiner FrQhzeit einmal wieder vom
Nagel heruntergeholt hatte, da gelang es
ihm auch, ihr wieder die alten Töne zu
entlocken und Lieder zu singen von ju¬
gendlicher Frische und Anmut, Lieder
von einer Zartheit und Innigkeit des Ge¬
fühles, einer Kraft und Schmiegsamkeit
der Sprache, einer Lebendigkeit und Far¬
ineine Sitte und mein Sinn, es ist ganz so
von außen wie es von innen ist: es liegt
da alles offen auf meinen Händen. — Weg
denn mit der uneigenen Sprache und dem
Glanz anderswoher geborgter Gedanken;
mein seid ihr nicht, euer will ich nicht sein,
was in mir und an mir ist, das nenne ich
mein: Uneigene, ich lasse dich ... geh fort.
3) Was auch alle Pädagogen steif und
fest (hoch und heilig) behaupten, ich wollte
wohl wilde Wahrheit, ohne Lug, ohne Trug.
benpracht der Bilder, die bei dem altern¬
den Mann überraschen mußten. —
Verse zu machen wurde Gezelle sehr
leicht, aber zu dichten im wahren Sinne
des Wortes, das ist ihm nicht leicht ge¬
worden:
.0 dichten, die ’k gedregen, die ’k
gebaard hebbe, in de pijn
des dichtens, en gevoesterd aan
dit arem herte mijn;
mijn dichten, die ’k zoo dikwijls her-
kastijd heb, hergekleed,
bedauwend met mijn tränen en
besproeiend met mijn zweet,“ ... 0
In seiner geistigen Werkstatt lag ein
großer Vorrat von Stoffen aufgespeichert,
Gedanken, Bilder, Wörter, Sprüche, Verse
und Strophen, die der rechten Stimmung
oder des glücklichen Griffes harrten, um
aus ihrem embryonalen Zustande heraus
und ans Licht zu kommen. Manches, das
verbunden werden sollte, wollte sich
durchaus nicht in die gewünschte Form
und Fassung bringen lassen — .men doet
ook niet al wat men wil met de woorden“,
seufzt einmal der Dichter — und mußte
oft jahrelang — wenn nicht für immer —
liegen bleiben, bis es oft plötzlich und
von selbst an- und ineinanderschoß. 6 )
.Ten halven afgewrocht,
ontvangen niet geboren;
4) O Gedichte, die ich getragen, die ich
geboren in der Pein des Dichtens und ge¬
nährt an diesem meinem armen Herzen;
meine Gedichte, die ich so oft wieder ge¬
züchtigt und umgekleidet habe, sie be¬
tauend mit meinen Tränen und benetzend
mit meinem Schweiß ...
5) Etwas Ähnliches bekennt Du Bois-Rey-
mond von sich in einem Briefe an Fr. Zöllner:
.Ich habe in meinem Leben einige gute Ein¬
fälle gehabt und mich manchmal dabei beob¬
achtet. Sie kamen völlig unwillkürlich, ohne
daß ich einmal an die Dinge dachte. Sicht¬
lich fielen die Molekeln mit einmal
in die gesuchte Lage ...“ Fr. Zöllner,
Wissenschaftl. Abhandlg. II, 2. S. 1064.
Leipzig 1889. (Hierauf hat mich mein Kol¬
lege Plaßmann aufmerksam gemacht)
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Franz Jostes, Guido Gezelle
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gevonden algeheel
noch algeheel verloren,
zoo ligt er menig rijm
onvast in mij, en beidt
den aangenamen tijd
der volle uitspreekbaarkeit" *)
Ein charakteristisches Beispiel bietet
hierfür sein Nachtigallenlied, von dem er
schon 1874 in einem Briefe an G. Verriest
schreibt, daß es ihm im Geiste schwebe:
„Ik hoore peerlen op een elpen tafel tin-
kelen,
Ik hoore op zilverdraad met rassen vin-
gertik ...
20—30 verzen ...
Ik hoore uw (nacht) musijk, o roode nach-
tegall*
Im „Tijdkrans“ ist (zwanzig Jahre spä¬
ter) daraus folgende Strophe geworden:
„Geteld, nu tokt zijn taalgetik,
als wäre ’t op een marbelstik,
dat perelkransen,
van ’t snoer gevallen, dansen.“ 7 )
Ob freilich das lange Meißeln, Feilen
und Schleifen nicht auch bisweilen seine
Schattenseite gehabt hat, muß ich dahin¬
gestellt sein und die Flamen entscheiden
lassen, für einen Fremden ist es zu
schwer, hier ein Urteil zu fällen. 8 ) Der
6) Zur Hälfte vollendet, empfangen, nicht
geboren, weder ganz gefunden, noch ganz
verloren, so liegt da mancher Vers schwan¬
kend in mir und wartet auf die erfreuliche
Zeit der vollen Aussprechbarkeit.
7) Gezählt nun schlägt sein Sprachgetick,
wie wenn auf einem MarmorstQck von der
Schnur gefallene Perlenkränze tanzen.
8) Doch will ich offen bekennen, daß ich
in die Bewunderung dieser Strophe nicht
vorbehaltlos einstimmen kann. Ich bin über¬
zeugt, daß, wenn Hugo Verriest sie vor¬
trägt, man an Nachtigailengesang erinnert
wird; ich zweifele auch gar nicht daran,
daß Gezelle das Geräusch wirklich gehört
und dem Nachtigallengesang ähnlich be¬
funden hat — aber! ich habe in meinem
Leben zwar manche Perle und manche
Marmorplatte gesehen, indes nie Perlen auf
Marmor tanzen hören! Und das dürfte bei
vielen Lesem der Fall sein. Was nützt uns
aber ein Vergleich, bei dem uns das tertium
comparationis unbekannt ist? —
Rhythmus freilich, in dem Gezelle eine
unübertroffene Meisterschaft besaß, hat
dabei indes stets gewonnen. 9 )
Gezelles Dichtungen sind meistens ent¬
weder aus seinem eigenen innern Leben
oder aus seinem Verkehr mit der Natur
und seinen Mitmenschen hervorgegangen.
Doch lassen sie sich nicht immer rein¬
lich scheiden; denn der Dichter ist kein
bloßer Realist, seine Kunst kein Impres-
sionalismus: die Natur ist für ihn ein
Ausfluß der Gottheit, ihre Schönheit ein
Abglanz der ihrigen und ihr Preis oft zu¬
gleich ein inbrünstiges Gebet zu Gott
Er fühlt sich selbst als ein Teil der Natur
und verschmilzt ihren Zauber mit dem
Zauber seines Gemütes, bevor er sie uns
zeigt:
„Mij spreekt de blomme een tale,
mij is het kruid beieefd,
mij groet het altemale,
dat God geschapen heeft.“ ,# )
Aber viele, sehr viele Gedichte sind
doch auch rein religiösen Charakters und
ohne Beziehung zur Schöpfung. Man hat,
wie oben angeführt, Gezelles Dichtung
„unklare Mystik“ genannt. Aber Gezelle
ist überhaupt kein Mystiker, wenn man
nicht mit dem Worte Unfug treiben und
alles Obersinnliche und Religiöse als
Mystik bezeichnen will, was freilich oft
genug geschieht Alle Spekulation liegt
ihm völlig fern; weder als Denker noch
als „Schauer* will er zu dem Urgründe
der Dinge Vordringen, vielmehr besieht
er alles nur mit seinen leiblichen Augen,
und zwar sehr scharf. Seinen gro Ben Lands¬
mann Ruusbroec (1294—1381) hat er
zwar sehr fleißig studiert, aber nur dessen
9) Ober den Rhythmus bei Gezelle han¬
delt G. Verriest, Des bases physiologiques
de la parole rhythmöe. (Revue N6oscolasti-
que. Löwen 1894.)
10) Zu mir redet die Blume eine Sprache,
mir gegenüber ist das Kraut liebenswürdig,
mich grüßt es allzumal, was Gott geschaf¬
fen hat.
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Franz Jostes, Quido Gezelle
404
praditvolle Sprache, nicht sein mystisches
System hat ihn beeinflußt Nur sehr sel¬
ten, nur dort, wo die Wärme seines Ge-
fflhles fast bis zum Siedepunkte steigt,
erinnert er an die Mystiker, etwa an
Seuse. Ich wflßte im Augenblick nur ein
einziges Gedicht dieser Art zu nennen,
„Blijdschap", aus dem hier eine Stelle
mitgeteilt werden mag:
.Ja! Daar zijn blijde dagen nog in ’t leven,
hoe weinig ook, daar zijnder nog voor-
waar,
en geren zou ik alles, alles geven
om 6£n van die, mijn God, om 66nen
maar,
wahneer ik U gevoel, U heb, U drage,
mij onbewust, U zeit ben, mij niet meer,
U noemen kan, mijn God, en zonder klagen
herhalen: God! mijn Goden lieveHeerl
o Blijft bij mij, Gij zon van alle klaarheid,
o blijft bij mij, blaakt deur end deur
mij nu,
o blijft bij mij; 6en dingen, een is waarheid,
al ’t ander al is leugen buiten U!
Gij zyt mijn hulpe, als niemand helpt
elk vlucht
Gij zijt mijn vreugde, als elke vreugde
een pijne is,
,Hallelujah‘, als alles weent en zucht.“ u )
Das mag man Mystik nennen, aber
ist es unklar? verschwommen? Ich finde
es ebenso klar wie schön I Es ist mög¬
lich, sogar sicher, daß die Herzenser¬
gießungen eines frommen Priesters von
11) Ja, es gibt frohe Tage noch im Leben,
wie wenig auch, es gibt ihrer wirklich noch,
und gerne würde ich alles, alles geben um
einen von ihnen, mein Gott, um einen nur
von ihnen, an denen ich Dich fühle. Dich
habe, Dich trage, mein nicht bewußt, Dir
selbst bin, mir nicht mehr, Dich, mein
Gott, nennen und ohne zu klagen wieder¬
holen kann: Gott! mein Gott und lieber Herr!
O bleib bei mir. Du Sonne aller Klarheit,....
bleib bei mir, durchglühe mich jetzt ganz
und gar, o bleib bei mir; ein Ding, eins ist
Wahrheit, alles andere, alles ist Lüge
außer Dir! Du bist mein Trost, wenn aller
Trost Gift ist. Du bist meine Hilfe, wenn
niemand hilft, jeder flieht, Du bist meine
Freude, wenn alle Freude eine Pein ist,
.Halleluja", wenn alles weint und seufzt.
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einem Protestanten, ja selbst von einem
katholischen Laien oft nicht, oder nicht
völlig nachempfunden werden können,
aber wen wird das stören, wen zu einem
abfälligen Urteile verleiten? Die refor¬
mierten Holländer offensichtlich nicht!
Überdies ist Gezelles religiöse Dichtung
nicht einmal durchweg subjektiv, es gibt
darunter so objektive Stücke, daß sie
meines Erachtens in jedem christlichen
Kirchengesangbuche stehen könnten. Man
nehme nur das folgende .Requiem* aus
dem .Tijdkrans“:
.Milde en mächtig mededoogen,
keert uwe onbermhertige oogen
toch niet af
van mijn’ nietheit, die, benepen,
voelt de dood haar henenslepen
naar het graf!
’t Is bestemd en ’t Staat geschreven:
sterven eens moet alle leven;
’t wil en ’t zal
dat daar duurt of schijnt te duren,
twintig jaar of twintig uren
sterven al!
Nu is ’t duister al en droevig,
lästig, leedzaam, ongedoevig,
waar ik ga;
waar ik zoeke of waar ik dale,
uitgeweerd gij, heldere strale
vant ’t hierna!
Vrijdt mijn arme ziele, o vrome
vediter, dat zij t’Uwaard kome
zonder scha;
dat ze, in uwen schoot geborgen,
na dees bittere wereldzorgen
rüsten ga!".**)
12) Mildes und mächtiges Mitleid, wende
deine unbarmherzigen Augen doch nicht
ab von meiner Nichtigkeit, die beklommen
von dem Tode sich hingeschleppt fühlt
zum Grabe. — Es ist bestimmt und steht
geschrieben: sterben muß einmal alles
Leben; es will und muß, was da währt und
scheint zu währen zwanzig Jahr oder zwan¬
zig Stunden, alles sterben! — Jetzt ist finster
alles und traurig, voll Last, voll Leid, voll
Unruhe, wo ich gehe, wo ich suche oder
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Franz Jostes, Guido Gezelle
406
1 .
Gezelles Naturdichtung ist in noch
höherem Maße Gelegenheitsdichtung als
seine religiöse. Seine Schilderungen
knüpfen stets an eine bestimmte Gegend
und einen bestimmten Gegenstand an,
der bei dieser oder jener Gelegenheit be-
sondem Eindrude auf ihn gemacht hatte.
Man wußte genau, wo das .ranke riet*
wuchs, das er besungen, wo die Weiden
und Pappeln standen, die Kühe grasten,
wo der Puter der .Pachthofschildering*
einherstolzierte, und .König Canteclaar*
seine mächtige Stimme erschallen ließ.
Bei seinem letzten Besuche in Zillebeke
hatte er, wie G. Verriest erzählt, dort
flüchtig eine Kuh auf der Weide liegen
gesehen, deren Bild nicht wieder aus
seiner Erinnerung verschwinden wollte.
Er nahm sich vor, in den nächsten Ferien
sie womöglich noch einmal zu beobachten.
Aber Versetzung und Tod kamen da¬
zwischen, .und der Mann hat das Kuh¬
bild unvollkommen mit in den Himmel
genommen.*
Der Schärfe seines Auges und der
Sorgfalt seiner Beobachtung verdanken
die Schilderungen es auch, daß sie so
lebendig und anschaulich sind: man
glaubt die Gegenstände vor sich zu haben,
den Hengst zu sehen, die Nachtigall zu
hören und die Blumen zu riechen. Die
Wahrheit springt uns gleichsam ins Ge¬
sicht, und einem Maler müßte beim
Lesen von Gedichten wie beispielsweise
die .Pachthofschildering* der Pinsel auf
der Palette zu tanzen anfangen. Als Bei¬
spiel wähle ich hier das bereits erwähnte
Gedicht .Terug*, das er nach dem Be-
wohlnab ich steige. Dich ausgenommen,
heller Strahl des Jenseits! — Befreie meine
Seele, o starker Streiter, daß sie zu Dir
komme sonder Schaden; daß sie, in dei¬
nen Schoße geborgen, nach diesen bitteren
Weltsorgen ruhen gehe!
suche seines großelterlichen Hofes zwei
Jahre vor seinem Tode gedichtet hat:
1. Schee! is de poorte, van
oudheid, geweken;
zaalrugde ’t dak van
de schüre; overal
stroo op de zwepingen
zit er gesteken;
vodden beveursten het
huis en den stal.
2. Boven die vodden zijn
blommen gesprongen;
onder die vodden zit
volk en gezin:
blommen van vrede, zoo
ouden, zoo jongen,
blommen van buiten en
blommen van bin.
3. Daar is’t, dat moeder zat;
daar is’t, dat vader
vond die hem arbeid en
herte bracht; daar
knielden wij kinderen,
handen te gader,
baden wij, kleenen en
grooten te gaär.
4. Daar is de schippe nog,
daar is de tange;
’t ovenbuur Staat daar, zoo
’t vroeger daar stond;
’t hondekot Staat daar en ...
— ’t is al zoo lange! —
Hoe is die naam van dien
anderen hond?
5. Ach, hoe verheugen mij
ach, hoe verheffen
de oudere dagen mijn
diepste gemoed!
Is er wel iemand, die ’t
oit kon beseffen,
wat gij, oud hof, mij nu
zegt, mij nu doet?
6. Zalige Heden, al
te arglooze menschen.
weinig begeerdet gij,
groot was uw hert!
— Kon het maar helpen, met
weenen en wenschen,
weör ate ik roggenbrood
naast u aan ’t berd! **)
13) ZurQckl Schief ist die Pforte vor Alter
gewichen, senkig (sattelrQckig) das Dach der
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Ein Vergleich dieses Gedichtes mit
dem schon von Ida von Dfiringsfeld gelob¬
ten „Excelsior“ in den„Dichtoefeningen a ,
kann den Unterschied zwischen dem ju¬
gendlichen und alten Dichter veranschau¬
lichen. Wie prächtig sind dort die dem im
Hafen von Antwerpen wartenden Dampfer
„Excelsior“ gewidmeten Strophen I
Gelijk het peerd te stampen Staat
en sperken uit de steenen slaat,
en schuimende van den rennendorst,
met wit bespegelt zijn zwarte borst,
zoo ligt een schip en spant en touwt
den kabel die ’t gebonden houdt:
in rep en in roere Staat alles aan boord,
en hooge in de vlagge daar brandt het
woord
Excelsior!
Daar hong een moeder moe geschreid,
een dochter vol ellendicheid,
een knaapke rood en wit gekoond,
een vader met grijs haar gekroond,
een weenden om den hals van een
die beide en hun kind en hun broeder
scheen,
die zucht noch klacht en liet, noch traan,
maar 66n woord van zijn lippen gaan:
Excelsior I
Scheune, überall auf den Latten sitzt Stroh
gesteckt, Rasen (Grasplaggen) liegt auf der
First von Haus und Stall. — Auf dem Rasen
sind Blumen entsprossen; unter dem Rasen
sitzt Volk und Familie: Blumen des Friedens,
Alte wie Junge, Blumen außen und Blumen
innen. — Dort ist’s, wo Mutter saß, dort isi’s,
wo Vater fand, die ihm Arbeit und Herz
brachte; dort knieten wir Kinder, die Hände
gefaltet, beteten wir Kleinen und Großen
zusammen. — Dort ist die Schaufel noch,
dort ist die Zange, das Backhäuslein steht
dort, wie es früher da stand; die Hunde¬
hütte steht dort, und ... — es ist schon so
lange! — wie ist der Name des anderen
Hundes? — Ach wie erfreuen mich, ach
wie erheben die alten Tage mein tiefstes
Gemüt! Gibt es wohl jemand, der es je
zu fassen vermöchte, was du, alter Hof, mir
jetzt sagst, mir jetzt tust! — Glückliche Leute,
überaus harmlose Menschen, wenig begehr¬
tet ihr, groß war euer Herzl — Könnte es
nur helfen, weinen und wünschen, wieder
äße ich Roggenbrot neben euch am Tische.
De winden ontbinden en bonzen op
het schip, en voeren het in den top
en dan weör van boven ten grondewaard
neör
der golven, die wiegen weg en weör;
omleege grinst de dood van uit
den afgrond en van boven luidt
de donder; ... maar ’t edele kindgelaat
en vreest niet, op de vlagge Staat
Excelsior!. w )
Während in „Terug“ der Hof bis zum
letzten Verse seine Rolle behält und die
Sehnsucht des Dichters nach den Tagen
der Kindheit um so mächtiger und rüh¬
render erscheinen läßt, je verfallener die
Wohnung, je ärmlicher der Hausrat und
je kärglicher das Mahl geschildert wird,
trennt sich hier nach der Landung der
junge Missionar von dem Schiffe, um zu
den Wilden zu gehen und von ihnen
erschlagen zu werden. Das ist das ei¬
gentliche Thema, für das der Dichter
Interesse erwecken will, während das
Schiff nur eine nebensächliche Bedeutung
hat. Aber der Dichter widmet ihm so
viele und so prächtige Verse, daß es
ein zu großes Interesse auf sich selbst
zieht, wodurch — nach meinem Gefühle
14) Gleichwie das Pferd zu stampfen steht,
und Funken aus den Steinen schlägt und
schäumend vor Renndurst mit Weiß seine
schwarze Brust besprenkelt, so liegt ein
Schiff und spannt und reißt den Kabel, der’s
gebunden hält: es regt sich und rührt sich
alles am Bord, und hoch in der Flagge, da
brennt das Wort: Excelsior! — Da hing
eine Mutter müde geweint, eine Tochter voll
Kümmernis, ein Knäblein mit Wangen, rot
und weiß, ein Vater mit greisem Haar ge¬
krönt weinend um den Hals von einem,
der sowohl ihr Kind wie ihr Bruder schien,
der Seufzer nicht noch Klage, noch Träne,
nur ein Wort von seinen Lippen gehen
ließ: Excelsior! — Die Winde entfesseln
sich und stoßen auf das Schiff und führen
es in die Höhe und dann wfeder von oben
tief hinunter zu den Wellen, die hin und
her wiegen; unten grinst der Tod aus dem
Abgrund, und oben wird der Donner laut
... aber das edle Kinderantlitz fürchtet sich
nicht, auf der Flagge steht: Excelsior!
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409
Franz Jostes, Guido Gezelle
410
— die Einheitlichkeit der Slimmung ei¬
nigermaßen gestört wird. —
Gezelle ist wintersiech gewesen; Frost
und Schnee machten ihn traurig und
krank; der Winter ist für ihn ein „Spuk“.
„De deuren van den Oosten gaan,
nog nauwlijks, even open
en toe, gelijk, den laatsten keer,
des veegen wimpers doen,
die henengaat in ’t eeuwige. Ach,
’t is avond nog eer ’t noen
kan worden! Is geen dageraad,
geen dag ons meer te hopen? *•)
Kommt aber „Ostern“, dann lebt er
mit der ganzen Natur wieder auf.
„Dagende uit den Oost is, allenthenen,
dag en dauw in ’t land, en licht ver-
s ebenen,
pereis overal, die op, die aan
’t ruwgelokte gerate blinken staan. ...
’t Vee wil uit den stal; de veulen
dweerachen,
mallik achtereen, de maische meerachen,
inanen in de locht; en eer zoo tarn,
dertel nu, van doene, is rund en ram.
Vogels hoore ik, heinde en verre siechten
veete; om „mij en dij“, in ’s huwelijks
rechten,
Mjven immer mussche en mussche; ’t
springt
menig tonge los, die vecht, die vinkt
Bezig is de bie, van vlerken vlugge;
bezig worme, wespe, miere en mugge;
bezig nu ist al, dat been verrept,
vinne, vame voert, of asem schept... ie )
15) Die Tore des Ostens gehen kaum
noch eben auf und zu; gleich wie es zum
letzten Male die Wimpern des Sterbenden
tun, der hinübergeht ins Ewige. Ach, es
ist Abend, noch ehe es Mittag werden kannl
Ist für uns kein Morgenrot, kein Tag mehr
zu hoffen?
16) Beim Tagwerden ist aus dem Osten
überallhin Tag und Tau und Licht im Land
ersdiienen, Perlen überall, die blinkend auf
und an dem rauhgelockten Grase stehen. —
’s Vieh will aus dem Stall, die Füllen durch¬
queren, eins hinter dem andern, die fetten
Weiden, die Mähnen in der Luft, und vor¬
her so zahm, ist ausgelassen jetzt im Treiben
Rind und Widder. — Vögel hör ich nah
Licht, Tag, Wärme sind Voraussetzung
für die gute Stimmung des Dichters und
seine Lust zu singen. Die Nacht ist
seine Freundin nicht und ebensowenig
der sonst so viel besungene Mond:
wenn er einmal auf diesen kommt, wird
er matt. Ich habe mir das lange nicht
erklären können, bis ich zufällig erfuhr,
daß er gewöhnlich um 8 oder 9 Uhr zu
Bett ging — er war ihm also nicht ver¬
traut und gegenständlich genug!
Aber die Sonnet Schwerlid] hat ein
anderer Dichter sie so häufig und so be¬
geistert besungen.
1. „’t Heelal doordaverend vroongedrocht,
die aarde, hemel, zee en locht
bebouwt: die, algebriönde, gaat
alleene; die geen schade en laat
u sehenden; heerlijk zongespan,
wie is't die, u geleken, kan,
van al Gods werken, schoone zljn,
o Schönheit van den zonneschijn“? IT )
Besonders schön finde ich die Schil¬
derungen — es sind mehrere — ihres
Kampfes mit den nordischen Riesen im
Gewitter:
3. ’t Is donker nu, ’t is donkerder,
nog donkerder! Gevaren,
als mächtig, overmachtig groote
en mammothsche adelaren,
omslaan de wölken alles, en
voor’t nachtelijk bedwang,
onthemelt al dat hemel is,
in ’s hemels zwart gevang.
und fern Fehde schlichten; um „Mein und
Dein“ in des Ehestands Rechten keifen
immerzu Spatz und Spatz; es springt
manche Zunge los, die ficht und singt. —
Emsig ist die Biene, flügelflügge; emsig
Wurm, Wespe, Grille und Mücke; emsig
ist jetzt alles, das Bein, Flosse, Hand be¬
wegt, oder Atem schöpft. ...
17) (O du) das Weltall durchschwingende
Wunderwerk des Herrn, das Erde, Himmel,
Meer und Luft bewohnt, das, allgebietend,
einsam geht, das du durch keinen Schaden
dich schänden läßt, herrliches Sonnenge¬
spann, welches ist’s von allen Werken
Gottes, das sich dir vergleichen kann, schö¬
nes Wesen, o Schönheit des Sonnenscheins?
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Franz Jostes, Guido Gezelle
412
4. ’t Is donkerl Zal ’t verwonnen zijn
dat overheerlijk blaken,
dat altijd even schoone van
de schoone zonnekaken?
’t Is nacht! En zijt voor goed nu gij
gedompt en doodgedaan?
Gij, beeid des Alderhoogsten, zult
gij, stervend, ondergaan?
5. Staat opl Het worde dag weerom!
Staat op en slaat die booze,
die duistere onbedachten, gij,
Des hemels schoone rooze;
Gij, onverkrachte lichtvorstin,
Staat op uit uwen schans
6. en plettert, onbermhertiglijk,
de domme reuzen ganschl
De zonne vecht! Zij duwt den spiet,
den onverwonnen gaffel
des zonnelichts, de reuzen in
den zwartgezwollen naffel;
ze bersten, en ze bulderen
inalkander slaande, intween;
en, hersens in de kele vait
het reuzenrot ineen.
8. Ze ’n zijn niet meer . . . . ze ’n zijn
niet meer,
Ze warenl .... In hun stede
komt helderheid, komt hemelsblauw,
komt goud, dat schittert, mede.
De zonne vocht, de zonne won,
en, tierende overluid:
.Hier ben ik*l roept ons zonneken,
.des vijands vonke is uit !“ u )
18) ’s ist dunkel jetzt, ’s ist dunkeier,
noch dunkeier I Dahinziehend wie mäch¬
tig, übermächtig große mammuthafte Adler,
Umschlägen die Wolken alles, und vor der
nächtlichen Gewalt enthimmelt alles, was
Himmel ist, in dem schwarzen Gefängnisse
des Himmels. — ’s ist dunkelt Wird es
überwunden sein das hoch überherrliche
Glühen, das immer gleich schöne, der schö¬
nen Sonnenwange? ’s ist Nacht 1 Und bist
für immer du nun ausgelöscht und totge¬
macht, du Bild des Allerhöchsten, wirst du
sterbend untergehen? — Steh auf! Es
werde wieder Tagt Steh auf und schlag
die dunkelen Vermessenen, du, des Him¬
mels schöne Rose; du ungeschwächte Licht-
fürstin, steh auf aus deiner Schanze und
schmettere ohne Erbarmen die dummen
Riesen völlig nieder. — Die Sonne ficht!
sie stößt den Spieß, die unbesiegte Strah¬
lengabel des Sonnenlichts den Riesen in den
2 .
Zahlreich sind die Schilderungen aus
der Fauna und Flora, bald kraftvoll und
farbenprächtig, bald lieblich und anmu¬
tig, nicht selten mit sonnigem Humor
hat er die verschiedenen Tiere abgemalt
Sein Bild des Hengstes erinnert an das
des Propheten Hesekiel, von dem es
doch wieder ganz verschieden ist:
Uit zijn groote longerpijpen
rookt het ros, dat’t schauwe geeft;
stampvoets stoot het stjjf en stevig,
dat de stompe steenweg beeft:
sterk van lijve, staal in de oge,
kop omhooge
huid ondrooge,
voorwaards voert het, nij’g en trosch.
’t hossebossend wielgeklots.
Vriezen mag het, zonnebranden,
duister zijn, of helder dag;
ruw de weg, of effen: dapper
slaan of niet, de geeselstag,
pinnen zal me ’t hingstdier, moedig,
trage of spoedig,
kittelbloedig:
deizen dat en doet het niet,
alzoo lang het bane ziet“ **)
schwarzgeschwollenen Nabel; sie bersten
und sie poltern, sich einander entzwei
schlagend; und, die Hirne in der Kehle,
fällt das Riesenvolk ineinander. — Sie sind
nicht mehr ... sie sind nicht mehr. Sie
waren! An ihre Stelle kommt Helligkeit,
kommt Himmelsblau, kommt Gold mit, das
glänzt. Die Sonne focht, die Sonne ge¬
wann, und mit überlauter Stimme: .Hier
bin idil“ ruft unser Sönnchen, .des Feindes
Zunder ist aus!“
19) Aus seinen großen Lungenpfeifen
raucht das Roß, daß es Schatten gibt; (mit
allen vieren schnell) stampfend, stößt es fest
und kräftig, daß der platte Steinweg bebt:
stark von Leib, stier von Auge, Kopf em¬
por, Haut naß, führt es vorwärts, grimmig
und stolz, den hin und her stoßenden Räder-
klotz. — Frieren mag es, Sonnenbrand
sein, dunkel sein oder heller Tag, rauh der
Weg oder eben, tapfer schlagen der Peit¬
schenschlag oder nicht, auf die Zehen wird
sich mir der Hengst stellen, langsam oder
schnell, kitzeiblütig: zurückspringen, das tut
er nicht, solange er noch Bahn sieht
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Pranz Jostes, Guido Gezelle
414
Und der Hengst unter dem Geflügel,
ist er je getreuer und würdevoller dar-
gestellt worden als von Gezelle?
Gekamde koning Canteclaar,
hoe geren zie ’k u komen daar,
gestapt zoo edeldraditig
als Alexander, Attila
of Karloman zijn’ wederga:
heel keizerlijk almachtig;
Gij kraait, terwijl ge uw’ vlerken slaat,
en ’t stemgeluid dat henengaat,
uit uwen hals gedreven,
herwekt het slapend menschendom,
bet boodsdiapt hem den dag weärom,
den dag, het licht, en’t leven.
Uw’ vonkeiende ooge, uw’ rooden kam
een laaiend beeid van vier en vlam,
uw’ zwakken steert, uw’ spooren,
uw’ om end om geglimde borst,
uw’ strijdbaarheit, uw’ zegedorst,
uw’ stem, zoo schoon om hooren...
wie is er die dat al beschrijft,
die, heel in woord en taal gelijfd,
doet leven u en waken?
Wie is er? Anders geen als gij,
heer Canteclaar, die mächtig zij
uw evenbeeld to maken.* 0 )...
Von den Vögeln hat er außer seiner
Hauptfreundin, der Nachtigall, beson¬
ders die Meise in sein Herz geschlossen.
20) König Canteclaar mit deinem Kamme,
wie gerne sehe ich dich dahergestapft
kommen, so edel von Haltung wie Alex¬
anders, Attilas oder Karlmanns Gegen¬
stück: ganz kaiserlich allmächtig; — du
krähst, während du in die Flügel schlägst,
ond der Klang der Stimme, der aus dei¬
nem Halse getrieben dahingeht, weckt
wieder die schlafende Menschheit, er bot«
schaftet ihr wieder den Tag, den Tag, das
Lidit und das Leben. — Dein funkelndes
Aoge, dein roter Kamm, ein von Feuer
und Flamme lohend Bild, dein schwacher
Schwanz, deine Sporen, deine um und um
glänzende Brust, deine Kampfeslust, dein
Siegesdurst, deine Stimme, so sdiön anzu¬
hören: — wen gibt es, der das alles be¬
schreibt, es ganz in Wort und Sprache ver¬
leibt, dich lebendig und wach macht? Wen
gibt es? Anders keiner als du, König
Canteclaar, ist imstande, dein Ebenbild zu
schaffen.
Daar hipt en wipt, den tak omtrent,
een pimpermeesk’ half zonneblend;
en ’k hoor zijn bekske, naaldefijn,
herhalend en herhalend zijn,
hoe ’t blijde en hoe ’t ja vromer is,
nadien ’t nu eenmal zomer is.
Ja-wel, mijn kleentje, en meä met u,
zoo hipt mijn herte en wipt het nu,
vol hope, omdat ’t weer zonneschijn
verblijden zal en zomer zijn!“ ,l )
Besondere Freude bereitete ihm das
Leben und Treiben der jungen Meisen,
dem er zwei hübsche Lieder gewidmet
hat, von denen eins hier Platz finden
mag:
Meezen.
1. Twintig meezenvoetjes
hippelen in t groen,
zurkelende zoetjes,
zoo de meezen doen.
2. Sprangen, rechte en kromme,
doen ze elkander na,
oppe, nöere en omme,
ga en wederga.
3. Elk op elk z’n taksken,
laat z’n tonge gaan;
elk het meezenfrakske, en
t meezenmutsken aan.
4. Voor die ’t frakske maken,
66n duim, of drie quart,
kost het, van blauw laken,
met ’n lapken zwart.
5. Uit die kleene lapkes
swarter als läget,
snijen de meezen kapkes,
volgens hunne wet.
6. ’k Zie ze geren speien,
’k hoor ze geren, ’s noens
bobbelender kelen
babbelen bargoenscfa.
21) Dort hüpft und wippt ein Pimper¬
meislein (parus coeruleus) auf dem Zweige
umher, halbblind von der Sonne, und ich
höre, wie sein nadelfeines Schnäbelchen
Immer wiederholt, wie es froh, und wie’s
ja mutiger ist, nachdem’s nun einmal Som¬
mer ist. Jawohl, mein Kleines, und zu¬
sammen mit dir so hüpft mein Herz und
wippt es nun, voll Hoffnung, daß Sonnen¬
schein und Sommersein es wieder froh
machen wird.
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Franz Jostes, Quido Gezelle
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7. *t Zit entwaar ’en spinne,
’t ronkt entwaar ’en bie:
snappen doen ze ze inne
zonder „een — twee — drie.“
8. Hoort ze vijzevazen
altijd even stout;
reppen, roeren, razen,
weg en weere, in’t hout!
9. „Mij,“ zoo roept er eene.
„mij, die muggel* - „Dij?“
wedderroept Marleene,
„mij, Martijne, mijl“
10. Twee die wetten weten,
delen ’t heltegoed:
eten en vergeten
mensche en meeze moet**)
Ich habe dieses Gedicht nicht nur um
seiner selbst willen ausgewählt, sondern
nebenbei auch, um an einem Beispiele
zu zeigen, welche Schwierigkeit die
Übersetzung aus Gezelles Werken bie¬
tet Das Gedicht ist nämlich von Hjerm
Holling**) verdeutscht, im ganzen nicht
übel, wenn auch bisweilen etwas zu
22) ZwanzigMeisenfaßlein hOpfen im Grün
(Strauch), lieblich trillernd, wie die Meisen
tun. — Sprünge, gerade und krumme, macht
eins dem andern nach, hinauf, hinab, im
Kreise, Männlein und Weiblein. — Jedes
auf seinem Zweiglein läßt seine Zunge
gehn, jedes mit dem Meisenfräcklein und
dem MeisenmOtzchen auf. — Denen, die
das Fräcklein machen, kostet’s einen Dau¬
men oder dreiviertel blauen Tuches nebst
einem Läppchen Schwarz. — Aus den
kleinen Läppchen, schwärzer als Stein¬
kohle, schneidern die Meisen nach ihrem
Herkommen Käppchen. — Ich sehe sie gerne
spielen, ich höre sie gern des Mittags mit
brodelnder Kehle kauderwelsch plappern.
— Es sitzt wo eine Spinne, es summt
wo eine Biene: wegschnappen sie sie
ohne Einszweidrei (zu sagen). — Hört sie
schwätzen, immer eben kühn, sich regen,
rühren, rasen im Holze hin und her. —
„Mir,“ so ruft da eine, „mir die Mücke!“
„Dir?“ ruft zurück Marleene. „mir, Martin,
mirl* — Zwei (natürlich die Alten), die
Gesetze kennen, teilen die gemeinsame
Beute: essen und vergessen müssen Mensch
und Meise I
23) Vlämische Dichtung. Jena 1916.
frei. Aber an der letzten Strophe ist er
völlig gescheitert:
„Zwei, die kundig dessen,
fällen Urteil weis,
essen und vergessen
müssen Mensch und Meis.“
Und so etwas muß dem feinhörigen
Gezelle angedichtet werdenI Ich werfe
keinen Stein auf den Obersetzer, er ver¬
steht wenigstens seine Kunst besser als
die meisten seiner Mitarbeiter an der
Sammlung, aber an Gezelle scheitert
eben oft jede Obersetzerkunst
3.
Schwalben und Stare, Raben und
Spatzen, sie alle haben ihren Teil be¬
kommen, und sie können damit zufrie¬
den sein! Selbst die Fliege, die „dikke,
weltevreden, welgezinde snaartrompet“
— bei Gezelle dürfen wir sie wohl zu
den Singvögeln stellen! — der noch
niemand das armseligste Verslein ge¬
widmet hat, obwohl sie reichlich so
lange wie Merle, Meise und Nachtigall
gesungen und eine mindestens so schöne
Sprache besitzt wie die Honigbiene und
Grille, hat endlich von Gezelle Genug¬
tuung für die lange Verkennung erhal¬
ten! Wir sehen hier indes schon, daß er
bei Gegenständen, für die es doch
schwer ist, das Interesse des Lesers
wachzurufen, seinem Gedichte einen Zu¬
satz beimischt, der das erleichtern soll.
Bisweilen nimmt er ihn aus dem Schatze
seines reichen Wissens wie bei dem
Gedichte auf den „Niemandfreund*,
die Distel:
Ach distel, ik en kende maar
van zeggenswege uw streuvelhaar
ik liet mij, van die ’t zeiden
verwittigd zijn, in’t akkerland,
dat ge overal de kroone spant
om onraad uit te breiden. . . .
Men scheldt... of erger nog, men hoort,
van wetswege, en bij koningswoord,
gebannen en geboden,
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Franz Jostes, Ouido Gezelle
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dat ’t distelvolk men, een en al,
te zeisene en te spade, zal
verdoen en de eerde uit roden.* 4 )
Aber sein Herz kann das alles nicht
beeinflussen:
dit Vlamingshert, dat, ’t baten niet,
maar ’t schoone in al Gods werken ziet,
en’t goede zoekt te raden.**)
Gewöhnlich aber sdilägt er in solchen
Fällen einen scherzhaften Ton an.
Man lese einmal das folgende Gedicht
auf die Spinne (De Kobbe):
Vrouw kobbe zat weleer, eens voorjaar-
morgen vroeg,
dat ’t koolzaad blommen droeg,
gedoken in heur holleken,
zoo stille, of waar’ ze dood;
een bolieken,
geen’ errewete groot;
maar waken deed ze wel: vrouw kobbe
is slim genoegl
Heur nette spande alom, van onberm-
hert'ig fijn,
onzicbtbaar schier, satijn,
gesponnen zonder spinnewiel,
nen koolzaadtop omtrent;
daarinne viel,
och arme, een bietje blendl
och, bietje, bietje, vlucht, of u zal leed
gaan zijnl
Vrouw kobbe, op heur bureel, verwittigd
alte wel,
per spreekdraad even snel,
komt kijken uit heur holleken.
Verrezen van de dood
is’t bolieken
gebekt nu en gepoot!
Het bietje beeft, het valt aan’t vechten
voor zljn vel.
24) Ach Distel, ich kannte nur von Hören»
sagen dein Struwelhaar; ich ließ mich, von
denen, die’s erzählten, unterrichten, daß du
überall im Ackerland herrschtest, um Unheil
m verbreiten. — Man schimpft . . . oder
schlimmer noch, man hört, daß von Ge»
setzes wegen und bei Königswort gebannt
und geboten sei, das Distelvolk vom Ersten
bis zum Letzten mit Sense und Spaten zu
vernichten und aus der Erde zu roden.
25) Dies Flämingsherz, das nicht auf den
Nntzen. sondern auf die Schönheit in allen
International« Monatsschrift
Ach arem bietje, ’t wendt zijn’ hals en
zijnen kop,
zijn’ vlerken in het strop,
zijn’ beentjes en zijn biliekes. . . .
’t zou geren vluchten, maar
al stillekes,
’t vernestelt altegaar;
terwijl vrouw kobbe komt geschreön er»
boven op.**) . . .
Zur Beruhigung des Lesers will ich
aus dem Schlüsse mitteilen, daß der
Dichter das Bienchen rettete, indem er
der bösen Frau Spinne den Kopf zertrat
Ich wflßte Oberhaupt keinen zweiten
flämischen Dichter zu nennen, der einen
so echten, feinen Humor besäße wie
Gezelle. Wie prächtig hat er nicht seinen
Landsmann gezeichnet, der allwöchentlich
in den Straßen Kortrijks mit dem Rufe
„beeksala! beeksala!“ (Bachsalat, Brun»
nenkresse) seine Ware gegen alle Lei¬
den anpries, und, wenn er sie verkauft
hatte, sich satt aß an Kartoffeln, denn
„Beeksala" zu essen, nein, das fiberließ
er den Walen!
Werken Gottes sieht und das Gute zu er¬
raten sucht
26) Frau Spinne saß dereinst an einem
Lenzmorgen früh, als der Kohl in BlQte stand,
verdeckt in ihrem Höhlchen, so still, als
wäre sie tot, ein Kügelchen, keine Erbse
groß; aber wachen tat sie gut: Frau Spinne
ist schlau genug! — Ihr Netz von unbarm¬
herzig feinem, fast unsichtbarem Satin, ohne
Spinnrad gesponnen, war rund um den
Kohlkopf gespannt: dahinein fiel, o jemine,
ein blindes Bienlein I Ach Bienlein, Bien¬
lein, flieh, sonst wird’s dir schlecht ergehen!
— Frau Spinne, auf ihrem Bureau vorzüg¬
lich, ebenso schnell wie durch den Tele¬
graphen, benachrichtigt, kommt aus ihrem
Höhlchen, zu schauen. Auferstanden vom
Tode ist’s Kügelchen, mit Mund nun und
Füßen ausgestattet I Das Bienlein bebt, es
fängt an zu kämpfen um sein Fell. — Ach,
armes Bienlein, es dreht in der Schlinge
seinen Hals und seinen Kopf, seine Flügel,
seine Beinchen und seine Hinterbäckchen
... es würde gerne fliehen, aber ganz leise,
leise ist’s völlig vernestelt; unterdes kommt
Frau Spinne von oben hinzugeschritten...
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Franz Jostes, Quido Gezelle
420
Nur ein Beispiel noch dafür, mit dem
ich auf ein tiefes Verständnis bei Ehemän¬
nern wie Junggesellen zu stoßen hoffe,
will ich hier anführen, den Schluß aus
dem Gedichte auf die „groote kuisch“
(Großes Reinemadien):
.Ze gieten
bij heele en gansche vlietenl
Past op, en niet te bij en gaat,
gij heereru heel dien waterstaat
en zult ge, of ’t zal u rouwen,
niet stooren. Zwicht de vrouwen,
die heerschend met den bezem staan,
of seffens zal hun tonge gaanl
’t En baat hier niet als vlucfaten
en, stille of luide, züchten:
’t zij binnen of ’t zij buiten huis,
geen vrijheid meer: ’t is „groote kuisch!“
’k ga ievers om een glaasken:
te naaste weke is Paaschen! ,T )
4.
Es brauchte eigentlich nicht ausdrück¬
lich gesagt zu werden, daß Gezelle ein
Flamingant vom Scheitel bis zur Sohle
war. Er liebte sein Volk von gan¬
zem Herzen und hat seine Vergangen¬
heit in mehreren prächtigen Liedern
verherrlicht, von denen das auf die
Gülden-Sporenschlacht (Groeningheveld)
allbekannt ist und viel gesungen wird.
Durch seine literarische Tätigkeit hat er
die vlämische Bewegung mächtig ge¬
fördert, aber öffentlich aufgetreten ist er
für sie meines Wissens kaum. Nur ein¬
mal hat er doch das Wort genommen,
und das ist ihm nicht gut bekommen:
27) Sie gießen bei heilen und ganzen
Bächen I Paßt auf und geht nicht zu nahe heran,
ihr Herren, diese ganze Wässerei (eigentlich
„Seewesen“) dürft ihr nicht stören, soll’s
euch nicht gereuen! Laßt die Frauen in
Ruhe, die da herrschend mit dem Besen
stehen, sonst wird sogleich ihre Zunge
gehen! Es nutzt hier nichts als fliehen und
still oder laut seufzen: keine Freiheit mehr,
sei’s in oder sei’s außer dem Hause: es ist
„Großes Reinemachen"! Ich gehe mal zu
einem Gläschen: die nächste Woche ist
Ostern!
er, der die Gefährlichkeit waschender
Frauen, wie wir soeben gesehen, richtig
zu würdigen und zu umgehen wußte,
wagte sich an die politisierenden Studen¬
ten heran und nannte sie „ruitenbrekers“
(Radauschläger)! Das haben sie ihm
wieder heimgezahlt I Doch wurde der
Zwischenfall bald vergessen, und jetzt
ist längst Gras darüber gewachsen.
„Weg, weg, met de tale,
die niemand spreekt,
hoe edel dan ook
zij mag heetenl“
Gezelle haßte die unnatürliche, schwer¬
fällige und geschraubte Buchsprache sei¬
ner Zeit, und suchte ihr im Anschluß an
seine heimatliche Mundart in Wort und
Wendung, Gang und Klang frisches Blut
und neues Leben zuzuführen. Den da¬
maligen Wortführern in der flämischen
Literatur war das ein Ärgernis und eine
Torheit zugleich. Es war das insoweit auch
zu verstehen, als man einer gemeinsamen
Schriftsprache bedurfte und als solche die
unter den obwaltenden Verhältnissen
allein mögliche holländischeSchriftsprache
gewählt hatte. Zu dieser hatte das Bra-
bantische erhebliche Beiträge geliefert;
die Limburger waren und blieben lite¬
rarisch indifferent, weil ohne innere Kraft;
die Bewohner Flanderns aber, die schon
geographisch dem Holländischen am fern¬
sten standen und ebenso regen Geistes
wie literarisch rührig waren, empörten sich
mit Recht dagegen, daß dieselben Leute,
welche nicht laut genug über die Unter¬
drückung des Flämischen durch das Fran-
zosentum schreien konnten, sich unter
den Ihrigen wie die ärgsten Tyrannen ge¬
bärdeten. Hätte sich diese Tyrannei nur auf
die Schule erstreckt, so wäre nicht viel da¬
gegen einzuwenden gewesen, denn diese
bedarf der Einheitlichkeit und der stren¬
gen Gesetze. Aber darüber gingen sie
hinaus: sie wollten auch den Schrift¬
stellern zu schreiben befehlen, wie man’s
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[INDIANA UNIVERSITY
421
Franz Jostes, Guido Gezelie
422
in der Schule lernte. Dichter, wie Here-
mans selbst einer war, konnten das leicht,
denn ihre Gedanken und Gefühle waren
hundertmal gedacht, gefühlt und ausge-
drückt, und sie hatten die Wahl; aber
Gezelie? Wie wäre es selbst jetzt noch
beim besten Willen möglich, seine Ge-
dichte in das holländische Buchdeutsch
der sechziger Jahre zu bringen? Nein, es
war die erbärmlichste Kleingeisterei, die
ihn niederzudonnem suchte. Immer und
überall haben sich die bedeutenden Dich-
ter das Recht gewahrt, sich von den Fesseln
der Schulsprache, d. h. von der Herrschaft
der Schulmeister zu befreien, und alle
Vernünftigen haben ihnen dies Recht zu-
gestanden. Wie treffend hat nicht schon
im 18. Jahrhundert der nüchterne, aber
einsichtige Justus Möser in dieser Hin¬
sicht geurteilt! Er fand die deutsche
Sprache zu arm, «weil wir mit Hilfe der¬
selben kein tägliches Leben, was in jedem
Provinzialdialekt vollkommen geschildert
werden kann, vorstellen können ... Ver¬
schiedene große Genies ... haben zwar
seit einiger Zeit gesucht, demselben ab¬
zuhelfen ; aber kaum wagt ein Lessing das
Wort Schnickschnack oder beschreibt
uns stiere starre Augen, so empören
sich diejenigen, welche die Buchsprache
allein gebraucht wissen wollen ... Der
Engländer allein nimmt alles an, was
er gebraucht und nützlich findet, und
dieses tut mit ihm jeder Provinzial-
dialekt"* 8 ) So urteilte einer, der kein
Dichter, aber ein weitblickender Mann
von gesundem und scharfem Urteile war.
Hundert Jahre später war man in Flan¬
dern zu dieser Einsicht noch nicht ge¬
kommen! Hätte Gezelie ein System der
Philosophie, eine Kirchengeschichte oder
sonst ein gelehrtes Werk in seiner Sprache
geschrieben, so wären die Anklagen auch
vollauf berechtigt gewesen, denn für alle
28) Sämtliche Werke V, S. 83.
wissenschaftlichen Disziplinen war das
Holländische im jahrhundertelangen Ge¬
brauche völlig ausgebildet, aber für die
Bedürfnisse eines realistischen Dichters,
der Stoffe behandelte, die dem Gebildeten
viel ferner liegen, als dem Sohn der
Natur, der Nuancen ausdrücken mußte,
die kein Schriftsteller noch zu bezeichnen
für nötig gehalten hatte, dafür reichte sie
eben nicht aus. Zwar waren die Wörter
und Wortformen, deren Gezelie bedurfte,
auch im Holländischen vorhanden, aber
sie lebten nur in den Mundarten, in der
Schule waren sie geächtet, aus den Wör¬
terbüchern verbannt. Woher sollte also
einer seinen Bedarf decken, wenn nicht
aus seiner eigenen Mundart oder aus
den Schriften früherer Zeiten? Hätte
man Gezelie das verbieten können, so
hätte er entweder dichten müssen,
wie hundert andere bisher gedichtet
hatten, oder ganz verstummen. Es gab
ihrer auch genug, die letzteres am liebsten
gesehen hätten und den Dichter mit
seiner ganzen Sprache und Art an den
Kongo wünschten. Freilich ging dieser
weiter, als das Bedürfnis nach Schärfe
und Abwechslung im Ausdruck verlangte:
er entnahm dem Dialekte auch dort
Wörter und Formen, wo die Schrift¬
sprache durchaus nicht versagte, aber
weitaus in den meisten Fällen war dabei
der Wortklang bestimmend, denn auf
den Wohlkiang der einzelnen Wörter
und den leichten Fluß des ganzen Verses
legte Gezelie das größte Gewicht Und
um sie zu erreichen, hat er nicht nur
Alliteration und Assonanz in seinen
Dienst gestellt, sondern sein überaus
feines Gehör stand ihm auf Schritt und
Tritt bei der Wahl von Wort und Wen¬
dung zur Seite und ließ ihn Rhythmus
und Wohlklang zu einer Vollkommen¬
heit entwickeln, die kaum noch zu über¬
treffen sein dürfte.
Die Flaminganten waren holländischer
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423
Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
424
als die Holländer, die selbst die Mängel
ihrer Schriftsprache erkannten und Ge-
zelle zustimmten. Dieser kümmerte sich
übrigens nicht um all die Angriffe; nur
einmal hat er kurz gefragt: .Wer seid
Ihr, die Ihr das freieste, was dem Men*
sehen gegeben wurde — die Sprache —.
unter Gesetz stellt?* Bald mußten seine
Gegner erleben, daß es gerade die ver*
schrienen Partikularisten waren, denen
es gelang, sich den Weg ins Ausland zu
bahnen, was den sprachlich „korrekten“
Dichtem versagt blieb. Wer liest in
Holland heute noch Jan van Beers,
Jul. de Geyter, Vuylsteke, Dautzenberg
und wie die damaligen Koryphäen der
flämischen Dichtung alle heißen mögen?
Sie sind in den Literaturgeschichten auf¬
gespießt wie Schmetterlinge in einer
Sammlung, ja, aber sie sind tot, wie
diese; Gezelle indes lebt noch, und jedes
holländische Kind kennt ihn, trotz seiner
Sprache:
„Deposuit potentes de sede et exaltavit
humilesl"
Die Politik der Propheten.
Von Hermann GunkeL
Mitten in den Aufregungen dieses
Weltkrieges, da so mancher wieder nach
dem glaubensgewaltigen, von Kampf
und Schlacht widerhallenden Alten
Testamente greift, um sich daran den
Mut zu tapferem Aushalten im Vertrau¬
en auf den alten Gott zu erneuern, dür¬
fen auch die Propheten, die großartig¬
sten Gestalten Israels, um Gehör bitten.
Sind doch auch sie einem großen Teile
ihres Wesens nach Politiker gewesen,
und war doch der Krieg, und zumeist der
Weltkrieg, das Element, in dem sie ge¬
lebt haben; und ihre Religion selber ist
ohne die ständige Rücksicht auf die
Kriegsschicksale ihres Volkes und ihre
eigenen politischen Gedanken gar nicht
zu verstehen.
Die Propheten — Politikerl Das mag
die Gegenwart verwundern, in der es
ja eine vielfach umstrittene Frage ist ob
eine unmittelbare Verbindung von Reli¬
gion und Politik überhaupt wünschens¬
wert erscheint. Anders aber als wir
denkt über diese Dinge das alte Israel.
Israels Religion ist von Anfang an eine
Nationalreligion gewesen. Nach alt¬
israelitischem Glauben hängt die Sache
des Volkes und die des Gottes aufs
engste zusammen. Es liegt in der Natur
der Dinge, wenn in einem solchen Volke
Männer erstehen, die im Namen des
Nationalgottes ihre Meinung über die
staatlichen Verhältnisse aussprechen und
Einfluß auf die Politik begehren. Nun
haben zwar — wie wir noch sehen wer¬
den — gerade die größten unter ihnen
diese Verbindung von Volk und Gott ge¬
lockert; ihr Jahve ist ihnen mehr als ein
Nationalgott; aber darin denken doch
auch sie noch ganz wie ihr Volk, daß
nach ihrer Überzeugung alle Schicksale
Israels von Jahve herrühren und daß
ihnen unter allem, was es auf dieser
Erde gibt, ihr Volk das Allerwichtigste
ist Darum sind diese Propheten Politi¬
ker. Bei allen entscheidenden Wendun¬
gen der nationalen Geschichte haben sie
ihre Stimme erhoben. Jahrhundertelang
haben sie mit ihrem Volke gerungen;
schließlich haben sie es überwunden und
seinen Geist bestimmt
Nun ist es freilich eine ganz beson¬
dere Art von Politik, die sie betrieben
haben. Wer auch nur ein wenig von dem
inneren Leben dieser feurigen Ekstati-
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425
Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
426
ker erfaßt hat, wird das völlig begreif¬
lich finden. Von nüchternen, realpoliti-
sehen Erwägungen, von denen sich die
zünftigen Politiker aller Zeiten leiten
lassen, sind diese flammenden Seelen
weit entfernt Ihre Politik ist durchaus
idealistischer, religiöser Natur: ihren be¬
geisterten Glauben, ihre hohen sittlichen
Ideale haben sie in bestimmte politische
Forderungen oder Ratschläge umgegos¬
sen. So werden wir auch bei der Be¬
handlung dieses Gegenstandes immer
wieder auf die Religion der Propheten
zurückkommen müssen.
Kein Zufall ist es auch, daß die Pro¬
pheten so oft gerade von Kriegen
reden. Das erklärt sich aus der Art
der ältesten israelitischen Religion, die
zu einem großen Teile ihres Wesens
eine Kriegsreligion gewesen ist: „Jahve
Zebaoth" war der Streiter und Führer
in der Feldschlacht Und dieser kriege¬
rische Geist war in den Propheten aufs
neue erwacht Diese leidenschaftlichen
Ekstatiker jauchzen hinein in das To¬
ben und den Graus der Schlacht wenn
das Lärmhorn ertönt und die prasselnde
Flamme Palast und Burg ergreift und
wenn sich „Jahve Zebaoth" in seiner
furchtbaren Größe offenbart.
Der Prophet Jeremia 1 ) unterscheidet
unter den Propheten zwei verschiedene
Arten: die Heils- und die Unheils-
Propheten. Diese Unterscheidung, die
wir also nicht selber erdichtet sondern
den Quellen entnommen haben, bestä¬
tigt sich uns durchaus, und nicht nur
für das Zeitalter des Jeremia. Vielmehr
können wir fast zu jeder Zeit diese bei¬
den Arten von Prophetie nebeneinander
erkennen.
Verfolgen wir zunächst die Geschichte
der Heilsprophetie. Da sehen wir
schon unter den älteren Königen Prophe-
1) Jeremia 28,8f.
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ten, die der Herrscher selbst in schwie¬
rigen Staatsfragen zu Rate zieht. Diese
Männer ziehen etwa mit Israels Führer
in den Krieg und helfen ihm in Jahves
Namen zu Israels Heil. Solche Heilspro¬
pheten wird es damals sehr viele gege¬
ben haben; Hunderte von ihnen stehen
z. B. in Ahabs Diensten. *) Typus dieser
Art ist Elisa unter dem Königshause
des Jehu, das er selber zur Herrschaft
erhoben hatte. Einer der bedeutendsten
unter ihnen mußJona ben Amitthai,
der Helfer Jerobeams II., gewesen sein,
dessen Namen die Geschichte bewahrt
hat 3 ) und von dem noch die späteste Zeit
ein gemütvolles Märchen, unser Jona-
Buch, zu erzählen weiß. Solche Män¬
ner mögen manchmal politisch weit¬
blickend und höchst einflußreich ge¬
wesen sein, die festesten Stützen des
Königtums und die beliebtesten Führer
ihres Volkes: Elisa empfängt von seinem
dankbaren Herrscher den Ehrennamen
„Israels Wagen und Reiter“, d. h. Israels
Kemtruppe im Kriege. 4 ) Und auch
die fremden Völker, mit denen Israel
kämpft, mögen den Namen des israeli¬
tischen Gottesmannes mit Schauder und
Schrecken nennen. 5 ) Andererseits dür¬
fen wir uns vorstellen, daß diese Pro¬
pheten manchmal in die Ränke des Hof¬
lebens verflochten waren, so wie Na¬
than bei Salomos Thronbesteigung eine
mehr als bedenkliche Rolle gespielt hat.*)
Die Bedeutung dieser Männer für das
religiöse Leben ihres Volkes war, daß sie
den Grundgedanken der Religion: Jahve,
Israels Gott, hilft ihm in allen seinen
Nöten, beständig wachgehalten haben.
Wir werden die Wirksamkeit solcher
Propheten also nicht geringschätzen
dürfen, auch wenn wir hinzufügen, daß
sie mit diesem Gedanken über die Reli-
2) I. Könige 22,6. 3) II. Könige 14,25.
4) II. Könige 13,1. 5) II. Könige 6, llf.
6) I. Könige 1.
Original fram
INDIANA UNIVERSITY
427
Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
428
gion ihrer Zeitgenossen nicht hervor-
ragten. Sie sind auch als Männer
den Unheilspropheten gegenüber unter¬
geordnet; sie sind nicht selbständig wie
diese, sondern sie erscheinen im Ge¬
folge der Könige, von deren Tisch sie
essen, und das Volk jubelt ihnen zu. —
Weissagungen dieser Heilspropheten
mögen manchmal in der Form kurzer
Gedichte im Volk umgegangen oder in
fliegenden Blättern verbreitet gewesen
sein. Es wird keinen Feldzug Israels ge¬
geben haben, wo sie nicht eine Verhei¬
ßung aussprachen. Oder wenn über ein
Volk der Nachbarschaft das Verderben
zu kommen schien, werden sie dies zu
Israels Freude im voraus verkündet
haben. So setzt Arnos 7 ) solche Drohun¬
gen über die Völker ringsumher voraus,
einst durch Jahves Propheten kund¬
getan, aber noch immer nicht eingetrof¬
fen, die er nun seinerseits, wohl auch
dem Wortlaut nach, auf nimmt: jetzt end¬
lich sollen sie in Erfüllung gehen t Auch
Träume von einer seligen Endzeit
müssen in den Kreisen der Heilsprophe¬
ten gepflegt worden sein: einst werde
Jahve einen „Tag" halten, an dem er
selber erscheint, um alle Heiden zu ver¬
nichten, Israel aber ein herrliches Glück
zu schenken. Auf ein solches Heils¬
orakel nimmt ein Spruch in dem alten
Jakobsegen Bezug: dereinst soll aus
Juda ein Herrscher kommen, dem sich
alle Völker unterwerfen, ein Spruch, den
man fälschlich für unecht hat erklären
wollen. 8 )
Aber auch in der späteren Zeit, dem
eigentlich klassischen Zeitalter der Pro¬
phetie, als die großen schriftstellerischen
Unheilspropheten erstanden waren, ist
die Heilsprophetie nicht verstummt.
7) Amos 1.
8) 1. Mose 49,10. Wahrscheinlich versteht
der Dichter des Liedes als diesen Kommen¬
den den David.
Zwar könnten wir aus der Bibel selbst
den Eindruck gewinnen, es hätte damals
nur eine einzige, gleichmäßige Kette
gewaltiger Unheilspropheten gegeben:
Amos, Hosea, Jesaia, Jeremia, Hesekiel,
denen allen dies gemeinsam ist, daß sie
Israel den Untergang geweissagt haben.
Nun hat die Geschichte die Drohungen
dieser Mäner erfüllt, und das die Bibel
sammelnde Judentum hat daher von den
vorexilischen Propheten fast nur Un¬
heilspropheten aufgenommen. Wer aber
tiefer blickt, der erkennt an vielen, mehr
oder weniger deutlichen Spuren, daß
in ebendieser Zeit zugleich auch eine
höchst bedeutsame Heilsprophetie be¬
standen hat Amos setzt voraus, daß
sich seine Zeitgenossen nach dem „Tage
Jahves" sehnten und ihn für eitel „Licht“
hielten 9 ); wer anders kann diese Hoff¬
nung vertreten haben als eben Heilspro-
pheten? Hosea hat gegen Propheten ge¬
kämpft, die er Verführer und Fallstricke
des Volkes nennt und geradezu für
»Verrückte “ erklärt. 10 ) Ebendasselbe
sehen wir bei Micha 11 ), Jesaia 18 ) und
Zephania 13 ); diese Männer, welche die
Unheilspropheten leichtfertige Volksver¬
derber schelten, werden in derselben
Zeit, da jene von Drangsal und Unter¬
gang sprachen, Jahves Hilfe in aller
Not zugesagt und ebendadurdi den
grimmigen Zorn ihrer Gegner erregt
haben. In das volle Licht der Geschichte
tritt diese Heilsprophetie dann am Ende
der Geschichte Judas ein; damals haben*
Jeremia und Hesekiel mit höchst ein¬
flußreichen und sicherlich gewaltig be¬
geisterten prophetischen Nebenbuhlern
kämpfen müssen, die den Sturz der
chaldäischen Weltmacht und Israels Er¬
lösung für die allernächste Zukunft be¬
haupteten und ihr Volk zum verzwei-
9) Amos 5,18. 10) Hosea 4,5; 9,7L
11) Micha 3,6.11. 12) Jesaia 28.7.
13) Zephania 3,4.
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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
430
feiten Widerstande gegen die Fremd-
herrschaft fortrissen. Schließlich aber,
seit der Perserzeit, ist diese Heilspro¬
phetie zur unbestrittenen Herrschaft ge¬
kommen und hat dem damals so tief
daniederliegenden Judentum neue Hoff¬
nung eingeflößt. Von dem großen „Deu-
tero jesaia“ an, d. h. dem uns sonst unbe¬
kannten Verfasser eines Bachleins, das
dem Buche des alten Jesaia beigebunden
ist 14 ), sind alle Propheten des Juden¬
tums Heilspropheten gewesen, bis zu
ihren späteren Nachfolgern, den „Apo-
kalyptikem“, hin. Hier kommt also die
Heilsprophetie auch in der Bibel zu
Worte. Aber auch aus der vorexilischen
Zeit besitzen wir im Kanon selber einige
StQcke, die aus diesen Kreisen stammen:
das sind die kleinen Bücher des Nahum
und Habakuk, die den Untergang der
Weltmacht weissagen, und das so¬
genannte »Lied des Mose“ **), eine um¬
fassende prophetische Geschichtsbe¬
trachtung und Heilsverkündigung aus
chaldäischer Zeit Dazu kommen noch
nicht wenige Stücke, die wir jetzt
als Einsätze in den Büchern der Un¬
heilspropheten lesen und deren „Un¬
echtheit“ man seit längerer oder kür¬
zerer Zeit erkannt hat Es sind zumeist
Heilsweissagungen, einst ohne Namen
umlaufend, von den späteren Sammlern,
die namenlose Stücke überhaupt nicht
anfnehmen wollten, so untergebracht.
Die gegenwärtige Forschung pflegt sie
*in Bausch und Bogen für „nachexilisch"
zu erklären; aber man wird mit der
Möglichkeit rechnen müssen, daß manche
von ihnen aus älterer Zeit herrühren und
daß also die Orakel von Heilspropheten
— ein eigentümliches Spiel des Schick¬
sals — in den Schriften derselben Män¬
ner einen Unterschlupf gefunden haben,
die sie einst als beide Parteien noch am
Leben waren, so bitter bekämpft haben 1
14) Jesaia 40—55. 15) V. Mose 32.
— Noch weiter führt eine andere Be¬
trachtung. Ein Volk, das seiner eigenen
Kraft bewußt ist sieht ebendarum auch
eine große Geschichte, die es erleben
will, vor sich und tröstet sich mit die¬
ser Hoffnung in Zeiten nationaler Be¬
drängnis. Die Wahrheit dieses Satzes
erkennen wir Deutschen in der Drang¬
sal dieses Weltkrieges. Auch ein so von
sich selbst überzeugtes Volk wie Israel
muß eine große Hoffnung besessen
haben. Demnach muß die Heilspro¬
phetie . zu jeder Zeit in ihm die Re¬
gel gewesen sein, und die Unheils¬
propheten sind überhaupt nur als
furchtbare Ausnahmen denkbar. Das
verraten diese Männer selber, indem
sie von ihren prophetischen Gegnern
stets als von der Mehrzahl sprechen, die
ihnen, den einzelnen, gegenüberstehen.
Ja, wir vermögen, wie das Folgende
zeigen wird, noch zu erkennen, daß die
Unheilsprophetie selber diesen patrio¬
tischen Gedanken nicht hat widerstehen
können und, je länger, je mehr, Anleihen
bei der Heilsprophetie gemacht hat Nun
stellt es zwar Jeremia so dar, als ob es
von jeher nur Unheilspropheten gegeben
habe: „die Propheten, die seit uralter
Zelt gewesen sind, weissagten 'über'
mächtige Länder und gewaltige Reiche
von Krieg, 'Hunger ’ und Pestilenz “ l6 );
sicherlich wird daran richtig sein, daß die
weitaus meisten aller Propheten von Tod
und Verderben gehandelt haben; so ent¬
spricht es der leidenschaftlichen, das
Furchtbare liebenden israelitischen Re¬
ligion; trotzdem läßt sich das zornige
Wort eines erregten Propheten nicht
ohne Vorbehalt als Geschichtsquelle ver¬
wenden: Jeremia hat doch, wie gerade
diese Worte zeigen, viele Unglücksora¬
kel über fremde Völker gekannt, die
eben für Israel h e i 1 verkündend ge¬
wesensind.
16) Jeremia 28,8.
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INDIANA UNIVERSITY
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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
432
Wer das überwallende Temperament
der Propheten kennt, die nur von „Wahr¬
heit“ und „Lüge“ wissen und von nichts
dazwischen, denen eine billige und ge¬
rechte Behandlung des Gegners fern¬
liegt, wird es nur natürlich finden, daß
die Unheilspropheten ihre Gegner ein¬
fach als „Lügenpropheten“ gebrand¬
markt haben. 17 ) Uns Nachgeborenen
aber, die wir größere Gerechtigkeit be¬
weisen sollten, will es nicht geziemen,
dies Urteil nachzusprechen, und wir ge¬
stehen, mit wenig Freude zu sehen, wie
noch Gelehrte der Gegenwart, in dem
Unterlassenen Mantel der Propheten
sich bergend, von diesem sicheren Orte
aus auf ihre längst verstorbenen Geg¬
ner, die sich nicht mehr wehren können,
schelten. Vielmehr haben wir zu erken¬
nen, daß sich Heils- und Unheilsprophe¬
ten weder in ihrem äußeren Auftreten
noch in der Art, wie sie zu ihrer Über¬
zeugung gekommen sind, unterschei¬
den, und daß auch von diesen unver¬
äußerliche Gedanken der Religion aus¬
geprägt worden sind. So werden wir
also diese Richtung, die in der Bibel für
die ältere Zeit zu kurz gekommen ist, im
Geiste überall ergänzen müssen, um
von der wahren Geschichte der Prophe¬
tie eine Vorstellung zu gewinnen.
Viel bedeutsamer freilich als diese
Heilspropheten sind ihre großen Geg¬
ner, die Unheil verkündet haben.
Das sind die Männer, die als Wider¬
sacher der Könige auftreten, ja, als
Feinde ihres Volkes gelten, und die dem
natürlichen Empfinden Israels oft aufs
heftigste widersprechen. Es sind die
großen Revolutionäre, wenn ihr Volk
ihnen zufällt, die großen Einsamen, wenn
sie niemand versteht, die Männer, die
höhere Ziele haben als das Heil des
Königshauses, ja, als das Gedeihen ihres
Volkes, den en Jahves Sache hoch über
17) Jeremia 23,211!.; 29,81.; Hesekiel 13.
der nationalen steht Mag die Menge
den Heilspropheten zu jauchzen, sie sind
die Geschmähten und Verlästerten, die
Verfolgten, Eingekerkerten und Getöte¬
ten. Aber sie sind zugleich die Träger
der hohen sittlichen Ideale, die eigent¬
lichen Werkzeuge der Offenbarung. Die
Heilspropheten haben für Israel ge¬
sprochen; die Worte dieser Großen er¬
gehen noch immer an die ganze Welt.
Sie sind es, die in der Zeit der Assyrer
und Chaldäer die furchtbare Drohung
von Israels Untergang geprägt haben.
Jahrhunderte hindurch haben sie mit
den Heilspropheten gekämpft Dennoch
haben beide Richtungen eine gewisse
gemeinsame Grundlage: beide gehen
auf ein volkstümliches Zukunftsbild zu¬
rück, das — wie man in der letzten Zeit
zu erkennen beginnt — wahrscheinlich
im letzten Grunde aus dem Ausland
nach Israel gekommen ist Und sie
haben sich im Laufe der Geschichte
untereinander beeinflußt Fast alle Un¬
heilspropheten haben am Schluß der
Wege Gottes das Heil gesehen und so
in die Heilsprophetie, von der sie sich
so weit entfernt hatten, schließlich doch
wieder eingelenkt Demnach läßt sich
an den Heilshoffnungen der Unglücks¬
propheten feststellen, was die Heilspro¬
phetie zu jener Zeit verkündet hat
Unsere Aufgabe wird es im folgenden
sein, vor allem die Unheilspropheten
als die geschichtlich bedeutsameren zu
schildern, zugleich aber in dies Bild, so¬
weit es möglich ist die Wirksamkeit der
Heilspropheten mit einzuzeichnen und
das Ringen der beiden Parteien mitein¬
ander zu zeigen.
Zuerst ein V o r s p i e 1, eine gewaltige
Ouvertüre. Schon vor den schriftstelle¬
rischen Propheten sind zwei große Un¬
heilspropheten erstanden, welche die bei¬
den entscheidenden Staatsumwälzungen
in Israel hervorgebracht haben: Ahfa
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INDIANA UNIVERSITY
433
Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
434
hat Israels Abfall vom Hause Davids
bewirkt, Elia und sein Schüler Elisa
sind gegen Omris Geschlecht aufgetre¬
ten und haben es schließlich ausgerot¬
tet Die Verhältnisse, unter denen diese
beiden großen Bewegungen entstanden
sind, sind einander ähnlich gewesen,
und auch die Ideen, von denen sie ge¬
tragen waren, werden sich einander ge¬
glichen haben. Die bedeutendsten Dy¬
nastien, die Israel erlebt hat, haben
sämtlich den politischen Gedanken be¬
folgt ihr in allen äußeren Dingen
verhältnismäßig unentwickeltes Volk
in die Reihe der Kulturvölker zu er¬
heben und in Israel einen Kulturstaat
mit Beamten, stehendem Heere, Festun¬
gen und Burgen, Wagen und Rossen,
üppiger Hofhaltung, freilich auch mit
Fronden und Aushebungen, zu begrün¬
den. Dazu haben sie freundschaftliche
Beziehungen mit Staaten der Nachbar¬
schaft besonders mit den Phöniziern,
angeknüpft und auch Götter oder got¬
tesdienstliche Formen aus der Fremde
eingeführt Wären diese Bestrebungen
zum Ziele gekommen, so würde Israel
unzweifelhaft ein Stück seiner Eigenart
nnd gerade sein bestes Teil verloren
haben. Das haben große Propheten emp¬
funden und sich ihnen aufs leidenschaft¬
lichste entgegengeworfen.
Gegen Salomo ist Ahia aufgetreten.
Was das Volk gegen Salomos Regiment
erbitterte, liegt klar am Tage. Es waren
zunächst die Steuern und Fronden, da¬
mals in Israel noch etwas Neues, was
man nicht ertrug. Der am Hofe Salo¬
mos geltenden despotischen Staatsauf¬
fassung, wonach das Volk um des Herr¬
schers willen da ist, trat die alte Frei¬
heitsliebe Israels entgegen, die ihm noch
von der Wüste her im Blute steckte.
Diesen Beweggrund aber zum Aufstande
finden wir verkörpert in der Person
eines Propheten. Diese Prophetie steht
also nicht auf Seite eines neumodischen
aus dem Ausland eingeführten, kulti¬
vierten Staates, sondern auf der Seite
der alten Freiheiten des Volkes. Sie ver¬
tritt das Altisraelitische, nicht das Ka-
naanäische in Israel. Sie schwört zu dem
alten Jahve, zu dem Jahve der Wüste
und der Väter. — Nun hatte Salomos
Wunsch, ausländische Sitte und höhere
Kultur in Israel heimisch zu machen,
auch äuf den Kultus übergegriffen. In
Jerusalem standen Altäre für die Göt¬
ter von Sidon, von Moab und Ammon,
und der Jahvedienst selber war von
Fremdländischem durchsetzt Der Jahve¬
tempel auf Zion war von tyrischen
Werkleuten erbaut ausgestattet mit
Symbolen kanaanäischer Religion: einem
Baalhause ähnlicher als einem Heilig¬
tum Jahves. Wir dürfen schließen, daß
Israels Abfall auch auf der Abneigung
des für den alten Jahve begeisterten
Volkes gegen den neuen Gottesdienst
Salomos beruhte.
So ist Ahia unter den Propheten der
erste Vertreter des alten Wüstenjahves,
der die Freiheiten Israels schützt die
fremde Kultur als einen Verstoß gegen
Israels Sitte und als nichts denn mensch¬
lichen Hochmut haßt dem die fremden
Götter, die man neben ihn stellen will,
ein Greuel sind. Und hier erkennen wir
die Tragödie der inneren Geschichte Is¬
raels in der älteren Zeit: das Königtum
war durch die Natur der Dinge auf
diese Wege geführt auf denen es der
Freiheitsliebe des Volkes und der Re¬
ligion begegnen mußte. In diesem be¬
ständigen inneren Kampfe, der das Volk
nie zur Ruhe kommen ließ, ist die große
Unheilsprophetie erwachsen.
Diese Auffassung des Ahia ist um so
sicherer, als auch schon frühere Gottes¬
männer in ähnlichen Fällen aufgetreten
waren: der „Seher“ Samuel hatte den
ersten König Saul bitter getadelt, als
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INDIANA UN1VERSITY
435
Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
436
dieser den altüberlieferten, aber höchst
barbarischen Brauch des „Bannes“ nicht
mehr vollziehen wollte 18 ), und Nathan
hatte den Bau eines Tempels für die
Lade Jahves widerraten: der Wüstengott
wohnt in einem Zelt, aber in keinem Ze¬
dernpalaste. 19 ) Und auch die Späteren,
Elia, Amos und deren Nachfolger,
haben sich noch von denselben Gedan¬
ken leiten lassen.
Mit Omri war ein neuer großer Or¬
ganisator auf den Thron gestiegen, der
Salomos Politik mit aller Kraft wieder
aufnahm. Omri hat z. B., wie einst Sa¬
lomo, Israel nach Bezirken eingeteilt und
mit Tyrus einen Freundschaftsbund ge¬
schlossen. Die Ehe seines Sohnes Ahab
mit der phönizischen'Prinzessin und die
Erbauung eines Tempels für den tyri-
schen Baal sollten dieses Bündnis be¬
siegeln. Abel* wieder hat sich eine kleine
Prophetenpartei dieser Politik des Herr¬
scherhauses widersetzt Unter ihnen der
gewaltigste, Elia, auch wenn wir die
Übertreibungen der Sage abziehen, die
ihn noch riesenhafter dargestellt und
seinen Gegner, König Ahab, ganz ins
Schwarze gemalt hat Auch Elia ist ein
Mann der alten Zeit: in der Steppe, wo
sich altvaterisches Leben gehalten hat,
ist er zu Hause; im Pelzmantel, der ur¬
alten Nomadentracht 20 ), geht er einher;
er sucht seinen Gott in der wilden Ein¬
samkeit des Horeb, unter den furcht¬
baren Erscheinungen eines Vulkanaus¬
bruchs, mit denen sich Jahve einst an
derselben Stätte dem Mose offenbart
hatte. Für den alten Jahve kämpft er
gegen den wollüstigen, grausamen Baal.
Die Rechabiten, jenes Geschlecht, das
aus religiöser Begeisterung am Noma¬
denleben, auch noch in Kanaan, festhielt,
haben sich auf die Seite dieser Män-
18) I. Samuelis 15.
19) II. Samuelis 7.
20) Musil, Arabia Petraea Bd. III S. 123.
ner gestellt 21 ) Und wie der Gott, so ist
auch der Mann selber: gewaltig, zornig,
rauh, von „Eifer“ erfüllt — Dieser Gott
aber, das hat Elia mit aller Wucht sei¬
nes leidenschaftlichen Herzens gefor¬
dert, soll allein verehrt werden in Is¬
rael. Die Masse des Volkes jener Zeit
mochte in dem Baaltempel des Königs
nichts Schlimmes sehen, da Jahves Hei¬
ligtümer ja unangetastet blieben. Patrio¬
tische und dem Königshause ergebene
Propheten sind dem Herrscher gefolgt
und haben ihm Heil verkündet 22 ) Nur
die Sage, nicht die Geschichte weiß von
der Verfolgung der Jahvereligion durch
Ahab. Dem Elia aber ist ein solches Ne¬
beneinander zweier Götter eine unerträg¬
liche Halbheit Wer sich neben Jahve
einem anderen Gott zuwendet ist von
Jahve abgefallen! Freilich hat er nur
gegen den tyrischen Baal gekämpft
nicht gegen den kanaanäischen, der da¬
mals schon längst mit Jahve verschmol¬
zen war. Aber es wird die Zeit kommen,
da seine Nachfolger die Forderung der
Reinheit der Religion auch wider den
Jahve-Baal kehren!
Zugleich hat Elia den König angegrif¬
fen bei seinem Justizmord an Na-
both. Auch hier standen sich alte und
neue Gedanken gegenüber. Naboth, ein
Israelit von altem Schlage, weigerte
sich, das Leben seiner Väter hinzugeben;
Ahab aber, von dem Rechte des König¬
tums erfüllt, schreitet über das seines
Untertanen hinweg. Der Jahve, für den
Elia so eifert ist also der Gott des alten
guten Rechts. Elia hat dem Königshause
für Naboths Mord den Untergang ge-
weissagt
Aber noch mehr. Auch seinem eige¬
nen Volke, das den Baal gleichgültig ge¬
duldet hat droht er ein kommendes
furchtbares Verderben. In den großen.
21) II. Könige 10,15f.
22) I. Könige 22,6.
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437
Hermann Qunkel, Die Politik der Propheten
438
nationalen Unglücksfallen, den schreck¬
lichen Aramäerkriegen, die damals be¬
gannen, haben Elia und die Seinigen
Jahves Rache erkannt. Dieser Gott
bringt Unheil über sein Volk, wenn es
ihm nicht gehorcht Denn Jahve ist mehr
als Israel. Jahve stellt Forderungen an
sein Volk und wird es eher vernichten,
als auf sie verzichten. Ja, Jahves Feinde
sollen seine Werkzeuge sein gegen sein
eigen Volk.
Elia selber hat den Sieg seiner Gedan¬
ken nicht mehr erlebt Aber sein Schü¬
ler Elisa bat Ahabs Haus gestürzt und
den tyrischen Baal aus Israel ausgerot¬
tet Freilich durch welche Mittel 1 Er
stiftete den blutigen Jehu auf, der den
König und sein ganzes Geschlecht er¬
mordete. Der so auf den Thron gekom¬
menen Dynastie ist Elisa die treueste
Stütze gewesen.
Es folgte das Jahrhundert der
schweren Kriege mit den Aramäern,
in denen Israel bis hart an den
Rand des Abgrunds geriet Dann
kam eine neue Wendung durch das
ferne Assur, das sich jetzt mit sei¬
ner ganzen Macht auf die Aramäer
stürzt und so Israel aus ihrer Hand be¬
freit Das ganze verlorene Gebiet wird
den Feinden wieder abgenommen. Nun
beginnt für Israel eine schöne Zeit, eine
letzte Herbstessonne, ehe derAssyrerden
grausigen Winter brachte. Die Befreiung
von Aram mochte damals für den Augen¬
blick angenehm genug sein, aber sie war
ein böses Vorzeichen für die Zukunft.
Denn die Aramäer, die jetzt allmählich
dahinfielen, waren der Damm, der Is¬
rael von dem gewaltig flutenden Strome
Assurs trennte. Sank dieser dahin, so
brach die vernichtende Flut auch in Is¬
rael ein. Aber von diesen kommenden
Nöten ahnte man in Israel nichts oder
wollte nichts davon wissen. Ruhig und
sicher saß man in Zion und in Sama-
rien. Herrliche Hoffnungen von einem
künftigen Jahvetage waren im Volke
verbreitet und erfüllten es mit stolzem
Selbstvertrauen. Zugleich war in jener
Friedenszeit eine neue Welle ausländi¬
schen Einflusses über Israel dahin¬
gegangen. Eine Fülle neuer Bedürfnisse
und Genüsse waren im Lande heimisch
geworden. Auch die sozialen Verhält¬
nisse hatten sich verändert. Die Ara-
mäerkriege hatten den israelitischen
Freimann, den Träger der Lasten des
Staates, an den Bettelstab gebracht;
eine neu aufkommende Geldwirtschaft
ruinierte ihn vollends. So traten sich
immer mehr zwei Stände gegenüber,
wie sie das alte Israel nicht gekannt
hatte; die wenigen Reichen und Vor¬
nehmen, die in allen Lüsten dahinleb¬
ten, und die Masse der Besitzlosen, die
in der Tiefe grollte. Jetzt hätten die
Armen dringend des Schutzes einer
überlegenen Gewalt bedurft; aber solche
Macht war nicht vorhanden. Das Recht¬
sprechen war in Israel immer eine Sache
des guten Willens gewesen. Aber dies
auf das sittliche Empfinden gestellte
System, das in älterer Zeit genügt hatte,
versagte in diesen schwierigen Verhält¬
nissen, wo nur feste Ordnung hätte hel¬
fen können. — Dazu kam die niemals
ruhende Eifersucht der Stämme und Ge¬
schlechter, die in der Folgezeit in blutigen
Staatsumwälzungen ausbrechen sollte.
Und schließlich noch, in der Folge¬
zeit, als die Assyrergefahr immer deut¬
licher wurde, der Streit der politischen
Parteien: mit denen, die rechtzeitigen
Anschluß an Assur forderten, kämpften
diejenigen, die einen Bund der palästi¬
nensischen Kleinstaaten unter ägypti¬
scher Führung erstrebten. — Auch die
Jahvereligion war nicht zur Ruhe ge¬
kommen. Eine klare Auseinandersetzung
der höheren Religion, wie sie einst
Mose gebracht hatte, mit der ihr unter-
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INDIANA UN1VERSITY
430
Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
440
geordneten, aber seit der Einwanderung
in Kanaan auch in Israel tief eingedrun¬
genen kanaanäischen Religion war noch
immer nicht erfolgt Diese beständige
Spannung des inneren Lebens Israels
hat es verhindert daß Israel jemals zu
einem sicher befestigten Staate gekom¬
men ist Aber sie ist auch der Grund,
daß hier ein geistiges Leben erwachsen
ist wie es die anderen, an äußerer Kul¬
tur zum Teil so sehr überlegenen Völ¬
ker des alten Orients nicht kennen.
Und gerade in dieser Zeit wo die Wolke
des Assyrers näher und näher zieht
ist in Israel das Größte entstanden, was
es Überhaupt erzeugt hat, die schrift¬
stellerische Unheilsprophetie.
Das Neue dieser Entwick¬
lungsstufe der Prophetie gegenüber
der älteren eines Elia besteht in folgen¬
den Stücken. Während die ältere Be¬
wegung nur von Zeit zu Zeit aufgetre¬
ten zu sein scheint setzt nunmehr eine
fast ununterbrochene Reihe gewaltiger
Männer ein. Während ferner die älteren
Propheten durch den einen oder den
anderen Mißstand zu leidenschaftlichem
Widerstande gereizt wurden, durch Sa¬
lomos Fronden, Ahabs Baaltempel und
den Mord an Naboth, haben die Späte¬
ren in ihrem Geiste, aber in tieferer Ein¬
sicht und mit einer bei weitem größeren
Weite des Gesichtskreises die Prinzipien
herausgestellt soweit prinzipielles Den¬
ken hebräischem Geiste überhaupt ge¬
geben war. So haben sie z. B. nicht
gegen den einen oder anderen Gott ge¬
eifert der damals Jahve zufällig den
Rang in Israel streitig machte, sondern
sie haben gegen alle fremden Götter und
gegen die Vielgötterei als solche ge¬
kämpft Aus diesem großartigen Zuge
ihres Denkens folgt zugleich, daß sie
sich nicht begnügt haben, nur das eine
oder das andere Ereignis der Zukunft
anzukündigen, wie etwa Elia die Hun¬
gersnot obwohl sie von solcher Weis¬
sagung einzelner zukünftiger Gescheh¬
nisse niemals abgelassen haben, sondern
daß ihnen — was besonders seit Jesaia
hervortritt — zugleich ein ganzes, die
Völker und Zeiten umfassendes Zu¬
kunftsbild, ein großer „Jahverat“, ein
gewaltiges „Jahvewerk“, vor Augen
stand. Für dieses Bild haben sie den
Aufriß und viele Einzelheiten dem volks¬
tümlichen Glauben Israels, wie er durch
die Heilspropheten gepflegt wurde;
übernommen, aber das Heil, das man im
Volke erhoffte, in furchtbarer Weise in
Unheil für Israel verwandelt Mit die¬
sem größeren Gesichtskreis der Späte¬
ren ist es auch gegeben, daß sie Schrift¬
steller geworden sind: gegen einen ein¬
zelnen Frevel kann man mündlich eifern,
ein einzelnes Ereignis im Worte kund¬
tun, aber eine ganze Kette von Ge¬
danken wird nur schriftlich fortge¬
pflanzt Betreffs des Bereichs ihrer
Wirksamkeit sind beide Richtungen in¬
sofern verschieden, als sich die ältere
mehr mit den inneren Zuständen be¬
schäftigt hat während bei der späteren
die Weltpolitik mächtig hervortritt: es
ist das Herannahen des entsetzlichen
Assur, das diese Wendung im Geistes¬
leben Israels hervorgebracht hat
Arnos aus Thekoa, ein schlichter
Hirte, verkündet in schaurigen Worten
das Furchtbarste, was jeder Vaterlands¬
freund zu glauben sich weigert den
Untergang der Nation. Hervorgegangen
ist diese Weissagung zunächst aus der
politischen Lage: Assurs Kommen war
es, was Arnos ahnte. Das Raunen der
Völker von nahem Verderben hat in
ihm ein so lautes Echo gefunden. Ans
jenen Jahren der Spannung, da das Ge¬
witter schon am Himmel stand, aber der
zündende Strahl noch nicht niederge¬
zuckt war, hat man ihn in seiner inne¬
ren Aufregung zu verstehen. Und doch
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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
442
ist Amos mehr als der Herold zukünf¬
tigen politischen Geschehens. Die be¬
stimmte Weissagung über Assur ist ihm
nicht die Hauptsache; zuweilen denkt er
auch an andere Plagen, die Israel ver¬
derben können: an Mißwachs, Heu¬
schrecken und Pest. Daß gerade Assur
auftreten wird, verkündet er, weil dies
das Furchtbarste ist Israels Unter¬
gang will er; wodurch es untergeht,
ihm ist es einerlei Also ein seltsamer
Politiker — dieser Mann! Er, der ein
bestimmtes Ereignis voraussieht und
der doch gerade auf dies Bestimmte
keinen ausschlaggebenden Wert legt
Wir schließen also, daß er noch andere
als politische Gründe für seine Drohung
haben muß. Und so ist es wirklich. Viel
mehr als die politische Einsicht Assur
werde heranziehen und Israel vernich¬
ten, bestimmt ihn die tiefe sittliche Über¬
zeugung, daß sein Volk um seiner Sünde
willen sterben muß. Ein Volk, so dem
Bösen dahingegeben, so abgewandt von
Gott darf nicht länger sein! — Was
sind das für Sünden? Auch Amos ist ein
Eiferer für das gute Alte gegen das
Neue und das Ausländische. Der Mann
aus der Steppe, selber an das einfachste
Leben gewöhnt zürnt über die Üppig¬
keit der neuen Zeit und ballt die Faust
wider die hoffärtigen Paläste. Hierin
tritt seine Ähnlichkeit mit Elia, noch
mehr mit Ahia hervor. Aber das ist bei
ihm doch nur eine Nebensache. Die
Hauptsache ist dem Propheten, daß
Gott Gerechtigkeit will. Die Maje¬
stät des sittlichen Gedankens ist ihm
aufgegangen und erfüllt ihn ganz. Und
dem Volke seiner Zeit, das zwar reiche
Opfer bringt, aber in der Sittlichkeit
schwach ist, ruft er es entgegen, daß
Gott der Opfer nicht begehrt Es ist eine
neue Stunde in der Weltgeschichte, die
mit solchen Worten des zornigen Pro¬
pheten anhebt: die Religion Israels,
großgezogen im Gottesdienst ist nun er¬
wachsen und macht sich von der Schale
los. Die Zeit der Opfer und der heiligen
Bräuche ist vorüber, die Religion streckt
sich nach einer besseren Verehrung Got¬
tes durch sittliches Handeln. — Und
zugleich erhebt sich die Religion über das
Volkstum. Jahve ist ein sittlicher Gott;
das Recht gilt ihm mehr als sein Volk;
ja, er ist entschlossen, um des Rechtes
willen sein Volk zu vernichten. — So
erhaben nun auch diese Botschaft des
gewaltigen Mannes ist, so war es ande¬
rerseits für Israel ein furchtbares Ver¬
hängnis, daß seine größten Männer in
so schrecklichen Gegensatz zu ihrem
eigenen Volke geraten sind. Wir Deut¬
schen wissen ja aus eigener frischer Er¬
fahrung, daß eine Nation, der ein Krieg
auf Leben und Tod bevorsteht nichts
so nötig hat als ein gutes Gewissen. In¬
dem Amos und seine Nachfolger dies
ihren Zeitgenossen zu nehmen suchten,
schlugen sie Israel tiefer, als es je ein
äußerer Feind hätte treffen können.
Wie Amos, so hat auch sein etwas
jüngerer Zeitgenosse Hosea den Sturz
des Volkes und des Königshauses ver¬
kündet
„Noch kurze Zelt, da suche Ich heim
die Blutschuld von Jisreel an Jehus
Haus“
— gemeint ist die entsetzliche Ausrot¬
tung der Omri-Dynastie, wodurch das
damals herrschende Königshaus des
Jehu auf den Thron gekommen war —;
,so mache Ich dem Reich des Hauses Israel
ein Ende“.
„Ich zerbreche Israels Bogen
Im Tale Jisreel“. **)
Auch bei Hosea ist der Grund die¬
ser schrecklichen Weissagung Israels
Sünde. Aber während sich Amos mit
seinem ganzen Zorn auf die sozialen
Schäden des Volkslebens wirft hat Ho-
23) Hosea 1,4f.
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443
Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
444
sea, noch tiefer blickend, erkannt, daß
Israels eigentliche Krankheit darin be¬
steht, daß es, wenn es auch Jahves Na¬
men noch so oft nennt, doch in Wirklich¬
keit dem Baal dient! Seitdem es in
Kanaan eingezogen ist, hat es — so be¬
hauptet er — den alten Gott verlassen
und ist dem fremden gefolgt Mit schrof¬
fer Rücksichtslosigkeit mit furchtbarer
Einseitigkeit behauptet er, daß der Kul¬
tus, den die Zeitgenossen an ihren vielen
Heiligtümern für Jahve betreiben, im
Kern der Sache gar nicht diesem gilt
Erbarmungslos reißt er so den Schleier
des Jahvenamens hinweg, der über dem
Gottesdienst lag und das aus der Baal¬
religion Eingedrungene verhüllte. Mit
herbem Spott hat er die heiligen Sym¬
bole verhöhnt Auch hier keine Spur von
Toleranz I — Und weshalb diese furcht¬
baren Ausbrüche, diese Erbitterung,
dieser Abscheu? Hosea hat in den
schmerzensreichen Schicksalen seines
eigenen Lebens erkannt daß das Höchste
die Treue, das Abscheulichste die Un¬
zucht des Eheweibes ist. Daß dieser an¬
gebliche Jahvekultus Jahve nicht gefällt
hat er sich daran klargemacht daß darin
Unzucht betrieben wird. Die Prostitu¬
tion, die im Jahvedienste jener Zeit
nach dem Vorbild der Baalreligion im
Schwange ging, sie hat ihm die Augen
dafür geöffnet daß ein solcher Kultus
in Wahrheit mit Jahve nichts zu tun
hat Weil sie durch Unzucht wider Jahve
freveln, darum hinweg mit Israel aus
dem Lande, das ihnen Jahves Gnade
einst geschenkt hat!
,Sie sollen nicht bleiben in Jahves Landl
Ephraim muß nach Ägypten zurück,
in Assur sollen sie Unreines essen“. * 4 )
Die Verbannung in die Fremde, das
furchtbarste Mittel, das damals beson¬
ders assyrische Machtpolitik anwandte,
um störrische Völker zu zähmen, hat der
24) Hosea 9,3.
Prophet seinem Volke gedroht Oder er
weissagt Jahve werde sie in die Wüste
zurückführen, woher sie gekommen
sind. Daß er so eine ganze Reihe ver¬
schiedener Länder nennt in die Israel
auswandem muß, zeigt uns, daß es
nicht eigentlich realpolitische Erwä¬
gungen sind, die ihm gerade diesen Ge¬
danken eingegeben haben. Vielmehr
werden wir anzunehmen haben, daß
man in Israel schon vor Hosea viel
von der Fortführung als dem furchtbar¬
sten Schicksal gesprochen hat ein Ge¬
danke, den sich Hosea dann angeeig¬
net und in seiner idealistischen Weise
zurechtgelegt hat — Auch von den
Verhältnissen und Ereignissen der inne¬
ren Politik redet er nicht selten. Er
schaut auf die vielen Staatsumwälzun¬
gen zurück, in denen sich Israel nach
dem Tode des großen Jerobeam II. sel¬
ber zerfleischte. Er tadelt die Politiker,
die in der Fremde Anschluß suchten
und sich abwechselnd an die beiden,
um Kanaan streitenden Weltmächte
wandten, bald in Assur, bald in Äpyp-
ten Schutz suchend. Der Prophet sei¬
nerseits sieht in solchem Gebaren eitel
Narrheit: Israel ist wie eine einfältige
Taube, die freiwillig ins Netz geht! Er
ist der Überzeugung, daß man Jahve
allein vertrauen solle; so könne man
jeder Hilfe aus der Fremde entraten.
Wie solche politischen Gedanken zu be¬
urteilen sind, werden wir bei der Dar¬
stellung des Jesaias zeigen.
Von besonderer Bedeutung ist die Wen¬
dung, die Hoseas Prophetie am Schluß
seiner Gedanken nimmt. Ein Arnos hatte
in furchtbarer Einseitigkeit nur das eine
Wort ausgesprochen, daß das Ende über
Israel gekommen sei, und nicht gefragt,
ob überhaupt etwas und was danach
kommen so lle. 25 ) Dabei aber hat der
25) Der Schluß des Buches Amos 9,8!L
ist nach allgemeiner Annahme unecht
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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
446
zartere und positivere Hosea nicht
stehen bleiben können. Seine eigene
Lebenserfahrung hat ihn gelehrt, daß
es — so würden wir es ausdrücken —
eine Liebe gibt, die auch die Sünde
überwindet Der Gott aber kann nicht
kleiner sein als der Mensch. Und so
sieht der Prophet am Ende der Wege
Gottes nicht mehr Sünde und Strafe,
sondern Bekehrung und Gnade. In der
Not wird sich Israel nach seinem alten
Gotte sehnen und sich ihm wieder zu¬
wenden, und dann wird Jahve ihren
Schaden gerne heilen. So lenkt Hosea
nach all den furchtbaren Worten doch
wieder in eine Botschaft vom Heile ein;
und alle oder fast alle Späteren sind
ihm darin gefolgt Denn vom Zürnen
und Drohen kann keine Religion leben.
Auch ein Mann wie Hosea, der so
entsetzliche Worte über Israel spricht,
müßte verzagen, wenn nicht nach der
Nacht ein neuer Morgen anbricht Kein
Zweifel aber, daß die Unheilsprophetie
sich hier Hoffnungsbilder der Heilspro¬
phetie angeeignet hat
Unterdessen sind die Assyrer Israel
immer nähergerückt Mit König Pekach
von Israel ist die zum Widerstand gegen
Assur entschlossene Partei ans Ruder
gekommen, und jetzt führt die gemein¬
same Not die alten Feinde, Aramäer
und Israeliten, zu einem Bündnis zu¬
sammen. Der Gedanke dieses Bundes
war derselbe, der die syrisch-palästi¬
nensischen Kleinstaaten in den folgen¬
den Jahrzehnten immer wieder be¬
stimmt hat Jeder einzelne dieser Staa¬
ten war zu schwach, um für sich
allein den Assyrem zu widerstehen. So
galt es, die alten Streitigkeiten zu ver¬
gessen und gemeinsam einen starken
Wall zu bilden, an dem sich die Woge
Assurs brechen mußte. Zugleich hoffte
man auf die andere Großmacht die vor¬
zeiten Kanaan und Syrien beherrscht
hatte: konnte es doch kein Zweifel sein,
daß ebendies Ägypten mit seiner wun¬
derbaren Fruchtbarkeit und mit seinen
seit uralter Zeit aufgehäuften Schätzen
das letzte Ziel des assyrischen Vormar¬
sches war, sei es, daß den Politikern As¬
surs dieserPlan schon damals vor Augen
stand, sei es, daß sich der assyrische
Staat durch die innere Notwendigkeit
schließlich doch zu diesem Unterneh¬
men gezwungen sehen mußte. Damas¬
kus, die Vormacht Arams, und Israel
werden sich damals an Juda gewandt
und dieses, das sie wegen seiner Ägyp¬
ten benachbarten Lage bei ihrem Bünd¬
nis unmöglich entbehren konnten, zum
Beitritt aufgefordert haben. AberAhas,
in jener Zeit König von Juda, verwei¬
gerte den Anschluß. Diese Politik des
judäischen Staates ist zunächst aus dy¬
nastischen Gründen zu erklären: das
Königshaus wünschte nicht, sich in die
Abhängigkeit von dem Bruderstaat Is¬
rael zu begeben, und zog es vor, Vasall
der entfernteren Assyrer zu werden. In
Israel aber ward es natürlich als ein
Verbrechen betrachtet, daß die nächsten
Verwandten in so gefährlicher Stunde
ihre Hilfe versagten. Darum war die
Antwort ein wütender Angriff beider
Verbündeten auf Juda. So groß aber die
Not auch war, die so in den nächstfol¬
genden Jahren über Juda kam, so hat die
Folgezeit doch Ahas’ assyrerfreundliche
Politik als die richtige erwiesen. Das
gewaltig überlegene Weltreich schlug
jeden Widerstand, der ihm entgegen¬
trat, zu Boden, aber gewährte demjeni¬
gen, der sich ihm rechtzeitig ergab, ein
bescheidenes Fortbestehen. Daß Ahas
und — von wenigen Ausnahmen abge¬
sehen—auch seine Nachfolger den An¬
schluß an Assur gesucht und bewahrt
haben, hat es bewirkt, daß Juda in das
Verderben, das nun über Israel kommen
sollte, nicht verwickelt wurde und die
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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
448
Assyrerzeit überdauert hat So ist dieser
Angriff von Aram und Israel auf Juda,
der in der Geschichte der Welt nur ein
Zwischenspiel ohne besondere Bedeu¬
tung darstellt, für Juda ein Ereignis
ersten Ranges; und ebenso in der Ge¬
schichte der Prophetie, denn er ist das
erste große Geschehnis, das Jesaia er¬
lebt und das seine Gedanken entschei¬
dend bestimmt hat
Jesaia, der erste Prophet, der in
Juda aufgetreten ist zugleich derjenige,
der die Bewegung der Unheilsprophe¬
tie von dem zu seiner Zeit untergehen¬
den Israel nach Juda übertragen hat
hatte in den ersten Jahren seiner Wirk¬
samkeit ähnliche Erwartungen ausge¬
sprochen wie vor ihm Arnos undHosea:
Israel und Juda sind zum Untergange
geweiht, der Assyrer wird kommen
und sie hinwegfegen. Aber, so war auch
er mit Hosea überzeugt gewesen, nach
dieser Katastrophe kommt dennoch die
Zeit des Heiles:
„Der Rest wird sich bekehren,
der Rest von Jakob
zu dem Heldengott“.**)
Mit einer ganz anderen Botschaft aber
ist Jesaia jetzt da Aram und Israel das
kleine Juda bedrängten, aufgetreten. Er
hat Ahas den Anschluß an Assur aufs
leidenschaftlichste widerraten: Juda soll
überhaupt nichts unternehmen, sondern
sich allein auf Jahve verlassen. Und
man darf solches Vertrauen hegen,
denn Jahve schützt seine heilige Stadt
Diese Verkündigung des Jesaia ist nach
mehr als einer Hinsicht bemerkenswert
und vielleicht die bedeutsamste Wande¬
lung, die in der Geschichte der Unheils¬
prophetie überhaupt geschehen ist. Je-
' saias Vorgänger hatten für die nächste
Zukunft das Verderben erwartet und
die Gottesangst gepredigt; er aber
redet vom Heile und vom Vertrauen.
26) Jesaia 10,21.
Die älteren hatten allen Stätten Israels
die Zerstörung angedroht, auch gerade
den heiligsten, und keine dabei aus¬
genommen; Jesaia selber hatte dasselbe
für Jerusalem in den grausamsten Wor¬
ten verkündet Jetzt aber unterscheidet
er Israel und Juda, Samarien und Zion:
„Über Ephraim mag Samarien gebieten,
und über Samarien derRemalja-Sohn *,**)
aber über Judas Hauptstadt über Jeru¬
salem, ist Jahve der König, und er be¬
schirmt seine Stadt als sein unantast¬
bares Heiligtum I Es ist unzweifelhaft,
daß auch hier wiederum eine Anleihe
bei volkstümlichen, heilsprophetischen
Gedanken vorliegt Vom Vertrauen auf
den helfenden Gott, der seine heilige
Stätte schützt werden die Heilsprophe¬
ten immer wieder gesprochen, und das
jahvegläubige Volk wird solchen Wor¬
ten viel lieber gelauscht haben als der
finsteren Unglücksbotschaft eines Amos.
Aber eine solche Anleihe war jetzt nötig
geworden: in einer Zeit da alles ju¬
belte, mochte es genügen, zu drohen
und zu schrecken; jetzt aber, da das
Volk vor Aram und Israel erzitterte^
„wie des Waldes Bäume vor dem
Winde beben u , konnte das bloße
Schelten nicht helfen; der Prophet
mußte verheißen und trösten können.
Und das konnte Jesaia mit gutem Ge¬
wissen: er selbst empfand gerade in
dieser Stunde der dringendsten Gefahr
Zions unendlichen Wert: hier ist ein
Ort in der Welt, da sich Jahve offen¬
bart; diese Stätte Gottes darf nicht
verschwinden 1 Oder, wenn wir es
mehr in unserer Sprache ausdrücken,
ein Volk, dem so viel verliehen ist, hat
eine Aufgabe und daher eine Zukunft:
es wird von Gottes starker Hand gehal¬
ten, bis es ausgeführt hat, wozu es ge¬
schaffen ist So wird die Unheilspro¬
phetie positiv. Und höchst einflußreich
27) Jesaia 7,9.
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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
450
ist diese Botschaft fflr die Folgezeit ge¬
worden: je stürmischer die Verhältnisse
worden, um so machtvoller ist dieser
Glaobe an Zion als Jahves unantast¬
bares Asyl in allen Nöten hervorgetre-
teo. Und diese neue Stellung gibt den
Propheten zugleich die Möglichkeit,
ihrem Volke und seinen Regenten poli¬
tische Ratschläge zu geben. Männer
wie Arnos können nur drohen; sie
waren überzeugt, daß kein Rat hilft,
and daß Israel in den Abgrund taumelt
Rat können nur Heilspropheten geben,
die hinzuzufügen vermögen: wenn ihr
nach meinen Worten handelt, werdet
ihr Heil sehen:
p Wenn ihr willfährig seid
und ‘guten Rat '**) annehmt,
sollt ihr das Land genießen* !**)
Jesaia in seiner jetzigen positiven Stel¬
lung hat zum Guten geraten.
So ist er denn auch von nun an ein
Politiker gewesen, mehr, als es seine
Vorgänger gewesen waren. Ein ganzes
langes Menschenleben hindurch hat er
bei jeder Wendung der Ereignisse sei¬
nem Volke gezeigt, was es tun müsse.
Mit der Erfüllung seiner Weissagungen
Ist es ihm so gegangen, wie es Män¬
nern, die sich auf ein so gefährliches
Gebiet wagen, eben zu gehen pflegt
Eine Reihe seiner Worte haben sich be¬
stätigt Denn Jesaia besaß in manchem
eine bewunderungswürdige Einsicht in
die Dinge dieser Welt, wie er denn vor
allem die Schwäche Ägyptens Assur
gegenüber klar erkannt hat. Zugleich
aber war er von einem Glauben beseelt,
der alles Irdische überflog, der alle
kriegerischen Rüstungen, die Rosse und
Wagen ebenso wie die Bündnisse, ver¬
schmähte und alles von dem Gotte er¬
wartete, der allein handelt und dem der
Mensch nicht in den Arm fallen soll.
Wahrlich, ein Glaube, der die Welt
28) töb. 29) Jesaia 1,19.
Internationale Monatsschrift
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überwindet, und der auch nicht verzagt,
wenn es nicht ganz so geht, wie es
sich menschliches Denken ausgemalt
hat, sondern der sich nach jeder Ent¬
täuschung immer aufs neue kühn her¬
vorwagt. — So hat er in jener Not
Ahas geraten, nichts zu unternehmen,
auch Assurs Eingreifen nicht anzurufen,
sondern allein auf Jahves Hilfe zu war¬
ten. Ein seltsames Schauspiel, daß ein so
tapferer Mann die scheinbar feige Poli¬
tik der Enthaltung von allem Handeln
vertritt; aber alle Tapferkeit und Kühn¬
heit hat sich bei ihm in das trotzige
Vertrauen auf Jahve und sein Werk er¬
gossen. König Ahas freilich wußte von
solchem Glauben wenig genug; er war
ein kluger Realpolitiker und zog es vor,
sich Assur zur rechten Zeit zu ergeben,
um so günstige Bedingungen zu erhal¬
ten. Gewiß dürfen wir also Jesaia be¬
wundern und ihn den Luther des Alten
Testamentes nennen; aber ebenso sicher
würde es töricht sein, Ahas zu tadeln,
der so gehandelt hat, wie es ihm die
Klugheit gebot, und der — damit recht
behielt
Nun geschah es, wie zu erwarten
stand. Assur kam. Die Verbündeten er¬
lagen ihm beide. Damit aber beginnt
ein neues Zeitalter in der Geschichte
Syriens und Kanaans. Jetzt war Assur
der Herr. Das Bestehen von Israel und
Juda war nicht unmittelbar bedroht,
aber die Freiheit war verloren. Und
schwer lastete auf den Völkern allen
Assurs grausamer Druck. Um „Beute
zu erbeuten und Raub zu rauben “,
war es ausgezogen, und es verstand
sich auf die Kunst die unterwor¬
fenen Völker durch Abgaben und Fron¬
den auszupressen. Israel und Juda
waren — um ein Bild jener Zeit zu ge¬
brauchen, Lasttiere desAssyrers gewor¬
den; ein schweres Joch lag auf ihrer
Schulter, und ihr Rücken kostete den
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Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
452
Stab des Fronvogts. Es war eine Zeit,
wie sie Deutschland in den Jahren der
Unterdrückung durch Napoleon I. er¬
lebt hat, Jahren, von denen man reden
wird, solange es ein deutsches Volk
gibt Aber noch war Kraft und Frei¬
heitsliebe der kleinen palästinensischen
Staaten nicht gebrochen. Viermal haben
sie in den folgenden Jahrzehnten um ihre
Freiheit gekämpft jedesmal von Ägyp¬
ten dazu angestiftet Ihr Unglück war,
daß sie sich nur schwer zu gemeinsamer
Tat entschließen konnten und immer
wieder einzeln losschlugen, und ferner,
daß sich ihr ägyptischer Bundesgenosse
zu schwach erwies. So war der Erfolg
immer derselbe: Assur behauptete seine
Stellung und schlug Ägypten aus Ka¬
naan heraus. — Jesaia, der jetzt in die
Zeit der männlichen Reife trat hat diese
Aufstandsversuche als aussichtslos er¬
kannt und die zur Empörung ratende
Partei, die es auch in Juda gegeben und
die in dem fast verzweifelnden Volke
viele Anhänger besessen haben wird,
mit aller Gewalt bekämpft Auch da¬
mals werden Heilspropheten den Wider¬
stand des Volkes geschürt haben, indem
sie das baldige Ende der assyrischen
Macht und Judas Rettung verhießen:
Jesaia spricht gelegentlich von einem
Heilsorakel, das zu jener Zeit umging
und Gläubige fand. 30 )
Nun stimmt der Prophet freilich mit
solchen Heilsverkündigungen insofern
überein, als auch er nunmehr Assurs
Sturz erwartet Zu furchtbar — so ist
er überzeugt — hat die Weltmacht den
Auftrag, den sie von Jahve erhalten hat
überschritten. Jahve hat sie gesandt
sein Volk zu strafen; aber ihr Sinn
steht darauf, es zu vernichten. Be¬
sonders aber wird Jahves Zorn durch den
Hochmut des Assyrers gereizt Hoch-
mütige Pru nkreden, welche die frem-
30) Jesaia 28,15f.
den Welteroberer zu halten pflegten,
wie sie uns als Inschriften an den Wän¬
den assyrischer Königspaläste erhalten
sind, hat er von ihnen vernommen. Der
Prophet entsetzte sich über solche Prah¬
lereien von Menschen, die ihm als unmit¬
telbare Lästerungen des wahren Gottes
erschienen. Hinunter in den Staub mit
den Sterblichen, die es vergessen, daß
sie nur Werkzeuge sind, Werkzeuge in
der Hand des in allem wirkenden Gottes!
„Wen hast du gehöhnt und gelästert?
gegen wen die Stimme erhoben?
Hoffärtig hobst du die Augen
wider den Heiligen Israels* ! at )
Es muß der Tag kommen, da sich Jahve
auch wider Assur wendet! Das ist aber
eine Überzeugung, die Jesaia mit den
Heilspropheten geteilt haben wird. Aber
nun fährt er fort: Noch ist diese Stunde
nicht erschienen. Noch ist die Ernte
nicht reif und das Ende nicht da. Noch
ist Jahves Werk nicht abgeschlossen:
Jerusalems Sünde ist nicht genug be¬
straft, und auch Assurs Hochmut ist
noch nicht aufs höchste geschwollen.
Der sittliche Gedanke vor allem hat ihn
verhindert, das Heil für sofort zu er¬
warten. Es ist, äußerlich betrachtet, nur
eine zunächst kaum sichtbare Färbung
der Gedanken, die ihn so von der Heils¬
prophetie unterscheidet. Blickt man aber
in die Tiefe, so erkennt man, daß es sich
hier dennoch um einen grundlegenden
Unterschied handelt Denn die ganze
Haltung eines Propheten wird dadurch
bestimmt was er von der nächsten
Zukunft behauptet Mochten die Geg¬
ner an baldige Erlösung glauben, Jesaia
war überzeugt daß eine solche für heute
und morgen nicht bevorstand. Jahve
wartet noch. Aber freilich, schon liegt
das Wetter in der Luft Wenn Gott aber
einschreitet so wird er allein han¬
deln. Keines Mannes Arm wird ihm
31) Jesaia 37,23.
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Original frum
INDIANA UNIVERSITY
453
Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
454
helfen. „Assur fällt durch kein mensch¬
liches Schwert“ 1**) Man sieht, daß
keine politische Erwägung diese Er¬
wartung von Assurs Sturz eingegeben
hat, sondern allein der Glaube, der
Glaube, daß die Gottheit ein solches
Obennaß von Hoffart und Übermut
nicht dulden kann, und daß auf dies Re¬
giment des Zerstörens und Verderbens
der Tag des Guten doch endlich er¬
scheinen muß.
Jesaia hat diese Gedanken ausge¬
sprochen in einem großartigen, dra¬
matischen Bilde. Der Hochmut Assurs
muß noch gewaltiger anschwellen: auch
Zion, Jahves Heiligtum, wird er an¬
tasten; dann aber wird Jahve auf stehen
und Assur zerbrechen. Vor Zion wird
diese letzte Wendung der Weltge¬
schichte geschehen; denn Zion ist der
Mittelpunkt der Welt Dann aber ist Je¬
rusalem genug gereinigt Dann erlebt
es die selige Endzeit von der die Völ¬
ker singen und sagen: die goldene Zeit
kehrt wieder, da Wolf und Lamm sich
befreunden, unter einem göttlichen
Könige aus Davids Stamm. — Manche
dieser Züge, die Jesaia bald einzeln
vorträgt bald zusammenstellt ohne sie
freilich jemals — dem „impressionisti¬
schen“ Denken der Propheten ent¬
sprechend — zu einem vollständigen
Gesamtgemälde zu verbinden, stimmen
mit dem überein, was die Heilsprophe¬
ten verkünden mochten, wie denn ge¬
rade hier der gemeinsame Untergrund
beider Richtungen, die überlieferte
Eschatologie, auch in Einzelheiten stark
hervortritt Aber wie in dem, was man
für die Gegenwart zu erwarten habe, so
besonders in den praktischen Folgerun¬
genweichen beide Parteien aufs stärkste
voneinander ab. Jene werden zum Auf¬
stand und zum Bündnis mit Ägypten
geraten haben; Jesaia aber warnte da-
32) Jesaia 31,8.
vor, sich Assur zu widersetzen. Mensch¬
liche Macht so ist und bleibt er über¬
zeugt richtet gegen Ägypten doch nichts
aus; Jahve selbst wird helfen, aber er
allein, ohne jeden fremden Beistand,
dann, wenn seine Stunde gekommen ist
Samarien ist der umgekehrten Politik
gefolgt und darüber zugrunde gegan¬
gen. Schließlich haben auch die Führer
Judas dem Freiheitsdrange ihres Vol¬
kes nicht mehr widerstehen können. Ge¬
waltige Anstrengungen hatte Jesaia ge¬
macht um Hiskias Anschluß an Ägyp¬
ten zu hinfertreiben. Er weissagte jetzt
eine furchtbare Züchtigung seines Vol¬
kes, die es mit Recht verdient hätte, und
hoffte doch zugleich auf Jahves Hilfe
im letzten Augenblick. Wenn Jerusalem,
tief erniedrigt zu ihm seufzen und jam¬
mern wird, daß seine Stimme wie die
eines Totengeistes von der Erde her
wimmert dann endlich wird er hören
und sich mit seinen Schrecknissen auf-
machen:
„mit Toben und Tosen und lautem Schall,
Sturm und Wetter und fressenden Feuers
Lohe V*)
und alle Völker, die gegen Zion ziehen,
werden wie ein Traum, ein Nachtgesicht
vergehen! So verband sich auch dies¬
mal bei ihm eine wunderbare Einsicht
in die Verhältnisse der Weltmächte und
ein höchst idealistischer Glaube.
Sanherib, König von Assur, er¬
schien in Palästina, unterwarf die klei¬
nen Staaten, schlug ein ägyptisches
Heer und sandte seine Streitmacht vor
Jerusalem. In diesen Tagen der tödlich¬
sten Gefahr wurde Jesaia völlig ein
Heilsprophet Jetzt da alles auf dem
Spiele stand, mußte der plötzliche Um¬
schlag, Jahves Eingreifen, kommen! In
dieser Zeit voller Drangsal und Angst
allein aufrechtstehend, hat er einen rau-
schenden J ubelhymnus gesungen und
33) Jesaia 29,6.
15*
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INDIANA UNIVERSITY
455
Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
456
Assur, das er im Geiste schon weichen
und fliehen sah, verhöhnt:
„Es verachtet dich,
es spottet dein
die Jungfrau, Tochter Zionl
Hinter dir drein schüttelt das Haupt
die Tochter Jerusalem !"**)
Und wirklich geschah ein Unerwartetes:
das assyrische Heer — vielleicht durch
eine Pest dazu gezwungen — mußte
plötzlich abziehen. Wie frohlockte jetzt
das befreite Jerusalem 1 Aber Jesaia
empfand diese Freude nicht mit: soviel
von seinen Weissagungen damals auch
erfüllt war, zu deutlich erkannte er, daß
das, was ihm stets die Hauptsache ge¬
wesen war, die Bekehrung seines Vol¬
kes, nicht eingetroffen sei. Der Freu¬
dentaumel, der jetzt die Stadt erfüllt,
zeigt es ihm, daß im Innern der alte
Schade geblieben ist: der leichtsinnige
Lebensgenuß beginnt von neuem!
„Es rief der Herr
Jahve Zebaoth
an jenem Tage
zum Weinen und Klagen,
zum Glatzescheren und Sacfcumgürten.
Und es kam Jauchzen und Jubeln,
Rindertöten, Schafeschlachten,
Fleischessen, Weintrinken.
„Gegessen und Getrunken, denn morgen
sind wir tot" t**)
Darum hat Jesaia gerade jetzt, bei dem
Abzug des assyrischen Heeres, neue
Drangsal und den schließlichen Unter¬
gang ge weis sagt: „dieser Frevel wird
euch nicht verziehen, bis daß ihr ster¬
bet“! 38 Plötzlich also schlügt, tun Ende
seine? Lebens, seine Prophetie um und
wendet sich mit aller Wucht vom Heil
zum Unheil zurück. Es sollte mehr
als ein Jahrhundert dauern, bis diese
Worte wahr wurden.
Es folgte eine mehr als fünfzigjäh¬
rige Frist, in der Juda Assurs Va¬
sall blieb. Denn wenn auch in dem
34) Jesaia 37,22. 35) Jesaia 22,12f.
36) Jesaia 22,14.
Schicksalsjahre, von dem wir soeben
gehandelt haben, das Äußerste abge¬
wandt war, so war dennoch Juda da¬
mals von Assur so grausam gezüchtigt
worden, daß es ein halbes Jahrhundert
lang, soweit wir wissen, keinen Auf¬
stand wieder versucht hat Und erst
jetzt erstieg Assur die Höhe seiner
Macht: auch Ägyptens hat es sich
schließlich bemächtigt Der Traum des
Jesaia, daß es vor den Toren von Jeru¬
salem zerschellen würde, hatte sich
nicht erfüllt. Jene Zeit der größten Aus¬
dehnung des assyrischen Reiches, da zu¬
gleich die assyrisch-babylonische Kultur
mit vollen Strömen in aller Welt und
auch in Juda eindrang, da sich alle Völ¬
ker vor Assurs großen Göttern beugten,
das ist die Zeit, da assyrischer Gottes¬
dienst auch in Juda einzog. Judas
Selbstgefühl war gebrochen. Der Glaube
der Propheten, daß Jahve ein Gott be¬
sonderer Art, ja, der einzige Gott sei,
war, so schien es damals, durch die
Tatsachen widerlegt Jahves Volk mußte
jetzt den Fremden dienen, und wie lange
schon, und Jahve hatte nicht zu helfen
vermocht Auch die Propheten aller
Richtungen mußten verstummen, und
wo sie etwa sprachen, wurden sie vom
Könige Judas mit Gewalt zum Schwei¬
gen gebracht Hätte damals ein judäi-
scher König gewagt sich an der Reli¬
gion des Weltenherm und ihren Sym¬
bolen zu vergreifen: ein Rachezug As¬
surs und die Vernichtung des judäischen
Staates wäre die unausbleibliche Folge
gewesen. Das sind die Jahre des Königs
Manasse.
Dann ist die Herrschaft der Assyrer
allmählich zurückgegangen und schlie߬
lich in erschütterndem Falle zusammen¬
gebrochen. Schon lange vor der letzten
Katastrophe hatten jauchzende prophe¬
tische Stimmen, die sich jetzt wieder
hervorwagten, diesen Sturz des Zwing-
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INDIANA UNIVERSITY
457
Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
458
herm geweissagt Jetzt beginnt unter den
Völkern eine neue Blütezeit. Überall da,
wo die Assyrer ihre schwere Hand ab¬
ließen, macht man sich an das Werk
der „Restauration“. Die befreiten
Nationen versuchen, die Spuren der
Fremdherrschaft zu vertilgen und die
alten Zustünde wiederherzustellen. Also
eine Zeit, vergleichbar den Zuständen
Europas nach dem Sturz Napoleons L
Wir wissen von solchen nationalen Er¬
neuerungen in Ägypten, in Babylonien
und in Juda. So erhob in Juda die Pro¬
phetie ihr Haupt aufs neue. Sie, die so
oft im Gegensatz zu dem Empfinden
ihres Volkes gestanden hatte, war jetzt
von den Wogen der Zeit getragen. Ihre
Feindschaft gegen die Götter der
Fremde, die sich in Jahves Heiligtum
eingenistet hatten, fand begeisterten
Widerhall in den Herzen der Vater¬
landsfreunde, welche die Götter der jetzt
dahinsterbenden Gewaltherrscher voller
Haß betrachteten, und nicht minder in
den Herzen der Jahvepriester von Jeru¬
salem, die sie so lange Zeit hindurch
neben ihrem Gott hatten dulden müssen.
Propheten und Priester, die sich bisher
oft genug bekämpft hatten, fanden sich
so zusammen. Es kam zu einer großen
nationalen Handlung, bei der sich beide
Teile in die Führung teilten, der Ge¬
setzgebung des Königs Josia. Wir
kennen das Programm, auf das man sich
damals geeinigt hatte: alle fremden Göt¬
ter sind auszurotten, und der Tempel von
Jerusalem ist das einzig rechtmäßige
Heiligtum des wahren Gottes; nur dort
dürfen Jahveopfer dargebracht und
Jahvefeste gefeiert werden. Das damals
eingeführte Gesetz ist uns im fünften
der Bücher Mose erhalten.
Man darf in dieser Begeisterung für
den Ziontempel etwas von dem Geiste
eines Jesaia erkennen. Dennoch war es
ein großer Abfall von den echten Ge-
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danken der alten Unheilspropheten, daß
man sich jetzt so tief auf Opfer, Feste
und Zeremonien einließ, die gerade von
Männern wie Jesaia stets gering ge¬
schätzt worden waren. Viel verhängnis¬
voller war es noch, daß ebendiese Ge¬
setzgebung die Heilsprophetie zur Herr¬
schaft brachte, zu der jetzt auch die Ern¬
steren, die mehr als bloße Vaterlands¬
freunde waren, übergehen mochten.
Juda war ja jetzt offenkundig ein from¬
mes Volk geworden. Es hatte die For¬
derungen der Propheten auf sich ge¬
nommen. Die herrlichste Zukunft mußte
ihm bevorstehen. Zugleich aber war,
eben durch diese Tat der Reformation,
der Nationalstolz gewaltig gestiegen: Is¬
rael, so war man überzeugt, ist das
Volk, das Jahve aus allen Nationen der
Erde erwählt hat, dem er Sieg verleiht,
wohin es den Fuß setzt So mischte
sich eigentümlich das Selbstbewußtsein
Israels und sein Glaube an Jahves
Größe: Jahve, der mächtigste der Göt¬
ter, ja, der alleinige Gott der Welt und
Israel, sein Volk, das erste unter den
Nationen zur Herrschaft über die Welt
berufen.
Dieser damals aufs höchste anschwel¬
lende religiöse Patriotismus aber sollte
in der Folgezeit Juda höchst verderb¬
lich werden. Denn wie einst in der
Assyrerzeit wurde es auch jetzt in den
Strudel der großen Weltereignisse ge¬
zogen. Damals ist die Welt aufs neue
verteilt worden. Chaldäer und Ägypter
kämpfen nach Assurs Sturz um die Herr¬
schaft über Syrien und Kanaan. Auch
jetzt wäre es Judas politische Aufgabe
gewesen, dem jeweiligen Herrn der Welt
zu gehorchen. Denn es war nicht zum
Herrschen geboren, sondern zum Die¬
nen. Sein Unglück war, daß es diese
herbe Notwendigkeit nicht begreifen
wollte. Und darüber ist es zugrunde
gegangen.
INDIANA UNtVERSITY
459
Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
460
Der einzige, der sich dem immer
höher anschwellenden religiös-nationa-
len Fanatismus entgegengesetzt hat, ist
Jeremia, der noch einmal die alte
Unheilsprophetie in aller Kraft er¬
neuert hat. Schon von früher Jugend an
hat er das Verderben über die Heimat
kommen sehen. Der Sturm der wilden
„Skythen“, der damals über Vorderasien
einherbrauste, hat ihn ursprünglich in
Bewegung gesetzt Aber auch als sich
dieser verzogen hatte, hat er die
Drohung nicht fallen lassen, sondern
Jahrzehnte hindurch aufrechtgehalten,
wie oft verhöhnt und verspottet — sein
ganzes Leben wurde ihm dadurch ver¬
giftet — und schließlich doch als Pro¬
phet beglaubigt: diese Erfüllung der
Worte des Jeremia ist eins der wunder¬
barsten Ereignisse aus der Geschichte
Israels I
Und an dieser Drohung hat ihn auch
die Reformation des Josia nicht irre¬
gemacht. Er erkannte klar, daß die neue
Gesetzgebung den Kultus zwar äußer¬
lich gebessert hatte, daß aber im Innern
nichts verändert war. Um so mehr strei¬
tet er gegen den religiösen Hochmut,
der sich nun eingestellt hat; ja, im
Gegensatz zum Geiste des neuen Ge¬
setzes, aber in Nachfolge der größten
unter seinen Vorgängern, kämpft er
gegen Opfer und heilige Satzungen
überhaupt So ist Jeremia der letzte
große Verkündiger einer Religion, die,
frei von Kultus und Zeremonien, allein
die großen Ideale der Frömmigkeit und
Sittlichkeit kennt Solche rauhe Größe
ist nur unter Unheilspropheten möglich.
Für die Zukunft aber weissagt er den
Untergang der Stadt und die Zerstö¬
rung des Tempels. Auch die Zerstö¬
rung des Tempels, nunmehr des
einzigen Jahveheiligtums, das noch dem
Jesaia das schützende Asyl in allen Stür¬
men gewesen war. Das ist das furcht-
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barste Wort das je ein Unheilspro¬
phet gesprochen hat! Der Eifer dieser
Männer für die Gerechtigkeit und die
Frömmigkeit des Herzens hatte die
ganze Religion umgestaltet alle Heilig¬
tümer in den Staub geworfen, alleSym-
bole und Zeremonien für wertlos er¬
klärt und damit dem Volke allen äußeren
Halt genommen. Nur eines war übrig¬
geblieben und wurde jetzt mit der ganzen
Inbrunst des Glaubens umfaßt: der Tem¬
pel und sein Gottesdienst Jetzt fiel
auch dieses Letztet Denen, die auf Jah¬
ves Gegenwart im Tempel vertrauen
und hier ihren Schutz suchen, antwor¬
tet der Prophet: Jahve will euch Frev¬
lem hier keine Sicherheit bieten! Ihr
sollt auf diesen Tempel nicht vertrauen!
Obt Gerechtigkeit, so kommt ihr nicht
in Not! Und in den folgenden Kämp¬
fen zwischen Chaldäern und Ägyptern
hat er bis zum offenbaren Hochverrat
immer denselben Rat gegeben: ergebt
euch den Chaldäern! Jerusalem ist doch
zur Zerstörung bestimmt!
Aber ihm und seinem jüngeren Zeit¬
genossen Hesekiel, der nach der ersten
Fortführung judäischer Vornehmer durch
die Chaldäer in Babylonien wirkte,
stand die leidenschaftlich erregte Par¬
tei der Heilspropheten gegenüber. Wäh¬
rend Jeremia die sittlichen Gedan¬
ken in furchtbarer Größe vertrat, waren
seine Gegner von religiösen Gedan¬
ken erfüllt: habt Vertrauen auf den Gott,
der euch auch in dieser Not nicht im
Stiche läßt und sein Heiligtum nicht den
Heiden preisgibt! Damit aber haben
diese Heilspropheten ihr Volk zu einer
wahnsinnigen Politik des Widerstandes
gegen die weit überlegene Weltmacht
fortgerissen und in den Abgrund ge¬
stürzt
Wie sehr sich aber die beiden, sich so
erbittert befehdenden Parteien dennoch
in ihren Gedanken genähert hatten.
Original from
INDIANA UNIVERSITY
46t
Hermann Gunkel, Die Politik der Propheten
462
sieht man aus dem „Liede des Mose“ 37 ),
das aus den letzten Jahrzehnten vor
dem Untergange Jerusalems stammen
mag. Auch der Verfasser dieser pro¬
phetischen Dichtung redet mit Wucht
von Israels Sünden, redet also hier
ganz wie ein Unheilsprophet, aber er
schließt seine Gesamtbetrachtung der
Geschichte des Volkes, indem er nun¬
mehr Jahves Eingreifen verheißt: der
Tag, da der Gott seinem Volke Recht
schafft und an seinen Drängern Rache
nimmt, steht nahe bevor! So hatte
also die Heilsprophetie von ihren Geg¬
nern gelernt Und andererseits hatten
auch diese den schönen Traum von Is¬
raels en dli ch er Verklärung nicht auf¬
gegeben. Auch Jeremia hat die innere
Kraft zu seinem Widerstande gegen sein
Volk in der Überzeugung gefunden, daß
Jahve am letzten Ende Gedanken des
Heiles über Israel hegt Dennoch be¬
stand zwischen beiden Parteien auch
hier ein grundsätzlicher Unterschied:
denn für die Gegenwart verkündigen
jene die Errettung, Jeremia das Verderben I
So ging Juda zugrunde. Die Unheils¬
prophetie hatte gesiegt Die Gedanken,
von denen sie ausgegangen war, wer¬
den nun in der sich neu bildenden Ge¬
meinde eine Macht Endlich glaubte man
es, daß Jahve seinem Volke nicht gnä¬
dig sei, sondern schrecklich zürne; hatte
man doch diesen schauerlichen Gottes¬
zorn selbst mit Entsetzen erlebt und er¬
kannte ihn immer wieder in dem Elend
der folgenden Jahrhunderte. Eine Umge¬
staltung des Glaubens und Lebens, wie sie
die Unheilsprophetie gefordert hatte, ist
im „Judentum“ wirklich geschehen. He-
sekiel hat selber am meisten mitgewirkt
diesen Wandel zu vollziehen. Aber
eben durch diesen gewaltigen Sieg
hörte die Unheilsprophetie auf zu be-
37) V. Mose 32.
stehen. Die fremde Regierung, unter
deren Macht man jetzt lebte, gestattete
ein öffentliches politisches Auftreten
nicht; damit war die Größe des Wir¬
kens der Propheten unwiederbringlich
dahin. Und jetzt konnte es nimmer¬
mehr genug sein, nur vom Zorne Gottes
zu reden; jetzt mußte Trost gespendet
und Heil geweissagt werden, sollte das
Volk nicht verzweifeln. So ist das Exil
der Sieg der Unheilsprophetie, aber zu¬
gleich ihre Todesstunde. Die Heilspro¬
phetie hat Juda ins Verderben gestürzt;
aber nunmehr erhob sie ihr Haupt Was
von der Prophetie noch übrigblieb, fast
immer in stiller mündlicher oder in
schriftlicher Wirksamkeit ist Heilspro¬
phetie gewesen. Das erkennt man am
deutlichsten an dem Beispiele des Hese-
kiel selber. Dieser letzte der großen Un-
heilspropheten, der an der Wende der
Zeiten steht und die beiden nicht lange
aufeinanderfolgenden Fortführungen Ju¬
das erlebt hat, hatte zwischen diesen
beiden Exilierungen die vollen Schalen
seines Zornes über sein Volk ergossen
und es damals für seine Aufgabe gehal¬
ten, das bereits zum Teil eingetroffene
Unheil durch die immer wiederholte
Sünde Judas, die er nicht ekelhaft und
abscheulich genug schildern konnte, zu
rechtfertigen und das völlige Verderben
zu weissagen. Aber auch dieser bittere
Mann hat sich von dem Tage ab, da der
Unheilsbote aus Jerusalem kam und
den Fall der Stadt meldete, zur Ver¬
kündigung von Israels Wiedererstehen
gewandt Und ein Menschenalter später
hat „Deuterojesaia“ beim Herannahen
der Perser den Trauernden Zions neuen
Mut zugesprochen: jetzt jetzt endlich
ist der Tag gekommen, da die Ver¬
heißungen wahr werden, da Jerusalem
erneuert und verklärt wird und Jahve
zur Weltherrschaft emporsteigt Und
solange die Prophetie im Judentum
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INDIANA UNIVERSITY
463 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 464
Weiterbestand, hat sie im Geiste dieses
enthusiastischen prophetischen Dichters
von dem demnächst hereinbrechenden
Heile geredet und dem Judentum so die
Kraft zum Aushalten in seiner traurigen
Drangsal gegeben.
Die Unheilsprophetie hat eine grau¬
sige Erfüllung ihrer Worte erlebt. Der
Traum von Zions Verklärung ist nie¬
mals Wirklichkeit geworden. Der größte
Gedanke dieser Heilsprophetie aber, die
Jahvereligion solle einst die Weltreli¬
gion werden, hat sich doch erfüllt, als
die Zeit gekommen war.
Die staatlichen Maßnahmen zur Wiederherstellung
der Landwirtschaft in der Provinz Ostpreußen«
Von Wilhelm von Horn.
Es konnte nicht anders sein, als daß
der landwirtschaftliche Betrieb der Pro¬
vinz Ostpreußen, der Haupterwerbs¬
zweig ihrer Bewohner, durch den Ein¬
fall der Russen im Jahre 1914 in erheb¬
lichem Maße geschädigt wurde. Wenn
schon jetzt, noch während des heftig¬
sten Völkerringens, ein Überblick über
die Wiederherstellungstätigkeit ver¬
sucht werden kann, so ist dies nicht nur
durch die beispiellos großartige staat¬
liche Unterstützungsaktion möglich; es
treten hinzu die überall im Deutschen
Reiche und darüber hinaus gebildeten
Hilfsunternehmungen; nicht zuletzt aber
das Pflichtbewußtsein der Einwohner, ihre
Entsagungsfähigkeit und ihr unermüd¬
licher Schaffensdrang, der sie unbeküm¬
mert um die offiziell erklärte Freigabe
der Provinz in die Heimat zurücktrieb.
So war es in den ersten Oktobertagen
1914, als die langen Züge der Flücht¬
linge bei den widrigsten Verhältnissen
den Weg nach Ostpreußen wieder zu¬
rück suchten, so war es in der Zeit nach
der Winterschlacht, als die Provinz dau¬
ernd befreit wurde. Von allen Schrit¬
ten zugunsten der Provinz ist jedoch der
wichtigste die Hilfsaktion des Staates.
Im folgenden soll der Versuch gemacht
werden, in großen Zügen die Grund¬
sätze, die Ausführung und den Erfolg
dieser staatlichen Maßnahmen nach dem
Stande vom Ende September 1916 dar¬
zustellen.
I.
Was der Staat für die Wiedeiherstel-
lung der Landwirtschaft getan hat, er¬
schöpft sich nicht in finanziellen Lei¬
stungen. Von nicht geringerer Bedeu¬
tung ist seine Tätigkeit in der inneren
Verwaltung. In weitestgehender Weise
hatte sich diese hierbei der dankenswer¬
ten Unterstützung der Militärbehörden,
namentlich des Generalfeldmarschalls
von Hindenburg und seines damaligen
Generalstabschefs, zu erfreuen. Durch
das Entgegenkommen der Militärver¬
waltung ist es u. a. gelungen, die Pro¬
vinz von Requisitionen der Truppen seit
dem Frühjahr 1915 im wesentlichen frei¬
zuhalten. Die Heeresverwaltung hat fer¬
ner in weitem Umfange dienstunbrauch¬
bare Militär-, Beute- und Etappenpferde
sowie Kolonnenpferde zur Bestellung
hergeliehen und Motorpflüge und Be¬
triebsmittel zur Verfügung gestellt Sie
hat die erforderlichen Mannschaften zur
Bestellung beurlaubt kommandiert oder
zurückgestellt und Gefangene überwie¬
sen und somit die Frühjahrsbestellung
1915 wesentlich durchführen helfen.
Auch durch verwaltungsrechtliche Ma߬
nahmen hat sie den Wiederaufbau der
Provinz gefördert
* An Geldmitteln wurden vom Staate
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Original fram
INDIANA UNtVERSITY
465 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 466
im Jahre 1914 400 Millionen zur Ver¬
fügung gestellt Bei dieser Bewilligung
handelt es sich rechtlich um eine Lei¬
stung des preußischen Staates. Das
Kriegsleistungsgesetz enthält keine Vor¬
schriften darflber, ob und wie Kriegs¬
schäden und Nachteile, die über die all¬
gemeinen Kriegsleistungen hinausgehen,
entschädigt werden sollen. Es spricht in
dieser Hinsicht aber den wichtigen
Grundsatz aus, daß über die Entschä¬
digung derartiger Nachteile ein späte¬
res Reichsgesetz zu befinden hat Ein
solches Gesetz ist noch nicht ergan¬
gen. Wenn also die Staatsregierung für
die Landwirtschaft in Ostpreußen durch
Gewährung größerer Mittel helfend ein-
greifen wollte, so konnte dieses nur aus
preußischen Mitteln geschehen, aller¬
dings mit der Erwartung auf Ersatz die¬
ser Leistungen aus Reichsmitteln gemäß
dem zu erlassenden Reichsgesetz. Indem
der preußische Staat die Mittel zur Ver¬
fügung stellte, erfüllte er „die der Allge¬
meinheit obliegende selbstverständliche
Pflicht, die Bevölkerung der Provinz da¬
für in vollem Umfange schadlos zu hal¬
ten, daß sie zum Heile des Reiches
schwere Opfer bringen mußte, und den
mitgenommenen Landesteilen wieder zu
ihrem früheren Wohlstände zu verhel¬
fen“. Die Leistungen des Staates sind
gegründet auf das öffentliche Recht. Das
Verfahren ist kein gerichtliches; den Lei¬
stungen liegt kein Vertragsverhältnis
mit den Geschädigten zugrunde. Ein
Rechtsanspruch des einzelnen auf die
Entschädigung besteht dem Staate
gegenüber nicht
Was der Staat dem einzelnen als Ent¬
schädigung gewährt ist die Vorweg¬
nahme der später vom Reiche zu ge¬
währenden Entschädigung: es ist die
Vorentschädigung. Die Grundsätze über
die Vorentschädigung waren zunächst
abschließend geregelt durch die staats¬
ministerielle Anweisung vom 18. Januar
1915. Nach ihnen ist in der Provinz unter
Leitung des Oberpräsidenten und Bera¬
tung der Kriegshilfskommission und
ihrer Abteilungen verfahren worden.
Schon nach kurzer Zeit wurde es nötig,
die Grundsätze über das Vorentschädi-
gungsverfahren weiter auszubauen und
zusammenzustellen. Ein Abschluß die¬
ser Arbeit ist nach mehrfachen Verhand¬
lungen erfolgt durch die ministerielle
Verfügung vom 17. Mai 1916. Inzwischen
ist am 3. Juli das Reichsgesetz über die
Feststellung der Kriegsschäden ergan¬
gen, das zur Vorbereitung eines späteren
Gesetzes den Begriff des Kriegsschadens
feststellt und auch das Verfahren bei der
Feststellung der Schäden regelt, eine
Entscheidung über die Entschädigungs¬
pflicht des Reiches aber nicht bringt. Es
liegt in der Natur der Sache, daß zwi¬
schen den Grundsätzen fQr die Vor¬
entschädigung und den reichsgesetz-
liehen Bestimmungen eine weitgehende
Übereinstimmung erstrebt wird. Immer¬
hin sind die Grundsätze der Vorentschä¬
digung teilweise weiter gegangen als die
reichsgesetzlichen Bestimmungen über
die Feststellung des Kriegsschadens,
so daß nicht alle Schadensfälle, für
die Vorentschädigungen gegeben wer¬
den, auch gleichzeitig in diesem Um¬
fange festgestellte Kriegsschäden im
Sinne des Reichsgesetzes sind. Da¬
bei ist aber von Wichtigkeit daß
das reichsrechtliche Feststellungsver¬
fahren nicht alle Kriegsschadensfälle
festzustellen haben wird, denn die be¬
reits nach den preußischen Grundsätzen
endgültig durch Abfindung mit
den Geschädigten erledigten Schadens¬
fälle, d. h. solche, die unter 1500 Mark
bleiben, werden durch die reichsrecht¬
lich eingesetzten Behörden nicht von
neuem festgestellt und bleiben also auch
den späteren reichsrechtlichen Vorschrif-
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INDIANA UNIVERSITY
467 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 468
ten gegenüber erledigt In diesen Fäl¬
len ist die Vorentscbädigung zugleich
endgültige Kriegsentschädigung.
Die wichtigsten Grundsätze über das
Vorentschädigungsverfahren, soweit sie
die landwirtschaftlichen Kriegsschäden
betreffen, sind folgende:
Die Vorentschädigung geschieht unter
Anrechnung auf die dereinst zu gewäh¬
rende endgültige Entschädigung. Sie ist
ihrem Zwecke nach beschränkt auf das
zur Fortführung der landwirtschaft¬
lichen Betriebe und zur Beschaffung der
hierzu erforderlichen Geräte, Betriebs¬
mittel und Zubehörstücke notwendige
Maß. Es kann also aus der Vorentschä¬
digung nicht der Ersatz der verlorenen
Gegenstände schlechthin erfolgen, son¬
dern nur insoweit als der Ersatz not¬
wendig ist um die Fortführung des Be¬
triebes zu ermöglichen. Die Vorentschä¬
digung muß hinter dem vorläufig zu er¬
mittelnden Gesamtbeträge des Kriegs¬
schadens Zurückbleiben. Für die Höhe
des Sachschadens ist maßgebend der
Wert den die beschädigte oder zer¬
störte Sache vor dem Kriege gehabt hat
und zwar unter Berücksichtigung des
Alters und der Abnutzung (Zeit-Frie¬
denswert). Es wird also nicht der meist
höhere Wert berücksichtigt den die
Sache im Laufe des Krieges infolge der
Konjunktur erhalten hat sondern die
Feststellung des Schadens geschieht
nach dem Werte vor dem Kriege. Von
diesem Grundsätze sind nur einige be¬
stimmte Ausnahmen zugelassen. Han¬
delt es sich um Gegenstände, die erst
nach dem Ausbruch des Krieges (zu
Kriegspreisen) beschafft waren, und
zwar zu teureren Preisen als Friedens¬
preisen, und die dann beschädigt oder
vernichtet sind, so sind die tatsächlichen
Anschaffungspreise maßgebend. Diese
Bestimmung ist wichtig für die Entschä¬
digung im Kreise Memel, in den die Rus¬
sen erst einfielen, nachdem sie schon
fast einen Monat vorher aus der Provinz
dauernd vertrieben worden waren.
Die Ermittlung des Schadens und
seine vorläufige Feststellung (die end¬
gültige Feststellung erfolgt nach den
Vorschriften des Reichsgesetzes vom
3. Juli 1916) geschieht durch die Kriegs¬
hilfsausschüsse, die bei den Landrats-
ämtem der geschädigten Kreise — es
sind dies sämtliche Kreise der Provinz
mit Ausnahme von Fischhausen und
Mohrungen — gebildet werden. Bei die¬
sen hat der Geschädigte, d. h. wer die
Gefahr des zufälligen Unterganges der
Sache trägt, nach einem vorgeschriebe¬
nen Formular seinen Kriegsschaden an¬
zumelden und die Anträge auf Gewäh¬
rung von Vorentschädigung zu stellen.
Über diese Anträge hat sich der Kriegs¬
hilfsausschuß gutachtlich zu äußern. Die
Festsetzung der Vorentschädigung ge¬
schieht durch den Landrat, in einzelnen
Fällen (bei Beträgen über 5000 Mark)
durch den Regierungspräsidenten —
ausnahmsweise auf Grund der Genehmi¬
gung des Oberpräsidenten oder Regie¬
rungspräsidenten —, die Anweisung in
allen Fällen durch den Landrat Es wird
darauf Wert gelegt, daß die Vorentschä¬
digung in Natur durch Lieferung von
Zubehörstücken, Waren u. dgl. erfolgt
Wo Lieferung in Natur nicht möglich
ist, soll — in der Regel — der Geschä¬
digte eine Bescheinigung des Landrats
erhalten, daß Rechnungen für die be-
zeichneten Anschaffungen bis zur fest¬
gesetzten Höhe aus Staatsmitteln ge¬
zahlt werden.
Die Kriegshilfsausschüsse haben mög¬
lichst unter Zuziehung des Geschädig¬
ten, soweit erforderlich auf Grund ört¬
licher Verhandlung — sie sind auch zu
eidlichen Vernehmungen der Zeugen be¬
rechtigt —, ihr Gutachten über die Höhe
der Schäden abzugeben.
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Original frum
INDIANA UNIVERSITY
469 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen
470
Die Aufsicht über das ganze Vorent-
schädigungsgeschaft führt der Oberprä¬
sident. Er kann nach Anhörung der
Kriegshilfskommission oder ihrer Abtei¬
lungen einheitliche Schatzungsnormen
feststellen, die zwar für die Kriegshilfs¬
ausschüsse bei ihrer Begutachtung ma߬
gebend sind, nicht aber für die reichs¬
rechtliche endgültige Feststellung des
Kriegsschadens.
II.
Unter Berücksichtigung dieser grund¬
sätzlichen Bestimmungen ist die Ent¬
schädigung landwirtschaftlicher Scha¬
den vor sich gegangen. Die Feststellung
der Grundsätze im einzelnen ergab sich
aus der Praxis. Für eine große An¬
zahl von Einzelfallen hatte sich der
Oberpräsident die Entscheidung Vorbe¬
halten und war somit zu genauester
Kenntnis der Bedürfnisse der Landwirt¬
schaft gekommen. Im Verein mit der
Landwirtschaftskammer, mit dem Land¬
wirtschaftlichen Institut der Universität,
mit praktischen Landwirten wurden
durch einen besonderen sachverständi¬
gen Landwirt des Oberpräsidiums die
Grundsätze — Schätzungsnormen — be¬
raten, den Bezirksregierungen und der
Kriegshilfskommission vorgelegt und
schließlich von dem Staatsministerium
gebilligt Sie halten die Mitte zwischen
einer Entschädigung, wie sie im Fall der
Versicherung gegeben wird, und der
Entschädigung im Falle einer Enteig¬
nung.
Für die Feststellung der landwirt¬
schaftlichen Schäden insbesondere ist
vorgeschrieben, daß der Gegenstand des
Schadens nach Art, Zahl und Menge ge¬
nau dargelegt wird. Die Schätzungsnor-
men nehmen Bezug auf das Formular
zur Anmeldung der Kriegsschäden. Das
Formular sieht zunächst Schäden an Ge¬
bäuden vor, sodann Schäden an Liegen¬
schaften, Melioratkms- und sonstigen
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baulichen Anlagen, Zäunen und Dräna¬
gen. Für die Gebäudeschäden gelten be¬
sondere Grundsätze, auf die hier nicht
näher einzugehen ist Die Schäden an
Liegenschaften werden nach den allge¬
meinen Grundsätzen über beschädigte
Anlagen vorläufig ermittelt Es folgen
Schäden an Holzungen. Die vorläufige
Feststellung derartiger Schäden ist falls
sie über 1000 Mark ausmachen, durch
den Oberpräsidenten dem Forstamte
der Landwirtschaftskammer übertrag«!.
Sind die Schäden geringer, so erfolgt die
Abschätzung durch den Kriegshilfsaus¬
schuß. Für Garten - und Parkanlagen
sind besondere Sachverständige benannt
worden. Die Grundsätze über die Ent¬
schädigung sind auch hier keine ande¬
ren als sonst; insbesondere können Sel-
tenheits- und Schönheitswerte, die Lieb¬
haberwert sind, nur berücksichtigt wer¬
den, soweit durch Vernichtung oder Be¬
schädigung der gemeine Verkaufswert
des gesamten Grundstücks nachweislich
in erheblichem Maße vermindert wor¬
den ist
Die weiteren in dem Formular aufge¬
führten Schadensfälle beziehen sich auf
Getreide, auf totes und lebendes In¬
ventar.
Die Ermittlung der angesetzten Nor¬
malpreise zur Entschädigung für Feld¬
früchte ist keine willkürliche gewesen,
sondern beruht auf umfangreichen Be¬
rechnungen und Vergleichungen der in
Königsberg und sonst in der Provinz be¬
zahlten Preise. Da diese Preise nur
Höchstpreise sind, lassen sie einer dem
Einzelfalle angepaßten Bewertung aus¬
reichenden Spielraum. Was das le¬
bende Inventar betrifft so sind für die
verschiedenen Tierarten verschiedene
Nonnalwerte angesetzt Die Berechnung
der Normalwerte ist gleichfalls keine
willkürliche, sondern beruht auf ein¬
gehenden Ermittlungen der Statistik. Die
Original frn-m
INDIANA UNIVERSITY '
471
W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen
472
Entschädigung für lebendes Inventar
unterscheidet den Fall des Verlustes und
den der bloßen Wertverminderung der
Tiere. Bei dem Verluste ist für die Be¬
wertung der Tiere maßgebend das Ge¬
wicht Hierzu tritt die Bewertung der
besonderen werterhöhenden Eigenschaf¬
ten (Zuchtwert und Qualitätswert). Die
Berechnung geschieht danach so, daß
zunächst das Gewicht der Tiere nach
Zentnern ermittelt und zu dem sich hier¬
für ergebenden Preise ein Zuschlag für
Zucht- oder Qualitätswert hinzugerech-
net wird. Immer aber soll berücksich¬
tigt werden, daß Rinder, Schafe und
Schweine mindestens den Fleischwert
behalten, so daß ein Sinken unter diesen
nicht eintreten kann. Für die Bewertung
von Pferden sind besondere Bestimmun¬
gen absichtlich nicht gegeben. Es ist viel¬
mehr den Kriegshilfsausschüssen üb erlas¬
sen,den Wert derTiere richtig zu schätzen.
Da die staatliche Aktion nur diejeni¬
gen Schäden treffen soll, die die Pro¬
vinz allein infolge der Kriegsereignisse
erlitten hat, so konnten Seuchenschäden
nicht mitentschädigt werden. Zwar ist
es in der Provinz in sehr vielen Fällen
nicht möglich gewesen, an sich zulässige
Entschädigungsansprüche wegen Ver¬
lustes an Tierseuchen durchzuführen,
weil eine tierärztliche Feststellung der
Seuchen nicht hatte erfolgen können.
Aber die Schädigung durch einge¬
schleppte Tierseuchen ist nicht auf die
Provinz Ostpreußen beschränkt, und
deswegen war es nicht möglich, den Ver¬
lust durch die Seuchen als vorentschädi-
gungsberechtigten Kriegsschaden anzu¬
erkennen. Eine gewisse Abhilfe ist da¬
durch erreicht worden, daß die Provin¬
zialverwaltung in gewissen Fällen bei
Verlusten infolge von Maul- und Klauen¬
seuchen helfend eingreift, gleichwohl
bleibt eine Anzahl Seuchenfälle ohne
Entschädigung, die entschädigt worden
wären, falls der Einbruch der Russen
nicht stattgefunden hätte.
Durch die Flucht der Bevölkerung,
die Vernichtung und Wegschaffung des
Inventars ist es gekommen, daß in den
Kreisen Pr.-Eylau, Friedland, Gerdauen,
Königsberg, Labiau, Rastenburg, Weh-
lau und im Regierungsbezirke Gumbin¬
nen und Allenstein die Winterung auf
einer Fläche von 84000 ha nicht bestellt,
auf 144000 ha zu spät bestellt worden
ist, daß an Sommerung 32000 ha unbe¬
stellt geblieben sind, 152000 ha zu spät
bestellt sind. Infolge dieses Umstandes
ist der Acker schlechter geworden, ver¬
unkrautet und in seiner Struktur nach¬
teilig verändert, der Ertrag ausgeblieben
oder geringer geworden. Man hatte des¬
wegen die Verluste, die sich hieraus in
der Ernte 1915 zeigten, nach besonderen
Grundsätzen entschädigen wollen, aber
die Staatsregierung trug Bedenken,
diese Ernteverluste, da sie kein Sach¬
schaden sind, als entschädigungsberech¬
tigt anzuerkennen. Sie hat demgemäß
den Ausfall an der Ernte nicht als ent¬
schädigungsberechtigt anerkannt, wohl
aber die Wertverminderung, die die
Grundstücke dadurch erlitten haben, daß
sie wegen der auf dem feindlichen Ein¬
bruch beruhenden unterlassenen oder
beeinträchtigten Bestellung in schlechte¬
ren Kulturzustand gekommen oder ver¬
unkrautet sind (Feldinventarschäden).
Es wird demgemäß Kriegsschaden aner¬
kannt, wenn die Winterung zu spät be¬
stellt ist oder wenn der Boden vor Win¬
ter nicht gepflügt ist Die hierüber fest¬
gesetzten Grundsätze beruhen auf einer
ausführlichen Vergleichung der Ernte¬
statistik und besonderen Erhebungen,
die für die einzelnen Kreise gemacht
worden sind. Auf Grund der statisti¬
schen Unterlagen ist ferner der Wert der
Winterung auf den Morgen Land, und
zwar einheitlich für den einzelnen Kreis.
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Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
473 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 474
für die Kreise selbst aber in fünf Abstu¬
fung«!, verschieden festgestellt Er
schwankt zwischen 26 und 34 Mark, nach
der Güte des Bodens. Diese Beträge sind
aber nur Durchschnittsbeträge für den
einzelnen Kreis. Die Summe der für den
einzelnen Kreis verfügbaren Entschädi¬
gung — die gesamten Kosten werden
über 100 Millionen Mark betragen —
wird dadurch bestimmt daß die Zahl
der zu spät bestellten Morgen multipli¬
ziert wird mit dem feststehenden Durch¬
schnittssatze für den Morgen. Die Ent¬
schädigung des einzelnen Besitzers hat
der Kriegshilfsausschuß nach Lage des
Falles festzustellen, nur darf die Ge¬
samtsumme dieser Beträge nicht größer
sein als die Gesamtsumme der für den
Kreis ermittelten Entschädigungssumme.
Ergibt die Addition der einzelnen Ent¬
schädigungen mehr als die für den gan¬
zen Kreis verfügbare Gesamtsumme, so
müssen die einzelnen Entschädigungen
nötigenfalls prozentual herabgesetzt
werden. Der zweite Fall des als Kriegs¬
schaden anerkannten Feldinventarscha¬
dens liegt vor, wenn der Boden vor Win¬
ter nicht gepflügt ist Für die Entschä¬
digung ist auch hier dieselbe Gruppen¬
einteilung der Kreise vorgenommen und
der Durchschnittssatz in den Kreisen
einheitlich zwischen 30 und 50 Mark für
den Morgen festgesetzt Die Gesamtheit
der einzelnen Entschädigung darf auch
hier nicht größer sein, als das Gesamt¬
kontingent des Kreises (Produkt aus
dem Durchschnittsschadenssatz und der
Zahl der ungepflügten Morgen). Auf
diese Schäden an Feldinventar können
Vorentschädigungen gewährt werden.
Diese Entschädigungen umfassen zu¬
gleich die Entschädigung für den Er¬
werbsausfall durch das Ruhen des Be¬
triebes. Darüber hinaus kann den Land¬
wirten, deren Wohngebäude zerstört
waren und die sich deswegen haben an¬
derweit Unterkunft verschaffen müssen,
ein entsprechender Teilbetrag des Netto¬
mietwertes der eigenen Wohnung, ge¬
mäß der letzten Veranlagung zur Ein¬
kommensteuer, erstattet werden. Wei¬
tere Feldinventarschäden, insbesondere
Schäden aus der Ernte 1916, sind nicht
als Kriegsschaden anerkannt, sie sind
mit der Entschädigung für die Ver¬
schlechterung und Verunkrautung des
Bodens abgegolten. Eine Sonderbestim¬
mung besteht über die Betriebseinstel¬
lungen bei landwirtschaftlichen Neben¬
betrieben, als welche nur die Brenne¬
reien, Stärkefabriken, Trocknereien und
Molkereien gelten. Eine Betriebseinstel-
lung ist nicht als Kriegsschaden zu be¬
handeln, wenn das zu verarbeitende
Rohmaterial bereits anderweit entschä¬
digt oder sonst angemessen verwertet
ist Ist dies nicht der Fall, so kann der
Unterschied zwischen der tatsächlich er¬
möglichten und derjenigen Verwertung,
die ohne den feindlichen Einfall möglich
gewesen wäre, als Kriegsschaden behan¬
delt werden. Über die Gewährung von
Vorentschädigungen entscheiden im Ein¬
zelfalle die Minister. Hinsichtlich des
Konjunkturverlustes ist bestimmt, daß,
wenn die Verwertung der Kartoffeln aus
den im Winter 1914/15 geräumten Ge¬
bieten erst im Frühjahr 1915, und zwar
zu einem geringeren Preise als 3 Mark
für den Zentner, hat geschehen können,
die Differenz zu ersetzen ist Endlich ist
erwogen — die Entscheidung ist noch
nicht erfolgt —, zur Kontrolle darüber,
daß die Kriegsschäden nicht in einem
größeren Betrage festgestellt werden,
als die durch den Schaden hervorgeru¬
fene Wertverminderung des Gutes nebst
dem Verluste an Wirtschaftsreinertrag
beträgt für gewisse Fälle eine Gegen¬
rechnung durch Vergleichung der Guts¬
werte vor und nach dem schädigenden
Ereignisse anzuordnen.
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INDIANA UNfVERSITY
475 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 476
III.
Nach vorstehenden Grundsätzen ist
die Wiederherstellung der Landwirt¬
schaft durchgeführt worden. An Vor¬
entschädigungen sind bis Anfang Ok¬
tober 1916 zusammen 609 Millionen
Marie gegeben worden, von welcher
Summe ein erheblicher Teil der Land¬
wirtschaft zugute gekommen ist —
für lebendes Inventar allein in der
Zeit vom 1. Dezember 1914 bis 1915
97000000 Mark. Die Durchführung ist
erfolgt in dauerndem Zusammenarbei¬
ten des Staates, der Selbstverwaltungs¬
behörden und der Landwirtschaftskam¬
mer. Was diese in der Kriegszett für die
Provinz geleistet hat, ist in Heft 36 der
Arbeiten der Landwirtschaftskammer
dargelegt Auch die Denkschrift des
Staatsministeriums vom 28. Mai 1916
enthält die näheren Angaben darüber.
Um der Landwirtschaftskammer die Ar¬
beit zu ermöglichen, hat ihr der Staat
für Saatgetreide, Pferde, Zugochsen, Ge¬
schirre, Kraftpflüge insgesamt 30299000
Mark teils als Darlehn, teils als zins¬
freien Vorschuß zur Verfügung gestellt
von welcher Summe 29599000 Mark in
Anspruch genommen sind. Ein großer
Teil dieser Summe ist durch Verrech¬
nung auf Vorentschädigung dem Staate
wieder zugeführt worden. Der Erfolg der
Maßnahmen entsprach den Erwartungen
und hat sie übertroffen. Die Gewährung
der Vorentschädigung mußte sich in der
ersten Zeit der noch wechselnden mili¬
tärischen Lage anschließen, besonders
hinsichtlich der Besetzung der Weiden
mit Rindvieh, konnte aber allmählich
allen geschädigten Kreisen der Provinz
gleichmäßig zugute kommen.
Die Verluste der Provinz im einzel¬
nen betragen 186391 Stück Pferde. Die¬
der Verlust ist nicht vollständig wett¬
gemacht worden. Noch jetzt herrscht ein
starker Mangel an Arbeitspferden. Die
Pferde, die es der Landwirtschaftskam¬
mer einzuführen gelang (etwa 50000
Stüde), waren zum Teil von schlechter
Beschaffenheit Für die Erhaltung des
Pferdematerials war es von Wichtigkeit,
daß der Oberbefehlshaber den Handel
mit älteren als dreijährigen Pferden
untersagte. Besser hat sich die Wieder¬
besetzung der Provinz mit Vieh bewerk¬
stelligen lassen. Die Hochzuchten der
Pferde und des Rindviehes hatten unter
dem Russeneinfall schwer zu leiden ge¬
habt Man schätzt den Verlust an Stuten
auf ungefähr die Hälfte. Ein Ersatz ist
dadurch geschaffen, daß die Heeresver¬
waltung, auch nichtpreußischer Kon¬
tingente, der Landwirtschaftskammer
Zuchtstuten zur Verfügung stellte, um
sie an Züchter zu überweisen. Auf diese
Weise sind etwas über 4000 Stuten in die
Provinz gekommen, so daß die ostpreu¬
ßische Edelzucht für ihren Verlust in ge¬
wissem Umfange entschädigt ist Von
den Beständen der ostpreußischen Herd¬
buchgesellschaft sind etwa 35000 Stüde
erhalten geblieben. Der Ersatz geschah
aus den unbeschädigt gebliebenen Tei¬
len der Provinz und aus Friesland und
Holland. Schon vor dem Einfalle der
Russen hatte die Landwirtschaftskam¬
mer auf militärische Veranlassung Ma߬
nahmen zur Sicherung des Viehes ge¬
meinschaftlich mit der Militärverwal¬
tung getroffen. Von den geretteten Tie¬
ren wurden die für die Zucht wertvolle¬
ren ausgesondert in anderen Provinzen
untergestellt und nach Beseitigung der
Gefahr wieder in die Provinz zurückge¬
bracht und dort verteilt. Das übrige für
die Zucht nicht so wertvolle Vieh wurde
im Inlande verkauft Auch im November
1914 wurden auf militärische Anordnung
Sduitte zur Bergung des Viehes durch
die Landwirtschaftskammer unternom¬
men. Die Einlieferer des Viehes erhiel¬
ten Anerkenntnisse, nach denen der Be-
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INDIANA UNIVERSITY
477 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 478
sitzer berechtigt sein sollte, den Wert
des abgelieferten Viehes als Kriegsscha¬
den anzumelden. Die Verwertung ist
durch die Landwirtschaftskammer er¬
folgt Zwischen ihr und der Staatsregie¬
rung ist das Rechtsverhältnis aus die¬
sen Maßnahmen dahin geregelt worden,
daß der Schaden, den die Besitzer durch
Verlust des Viehes erleiden, als Kriegs¬
schaden anzusehen ist Auf diesen Scha¬
den werden Vorentschädigungen gegen
Abtretung der an die Kammer bestehen¬
den Ansprüche gegeben, die Kammer
dagegen überweist den Erlös aus der
Bergungsaktion abzüglich ihrer Un¬
kosten und vorbehaltlich privatrecht¬
licher Erstattungsansprüche dem Staate.
Von diesem sogenannten Bergungsvieh
hat die Kammer 7000 ausgesucht gute
Stücke wieder nach Preußen zurückge¬
schafft Sie hat ferner von anderer Seite
Vieh bezogen und auf diese Weise ins¬
gesamt etwa 43000 Stück Rindvieh wie¬
der in die Provinz hineingeführt Ins¬
besondere hat sie, um dem Pferdeman¬
gel einigermaßen abzuhelfen, eine große
Anzahl bayerischer Zugochsen in die
Provinz eingeführt Sie hat ferner etwa
17000 Schweine, 42000 Schafe, 1000 Zie¬
gen, 33000 Hühner, 5000 Gänse in die
Provinz eingeführt und unter die Land¬
wirte verteilen und verkaufen lassen.
Allein durch die Tätigkeit der Landwirt¬
schaftskammer ist der Vertust der Pro¬
vinz cm lebendem Inventar, der 872000
Stüde Vieh betrug, um 191000 Stück ver¬
ringert worden. Das Ergebnis der Vieh¬
zählungen vom Dezember 1912,1914 und
Oktober und Dezember 1915 ist in der
Denkschrift des Staatsministeriums ver¬
öffentlicht. Es zeigt sich, daß sowohl die
Zahl der viehhaltenden Haushaltungen,
der Pferde, des Rindviehs, der Schafe,
Schweine und Ziegen sich wieder in er¬
freulichem Aufschwünge befindet Im
einzelnen haben betragen im Bezirk
Königs¬
Gum¬
Allen¬
berg
binnen
stein
am 2.12.1912
die Zahl der
„ 1.12.1914
Vieh¬
„ 1.12.1915
haltungen
107659
93522
80100
89848
31021
39531
84610
73101
61325
Pferde
203384
161519
119354
172531
53782
71571
165011
124961
101036
Rindvieh
527700
396440
291264
552155
154845
196137
501111
302762
241234
Schafe
163972
78170
102427
124261
10116
49578
117170
42791
59177
Schweine
490 748
459170
283929
478395
191061
183127
420266
306718
197855
Ziegen
15807
9595
17606
13757
3578
11127
13108
6538
14817
In gleicher Weise hat die Landwirt¬
schaftskammer sich die Heranschaffung
von totem Inventar angelegen sein
lassen.
Da die Russen fast alles Leder und
sämtliche Geschirre, ferner fast sämt¬
liche Wagen und landwirtschaftliche
Maschinen vom kleinsten Pfluge bis zur
größten Dreschmaschine beschädigt oder
weggeschaft hatten, so übernahm es die
Landwirtschaftskammer, für Ersatz zu
sorgen. Es gelang ihr und der hiesigen
Maschinengenossenschaft größere Vor¬
räte von Maschinen zu sichern und auch
dem Mangel an Waren abzuhelfen.
Auch hat sie eine große Anzahl Ge¬
schirre beschafft die sie an die Land¬
wirte abgab. Im Verein mit der Kreis¬
verwaltung hat sie für die Sicherung des
zurückgelassenen Getreides und die
Vornahme der Druscharbeiten gesorgt.
Bei weitem die wichtigste Aufgabe aber
war es, die Frühjahrsbestellung zu er¬
möglichen. Auf den Antrag des Ober¬
präsidenten erging die Bundesratsver-
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479 W. v. Horn, Zur Wiederherstellung der Landwirtschaft in Ostpreußen 480
Ordnung vom 31. März 1915, derzufolge
die Bestellung verlassener Äcker oder
solcher Äcker, deren Eigentümer dazu
nicht imstande sind, durch die Behörde
gesichert werden kann. Diese Verord¬
nung hat sich so bewährt, daß sie dem¬
nächst auf das Jahr 1916 und neuerdings
auch auf das Jahr 1917 ausgedehnt wor¬
den ist Ferner wurde es den Flücht¬
lingen durch Bundesratsverordnung vom
31. März 1915 ermöglicht, die während
ihrer Flucht geschlossenen Verträge,
durch die sie außerhalb der Provinz fest¬
gehalten wurden, in erleichterter Form
zu kündigen, um in die Provinz Ostpreu¬
ßen zurückkehren zu können. Um den
Einwohnern jedoch einen besonderen
Anreiz zur Vornahme der Bestellungs¬
arbeiten zu geben und ihnen einen Er¬
satz für die besonders hohen Unkosten
zu gewähren, die die Bestellung der
Äcker bei dem Mangel an fast allen hier¬
zu notwendigen Gegenständen verur¬
sacht hatte, hat der Staat auf Antrag
des Oberpräsidenten eine Summe bis zu
30 Millionen Mark zur Verfügung ge¬
stellt, um in den vom November 1914
bis Februar 1915 besetzt gewesenen Lan¬
desteilen die Bestellung herbeizuführen.
Die Abgrenzung der zu prämiierenden
Fläche in den nicht völlig in Feindes¬
hand gebliebenen Kreisen war durch die
Stellung der deutschen Truppen ge¬
geben. Doch ist auch, freilich mit hal¬
ben Prämien, ein schmaler, hinter die¬
ser Linie zurückliegender Streifen in die
Prämienzone einbezogen, auch sind die
nur zeitweise besetzten, aber dauernd
gefährdet gewesenen Kreise Neidenbuig
und Orteisburg mit einer geringeren
Summe bedacht worden. Für den Mor¬
gen bestellten Landes wurden 25 und
12,50 Mark gezahlt, je nachdem das Land
in den Händen der Russen gewesen war
oder nicht. Diese Mittel (es sind etwa
19 Millionen Mark bisher verausgabt)
werden auf die Vorentschädigungen
nicht angerechnet, sondern sind eine
staatliche Anerkennung für den Eifer der
Bevölkerung. Trotz Fehlens von Vieh
und Pferd, Wohn- und Wirtschafts¬
gebäuden ist es hierdurch gelungen, in
den Grenzkreisen 800000 Morgen Land
zu bestellen. Die Feststellung, daß die
Bestellung ordnungsmäßig erfolgt war,
geschah durch besondere Bestellungs¬
kommissionen des Kreises. Zur Vor¬
nahme der Bestellung hat die Landwirt¬
schaftskammer die Beschaffung des
Saatgutes, fast 110000 Zentner, und die
des damals nur in geringer Menge er¬
hältlichen Düngers vermittelt Sie hat
mit dem ihr gewährten Staatskredit 128
Motor- und Dampfpflüge besorgt und an
die Besitzer zum Teil in Anrechnung der
Vorentschädigung, zum Teil unter gün¬
stigen Abzahlungsbedingungen Über¬
lassen. In welcher Weise sich die Mili¬
tärverwaltung an der Frühjahrsbestel¬
lung beteiligt hat ist bereits erwähnt
Da endlich die Heranschaffung der Fut¬
termittel sich zunächst nur mit Schwie¬
rigkeiten hatte vollziehen lassen, errich¬
tete die Landwirtschaftskammer im
Sommer 1915 selbst eine Futterstelle,
durch die sie zum Vorteil der Landwirt¬
schaft der Bezugsvereinigung deutscher
Landwirte gegenüber allein als Käuferin
auftritt und an die ihr angeschlossenen
Kommunalverbände die Futtermittel
verteilt
Das Ergebnis der staatlichen Wieder¬
herstellungsarbeit an der Landwirt¬
schaft ist das, daß man jetzt nur selten
einen Acker findet der noch nicht be¬
stellt ist
Ackerbau und Viehzucht sind somit
dank der großzügigen Tätigkeit des
Staates wieder in Aufschwung begrif¬
fen und die Provinz wieder in die Lage
gebracht ihren Anteil zu der Ernährung
des Reiches beizutragen. Auch auf die
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INDIANA UNIVERSITY
481
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
482
Wiederherstellung der Landwirtschaft
bezieht sich, was der Unterstaatssekre¬
tär Drews in der Sitzung der Kriegs¬
hilfskommission vom 6. Juli 1916 ausge¬
sprochen hat: es habe sich gezeigt daß
der Weg, der der Kommission und ihren
Mitgliedern gewiesen war, der richtige
gewesen sei, und daß die Beteiligten auf
ihrem Arbeitsgebiete erfolgreich mitge¬
wirkt hätten, des Königs Wort zu ver¬
wirklichen, daß neues, frisches Leben
aus den Ruinen erstehen solle.
Den Beteiligten aber ist der Lohn der
königliche Dank, der auch ihnen in der
an das Staatsministerium gerichteten Al¬
lerhöchsten Kabinettsorder vom 27. Mai
1916 ausgesprochen worden ist.
Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur.
Von Ph. Aronstein.*)
Neben dem großen Historiker Macau-
lay steht als Verherrlicher und Verfech¬
ter des Engländertums der Dichter Al¬
fred Tennyson, der wahre, echte
Poeta laureatus der herrschenden Klas¬
sen in England um die Mitte des 19. Jahr¬
hunderts. Tennyson hat in wohlklingen¬
den Versen die englische Freiheit ge¬
priesen, „die ehrbar gekleidete Freiheit,
die sich langsam nach unten erweitert
von Präzedenzfall zu Präzedenzfall".
Ihrer natürlichen langsamen Entwick¬
lung, bei der das Neue gleichsam in das
Alte hineinwächst, stellt er im Hinblick
auf das französische Freiheitsideal „die
Falschheit der Extreme“ und „die rohe
Hast, die Halbschwester der Verzöge¬
rung", gegenüber. 4 ) Den Entwicklungs¬
gedanken, der gerade damals in Darwin,
Huxley und Herbert Spencer seine grö߬
ten Vertreter hatte, überträgt der Dich¬
ter von der Natur auf das Staatliche und
sieht sein Wirken in der Entwicklung
des englischen Staatswesens, das nach
ihm naturgemäß, also vollkommen er-
*) Siehe Heft 3.
4) Vgl. hierzu namentlich die Gedichte
.You ask me why tho’ ill at ease“, ferner „Of
old sat Freedom on the heights“ und „Love
thou thy land with love far brought“... und
meinen Aufsatz in den Englischen Studien
XXVIII, 54 ff „Tennysons Welt und Lebens¬
anschauung“.
Internationale Monatsschrift
Digitized by Gougle
folgt ist. Man weiß aus Tennysons Le¬
ben, wie einseitig, ja beschränkt englisch
er war, ein verfeinerter, vergeistigter
Typus des lebensfrohen, breitschultri¬
gen, in seiner Beschränktheit glücklichen
englischen Landjunkers, den er so sym¬
pathisch geschildert hat. So finden wir
ihn auch überall als unbedingten Für¬
sprecher der englischen äußeren Poli¬
tik. Der Krimkrieg sogar begeistert ihn,
ohne daß er mehr als die Straßenpatrio-
ten von London und Liverpool nach sei¬
nen Gründen fragt, weil er in ihm eilten
Reiniger von Mammonsdienst und Mate¬
rialismus, von Krämergeist und schnö¬
der Selbstsucht zu sehen glaubt. Und
wie ein lauter Rufer im Streite Englands
mit anderen Nationen im vollen Sinne
des „right or wrong, my country“, so ist
er ein begeisterter Verfechter des Zu¬
sammenschlusses und der Organisation
des englischen Weltreiches, kurz ein Im¬
perialist vom reinsten Wasser.
Immerhin ist der Dichter Tennyson
doch nicht ein so ganz einseitiger Ver¬
treter englischer Selbstzufriedenheit wie
Macaulay. Mitunter findet auch die
Kehrseite des gepriesenen Fortschritts
in England, das Elend der Massen in der
ersten Blütezeit des Industrialismus und
der rücksichtslose Kampf ums Dasein
in seinen Versen eine scharfe Beleuch-
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Original fra-m
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483
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
484
tung. Der Blick für diese wenig erfreu¬
liche Seite der englischen Freiheit, na¬
mentlich auf wirtschaftlichem Gebiete,
war Tennyson und anderen seiner Zeit¬
genossen geschärft worden durch den
Einfluß des großen Schotten Tho¬
mas Carlyle.
III.
Es gibt wohl kaum einen größeren
Gegensatz in der Literatur wie den zwi¬
schen Macaulay und Carlyle. Macaulay,
obgleich ungeheuer belesen, wurzelt
doch mit seinen Grundanschauungen
ganz in der englischen Literatur, und
zwar der Literatur des 18. Jahrhunderts,
des Jahrhunderts der Kritik, des Skepti¬
zismus und der Verstandesklarheit. Car¬
lyle, der Nachkomme strenggläubiger
schottischer Kalvinisten, die den Finger
Gottes überall sahen, fand in der Litera¬
tur seines Landes keine Befriedigung und
wandte sich der deutschen Literatur und
Philosophie zu, besonders Kant, Fichte
und Goethe, mit welch letzterem er auch
in freundschaftliche Beziehungen trat.
Er drang in die deutsche Gedankenwelt
so tief ein und vermittelte diese Kennt¬
nis seinen Landsleuten durch Über¬
setzungen und kritische Schriften so
weit, als es ihm seine angeborene puri¬
tanische Lebensauffassung gestattete. 6 )
Hier fand er einen anderen Maßstab für
die Beurteilung von Menschen und Din¬
gen als den unmittelbaren praktischen
Nutzen; hier erschien das Vergängliche
nur von Wert als Symbol des Ewigen,
„der Gottheit lebendiges Kleid". Und
vom Standpunkte seines Idealismus, der
gewissermaßen eine Synthese des feu-
rigen Glau bens seiner Väter und des
5) Daß dies nur in beschränktem Maße
der Fall war, wie Leon Kellner in seiner
„Geschichte der englischen Literatur im Zeit¬
alter der Königin Victoria“ und auch S. Sänger
in einer besonderen Schrift gezeigt hat,
ändert an der Bedeutung des Goetheschen
Einflusses auf Carlyle nichts.
deutschen Transzendentalismus bildet,
ging er daran, teils gelegentlich, wie in
seinen literarischen und historischen
Schriften, teils verdeckt symbolisch, wie
in dem tiefsinnigen „Geflickten Flick¬
schneider", teils direkt, wie in den flam¬
menden Schriften „Chartismus", „Ver¬
gangenheit und Gegenwart" und „Flug¬
schriften jüngster Zeit“, die Zustände
und politischen Anschauungen in Eng¬
land zu beurteilen. Da erwies sich ihm
die vielgepriesene Freiheit, besonders in
ihrer Übertragung auf das wirtschaft¬
liche Leben, als Spiel von Angebot
und Nachfrage, für die großen Mas¬
sen der Bevölkerung als nichts als
die Freiheit, zu verhungern und roh
und unwissend zu sein, und das eng¬
lische Parlament, jener Gipfel mensch¬
licher Weisheit, hieß „der nationale
Schwatzklub", hervorgegangen aus den
Stimmen von „27 Millionen meistens
Narren", „die kondensierte Torheit der
Nation", nur dazu gut, möglichst ge¬
räuschvoll nichts zu tun und die Regie¬
rung abwechseln zu lassen „zwischen
dem Ehrenwerten FelixParvulus und dem
Sehr Ehrenwerten Felidssimus Null".
Auch der glorreiche Fortschritt erschien
weniger imponierend, als er in Macau-
lays tönenden Antithesen sich darbot,
wenn man fragte, wohin der Fortschritt
denn ging. Deshalb predigte Carlyle an
Stelle der alleinseligmachenden Demo¬
kratie die Herrschaft der Tüchtigen und
Besten, Heldenverehrung, Aristokratie,
wobei allerdings die Frage der Aus¬
wahl dieser „Besten" als große Schwie¬
rigkeit bleibt. Gegenüber der äußeren
Freiheit mit ihrem Mechanismus der
Wahlurnen und des Parlamentarismus
verkündet er die Lehre von der inneren
geistigen Freiheit, wie er sie bei Goethe
gelernt hatte, jener Freiheit, die keine
Verfassung und kein noch so gerechtes
Wahlrecht geben kann. Und dem be-
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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
480
quemen Glauben an die Segnungen des
freien Wettbewerbs, dem Laissez aller
der damals herrschenden manchester-
lichen Nationalökonomie, die die Augen
schloß vor dem Elende des Volkes,
stellte er die Notwendigkeit der Sorge
fflr die Schwachen entgegen. Mit seiner
gewaltigen Prophetenstimme und seiner
Kunst des Wortes hat er die Engländer
doch etwas aus ihrer Selbstzufrieden¬
heit, ihrem fröhlich-seichten Optimis¬
mus aufgerflttelt und das Dogma von
der Überlegenheit und Vortrefflichkeit
alles Englischen einigermaßen erschüt¬
tert Wir wissen, daß er das, was er in
England vermißte, nirgends so sehr
fand als in Deutschland. Er ist der ein¬
zige hervorragende Schriftsteller in
England, der nicht nur das Deutschland
Schillers und Goethes, Kants und Beet¬
hovens geschätzt hat sondern ebensosehr
das Deutschland des „preußischen Mili¬
tarismus“, das Deutschland des großen
Friedrich, dessen Leben er in zehn wie
ein Roman spannenden Bänden erzählt
hat Kaiser Wilhelms I., der ihm im
Jahre 1874 den Orden Pour le Mferite
verlieh, und Bismarcks, der ihn durch
ein Schreiben an seinem 80. Geburtstage
ehrte. Er glaubte an die Zukunft Deutsch¬
lands. „Seit alten Zeiten“, schrieb er im
September 1870 an Froude, „ist Deutsch¬
land die friedliebendste, frömmste und
stärkste und am meisten Respekt ein¬
flößende von allen Nationen gewesen.
Deutschland sollte Präsident von Europa
sein und wird auch dem Anschein nach
wieder auf fünf Jahrhunderte mit die¬
sem Amte betraut werden.“ Was würde
Carlyle wohl gesagt haben, wenn er den
jetzigen Krieg erlebt hätte!
Der realistische Roman in Eng¬
land um die Mitte des 19. Jahrhun¬
derts, ein Abkömmling des Romans des
18. Jahrhunderts, übt wie dieser ernste
nationale Selbstkritik, besonders in den
Werken seiner beiden größten Vertreter,
Dickens und Thackeray. Dickens war
von glühendem sozial-ethischem Pathos
erfüllt, ein warmherziger Anwalt des Vol¬
kes, dem er entsprossen, und ein scharfer
Ankläger der regierenden Klassen. Inden
Dienst dieser Sache stellte er mit Bewußt¬
sein sein großesTalent, seine mächtige Ge¬
staltungkraft, seine feine Beobachtung,
seinen erquickenden Humor und seine
ganze formlose, aber reiche Kunst. Den
Jammer der Privatschulen („Nicolas
Nickleby“ und „David Copper¬
field“), die Hartherzigkeit und Grau¬
samkeit manchesterlicher Armenpflege
(„Oliver Twist“ und „Our Mutual
F r i e n d“), desRechtesAuf schub („B1 e a k
H o u s e“), den Unfug bei den Parlaments¬
wahlen („Pickwick Papers“), die
Schäden der Krankenpflege („Martin
Chuzzlewit“), denBureaukratismusin
niederen und hohen Kreisen („Oliver
Twist“ und „Litt le Dorr it“) und man¬
ches andere hat er so wirksam geschil¬
dert, daß seine Darstellungen eine große,
oft direkt praktische Wirkung ausgeübt
haben. Die satirischen Gestalten, die
Bumble, Squeers, Creacle, Sarah Gamp
u. a., haben die englische Sprache und
die nationale Anschauung bereichert
Ein Denker, ein Philosoph war Dickens
allerdings nicht und über die Darstel¬
lung einzelner Mißstände ist er im all¬
gemeinen nicht hinausgegangen. Sein
Kampf gegen das nationale Laster der
Heuchelei, den „Cant“, trifft die Erschei¬
nungen desselben nur in dem Medium
der unteren Volksschichten, wenn wir
ihm auch die prächtige Gestalt eines
Pecksniff verdanken, seine Darstellung
der Aristokratie ist bloße Karikatur. Nur
hier und da hat er sich hierüber erhoben.
Unter dem Einflüsse der Ideen Carlyles
hat er die Hartherzigkeit der kaufmän¬
nischen und großindustriellen Kreise
und die freihändlerische Volkswirt-
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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
488
schaft, auf die sie sich stützte und die
sie nach englischer Art zum selbstver¬
ständlichen Naturgesetz erhoben, in
seinen im besten Sinne populären „Weih¬
nachtsmärchen“ und dem sozialen Ro¬
man „Harte Zeiten“ bloßgestellt, und
dann richtet sich seine Kritik, allerdings
erst in seinen letzten Werken, auch
gegen das festeste Bollwerk des Englän-
dertums, den nationalen Eigendünkel.
Sein Mr. Podsnap in „Our Mutual
Friend“ ist ein Typus jener „echt briti¬
schen Beschränktheit", von der Heine
spricht; er hält alle anderen Nationen,
abgesehen von dem Handel, aus dem er
sein Einkommen bezieht, für einen Feh¬
ler und pflegt von ihren Sitten kurz ab¬
weisend zu bemerken: „Nicht englisch,
womit sie mit einer Handbewegung und
einer plötzlichen Aufwallung aus der
Welt geschafft werden.“ Bezeichnend
ist es, daß das Kampflied des englischen
Chauvinismus oder „Jingoismus“, wie
die Engländer es nennen, Rule Britan-
nia, Dickens besonders verhaßt war, so
daß er sich oft über sein schwülstiges
Pathos lustig macht 6 )
Thackeray, Dickens’ Rivale als Ro¬
manschriftsteller, kommt diesem nicht
gleich an dichterischer Gestaltungskraft
an Reichtum und Fülle der Phantasie;
aber er ist philosophischer, ein tieferer
und feinerer Denker. Seine scharfe Sa¬
tire zerlegt die Dinge und Menschen mit
der harten, verständigen Klarheit jenes
18. Jahrhunderts, in dem er geistig zu
Hause war und das er in seinen histori¬
schen Romanen so wunderbar hat wie¬
der aufleben lassen. Und indem er mit
seinem scharfen Blicke die oberen
Schichten der englischen Gesellschaft
6) Vgl. hierober meine Dickens-Studien
und den Aufsatz „Dickens und Carlyle“ in der
Anglia XVIII, ferner Eckardt, Zur Charakte¬
ristik von Charles Dickens Germ. Rom.
Monatsschrift 1914.
beleuchtet, zunächst bekanntlich in der
ergötzlichen Maske des Kammerdieners
—er nennt ihn Yellowplush nach seinen
obligaten Beinkleidern —, legt er seine
Sonde an eins der Hauptlaster der eng- •
lischen und mehr oder weniger jeder
künstlichen Gesellschaft,, dem er den Na¬
men gegeben hat, die snobbery 6 *), das
Snobtum. „Derjenige, welcher ge¬
meine Dinge auf gemeine Weise bewun¬
dert, ist ein Snob“, lautet seine bekannte
Definition in dem „Buch von den Snobs“.
Diese gemeinen Dinge sind Rang und
Geld, und wie diese Verehrung, nament¬
lich die der erblichen aristokratischen
Kaste, die „Lordolatrie“, alle Schichten
der Gesellschaft durchzieht, ist ein
Hauptgegenstand seiner Satire und Ro¬
mane. Die Verehrung äußerlicher Dinge
entspringt dem Wesen einer Gesell¬
schaft, die zwar äußerlich unter freien
Formen lebt, aber innerlich unfrei ist,
weil ihr der absolute Maßstab für das
Sein und Handeln des Menschen fehlt,
weil sie den Idealismus einer in dem
Wesen der Dinge selbst verankerten An¬
schauung entbehrt und deshalb ganz
unter der Banne der Konvention, d. h.
eines aus mancherlei disparaten Elemen¬
ten, solchen des praktischen Nutzens,
der zufälligen Bedingungen des Daseins,
der Heuchelei zusammengesetzten Über¬
einkommens über das Erlaubte und Ver¬
botene steht England ist nicht umsonst
nicht bloß das Land ohne Musik, son¬
dern auch ohne Metaphysik.
Wenn in dieser Skizze, deren Gegen¬
stand die Darstellung der Selbstbespie¬
gelung des Engländertums in ihrer Lite¬
ratur und durch ihre Literatur ist, Voll¬
ständigkeit angestrebt würde, so könn¬
ten noch eine Reihe bedeutender Schrift¬
steller aus jener Zeit Erwähnung finden:
6a) Vgl. hierOber Dr. Kurt de Bora „Wert
und Wesen von Thackerays Snobsbuch**
Germ. Rom. M. 1915.
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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
490
Benjamin Disraeli besonders, der
spätere Lord Beaconsfield, der die Ent¬
stehung der englischen Verfassung und
ihr Wesen sehr verschieden von Macau-
• lay und originell, allerdings von einem
einseitigen Parteistandpunkte, darge¬
stellt hat in seinem Roman „Conings-
by oder das neue Geschlecht“
(1844), und der die soziale Frage unter
dem Einflüsse Carlyles vom sozialaristo-
kratischen Standpunkte behandelt in dem
bedeutenden Roman „Sybil oder die
beiden Nationen" (1845), ferner ein
anderer Schüler Carlyles, der vielseitige
Pfarrer Charles Kingsley, dessen
dichterisches Wirken beherrscht wird
von den Ideen des Christentums, eines
kampfesfrohen Protestantismus, der
Überlegenheit des Germanentums und
besonders von sozialen Bestrebungen
und der in „Alton Locke“ (1856) den
Roman des christlichen Sozialismus
geschaffen hat Dann Frauen, wie
Mrs. Gaskell (Mary Barton, 1848),
Charlotte Brontö (Shirley, (1849),
George Eliot (mit dem politischen
Roman „Felix Holt“, 1866), und noch
manche andere. Aber Vollständigkeit ist
hierbei weder möglich noch von Wert.
Es handelt sich vielmehr darum, die psy¬
chologische Entwicklung des nationalen
Lebensgefflhls in England in seinen
Hauptetappen zu verfolgen und in die¬
ser letzten kritischen Periode desselben,
die mit Carlyle beginnt die wichtigsten
Versuche des Engländertums in der Lite¬
ratur darzulegen, zu einer wirklichen
Selbsterkenntnis durchzudringen. Hier¬
bei ist von hervorragender Bedeutung
die Wirksamkeit Matthew Arnolds,
die, obgleich ganz verschieden, sich
etwa der Carlyles an die Seite stellt
Matthew Arnold’) (1822—1888)
7) Vgl. darüber meinen Aufsatz Ober
Matthew Arnold in der Zeitschrift für ver¬
gleichende Literaturgeschichte XV 3/5 1904.
ist wie Carlyle von der literarischen zur
Gesellschaftskritik fortgeschritten; er hat
auch wie dieser den Maß stab seiner Kritik
in dem deutschen Humanismus des 18
und des Anfangs des 19. Jahrhunderts ge¬
funden. Goethe war sein Lehrer, wie der
Carlyles; er nennt ihn „den klarsten,
breitesten, heilsamsten Denker der Neu¬
zeit". Daneben hat ihm Heine manche
Anregungen und Ideen gegeben, Heine,
der so scharf über die Engländer geur¬
teilt hat, nach M. Arnold „ein glän¬
zender und hervorragender Soldat im
Freiheitskriege der Menschheit“ und
„der bedeutendste Nachfolger Goethes
auf seinem bedeutendsten Tätigkeits¬
gebiete“. Im übrigen kann es keinen
größeren Gegensatz geben, als er be¬
steht zwischen Carlyle und M. Arnold.
Jener, der Sohn der schottischen Heide
und des schottischen strengen Kalvinis¬
mus, tritt wie ein Prophet auf und mahnt
mit Worten voll Feuer und Kraft zur
Buße und Einkehr, dieser, der Sohn
eines bedeutenden gelehrten Vaters, des
verdienstvollen Rektors von Rugby, ein
feinsinniger Dichter und Meister nach¬
empfindender scharfsinniger Kritik —
er hatte zuerst den Ehrgeiz, der eng¬
lische Sainte-Beuve zu werden — sucht,
indem er von literarischen Gegenstän¬
den zu religiösen, politischen und so¬
zialen Fragen übergeht, nicht mit don¬
nernder Scheltrede, sondern durch
ruhige Überredung und Milde auf seine
Leser zu wirken. Deshalb ist sein un¬
mittelbarer Einfluß auch weit geringer
gewesen als der des Propheten von
Ecclefechan. Dagegen hat er mittelbar,
indem er gleichgestimmte Geister an¬
regte, einen um so nachhaltigeren Ein¬
fluß ausgeübt Wir begegnen seinen
Ideen sehr oft in der englischen Lite¬
ratur der allemeuesten Zeit
Arnolds Gesellschaftskritik findet sich
gelegentlich in seinen Gedichten und
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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
492
Prosaschriften — ich erinnere besonders
an sein Gedicht „Heines Grab“, das die
oft zitierten, berühmten Verse über Eng¬
land, „den müden Titanen“, enthält, der
unter der atlantischen Last seines
Schicksals einherstolpert 8 ) —, im Zu¬
sammenhänge aber in einem eigenarti¬
gen und merkwürdigerweise wenig be¬
kannten und nie neugedruckten Buche,
das in nicht sehr ansprechender Form
— daher wohl sein geringer Erfolg
— wohl die gründlichste und
scharfsinnigste Kritik des Eng-
ländertums darstellt, die wir, wenig¬
stens von einem Engländer, besitzen. Es
heißt „Kultur und Anarchie“ und
erschien im Jahre 1869, als der alte man-
chesterliche Liberalismus, der Glaube an
die Segnungen unbedingter Freiheit im
politischen wie wirtschaftlichen Leben,
in England auf seiner Höhe stand. Dö¬
ing as one likes, „Tun, wie man
will“, so definiert Arnold die hochgeprie¬
sene persönliche Freiheit, die im Grunde
nichts anderes sei als das Vorrecht jedes
einzelnen, nach seinem eigenen Willen
oder dem seiner Klasse zu handeln, und
die über diesem zufälligen Selbst kein
höheres, besseres Selbst im Staate an¬
erkenne, sondern im Gegenteil den Staat
mit sich und seiner jeweiligen Klasse
gleichsetze. Die drei Klassen aber, in die
das englische Volk zerfällt, charakteri¬
siert er mit rücksichtsloser Schärfe des
Urteils als Barbaren, Philister und Pöbel.
Barbaren sind die Aristokraten, die
zwar den Sport, die Ausbildung des
Körpers, hochschätzen und äußerlich
feine Formen, aber keinen Sinn für gei-
8) Die bekannten Verse lauten: Yes, we
arraign her! but she — The weary Titan,
with dea! — Ears and Iabour — dimmed eyes
— Regarding neither to right — Nor left,
goes passively by—Staggering on to her goal.
— Bearing on shoulders immense — Atlan-
tean, the load, — Wellnigh not to be borne,
— Of the too vast orb of her late.
stige Dinge haben. Als Philister be¬
zeichnet er mit einem Heine entlehn¬
ten Ausdruck die große Mittelklasse
und definiert sie, auf den Ursprung des
Wortes zurückgehend, als hartnäckige
Gegner der Kinder des Lichts, Feinde
der Ideen und allein glaubend an me¬
chanische Methoden zur Erreichung
äußerlicher Ziele. Pöbel nennt er end¬
lich — sehr undemokratisch—die Arbei¬
terklasse, die in Armut und Roheit da¬
hinlebe mit dem einzigen Vorrecht zu
tun, was sie wolle, ohne doch zu
wissen, was sie wolle. Allen aber ist
nach Arnold gemeinsam eine besondere
Form des Atheismus, nämlich der
Unglaube an die Macht der Vernunft
des besseren Selbst und gewissermaßen
als Ergänzung, Korrelat dieses Unglau¬
bens, ein Quietismus, d. h. die An¬
sicht daß das Richtige von selbst zur
Geltung komme, sich durchsetze durch
den Zusammenstoß und die Wechsel¬
wirkung der Äußerungen unserer ge¬
wöhnlichen Natur. Daß dies aber keines¬
wegs der Fall ist zeigt Arnold auf dem
Gebiete, auf dem er Fachmann war —
er war Schulinspektor und hat viel für
die Entwicklung des englischen Schul¬
wesens getan —, indem er die englischen
Unterrichtsmethoden und -erfolge mit
den preußischen vergleicht. So kommt
Arnold zu dem Schlüsse, daß die Eng¬
länder wohl die äußere persönliche Frei¬
heit besitzen, aber nicht innerlich
frei sind. Sie betrachten die Dinge
eben allein vom praktischen Stand¬
punkte, sehen nur auf den unmittelbaren
Nutzen und erreichen daher auch nur,
was sich auf diesem Wege erreichen
läßt Er zitiert einmal einen Ausspruch
Goethes, der diese Eigenschaft treffend
charakterisiert: „Alle Engländer sind als
solche ohne eigentliche Reflexion; die
Zerstreuung und der Parteigeist lassen
sie zu keiner ruhigen Ausbildung kom-
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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
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men. Aber sie sind groß als praktische
Menschen“ (Oespr. mit Eckermann,
24. 6. 1825). — Ein Heilmittel für diesen
kurzsichtigen Geist ist nach Arnold das
Streben nach „Kultur“. Als Methode,
diese zu erreichen, empfiehlt er mit einem
von ihm geprägten Scherzworte, das
Swifts „Bücherschlacht“ entlehnt ist,
„Süßigkeit und Licht“, Süßigkeit (sweet-
ness) im Gegensätze zu der Schärfe, Bit¬
terkeit und Brutalität des Parteikamp¬
fes, und „Licht“, d. h. Geist, Intelligenz,
um die Enge und Dunkelheit des Lebens
zu erhellen. Kultur aber ist, wie Arnold
sie definiert, Bildung im weitesten Sinne
des Wortes, d. h. das Streben, über die
Dinge, die uns angehen, das Beste, was
in der Welt gesagt oder gedacht worden
ist, zu wissen und durch dieses Wissen
Leben und Denken zu befruchten, die
Dinge nicht mehr bloß vom Standpunkte
des praktischen Nutzens und durch die
Parteibrille zu betrachten, sondern von
der hohen Warte der Vernunft, der Idee.
Arnold bezeichnet dies auch als „hel-
lenisieren“, indem er, wiederum im An¬
schlüsse an Heinesche Ideen, dem „Hel¬
lenismus“, der die Ausbildung aller
Kräfte des Menschen lehrt, den „Hebra-
ismus“ gegenüberstellt, der nur das Mo¬
ralische gelten läßt. Vertreter der letz¬
teren Richtung sind nach ihm die Puri¬
taner und ihre Nachfolger, die frommen
Sekten der Methodisten, Baptisten usw.,
und ihrer Enge und Beschränktheit gilt
besonders sein Kampf, wie der so man¬
cher der besten englischen Schriftsteller
der Neuzeit.
IV.
Die allemeueste Literatur, die der
Schriftsteller der Gegenwart, ist natür¬
lich in beträchtlichem Maße ein Ver¬
such nationaler Selbsterkenntnis, Kritik
und bewußte Selbstbespiegelung des
eigenen Volkstums. Daß diese oft zur
Selbstverherrlichung wird, kann im
Zeitalter des englischen Imperialismus
nicht überraschen. Patriotischer Stolz
durchglüht die Abenteuerromane Ro¬
bert Louis Stevensons wie die
Dichtungen von Henry Newbolt und
William Henly und wird zum einsei¬
tigsten, ausschweifendsten Nationalis¬
mus bei Rudyard Kipling, in dessen
Gedichte alle Motive des englischen Na¬
tionalstolzes vereinigt und auf die
Spitze getrieben erscheinen. Ihm ist
England nicht bloß die welterobernde
Macht, die Mutter der Nationen, die von
Gott bestimmte Herrscherin über „die
freien Meere“, die die niederen Rassen
zum Lichte führen soll, sondern auch
das auserwählte Land und Volk im
Sinne des Puritanismus und des bibli¬
schen Judentums. Die verengende Wir¬
kung dieses der allgemein menschlichen
Grundlage entbehrenden Nationalismus
zeigt sich bei Kipling in den letzten Jah¬
ren in einem Erstarren seines Talentes
und während des Krieges in der unglaub¬
lichen Roheit der Äußerungen, durch die
er sich selbst entehrt hat.
„Was England braucht, ist nicht Lob¬
preisung, sondern Warnung“, sagt ein
englischer Kritiker bei Gelegenheit einer
Besprechung Kiplings, und daran hat die
Literatur, die dem Kriege unmittelbar
voranging, es keineswegs fehlen lassen.
Unter den Schriften dieser Art betrach¬
ten wir zuerst einige der bedeutendsten
Produkte des zeitgenössischen Romans,
der der Tradition des englischen Romans
von Fielding und Smollett bis zu
Dickens und Thackeray folgend, das
englische Volk in seinen verschiede¬
nen Schichten darzustellen versucht.
Unter den Schriftstellern dieser Gattung
sind die erfolgreichsten Arnold Ben-
nett, H. G. Wells und John Gals-
worthy.
Arnold Bennett hat in seinen
wirklich guten Romanen — er hat auch
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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
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dem Sensationsbedürfnisse der Masse
gedient, wie in „The Grand Babylon
Hotel“ und ähnlichen Geschichten —
einen engen Kreis des Lebens mit einer
Gründlichkeit dargestellt, die an Har-
dy s Wessex-Romane erinnert. Es ist die
kleinbürgerliche Gesellschaft in der Hei¬
mat des Schriftstellers, dem Töpferei¬
bezirk von Nord-Staffordshire, den sog.
„Potteries“ oder „fünf Städten“. Er
führt diese vor in ihrem alltäglichen
Tun und Leiden mit dem feinen psycho¬
logischen Verständnis, das der Sym¬
pathie entspringt. Seine Kritik ist dis¬
kret und zurückhaltend und darum um
so wirksamer. Die Menschen, die hier
dahinleben in eintöniger Erwerbsarbeit,
weder den Tag genießend noch dem Le¬
ben einen wirklichen Inhalt und Zweck
zu geben verstehend, sind der Typus
jenes Philistertums, welches Arnold be¬
kämpft. Es ist eine stickige Luft in die¬
sem Milieu, wie in einer dunkeln Woh¬
nung hinter einem alten Laden. Geld¬
erwerb und Klatsch in der Woche, eine
aszetisch freudlose Religion und als
geistige Nahrung Sonntagsschulen und
Bibelklassen an den langweiligen Sonn¬
tagen füllen das Leben aus, aber die
Menschen fühlen sich wohl in dieser
dumpfen Atmosphäre und stellen sich
jedem Versuche, die frische Luft der
großen Welt und ihrer Kämpfe und
Ideen in ihre gettoartige Abgeschlos¬
senheit hineinzulassen, feindlich gegen¬
über. Aus den Anstrengungen der jun¬
gen Generation, hinauszugelangen aus
dieser Enge und Dumpfheit, und den
Kämpfen, die sich hieraus ergeben und
die meist mit dem Siege der Alten oder
höchstens einem Kompromiß endigen,
entsteht die fast immer sehr eintönige
und wenig bedeutende Handlung der
Romane Bennetts.
H. G. Wells ist vielseitiger, schär¬
fer, satirischer als Bennett tritt mehr
mit seiner Persönlichkeit hervor, will
nicht bloß Künstler, sondern eine Art
allgemeiner Volks- und Mensdiheits-
berater sein. Er hat mit phantastischen
Romanen im Stile Jules Vemes begon¬
nen, die aber mit dem Ausspinnen
irgendeiner wissenschaftlichen Phanta¬
sie die Tendenz verbinden, die Wirklich¬
keit gewissermaßen in Verzerrung, wie
in einem Hohlspiegel, zu zeigen und
irgendeine Seite derselben durch solche
Vergrößerung satirisch zu charakterisie¬
ren. Aber er hat sich dann auch in
Büchern wie „Kipps“, „Tono-Bun-
gay* u. a. der unmittelbaren Darstel¬
lung der Wirklichkeit zugewandt. Und
er schildert das Kleinbürgertum in sei¬
ner Enge, seiner geistigen Gebundenheit,
der Dumpfheit und Einförmigkeit seiner
Existenz ähnlich wie Bennett, nur in
einem etwas anderen Milieu, dem der
kleinen Städte im Südosten von England
und Londons, und dann natürlich mit
einer anderen persönlichen Note. Es ist
eine trübe Welt, in die er uns einführt
Welch ein Humbug, welch eine Ver¬
sündigung an der heranwachsenden
Menschheit ist die Privatschule, die
Kipps besucht anspruchsvoll „Caven-
dish Academy“ genannt — alles Schwin¬
del, Reklame, hohler Schein. Wenn sie
ein Typus vieler Schulen ist auf denen
das Kleinbürgertum seine Bildung sucht
— und sie ist es —, so hat England seit
Dickens’ „Dotheboys Hall“ in „N i c o 1 a s
Ni ekle by“, abgesehen von der huma¬
neren Behandlung, keine Fortschritte ge¬
macht Die Schule aber erklärt die Be¬
schränktheit und Unwissenheit der brei¬
ten Mittelklassen in England, die jedem,
der dort eine Zeitlang gelebt hat auf¬
fällt Hiervon gibt das Bäckerhaus in
Chatham, wo George Ponderevo, der Er¬
zähler von „Tono-Bungay“, Lehrling
ist, ein Bild. Welch freudloses Hindäm¬
mern zwischen harter Arbeit und einer
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selbstgerechten, lieblosen Religiosität,
welche Häßlichkeit und erstickende
Gettoatmosphäre hier in dem freien
Englandl Fürwahr, man sieht, von wie
geringem Werte die Freiheit, zu tun,
was sie wollen, für die ist, die innerlich
unfrei sind! 9 )
Wells hat seine Ideen über Dinge und
Menschen auch in direkter Form dar-
gelegt in einer Reihe von Aufsätzen, die
unter dem Titel „An Englishman
looks at the world“, „Die Weltan¬
schauung eines Engländers“, gesammelt
sind und ein besonderes Interesse bieten,
weil sie kurz vor dem jetzigen Kriege
und zum Teil in Vorahnung desselben
geschrieben sind. Der Grundgedanke
dieser Aufsätze, die sich zum Teil mit
der Zukunft von England beschäftigen,
ist die Klage über den Mangel an gei¬
stiger Regsamkeit in seinem Vaterlande,
an jener „von Kritik geleiteten Phanta¬
sie“, die das Kennzeichen hervorragen¬
der Arbeit ist Bezeichnenderweise stellt
er gerade Deutschland seinen Lands¬
leuten als Muster vor. „Wir sind in
hohem Grade eifersüchtig auf Deutsch¬
land, nicht nur, weil die Deutschen zahl¬
reicher sind als wir und ein größeres,
abwechslungsreicheres Land besitzen,
sondern auch, weil in den letzten hun¬
dert Jahren, während wir von Platthei¬
ten und Eitelkeit gelebt haben, sie die
Energie und die Demut gehabt haben,
ein ausgezeichnetes System der natio¬
nalen Erziehung zu entwickeln, in Wis¬
senschaft, Kunst und Literatur zu schaf¬
fen, eine soziale Organisation aufzu¬
bauen und über uns hinauszuklettem
auf der Stufenleiter der Zivilisation.“
Von der höheren englischen Erziehung
in den vielgerühmten „öffentlichen Schu-
9) Ober Kipps und Tono-Bungay vgl.
auch den Aufsatz von Bernard Fehr. „Das
heutige England im Lichte englischer Litera¬
tur“ im Aprilheft 1916 dieser Zeitschrift.
len“, wie Eton und Harrow, sagt er, daß
sie nur Philister hervorbringe, engher¬
zige, vorurteilsvolle Leute mit nicht
mehr geistigen Interessen als ein Tisch¬
ler und Schreiber, und weshalb? — weil
die Lehrer selbst Philister ohne Persön¬
lichkeit seien, Menschen ohne selbstän¬
diges Denken, von denen man nur ver¬
lange, daß sie nie einen Gehrock zusam¬
men mit einem Filzhut trügen, aus guter
Familie stammten, nicht an dem Apo¬
stolischen Glaubensbekenntnis zweifel¬
ten und nie durch sozialistische Meinun¬
gen oder sonstige Verstöße gegen die
Regel Anstoß erregt hätten. Interessant
ist besonders auch, daß Wells für den be¬
vorstehenden Seekrieg statt der Dread¬
noughts Unterseeboote, Torpedoboote,
Torpedozerstörer und Luftschiffe emp¬
fiehlt. Hierfür aber, meint er, fehle es
den Engländern an schöpferischer Fähig¬
keit, sie seien in allen geistigen und
technischen Dingen rückständig und
überschätzten gutes Betragen, körper¬
liche Gesundheit und die gewöhnlichen
Tugenden der Mittelmäßigkeit. Die Frei¬
heit des Engländers ist eben vorzugs¬
weise äußerlich; innerlich ist er unfrei,
gebunden durch die Fessel einer Kon¬
vention, die tiefer in das Leben des ein¬
zelnen einschneidet und es enger be¬
schränkt, als je ein Staatswille es ver¬
mag.
John Galsworthy, auch als Pro¬
blemdramatiker erfolgreich, hat in sei¬
nen Romanen die sog. „obere Mittel¬
klasse“, das Großbürgertum, sich als
Vorwurf genommen und stellt dies mit
psychologischer Vertiefung dar. Sein
erster Roman, „The Man of Proper¬
ty“, spielt in London in einer weitver¬
zweigten Großkaufmannsfamilie, die als
Typus der ganzen Gesellschaftsschicht
hingestellt wird. Ein unerschütterlicher
starker Egoismus und ein angeborener
Sinn für Besitz, sowie als Kehrseite die-
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Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
500
ser Grundeigenschaften die Abneigung
und Unfähigkeit, sich irgendeiner Sache,
Kunst, Wissenschaft, Literatur, dem
Staatswohle, ganz hinzugeben, eine
Sache um ihrer selbst willen zu treiben,
was wir als Vorzug deutscher Art be¬
trachten, kurz, sachlich in höherem Sinne
zu sein — das charakterisiert nach Gals-
worthy diese Kreise. Sie sind energisch,
solide, halten fest am Erworbenen und
eng zusammen, die übrige Welt, beson¬
ders die Nichtbesitzenden, schroff ab¬
lehnend. Ihr Leben ist im allgemeinen
streng nach der Konvention geregelt,
Geschäft und Vergnügen, Ehe und Er¬
ziehung, die ganze Existenz von der Ge¬
burt bis zum Testament und Tode.
Manchmal aber kommt es doch anders,
wie so oft im Leben. Die Liebe führt
einen Außenseiter, eine stolze, eigen¬
willige Künstlernatur, in diese Kreise,
oder sie reißt ein Mitglied derselben her¬
aus, kurz, mischt die Karten des Lebens¬
spiels anders, als Konvention und Sitte
es wollen. Dann entsteht Kampf und
Leid und auch herbe Tragik.
Eine andere Studie Galsworthys —
seine Romane haben die Geschlossenheit
und Klarheit psychologischer Studien,
die einen Grundgedanken durchführen
— „Das Landhaus", hat die Darstel¬
lung der ländlichen Grundbesitzer, des
englischen Junkertums, wie wir sagen
würden, zum Gegenstände. Die Schilde¬
rung atmet feine Ironie und ist von einer
gewissen Milde durchwärmt, wie ja
auch die Gesellschaft dieser Land¬
besitzer sympathischer ist als das Groß-
kaufmannstum in den Städten. Auch
hier beherrscht die Konvention das Le¬
ben, aber eine durch unvordenkliche Tra¬
dition gefestigte, die nichts außer sich
kennt und anerkennt Das Glaubens¬
bekenntnis des Besitzers des Landhauses
lautet: „Ich glaube an meinen Vater und
dessen Vater und seines Vaters Vater,
die Mehrer und Bewahrer meines Be¬
sitzes. Und ich glaube, daß wir das
Land gemacht haben und es erhalten
werden, wie es ist Und ich glaube an
die .öffentlichen Schulen* und besonders
an die, auf der ich gewesen bin. Und ich
glaube an diejenigen, die mir gesell¬
schaftlich gleichstehen, und an das
Landhaus, und an die Dinge, wie sie
sind, in alle Ewigkeit Amen." Ein ehr¬
würdiger Edelrost liegt auf dem ganzen
Leben im Landhaus, der regelmäßigen
Geschäftigkeit der Tage mit ihren klei¬
nen, ruhigen Sorgen und Pflichten, denn
man betreibt die Landwirtschaft ja nicht
als Erwerb, sondern als Luxus, da man
für sein Einkommen nicht darauf ange¬
wiesen ist und hat im übrigen irgend¬
eine harmlose Liebhaberei, sammelt Vö¬
gel, Bilder, Rosen, alte Möbel, Me߬
bücher und ähnliches, und ebenso auf
der feierlichen Ruhe des „Sabbat", an
dem der Gutsherr mit der Familie zur
bestimmten Stunde zur Kirche geht sei¬
nen Ehrenplatz einnimmt mit Selbst¬
bewußtsein den sonntäglichen Bibeltext
vor seinen Pächtern liest und dann der
Predigt des Pfarrers zuhört der wie er
stramm und fest auf dem Boden des Be¬
stehenden steht konservativ, intolerant
gegen alles Neue, energisch, eigensinnig,
beschränkt und wohlwollend wie er.
Auch hier stört allerdings die Natur
durch die Leidenschaft dann und wann
den regelmäßigen Lauf des Daseins und
ruft Konflikte hervor, und hartköpfige
Idealisten, unpoetische Shelleys, der ja
auch aus solch einem Milieu stammte,
zerbrechen sich den Kopf an dem Be¬
stehenden. Am Ende bleibt aber alles
immer beim alten; Neues findet nur
schwer und sehr, sehr allmählich Ein¬
gang.
Galsworthy hat auch versucht seine
Studien von Stadt und Land zu einem
Gesamtbilde zu vereinigen in einem Ro-
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501
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
502
man mit dem bezeichnenden Titel „Die
Insel-Pharisäer“. Das Buch ist als
Kunstwerk unerfreulich, eine Reihe loser
Skizzen, ohne rechte Handlung und in¬
teressante Charaktere; die Satire, die
Tendenz hat wie so oft die Kunst ertötet
Aber es ist um so interessanter als Do¬
kument englischer Selbstkritik. Nach
Galsworthy ist der Grundcharakter der
englischen Gesellschaft ein unwahrer
Konventionalismus, eine äußerliche Kul¬
tur von Körperpflege, Sport und Bädern
unter Verzicht auf jeden inneren Indivi¬
dualismus, auf wirkliche Freiheit. Be¬
schränktheit und Unduldsamkeit der
Ansichten und Unselbständigkeit des
Urteils sind das Kennzeichen der Aka¬
demiker und Geistlichen, namentlich wo
die sexuelle Moral in Frage steht. „Wir
denken so viel daran, was unsere Mit¬
menschen denken, daß wir Oberhaupt
nicht mehr denken,“ heißt es einmal.
Zivilisation ist vor allem Selbstbeherr¬
schung, nie Leidenschaft, Begeisterung
oder Aufregung zu zeigen. Und das Hä߬
liche und Traurige im Leben sieht man
eben nicht, weil man es nicht sehen
wilL So verfließt das Leben dieser
Glücklichen, dieser Götter der Gesell¬
schaft in ungetrübter Heiterkeit, äußer¬
lich wenigstens, aber im Wesen ist alles
unoriginell, nachgemacht, konventionell,
„keusch, diskret, abgeleitet, praktisch
und behaglich“, wie die Bilder und die
Zimmereinrichtungen. Man beschäftigt
sich wohl auch mit den Armen, besucht
das Ostende von London und die Hütten
der Tagelöhner, aber man betreibt das
wie einen Sport, eine Liebhaberei, und
wundert sich dann, wie undankbar doch
die Armen sind. In Wirklichkeit kennt
man nur sich und seine Klasse, und die
ganze Moral, eine Art „kultivierter Bru¬
talität“, hat die Selbstbehauptung die¬
ser Klasse zum Zweck. An die gerühmte
Kulturmission Englands, wie sie Kipling
etwa in seinem Gedichte „The white
man’s bürden“, „Die Aufgabe des
weißen Mannes“, besingt, glaubt Gals¬
worthy nicht. Man kann Nationen
nicht von außen beglücken, ihnen eine
fremde Kultur auferlegen: alles, was
man darüber sagt, ist nur „cant“, Heu¬
chelei. — Man sieht, wie die englische
Selbstgefälligkeit, der Glaube an die
Überlegenheit alles Englischen, hier an¬
gegriffen wird. Galsworthys Bücher, die
offenbar von M. Arnolds Ideen sehr be¬
einflußt sind, sind ein Symptom des Ein¬
tritts des englischen nationalen Lebens¬
gefühls aus der Periode des Dogmatis¬
mus, der unbedingten Selbstbejahung, in
die der Kritik, des Zweifels. Ein englischer
Politiker, C. F. G. Masterman, der in
in einem bekannten Buche über „Die
Lage von England“ Galsworthy meh¬
rere Seiten widmet, meint, daß man eben
die Dinge nehmen müsse, wie sie seien,
mit Zweifeln komme man zu nichts, ge¬
winne keine Siege, untergrabe nur die
Energie usf. Das ist alles richtig. Aber
wenn nun die Erkenntnis doch den Zwei¬
fel bringt und den Glauben an die eigene
Vortrefflichkeit untergräbt, was hilft es
da, die Augen zu schließen und sich mit
Unwahrheiten und Halbwahrheiten zu
täuschen? Das ist die Frage, die Gals¬
worthy in seinem ausgezeichneten Buche
seinen Landsleuten vorlegt. Die Ant¬
wort ist inzwischen schon von der Welt¬
geschichte sehr deutlich erteilt worden.
Die eben genannten drei Roman¬
schriftsteller, Bennett, Wells, Gals¬
worthy, sind Engländer und fühlen sich
als solche. Es mögen zum Schlüsse noch
zwei hervorragende Schriftsteller zu
Worte kommen, die ähnlich wie Swift
und Goldsmith ihren Standpunkt mehr
oder weniger außerhalb des englischen
Volkstums im engeren Sinne nehmen,
George Meredith und Bernard
Shaw.
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503
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
504
George Meredith, der Meister des
psychologischen Romans und, wenn
auch als Künstler ungleich und oft dun¬
kel und schwer verständlich, sicherlich
der gehaltvollste und tiefste unter den
Schriftstellern Englands vom Ende des
19. Jahrhunderts — er ist 1909 gestor¬
ben —, war irischer und wallisischer
Abstammung, wenn auch in England ge¬
boren. Er hat, was wohl auch zur Frei¬
heit seines Urteils in nationalen Fragen
beigetragen hat, eine nichtenglische,
und zwar deutsche Erziehung genossen;
bis zum 15. Jahre besuchte er die Schule
der Mährischen BrQder in Neuwied.
Seine Romane, wie seine Gedichte üben
scharfe Kritik an dem englischen Volke,
dem Rangstolze und der Rücksichts¬
losigkeit der Aristokratie wie der geisti¬
gen Stumpfheit, dem Mangel an Einbil¬
dungskraft und dem Materialismus der
wohlhabenden Mittelklasse. Er zeigt, so
besonders in seinem einzigen politischen
Romane, „Beauchamp’s Career“,
wie in England die Stimmung abwech¬
selt zwischen einer satten Selbstzufrie¬
denheit und Bewunderung englischen
Reichtums, Handels, der „wunderbaren
Presse" und der Verfassung, die als
„der Gipfel praktischen menschlichen
Scharfsinns" gepriesen wird, und einer
würdelosen Panik und Angst vor frem¬
der Invasion. Er hat in seinem letzten
nachgelassenen Werke, „Celt and
Saxon“ (1910), mit Geist und Scharf¬
sinn das Symbol des Engländertums,
welches Arbuthnot vor 200 Jahren ge¬
schaffen hat, die geheiligte Gestalt John
Bulls, besonders vom Standpunkte des
idealistisch gestimmten Kelten und
Dichters angegriffen. Die Gedanken, die
er hier ausspricht, wären eines näheren
Eingehens wert Meredith möchte an
Stelle des feisten John Bull gerne „eine
prächtige, glutäugige, mütterliche Bri-
tannia" als Sinnbild Englands sehen.
Daß aber John Bull heute noch das Feld
unumstritten behauptet, erklärt sich
doch wohl daraus, daß er die hervor¬
stechendsten Eigenschaften des engli¬
schen Volkes, seinen starken Eigenwil¬
len und Eigensinn, seinen Mangel an
Reflexion, von dem ja schon Goethe
spricht (s. o.), und seine Abneigung
gegen den Idealismus so treu verkörpert.
Nur daß die Geschichte, wenn sie einer¬
seits der Willenskraft dieses Typus ein
volles Ausleben geschenkt hat andrer¬
seits doch auch die Beschränkungen des¬
selben den klügeren Geistern im engli¬
schen Volke mehr und mehr deutlich vor
Augen geführt hat.
Bernard Shaw ist ein außerordent¬
lich freier Geist, einer, der, wie Carlyle
es ausdrückt, „alle Formeln verschluckt
hat" (has swallowed all formulas). „Ich
bin eine Krähe,“ sagt er einmal von sich
(„Antonius and Cleopatra, Preface“), „die
hinter vielen Pflügen hergegangen ist.
Ohne Zweifel komme ich denen außer¬
ordentlich gescheit vor, die nicht hun¬
grig und neugierig auf den Feldern der
Philosophie, der Politik und Kunst
herumgehopst sind." Schopenhauer,
Nietzsche, Ibsen und Wagner hat er in
sich aufgenommen, und seine Kritik des
Lebens, die Soziales und Politisches, das
Verhältnis der Geschlechter und die mo¬
ralische Wertung der Handlungen, Hel¬
dentum, Aszetik, Patriotismus, Justiz be¬
handelt, ist sehr originell und antikon¬
ventionell, antiorthodox, ja oft mit Be¬
wußtsein paradox. Besonders dem eng¬
lischen Volkstum steht er, der englische
Schriftsteller irischer Abkunft, ganz frei
gegenüber. „Ich betrachte niemals einen
Engländer als meinen Landsmann," sagt
er von sich in der Vorrede zu dem
Drama „John Bulls andere Insel"
(1904), das die nationale Frage behan¬
delt. Allerdings faßt er zum Unter¬
schiede von Meredith die Verschieden-
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505
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
506
heit von Engländertum und Irländertum
nicht als eine der Rasse auf. „Es gibt
keine irische Rasse,“ meint er, „so wenig,
wie es eine englische oder Yankee-Rasse
gibt“ Vielmehr drückt nach ihm das
irische Klima jedem Einwohner des Lan¬
des sofort sein Gepräge auf, und dieses
natürliche Klima wird durch das künst¬
liche wirtschaftliche verstärkt Wenn er
sich einen Iren nennt so versteht er
darunter einen, der die Sprache Swifts
spricht und nicht „das unsägliche Kau¬
derwelsch der Londoner Zeitungen um
die Mitte des 19. Jahrhunderts.“ Die
sog. „gälische Bewegung“, die sich an
Yeats, Synge und George Moore knüpft
und die fast ausgestorbene irische
Sprache wieder auferwecken will, hält
er für eine bloße romantische Spie¬
lerei.
Seine Gegenüberstellung des Iren und
Engländers in der 1906 verfaßten Vor¬
rede zu dem genannten Drama — seine
Vorreden sind bekanntlich literarisch
nicht weniger von Bedeutung als die
Dramen selbst — erscheint außerordent¬
lich paradox . „Der Engländer“, sagt er,
„ist vollständig im Banne seiner Einbil¬
dungskraft, da er keinen Sinn für die
Realitäten des Lebens hat, der Ire mit
einer viel feineren und wählerischeren
Einbildungskraft hat immer auch ein
Auge auf die Dinge, wie sie sind, gerich¬
tet“ Er illustriert diese paradox erschei¬
nende Behauptung in noch paradoxerer
Weise durch die Gegenüberstellung
der Darstellung des britischen Sol¬
daten in Thomas Moores idealisiertem
„Jungen Spielmann" („The minstrel-
boy to the war is gone“) und in Kip¬
lings „quasi-realistischen“ „Drei Solda¬
ten“. Und doch liegt in dieser Para¬
doxie etwas Richtiges, insofern als die
Idealisierung der inneren Wahrheit der
Dinge näher kommt als die realistische
Kunst die sie in den Zufälligkeiten
ihrer äußeren Erscheinung abzukonter-
feien versucht. Ist nicht z. B. Schillers
„Jungfrau von Orleans“ trotz der Verge¬
waltigung des überlieferten Historischen
eine innerlich wahre Gestalt? Shaw fin¬
det denselben nationalen Unterschied in
dem Charakter zweier nationaler Hel¬
den. des Irländers Wellington und des
Engländers Nelson, welch letzteren er
einen Theaterhelden nennt der von
Ruhmsucht und Patriotismus berauscht
und voll von englischem Vorurteil sei.
Geistige Trägheit ist nach ihm die cha¬
rakteristische Eigenschaft des Englän¬
ders; Willenskraft Energie erscheint
diesem als die Hauptsache im Leben,
während er der Intelligenz mißtraut und
sentimentale Dummheit bewundert. Den
Grund für diese „englische Dummheit"
sieht Shaw in der begünstigten Lage
Englands, die den Engländern gestatte,
sich im Vertrauen auf ihre Macht und
ihr Geld mit Schein und Rhetorik zu be¬
gnügen, während der Ire darauf ange¬
wiesen sei, mit den Waffen des Geistes
gegen „das langsame Gewissen“ und die
„schnellen Angstanfälle“ John Bulls zu
kämpfen. Nach dieser schneidenden
Charakteristik gibt Shaw noch ein akten¬
mäßig belegtes Beispiel der Methoden
englischer Völkerbeglückung aus der
Verwaltung Lord Cromers in Ägypten,
„die Schrecken von Denshawai“, wel¬
ches zeigt, wie die Engländer im angeb¬
lichen Interesse der Ordnung unterwor¬
fene Völker mit Brutalität und despoti¬
scher Willkür tyrannisieren.
Und nun zu dem Drama selbst. Zwei
Zivilingenieure, die Besitzer eines gut¬
gehenden Geschäftes, Lorenz Doyle, ein
Ire, und Thomas Broadbent, ein Englän¬
der, reisen geschäftlich nach Irland in
die Heimat Doyles, das stille Örtchen
Roscullen, das dieser seit 18 Jahren nicht
gesehen hat, und in dem sein Vater noch
lebt und die Jugendgeliebte, die „Erbin“
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507
Ph. Aronstein, Die Selbstkritik der Engländer in ihrer Literatur
508
des Orts mit 50 Pfund Sterling Einkom¬
men, auf ihn wartet Wir lernen die
Haupttypen in dem irischen Städtchen
kennen, das abergläubische, unwissende
niedere Volk, kleine Bauern, die ein Le¬
ben harter Arbeit und mannigfacher
Unterdrückung eng und zähe gemacht
hat, den Priester, der klug alle be¬
herrscht und leitet die Ortshonoratio¬
ren, die in stolzer Dürftigkeit ein ein¬
töniges Leben verbringen, und als Typus
irischer Träumerei einen exkommuni¬
zierten Priester, der, eine Art Franziscus
von Assisi, sich eins fühlt mit aller Krea¬
tur, in idealen Träumen dahinlebt und
unter der Maske einer angenommenen
Verrücktheit den Leuten bittere Wahr¬
heiten sagt. In dieses Örtchen mit sei¬
nem ereignislosen Traumleben, dessen
Symbol ein alter verfallener Turm ist
kommt der energische Engländer hinein,
wie ein rasendes Automobil in die wack¬
ligen kleinen Hütten eines Dörfchens.
Und merkwürdig: obgleich er nichts wie
hohle Phrasen vorbringt und keine Spur
von Verständnis für Land und Leute
zeigt ja sich nach Möglichkeit lächer¬
lich macht gewinnt er die schüchtern¬
stolze Jugendgeliebte Doyles zur Frau,
wird als Parlamentskandidat aufgestellt
und legt die Grundlagen zu einem Plane,
das abgelegene Örtchen zu einem Mittel¬
punkte des Fremdenverkehrs zu machen
mit einem lärmenden Hotel und dem
unentbehrlichen Golfspielplatze für das
Wodienende der Londoner. So werden
Fortschritt und Geschäft in das traum¬
verlorene Städtchen einziehen, wobei
allerdings die kleinen Existenzen, die bis
dahin zufrieden dahingelebt haben, mit¬
leidlos geopfert werden. „Die englische
Dummheit“ und der englische Wille
haben wieder einmal gesiegt, nicht ohne
die Segnung der hochtönenden morali¬
schen Phrase. „Ich fühle jetzt mehr als
je zuvor, daß ich recht daran tue, mein
Leben der Sache Irlands zu weihen.
Kommen Sie und helfen Sie mir, den
Platz für das Hotel zu wählen!“ — mit
diesen Worten Broadbents, die in epi¬
grammatischer Schärfe jene eigentüm¬
liche Mischung von Geschäft und Hu¬
manität, wirklichem Mammonsdienst
und einer unverbindlichen Verbeugung
vor den Idealen kennzeichnen, welche
das Engländertum ausmacht, endet das
Drama.
V.
Mit den beiden Äußerungen von
Meredith und Shaw, die uns bis an die
Schwelle des Weltkrieges führen, schlie¬
ßen wir unsere Betrachtung. Über¬
blicken wir noch einmal den von Shake¬
speare bis Shaw durchlaufenen Weg.
Die kraftvolle innere Selbstbejahung des
englischen Volkes, die ihre Nahrung aus
Quellen der äußeren Macht wie des inne¬
ren Wohlergehens, der Größe des Staa¬
tes und der Freiheit des einzelnen saugt
und eine Weihe in dem Bewußtsein einer
religiösen Auserwähltheit findet, wird
unter dem Einflüsse der Ideen und Er¬
eignisse der Französischen Revolution
bewußt dogmatisch. Sie sucht für ihr
besonderes Sein, ihre Auffassung des
Verhältnisses des einzelnen zu Staat und
Gesellschaft die Gründe in dem Wesen
des staatlichen Lebens selbst, dieses
historisch gewordene und mit vielen Zu¬
fälligkeiten behaftete Sein und sein Wer¬
den zur Norm und zum Ideal des Staates
erhebend, darin etwas Natumotwendiges
sehend. Und sie findet für diesen Glau¬
ben nicht bloß in England selbst, son¬
dern auch bei fremden Völkern einen
fruchtbaren Boden. Die Kritik, die geübt
wird — und es fehlt nicht daran —, rüt¬
telt nicht an den Grundlagen dieses
nationalen Lebensgefühls. Dann aber
kommt im 19. Jahrhundert der Zweifel,
angeregt einerseits durch die gesell¬
schaftliche Entwicklung unter der Herr-
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Nachrichten und Mitteilungen
510
Schaft des Industrialismus, andererseits sondern auf einer unbewußten inneren
besonders durch die Bekanntschaft mit Eigenart, dem Mangel einer im Wesen
deutschem Idealismus. Und dieser Zwei- und in der ewigen Wahrheit der Dinge
fei, der immer weiter um sich greift und fest verankerten idealen Grundlage. (Als
immer tiefer gräbt, findet beredten Aus- „sincere cant“, aufrichtige Heuchelei,
druck in einer politisch-sozialen Litera- bezeichnet dies schon Carlyle.) Und
tur, deren Spitzen Carlyle und Matthew hier stoßen wir auf den großen Grund-
Arnold sind, und in der Spiegelung und mangel des Engländertums. Der bei-
Kritik des Lebens, wie sie in dem Haupt- spiellose, der Gunst der Umstände und
zweige der produktiven Literatur, dem der nationalen Energie verdankte Fort-
Roman, geübt wird. Am Schlüsse die- schritt Englands in den letzten Jahrhun-
ser Entwicklung stehen jene beiden be- derten ist erkauft worden um den Preis
deutenden Männer aus dem Ausgange des Mangels an jener Innerlichkeit, jener
des 19. Jahrhunderts, der vor wenigen wirklichen Menschheitskultur, die sich
Jahren verstorbene Dichter und Psycho- nicht auf praktischen Bedürfnissen, son-
loge Meredith, der in seinem letzten dem auf den tiefsten und innersten Be-
Werke das geheiligte Symbol des Eng- dürfnissen des strebenden Menschengei'
ländertums psychologisch zerpflückt stes aufbaut Die Erkenntnis dieses Man-
und seine Unzulänglichkeit dartut da- gels bei vielen der geistigen Führer der
bei den Standpunkt des Kelten einneh- Nation ist gewiß ein Schritt wenn auch
mend und seine idealistischen Bedürf- nur der erste, auf dem Wege zur Hebung
nisse vertretend, und der jetzt 60 jährige desselben. Der Zweifel schadet zwar der
Bemard Shaw, der dem Engländertum Seele, wie Wolfram von Eschenbach
mit der vollen Unabhängigkeit des Iren sagt aber wo er einem unverzagten
gegenübersteht. Die Formel, die er für Manne nahe tritt kann dieser doch selig
das englische Wesen in den letzten Wor- werden. Und was von dem einzelnen
ten seines Dramas findet, zeigt uns als gilt gilt auch von den Völkern. Ob die
Kem desselben die Vereinigung eines Erfahrungen des jetzigen großen, durch
energischen, rücksichtslosen Geschäfts- Englands Mitschuld entfachten Welt¬
geistes mit der Pflege der humanitären krieges die dazu nötige Einkehr auch bei
Phrase, eine Vereinigung, die um so dem englischen Volke bringen werden
merkwürdiger und fester ist als sie kei- — das ist eine der großen Fragen der
neswegs auf bewußter Heuchelei beruht Zukunft
Nachrichten und Mitteilungen.
Reymont, W. S., Die polnischen Bauern. Exemplare als Rezensionsexemplare ver-
Berechtigte Obersetzung von Jean Paul sandt habe, das in 84 Zeitungen mit größ-
d’Ardeschah. 4 Bände. Jena 1912. Eugen ter Anerkennung besprochen sei — im ersten
Diederichs. Jahre nach dem Erscheinen nur 94 Exem-
Das vorliegende Buch ist schon einige plare verkauft wurden. Wir seien heute,
Jahre vor dem Kriege erschienen, ohne daß folgerte er daraus, so abgehetzt und ober¬
es in Deutschland Beachtung gefunden flächlich geworden, daß wir uns vor einem
hätte. Der Verleger ließ kurze Zeit vor dem vierbändigen Roman fQrchten. Insbeson-
Kriege einen Klageruf hinausgehen Ober die dere hätte auch die ostdeutsche Presse ver-
Oberflächlichkeit des deutschen Lesepubli- sagt: .ich warte auf sämtliche Blätter in
kiints, und er begründete ihn damit, daß Breslau, Posen und Königsberg, daß sie
vom vorliegenden Buch, von dem er 700 ihren Lesern erzählen, ein Werk der Welt-
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511
Nachrichten und Mitteilungen
512
literatur sei ihnen endlich zugänglich, das
ihnen das Seelenleben ihrer polnischen Mit¬
bürger so nahe bringe, wie es eben nur
die Kunst tun könne und nicht ein politi¬
scher Leitartikel.“
In dieser letzten Bemerkung des Ver¬
legers liegt viel Wahres, aber man kann
bezweifeln, daß dieser Appell genützt hätte,
wenn nicht der Krieg gewaltsam die Auf¬
merksamkeit Deutschlands auf Polen hin¬
gelenkt hätte. Heute muß man den, der
das einfache polnische Volk näher kennen
lernen will, in erster Linie — schon der
vorzüglichen Übersetzung, aber mehr noch
des Inhalts wegen — auf das Werk Rey-
monts hinweisen, und deshalb sei es hier
nachträglich noch kurz angezeigt. Wtadisiaw
Stanislaw Reymont (geb. 1868) ist einer der
besten unter den jüngeren polnischen Ro¬
manschriftstellern; mit Vorliebe hat er so¬
ziale Stoffe behandelt und sich dabei stets
auf die Seite des armen Volkes gestellt;
er ist auch unmittelbar aus dem Bauern¬
tum hervorgegangen. Diese Herkunft aus
dem einfachen Volk und den Zug zu ihm
teilt er nun ja mit mehreren jüngeren pol¬
nischen Dichtern; ich erinnere daran, daß
sich Männer wie Tetmajer und Rydel so¬
gar mit Bauemtöchtem verheirateten; aber
Reymont zeichnet sich aus durch eine be¬
sonders feine Beobachtungsgabe. Das gilt
namentlich von den „Chtopcy“, den «Bau¬
ern“. Es ist ein Volksepos; eine breite,
aber sprachlich und darstellerisch wunder¬
schöne Schilderung des Lebens, Denkens
und Fühlens der polnischen Bauern im rus¬
sischen Anteil, so, wie sie sich meines
Wissens sonst nirgends findet Es ist viel¬
leicht das Meisterstück des Dichters. Die
„Handlung“ (die Schicksale einer Dorf¬
schönen, Jagna, die den Vater heiratet, den
Sohn liebt und durch ihre Leidenschaftlich¬
keit allmählich immer tiefer hinabsinkt) ist
in den ersten beiden Bänden noch leidlich
straff; in den beiden letzten verläuft die
Schilderung typisch slawisch ganz ins Breite.
Um so mehr tritt der eigentliche Mittel¬
punkt des Epos, das ganze Dorf, in den
Vordergrund, und die Mächte, die das Dorf
bewegen: das Gefühl enger Zusammenge¬
hörigkeit, verbunden mit dem demokrati¬
schen Prinzip der Selbsthilfe, das das Dorf
geschlossen den Kampf mit dem Gutshof
um seinen Waldbesitz aufnehraen und auch,
zur Wahrung des Rechts, vor Gewalt nicht
zurückschrecken läßt; die absolute Natur-
gebundenheit des polnischen Bauern (die
Verflechtung der Schilderung in die Jahres¬
zeiten gehört zu den größten künstlerischen
Reizen der Dichtung; namentlich im dritten
Bande, dem „Frühling“, der „Vorerntezeit“,
die für den polnischen Bauer immer mit
Entbehrungen verknüpft ist, tritt das her¬
vor, aber auch sonst in vielen Einzelheiten);
weiter der instinktive Haß gegen die deut¬
schen Ansiedler; ferner tauchen in dem
Roman, der noch vor der großen russischen
Revolution geschrieben ist, schon Zeichen
der neuen Zeit auf; bei aller Unterwürfig¬
keit finden sich schon politisch-demokrati¬
sche Tendenzen und Anfänge von Auf¬
sässigkeit, die sich ganz charakteristisch
gegen die russische Schulpolitik richten:
bekanntlich sind gerade dadurch die pol¬
nischen Bauern im russischen Anteil auf-
gerüttelt worden. Dies letztere tritt, wie
gesagt, erst in*den letzten beiden Bänden
und mehr episodisch hervor. Sonst aber
schildert das Epos im wesentlichen das
russisch-polnische Dorf vor der Politisie¬
rung, die etwa in den 90er Jahren beginnt,
mit seinem vegetativen Dahinleben, seinen
Gewohnheiten, seiner Sinnlichkeit, die
hauptsächlich in der Gestalt der Jagna
verkörpert ist, seinen sonstigen Freuden
(Tanz und Schnaps) und seiner Abhängig¬
keit vonjallen Naturereignissen. Das Ganze
ist ein prächtiges Gemälde von erstaun¬
licher Anschaulichkeit und Naturtreue und
gewährt allerdings einen einzigartigen Ein¬
blick in das Seelenleben der polnischen
Bauern.
Die Übersetzung ist ausgezeichnet ge¬
lungen und in sprachlicher Hinsicht viel¬
mehr eine Neudichtung als eine Überset¬
zung zu nennen; von der wundervollen
Sprache Reymonts gibt auch die deutsche
Übersetzung eine deutliche Vorstellung.
Außerdem hat der Übersetzer eine gehalt¬
volle Einleitung, die gut in das Verständ¬
nis der Dichtung einführt, dem Werk vor-
ausgeschickt. — Möchte die deutsche Über¬
setzung während und nach dem Kriege
die Leser finden, die ihr vor dem Kriege
versagt geblieben sind.
Dr. E. Zechlin.
FOr die SdirlfUeltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellus, Berlin W30, LuitpoldstraBe 4.
Druck von B.O.Teubner ln Leipzig.
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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
11. JAHRGANG HEFT 5 1. FEBRUAR 1917
Die Denkschrift des preußischen Kultusministeriums
über die Förderung der Auslandsstudien.*)
Die Aufgaben.
Die Auslandskunde gehört im Rah¬
men der verschiedensten Wissenszweige
seit Entstehung der modernen Wissen¬
schaft zu den Aufgaben der deutschen
Bildungsstätten, vor allem der Univer¬
sitäten. Namen wie Humboldt, Savigny,
Ranke, Ritter und Bopp sind dessen
Zeuge. Im Rahmen des Unterrichts trat
die Berücksichtigung des Auslands
gegenüber den nationalen Aufgaben
der Universitäten naturgemäß zurück,
Kenntnis des Auslands wurde aber bei
der gerade in Deutschland stets aner¬
kannten Unbegrenztheit der Wissen¬
schaft von Gelehrten wie Behörden ge¬
pflegt Solange Preußen und dann das
Reich eine kontinentale Großmacht war,
lag nur ein geringes staatliches Bedürf¬
nis vor, diesen Studiengebieten ein ande¬
res als wissenschaftliches Interesse ent-
gegenzubringen. Erst mit dem Hinein¬
wachsen Deutschlands in die weltwirt¬
schaftlichen und weltpolitischen Zusam¬
menhänge rückten die Auslandsstudien
ans der Sphäre der Wissenschaft ent¬
scheidend in die der praktischen staat¬
lichen Bedürfnisse. Wie der Staat an
seinen Universitäten nicht nur Gelehrte,
sondern namentlich auch Beamte erzo¬
gen wissen wollte, brauchte er jetzt
auch Auslandskundige, und zwar zu¬
nächst ein ständig wachsendes Personal
für den auswärtigen Dienst mit beson-
derer Vorbi ldung, wie Dragomane und
*) Haus der Abgeordneten 22. Legislatur¬
periode. IV. Session 1916/17. Nr. 388.
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Gck igle
Kolonialbeamte, dann gut vorgebildete
Pioniere des Deutschtums im Ausland,
schließlich immer stärker nicht mehr nur
binnenländisch, sondern auch weltpo¬
litisch gebildete Staatsbürger
überhaupt
Mit der Entwicklung der staatlichen
Bedürfnisse hat die Organisation der
Auslandsstudien annähernd Schritt ge¬
halten. In Geschichte, Geographie, Phi¬
lologie, Staats- und Naturwissenschaf¬
ten ist die Kunde des Auslands immer
stärker gepflegt worden, und auch für
die Ausbildung von Auslandsbeamten
sind besondere Einrichtungen getroffen.
Aber immer mehr drängt sich der Ge¬
danke auf: Auslandskenntnisse sind bei
einem Weltvolk nicht nur das Rüstzeug
für Auslandsbeamte und Auslandsinter¬
essenten, sondern ein unentbehrlicher
Bestandteil der nationalen Bil¬
dung.
Geschichtlicher Rückblick.
Die besondere Förderung der im
Staatsinteresse notwendig werdenden
Schulung für das Ausland beginnt mit
der Begründung des Seminars für Orien¬
talische Sprachen an der Universität
Berlin im Jahre 1887. Diese wichtige
Anstalt hat nun schon über 25 Jahre zur
Zufriedenheit der Behörden und des Pu¬
blikums gewirkt Eine große Zahl her¬
vorragender Beamter des Auswärtigen
wie des Kolonialdienstes sind aus ihr
hervorgegangen. Bei langsamer Erwei¬
terung schien das Seminar für Orienta-
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Denkschrift aber die Förderung der Auslandsstudien
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lische Sprachen als „Orientalische und
Kolonial-Akademie“ berechtigten An¬
sprüchen zu genügen. Erst die politi¬
schen Ereignisse des neuen Jahrhun¬
derts und die immer stärkere Verflech¬
tung Deutschlands in die Weltwirtschaft
stellten die Frage der Auslandsstudien
auf eine breitere Basis. Die am 1. Mai
1908 in Kraft tretenden neuen Bestim¬
mungen über den Eintritt in den diplo¬
matischen Dienst des Reiches und die
im gleichen Jahre erfolgende Begrün¬
dung des Hamburgischen Kolonialinsti¬
tuts, dessen Schöpfer den Begriff des
Kolonialen im weitesten Sinne des Wor¬
tes verstanden, sind Zeichen der verän¬
derten Sachlage, mit der sich von da ab
die Öffentlichkeit ohne Unterbrechung
beschäftigte. Vom Jahre 1913 an be¬
gannen auch die Volksvertretungen der
Frage der Auslandsstudien näherzutre¬
ten. Der Reichstag ersuchte den Reichs¬
kanzler um Vorlage einer Denkschrift
über den Ausbau des Seminars für
Orientalische Sprachen zu einer Deut¬
schen Auslandshochschule und hat die¬
sen Wunsch im folgenden Jahre wieder¬
holt
In Preußen hatte sich das Kultusmini¬
sterium sowohl vom Standpunkt der
allgemeinen Wissenschaft wie im Inter¬
esse einer deutschen Kulturpolitik im
Ausland und des akademischen Unter¬
richts in der Heimat schon lange mit
dem Gegenstand beschäftigt Hierauf
gestützt konnte der Kultusminister, als
es am 24. Februar 1914 auch im Land¬
tage zu einer ersten anregungsreichen
Aussprache über die Auslandsstudien
kam, bereits zu den verschiedenen Sei¬
ten des vielgestaltigen Problems näher
Stellung nehmen und die leitenden Ge¬
danken skizzieren, die in der vorliegen¬
den Denkschrift eine nähere Ausfüh¬
rung finden. In seinen Darlegungen
(Protokoll der Budgetkommission des
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Abgeordnetenhauses, 17. Sitzung) wür¬
digte der Kultusminister zunächst die
Aufgaben der nationalen Kulturpolitik,
um dann für unser Versagen auf die¬
sem Gebiet die binnenländische Orien¬
tierung unserer Bildung verantwortlich
zu machen. „Der Gedanke, in unserem
akademischen Leben Einrichtungen zu
schaffen, welche zum gründlichen Stu¬
dium des Auslandes Gelegenheit bieten
und damit die studierende Jugend in
ganz anderer Weise als bisher auf die
Beschäftigung mit ausländischen Ein¬
richtungen und auf die Betätigung in .
überseeischen Ländern hinzuweisen, er¬
scheine daher voller Beachtung wert.“
Es handele sich dabei nicht nur um das
Studium fremder Sprachen, sondern der
gesamten fremden Kulturverhältnisse.
„In solchem Umfange gefaßt, gehe die
Aufgabe über das Orientalische Semi¬
nar, sosehr es sich für die praktische
Schulung zum unmittelbaren Auslands¬
dienst bewährt habe, weit hinaus. Es er¬
scheine überhaupt ausgeschlossen, daß
eine besondere Anstalt als Auslands¬
hochschule sie zur Durchführung zu
bringen vermöchte. Ihre Verwirklichung
wäre vielmehr im Rahmen unserer Uni¬
versitäten zu suchen, die zu allen Zei¬
ten Brennpunkte unserer nationalen Bil¬
dung gewesen seien.“ Die Frage sei
aber im einzelnen noch nicht genügend
geklärt, so daß er sich weitere Prüfung
Vorbehalten müsse.
Bei dem Auseinandergehen der Mei¬
nungen über die Organisationsfrage wie
über den Umfang der geforderten Re¬
formen war es erforderlich, zunächst
noch Gutachten von Gelehrten und
Praktikern einzuziehen und Beratungen
mit den beteiligten preußischen und
Reichsressorts einzuleiten.
Gleichzeitig begannen auch die Fa¬
kultäten sich mit der Frage zu beschäf¬
tigen, und die Juristische und Philoso-
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Denkschrift Ober die Förderung der Auslandsstudien
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phische Fakultät der Berliner Universi¬
tät reichten eingehende Gutachten und
Anträge ein. Die Arbeit war in vollem
Fluß, als der Weltkrieg ausbrach und
mit seinen Erscheinungen die Bedeu¬
tung der Frage für Deutschland mit ele¬
mentarer Wucht offenbarte. Die Vor¬
arbeiten wurden deshalb trotz des Krie¬
ges nicht eingestellt, wie auch der Kul¬
tusminister in der verstärkten Haus¬
haltskommission am 14. März 1916 von
neuem auf die Frage einging und er¬
klärte, daß bei aller Einigkeit über die
Ziele es noch eingehender Prüfung be¬
dürfe, welche Wege man einzuschlagen
habe. Seitdem ist die Frage nun so weit
geklärt worden, daß mit dem zur Be¬
ratung stehenden Haushaltsplan die
ersten Anträge zum Ausbau der Aus¬
landsstudien dem Landtage vorgelegt
werden konnten.
1. Allgemeine Voraussetzungen.
Die Problemstellung.
Wie schon der geschichtliche Rück¬
blick ergab, handelt es sich bei den Aus¬
landsstudien um drei getrennte Aufgaben.
1. Wissenschaftliche Auslandskunde,
2. Praktische Schulung von Beamten
oder Privaten, die ins Ausland
wollen,
3. Weckung außenpolitischen Inter¬
esses und Verständnisses in der
Heimat
Diese drei Aufgaben stehen aber
nicht nur in historischer Folge hinter¬
einander, sondern auch in sachlich
scharf zu trennender Problemstellung
nebeneinander. Das Ausland, das schon
früher Gegenstand der Wissenschaft
war, ist das natürlich in erhöhtem
Maße geblieben, daneben aber ist die
praktische Forderung der Ausbildung
für das Ausland getreten, und als neue¬
stes Ziel ist die Schaffung einer natio¬
nalen Auslandsbildung hinzugekommen.
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Eine Lösung des viel erörterten und oft
mißverstandenen Auslandsstudienpro¬
blems ist nur möglich, wenn diese drei
Gesichtspunkte gleichmäßig berücksich¬
tigt werden. Da die wissenschaftliche
Auslandskunde sich von selbst verstand
und das Problem der außenpolitischen
Vertiefung unserer Gesamtbildung noch
wenigen aufgegangen war, hat die Frage
der Auslandsschule bzw. -hoch-
schule die öffentliche Erörterung be¬
herrscht und die ganze Fragestellung
einseitig beeinflußt
Ob Aufgabe des Reiches oder der
Bundesstaaten.
Die Tatsache der parlamentarischen
Erörterung der Angelegenheit im Reichs¬
tag wie im preußischen Landtag zeigt,
daß von vornherein keine Klarheit dar¬
über bestand, ob die Förderung einer
besseren Kenntnis des Auslandes zu
den Aufgaben des Reiches oder der
Bundesstaaten gehöre. Bei der Bedeu¬
tung der Frage für die Reichsinteressen
und den Reichsdienst schien das Reich,
bei der sachlichen Verknüpfung der
Auslandsstudien mit der Wissenschaft
dem Unterrichts- und Bildungswesen
schienen die Bundesstaaten zuständig.
Da die öffentliche Erörterung sich be¬
sonders mit der Vorbildung für den
auswärtigen Dienst beschäftigte, ergab
sich die Forderung einer Reichsaus¬
landshochschule gleichsam von selbst
In der Diskussion, die im Reichstage
der oben angezogenen Resolution vor¬
anging, wurde ebenso wie in Broschü¬
ren und Zeitungsartikeln der Gedanke
einer Umgestaltung des Seminars für
Orientalische Sprachen in eine solche
Reichsanstalt lebhaft befürwortet Nun
ist das Orientalische Seminar zweifel¬
los aus dem Interessenkreis des Rei¬
ches heraus geboren und hat diesen In¬
teressen seit seinem Bestehen haupt¬
sächlich gedient Seine Kosten werden
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Denkschrift Ober die Forderung der Auslandsstudien
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zur Hälfte aus Reichsmitteln bestrit¬
ten, zur anderen Hälfte aber aus Fonds
der preußischen Unterrichtsverwaltung,
die auch die wesentliche organisato¬
rische Arbeit im Einverständnis mit
dem Auswärtigen Amt übernommen hat.
Es hat sich hier zu beiderseitiger Zu¬
friedenheit eine ersprießliche Zusam¬
menarbeit entwickelt, die mfn schon
bald drei Jahrzehnte andauert Die
Reichsleitung bezeichnet die für den
Reichsdienst notwendigen Aufgaben
und beteiligt sich an den Kosten: dafür
erhält sie eine sachverständige Ausbil¬
dung ihrer Beamten. Die preußische
Unterrichtsverwaltung bearbeitet die
unterrichtstechnischen Fragen und er¬
halt dafür Reichsmittel für ein wichti¬
ges Universitätsinstitut Beide Teile
haben also Nutzen von dieser Verein¬
barung und sehen vorerst keine Veran¬
lassung, das Verhältnis zu ändern. Rein
theoretisch klingt es natürlich überzeu¬
gend, daß das Reich für seine Aus¬
landsbeamten selber sorgen müsse, aber
dann könnte man mit dem gleichen Recht
auch die Ausbildung der Inlandsbeam¬
ten des Reichsdienstes der Reichslei¬
tung zuschieben, was bei dem staats¬
rechtlichen Aufbau des Reiches sich von
selbst verbietet
Auf Grund der Reichsverfassung ist
das gesamte Unterrichtswesen den Ein¬
zelstaaten Vorbehalten. Um so weniger
ist ersichtlich, warum gerade auf dem
Gebiet der Auslandsstudien die sonst
gültige Praxis durchbrochen werden
sollte, zumal dem Reich die ausführen¬
den Organe für eine solche Neuerung
fehlen würden. Die Forderung einer
Übernahme der Fürsorge für die Aus¬
landsstudien durch das Reich geht aus¬
schließlich von dem Gedanken der Aus¬
landsschule als einer in der Reichs¬
hauptstadt oder doch jedenfalls an
einem bestimmten Ort zu errichtenden
Reichsanstalt aus, berührt damit aber
nur einen und nicht einmal den wich¬
tigsten Punkt des vielgestaltigen Pro¬
blems. Es sollen auch Auslandsbeamte
ausgebildet werden, aber was würde
eine noch so verschwenderisch ausge¬
staltete Auslandshochschule, was wür¬
den uns die bestausgebildeten Aus¬
landsbeamten nutzen, wenn die deutsche
Bildung nach wie vor binnenländisch
orientiert bliebe? Die Erziehung zum
Weltvolk erfolgt nicht durch Konsuln
und Diplomaten, sondern durch eine
den neuen Tatsachen unserer Weltstel¬
lung gerecht werdende Erweiterung un¬
serer Bildungsinhalte. Gewiß werden
Fachanstalten wie das Seminar für
Orientalische Sprachen oder das Ham-
burgische Kolonialinstitut nie entbehrt
werden können, und gewiß sind diese
Anstalten auch des Ausbaus und der
Verbesserung fähig, aber nur, wenn
auch unsere akademische Jugend sich
willig den neuen Aufgaben des Reiches
anpaßt und sich mit weltpolitischem
Denken erfüllt, nur dann wird in der
Heimat der unentbehrliche Resonanz¬
boden für die Arbeit der deutschen
wirtschaftlichen und kulturellen Vor¬
kämpfer im Ausland geschaffen.
Die Ziele der Unterrichtsverwaltung.
Die Auslandsstudien sind gewiß auch
für diejenigen da, die sich für eine
Lebensarbeit in der Fremde ausrüsten
wollen, aber es kann nicht scharf ge¬
nug betont werden, daß die Ziele, die
sich die Unterrichtsverwaltung steckt,
sehr viel weitere sind. Sie will unserer
Bildung, die bisher allzu einseitig lite¬
rarisch-historisch-ästhetisch gerichtet
ist, eine neue Note hinzufügen. Der
Krieg hat auch die, die es noch nicht
wußten, darüber aufgeklärt, wie er¬
schreckend unsere Unkenntnis des aus¬
ländischen Denkens gewesen ist, wie
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Denkschrift Ober die Forderung der Auslandsstudien
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bitter not uns ein staatswissen¬
schaftliches Verstehen der Ge¬
genwart tut. Gerade diejenigen, die
niemals die Grenzen des Deutschen Rei¬
ches Qberschreiten werden, die aber die
Masse der Bildungsschicht ausmachen,
müssen den mangelnden Augenschein
durch Studium ersetzen. Die junge Ju¬
ristengeneration, die dem Staat die
künftigen Beamten stellen soll, die an¬
gehenden Oberlehrer, die unsere Bil¬
dungsideale in die Jugend der Zukunft
pflanzen sollen, sie müssen es in ihren
eindrucksreichsten Jahren erfahren, daß
die Ideen von Weimar und die Zucht
von Potsdam zwar auch weiterhin die
Grundlagen unserer Kultur bilden sol¬
len, daß aber das neue Deutschland
auch andere Aufgaben zu erfüllen hat
als literarisch-künstlerische Bildung zu
pflegen und pflichttreue Staatsdiener
und tapfere Soldaten zu erziehen. Unser
Feld ist die Welt Jeder Akademiker
muß es als eine Ehrenpflicht ansehen,
sich staatswissenschaftlich, sei es wirt¬
schaftlich, rechtlich oder politisch, zu
belehren und innerlich zu den großen
Problemen der Weltpolitik und Welt¬
wirtschaft Stellung zu nehmen. Da¬
bei ist es natürlich unmöglich, jeden
einzelnen in alle fremden Gebiete ein¬
zuführen. Wer aber einmal etwas tie¬
fer in irgendeinen ganz andersartigen
Kulturkreis eingedrungen ist der geht
mit anderen Maßstäben an die Betrach¬
tung der Weltzusammenhänge; er wird
auch ein ganz anderes Verständnis
haben für die Auslandsnachrichten sei¬
ner Zeitungen. Das politische Denken
muß geschult der junge Deutsche muß
politisiert werden. Nicht als ob man
ihn einsdiwören wollte auf gewisse
Parteidogmen, nein, er soll gerade
durch die Beschäftigung mit dem Aus¬
land, durch das Verständnis für die
Weltstellung und die Weltaufgaben
Deutschlands hinausgeführt werden
über die Fragestellung der heimi¬
schen Parteipolitik. Die auch während
des Krieges hervorgetretene Beurteilung
außenpolitischer Fragen nach innenpo¬
litischen Gesichtspunkten kann nur über¬
wunden werden, wenn eine gediegene
staatswissenschaftliche Bildung in be¬
zug auf das Ausland als Ziel unserer
nationalen Bildungspolitik klar erkannt
und energisch erstrebt wird. Als selbst¬
verständliche Folgeerscheinung wird
dann auch der Auslandsinteressent bes¬
sere Bildungsmöglichkeiten erhalten,
und die Deutschen im Ausland werden
in der Heimat mehr Verständnis und
mehr Förderung finden. Dann wird auch
eine deutsche Kulturpolitik im Ausland
im größeren Maße möglich werden als
bisher. Mit Sonderinstitutionen ist hier
nichts zu erreichen, wenn nicht das Bil¬
dungsideal eines ganzen Volkes da¬
hintersteht Das erzieht man aber nicht
auf Auslandsfachschulen, sondern nur
dadurch, daß man den Auslandsstudien
ihren organischen Platz gibt im leben¬
digen Fluß unseres akademischen Le¬
bens.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist
nicht nur der Gedanke einer Reichsan¬
stalt, sondern auch der einer einzigen
großen an einem Ort gelegenen Hoch¬
schule für Auslandsstudien überhaupt
abzulehnen, da davon doch immer nur
ein paar hundert Bevorzugte Nutzen
haben könnten. Die Aufgabe ist viel
größer. Sie muß an allen Stellen, wo
unsere akademische Jugend ihre Bil¬
dung erwirbt einer Lösung entgegen¬
geführt werden. Nicht Zentralisation,
sondern Dezentralisation muß die Lo¬
sung sein. Damit scheidet eine Mitwir¬
kung des Reiches auf anderem als auf
ideellem und etwa finanziellem Gebiet
von vornherein aus. Ideelle Förderung
und im Falle der Ausbildung von
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Denkschrift Aber die Förderung der Auslandsstudien
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Reichsbeamten auch finanzielle Unter¬
stützung von seiten des Reiches ist na¬
türlich höchst willkommen, bisher schon
geleistet und wohl auch in Zukunft zu
erwarten.
Wie die verschiedenen Bundesstaa¬
ten die Aufgabe lösen wollen, ob sie
mehr die wissenschaftliche Arbeit oder
die Beamten- und Interessentenschu¬
lung oder endlich die allgemeine poli¬
tische Erziehung ins Auge fassen, muß
dem Ermessen der einzelnen Regierun¬
gen überlassen bleiben, wenn auch eine
Verständigung zwischen den Hochschul¬
staaten selbstverständlich erscheint und
schon begonnen hat Für Preußen kann
es sich nur darum handeln, alle drei
Seiten der Aufgabe zu pflegen, am
wichtigsten und dringlichsten aber er¬
scheint die Hebung unserer außenpoli¬
tischen Bildung, da für dieses Gebiet
bisher weniger getan wurde als für
Wissenschaft und Fachschulung. Hier¬
für ist auch innerhalb Preußens weit¬
gehende Dezentralisierung unerläßlich.
Die Erörterung der Auslandshoch¬
schule oder Völkerrechtsakademie oder
wie man die Anstalt sonst in der Öffent¬
lichkeit charakterisiert hat hat den Ge¬
danken großgezogen, daß eine bessere
Kenntnis des Auslands nur durch eine
Einrichtung im Stil des Seminars für
Orientalische Sprachen, das aber noch
nach der Realienseite mannigfach aus¬
gebaut werden müßten also nur durch
eine kostspielige Spezialanstalt erreicht
werden könnte. Wenn nun die Aus¬
landsstudien an allen Hochschulen be¬
trieben werden sollen, könnte man die
Gründung zahlreicher Auslandsinstitute
befürchten, für die bei der jetzigen Zeit¬
lage die Mittel einfach nicht aufgebracht
werden könnten. Deshalb ist es nötig,
die grundsätzlichen Gedanken der ge¬
planten Dezentralisierung kurz darzu¬
legen.
Dezentralisierung.
Überall soll angeknüpft werden an
das Vorhandene, Ansätze weiter ent¬
wickelt und auch das Neue weniger in
der Form als in der Sache gesucht
werden. Vor allem wird ein langsames,
organisches Wachstum erstrebt, ein
Sichanpassen an die erst allmählich
entstehenden Bedürfnisse, kein Prunken
mit weithin sichtbaren Organisations¬
formen und vollklingenden Namen, son¬
dern eine bewußte Förderung des Wil¬
lens zur Sache, ein Suchen und ein Er¬
ziehen von sachverständigen Lehrern,
ein rasches Ergreifen sich bietender
Lehr- und Lemgelegenheiten. Die Aus¬
landsforschung ist ihrem Wesen ent¬
sprechend schon jetzt dezentralisiert
Die Schulung der Auslandsbeamten des
Reiches erfolgt, soweit Preußen in Be¬
tracht kommt nur in Berlin; Änderun¬
gen wären hier nur im Einvernehmen
mit dem Reich möglich und sind, wenn
überhaupt nötig, jedenfalls zur Zeit
noch nicht spruchreif. Das Schwer¬
gewicht liegt also auf der allgemeinen
Auslandsbildung. Ihre Pflege kann un¬
schwerdezentralisiert werden, und zwar
in einem doppelten Sinne. Die großen
allgemeinen Fragen der Zeitgeschichte
und der Weltwirtschaft müssen in Zu¬
kunft überall regelmäßig gelehrt wer¬
den, nicht nur in Berlin, schon einfach
aus dem Grunde, weil die aus den
Schützengräben heimkehrende akade¬
mische Jugend ein Recht darauf hat
die Ursachen des Krieges wie seine
weltgeschichtliche Bedeutung m wis¬
senschaftlich vertiefter Form vorgetra¬
gen zu bekommen. Auf diesem gewal¬
tigen Hintergrund wächst dann ganz
von selbst eine staatswissenschaftliche
Allgemeinbildung, die dem Deutschen
dringend not tut Bei diesen Studien
sollen sich die Vertreter aller Fakultä¬
ten zusammenfinden. Es wird nicht
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Denkschrift Ober die Förderung der Auslandsstudien
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leicht sein, in den Studienplanen die
Möglichkeit zu schaffen, daß diese
staatsbürgerliche Erziehung ihren Platz
an der Sonne erhalt Es wird hier viel
von der Einsicht der Vertreter der üb¬
lichen Brotstudienfacher und von dem
guten Willen der Studenten abhangen.
Ob es nötig sein wird, hiermit Examens¬
bestimmungen oder durch Beschneidung
der oft über Gebühr großen Stunden¬
zahl einzelner Vorlesungen einzugrei-
fen, kann erst der Erfolg der ersten
Versuche erweisen. Auch hier soll
nichts übereilt werden. Der Krieg hat
hoffentlich das Interesse an diesen Fra¬
gen derartig geweckt daß es nur der
Anregung bedarf, dieses neue Gebiet
dem akademischen Stundenplan ohne
Schwierigkeiten einzugliedern.
Sonderaufgaben einzelner Univer¬
sitäten.
Daneben ist eine Dezentralisierung in
dem Sinne geplant daß an einzelnen
Hochschulen bestimmte Gebiete der Aus¬
landskunde mit besonderem Nachdruck
gepflegt werden. Dadurch vertieft sich
die Allgemeinbildung allmählich zur
Fachbildung. Dabei wird an tüte Tra¬
ditionen oder an die von der geographi¬
schen Lage gestellten Sonderaufgaben
anzuknüpfen sein. So ist um nur einige
Beispiele zu nennen, bei Kiel durch das
Institut für Seeverkehr und Weltwirt¬
schaft der Weg nach Übersee gewiesen,
so liegt in Bonn durch die Nähe Frank¬
reichs und Hollands das Studium des
romanischen Kulturkreises und des nie¬
derländischen nahe, so ist in Königs-
berg und Breslau die slawische Welt
für Lehre wie Forschung von besonde¬
rem Interesse. Diese Universitäten mü߬
ten allmählich zu Mittelpunkten einer
besonderen Fachausbildung für die von
ihnen gepflegten Gebiete entwickelt
werden. Es wird hierbei nicht möglich
sein, alle Hochschulen gleichmäßig zu
bedenken. Die Technischen Hochschulen
eignen sich der Organisation ihres Un¬
terrichts nach weniger dazu als dieUni-
versitäten, wenn sich auch in den all¬
gemeinen Abteilungen der Technischen
Hochschulen Gelegenheit dazu schaffen
läßt Aber auch bei den Universitäten
besteht nicht die Absicht sie nach be¬
stimmten Gesichtspunkten hin abzu¬
stempeln. Es wird versuchsweise be¬
gonnen werden, bei einigen bestimmte
Gebiete in den Vordergrund zu stellen,
ohne damit ihren Gesamtcharakter
irgendwie zu beeinträchtigen. Die Aus¬
landsstudien bilden doch nur einen be¬
scheidenen Teil der wissenschaftlichen
Gesamtarbeit.
Berlin.
Daß die größte preußische Universi¬
tät Berlin, keine Sondernote entwickeln
kann, sondern das Gesamtgebiet der
Auslandsstudien umfassen muß, ent¬
spricht ihrem Wesen und ihren Über¬
lieferungen. Dabei wird tunlichst Füh¬
lung mit den anderen Hochschulen Ber¬
lins zu erstreben sein, um unnötige
Konkurrenz zu vermeiden. Vorerst ist
hier nirgends an Änderung bestehender
Organisationsformen gedacht. Schon
jetzt besteht ein gemeinsames Vorle¬
sungsverzeichnis aller in Berlin gehal¬
tenen kolonialwissenschaftlichen Vor¬
lesungen, das vom Kultusministerium
herausgegeben wird. An Stelle nach-
heriger Zusammenstellung könnte vor¬
herige Verabredung treten. Jedenfalls
soll auch hier wie überall die natürliche
Entwicklung abgewartet werden.
Ordnung nach Kulturkreisen.
Eine Neuerung werden die Auslands¬
studien schon durch ihre natürliche
Fragestellung in der Gruppierung der
wissenschaftlichen Disziplinen bringen,
und es ist nicht unmöglich, daß sich
daraus im Laufe derZeit neue Organisa¬
tionsformen entwickeln werden. Wenn
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Denkschrift Ober die Forderung der Auslandsstudien
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sonst von Fachstudien die Rede ist, so
denkt man dabei an Jurisprudenz, Phi¬
lologie und andere große Berufsgebiete.
Fachstudien in bezug auf das Ausland
greifen aber über den Rahmen der Ein¬
zeldisziplinen hinaus, und der Spezia¬
list für ein bestimmtes Gebiet braucht
nicht nur philologische, d. h. hier
sprachliche, sondern auch staatswissen¬
schaftliche, historische und geographi¬
sche Kenntnisse. Vor allem muß er das
vielgestaltige Denken und Empfinden,
die ganze soziologische Struktur des
betreffenden Landes kennen und ver¬
stehen, wenn seine Arbeit einen Sinn
haben solL Es bereitet sich hier also auf
einem Sondergebiet der Wissenschaft
durch ihre Anwendung auf die Praxis
eine neue Gliederung vor, die den alten
Wissenschaften nichts nimmt aber zu
neuen Zusammenfassungen führt die
im wesentlichen mit gewissen großen
Kulturkreisen zusammenfallen. Diese
Neugruppierung spezieller Zweige der
großen alten Wissensgebiete zu neuen
Einheiten ist auch sonst zu beobachten
und zu begrüßen; denn nur so kann
unsere Wissenschaft davor bewahrt wer¬
den, in Spezialstudien zu zerfallen; nur
so bleibt die notwendige Geschlossen¬
heit und Einheitlichkeit unserer Bildung
erhalten. Einer der Wege zu diesem
Ziel sind auch die Auslandsstudien, in¬
sofern sie das geistige Interesse von
der einseitigen technischen Handhabung
des Rüstzeuges zum Broterwerb, sei es
beim Lehrer, Juristen, Theologen, Arzt,
Kaufmann oder Techniker, wieder zu
den großen Zusammenhängen einer na¬
tionalen Kultur zurückführen und ge¬
rade durch den Kontrast mit dem Aus¬
land dem gebildeten Deutschen die
Werte seiner vaterländischen Kultur
zum Bewußtsein bringen.
2. Einzelbegründung der An¬
träge.
BOcherbeschaffung.
War die grundsätzliche Stellung zum
Problem der Auslandsstudien einmal
gewonnen, so ergab sich die Aufgabe,
durch Stellung bestimmter Anträge die
Arbeit zu beginnen. Drei Gesichtspunkte
waren dabei maßgebend. Erstens ge¬
hört zu jeder Arbeit das nötige Rüst¬
zeug: für die Auslandsstudien sind das
im wesentlichen Bücher. Es hat sich
herausgestellt, daß die politische Lite¬
ratur über das Ausland, die mit weni¬
gen rühmlichen Ausnahmen in fremden
Sprachen verfaßt ist, auf unseren Uni¬
versitätsbibliotheken, ja sogar auf der
Königlichen Bibliothek, nur ungenügend
vertreten war. Es erscheint deshalb eine
Forderung von 30000 Mark zur An¬
schaffung ostländischer Literatur, ein
Gebiet, das besonders große Lücken auf¬
wies. Namentlich die durch den Krieg
und durch Bundesverhältnisse eng mit
uns verknüpften Länder des Balkans
und des Orients sollen dabei berück¬
sichtigt werden. In diesen Ländern be¬
steht kein gut organisierter BuchhandeL
Es wird deshalb nötig sein, namentlich
um wichtige ältere Quellenwerke zu be¬
schaffen, sachverständige Einkäufer an
Ort und Stelle zu schicken, wofür ein
weiterer Posten von 10000 Mark einge¬
stellt ist
Die intensivste Benutzung der Bücher
erfolgt auf den Fach Seminaren, wo der
Student tagsüber bei der Arbeit sich
von den wichtigsten Werken seines Ge¬
bietes umgeben sieht und dadurch mit
der Literatur seines Faches durch den
Augenschein bekannt wird, ohne sich
mühselig durch dickbändige Kataloge
oder volle Bücherzettelkästen hindurch¬
arbeiten zu müssen. So liegt dem Land¬
tag ein Antrag auf Begründung eines
Orientalischen Seminars an der Univer-
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Denkschrift Ober die Forderung der Auslandsstudien
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sitflt Münster vor. Warum gerade Mün¬
ster gewühlt wurde, wird unten in
anderem Zusammenhang dargelegt wer¬
den. Schon aus den Etatsposten (ein¬
malig 4000, jährlich 500 Mark) ist er¬
sichtlich, daß dieses Seminar nach Art
der üblichen Universitätsseminare und
nicht als ein großes Institut im Stil des
Berliner Seminars für Orientalische Spra¬
chen gedacht ist
Lehrauftrage.
Zweitens schien es notwendig, einen
größeren Betrag von 50000 Mark an-
zufordern (Kap. 119, Tit. 13 d), um da¬
mit die ersten Versuche zu einer Aus¬
gestaltung des Universitatsunterrichts
in dem oben skizzierten Sinne zu er¬
möglichen. Von wenigen gleich zu nen¬
nenden Ausnahmen abgesehen, wurde
auf Begründung fester Stellen verzich¬
tet Einmal muß sich die Unterrichts¬
verwaltung freie Hand für Versuche
Vorbehalten; weiter fehlt es an den nö¬
tigen Krüften, namentlich während des
Krieges; endlich wird dauernd ein ge¬
wisser Teil dieser Summe zur Befriedi¬
gung wechselnder Wünsche verfügbar
bleiben müssen. Es ist nämlich beab¬
sichtigt für bestimmte Fragen Männer
der Praxis heranzuziehen, sei es aus
dem Wirtschaftsleben, sei es aus dem
Außendienst des Reiches. Diese sollen
in der Form beauftragter Dozenten zu
Wort kommen, ohne dem Lehrkörper
der Universitäten eingereiht zu werden.
Ob sie als Redner für ein ganzes Se¬
mester. für einen Kurs oder für einen
Einzelvortrag gewonnen werden, wird
von den jeweiligen Bedürfnissen und
individuellen Möglichkeiten abhängen.
Soweit tunlich, könnten zu diesen Vor¬
lesungen auch weitere Kreise zugelas¬
sen werden. Es soll auch der Versuch
gemacht werden, die Redner zur Druck¬
legung ihrer Ausführungen zu veran¬
lassen, um so staatlicherseits die Ent¬
stehung einer außenpolitischen Litera¬
tur in deutscher Sprache zu fördern, an
der es bisher nahezu gebricht Der
Posten ist im Ordinarium eingesetzt
worden, weil es in vielen Fällen nur
möglich sein wird, Sachverständige zu
einer literarischen oder pädagogischen
Beschäftigung mit einer Sonderaufgabe
zu veranlassen, wenn man ihnen eine
materielle Entschädigung für längere
Zeit in Aussicht stellen kann, und um
dem ganzen Versuch eine gewisse Ste¬
tigkeit zu garantieren. Daß einer oder
der andere dieser Lehraufträge später
in eine feste Stellung wird umgewan¬
delt werden müssen, liegt im Wesen
der Dinge. Bei dem Mangel an Sach¬
verständigen ist auch in Aussicht ge¬
nommen, Mittel aus diesem Fonds da¬
für zu verwenden, Spezialisten der
einen Universität Gastvorträge an ande¬
ren zu ermöglichen. Es soll eben in
möglichst freier Form der beste Weg
zur Erreichung des gesteckten Zieles er¬
probt werden. In der Hauptsache wird
es sich um zweistündige Semestervor¬
lesungen handeln, möglichst in Verbin¬
dung mit einem Kolloquium oder gar mit
seminaristischer Arbeit Aus folgenden
Gebieten sollen Lehraufträge erteilt
werden:
1. für spezielle Geographie und Lan¬
deskunde einzelner fremder Län¬
der mit besonderer Berücksichti¬
gung der Wirtschaftsgeographie,
Vorlesungen, die neben die üb¬
lichen geographischen Hauptvor-
lesungen zu treten haben;
2. für ausländisches Recht und zwar
für englisch-amerikanisches, roma¬
nisches, nordisches, slawisches,
orientalisches, chinesisches und ja¬
panisches Recht;
3. für Wirtschaftskunde des Auslan¬
des und weltwirtschaftliche Be¬
ziehungen überhaupt;
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Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
531
Denkschrift Aber die Förderung der Auslandsstudien
532
4 für Geschichte, Religions- und Kul¬
turgeschichte fremder Völker so¬
wie für außenpolitische Zeitge¬
schichte.
Dabei wird nach Möglichkeit, sei es
in zeitlicher Folge, sei es unter Berück¬
sichtigung der Sondernote einer Univer¬
sität, versucht werden, jeweils einen
ganzen Kulturkreis dem Verständnis der
Studierenden nahezubringen. Hier füh¬
ren dann die Vorlesungen von der poli¬
tischen Bildung langsam hinüber zu
ernsteren Fachstudien für einen Lebens¬
beruf in dem betreffenden Kulturkreis.
Feste Stellen.
An solche Fachstudien ist — und da¬
mit wird der dritte Gesichtspunkt be¬
rührt — bei der Begründung einzelner
fester Stellen gedacht Einem Wunsche
des Herrenhauses folgend (Antrag Hil¬
lebrandt vom 5. Mai 1916), ist dabei
das Schwergewicht zunächst auf den
uns durch den Krieg besonders nahe¬
gerückten Orient gelegt. Es ist ein
Extraordinariat in Berlin für orienta¬
lische Hilfswissenschaften und ein sol¬
ches in Münster für Kunde des christ¬
lichen Orients beantragt Die Berliner
Professur soll die bereits bestehenden
philologischen Professuren der Fried-
rich-Wilhelms-Universität nach der Rea¬
lienseite hin ergänzen, so daß durch Zu¬
sammenwirken aller orientalischen Leh¬
rer der Universität ein wirklich ge¬
schlossenes Bild des islamischen Kul¬
turkreises gegeben werden kann. Da
durch diese Professur wie durch die an
vielen Universitäten eingerichteten tür¬
kischen Kurse für den islamischen
Orient mancherlei geschieht ist es nur
billig, auch den christlichen Orient
zum Gegenstand unserer akademischen
Arbeit zu machen. Als Ort dafür bot
sich die Universität Münster. Hier gibt
es in der Katholisch-Theologischen Fa¬
kultät bereits einen Lehrstuhl für Mis¬
sionskunde und einen für Religionsge¬
schichte. Dazu hatte die Fakultät eine
Professur für Kunde des christlichen
Orients angeregt Indem gleichzeitig
dort in der Philosophischen und Na¬
turwissenschaftlichen Fakultät ein Orien¬
talisches Seminar begründet wird, sind
in Münster alle Grundlagen zum Stu¬
dium des christlich-orientalischen Kul¬
turkreises gegeben, der, in die islami¬
sche Welt eingesprengt ein beachtens¬
wertes Sonderdasein führt
Schließlich sind noch Lektorate für
Bulgarisch in Berlin und für Spanisch
in Bonn geschaffen. Daß das Bulga¬
rische an Deutschlands größter Univer¬
sität eine Stätte haben muß, bedarf kei¬
ner weiteren Begründung. Die Schaf¬
fung eines Lektorates für Spanisch ge¬
rade in Bonn hängt mit der traditionel¬
len Pflege der romanischen Sprachen in
Bonn zusammen. Es wurde schon oben
angedeutet, daß in Bonn in Zukunft der
ganze romanische Kulturkreis beson¬
ders gepflegt werden solL Es sind dort
neuerdings auch Vorkehrungen zum
Studium des französischen Rechtes ge¬
troffen.
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INDIANA UNIVERSITY
533
Paul Herre, Die Großmacht
534
Die Großmacht
Deutsche Betrachtungen Ober Ausdruck, Begriff und Wesen.
Von Paul Herre.
I.
Die großen politischen Gegensätze,
die das Völkerleben beherrschen, lenken
unsere Blicke immer wieder auf die
kleine Gruppe überragender Staats*
wesen, deren Mit- und Gegeneinander
der geschichtlichen Entwicklung die
Richtung gibt. Vollends der gegenwär¬
tige Weltkampf, der das Dasein fast
aller Völker bis in die Grundfesten er¬
schüttert, enthüllt die ausschlaggebende
Bedeutung der Großmächte. Sie allein
sind die Träger des ungeheuren Ringens.
Die kleinen Staaten, die neben ihnen in
den Krieg getreten sind, befinden sich
mehr oder weniger in der Gefolgschaft
der großen. Ja, nicht nur über das
Schicksal der mitkämpfenden, sondern
auch über das der femgebliebenen
Kleinstaaten entscheidet das Machtwort,
das die allbestimmenden Großmächte im
Friedensschluß sprechen werden. Mehr
denn je wird die zukünftige Gestaltung
des staatlichen Zusammenlebens von der
gioßstaathchen Verständigung abhängig
sein.
In einer plastischen und eindringen¬
den Studie hat uns Rudolf Kjellön, der
Sohn eines kleinen Volkes, kurz vor
Ausbruch des Weltkrieges das Wesen
der heute bestehenden acht Großmächte
unseres Erdballs dargelegt 1 ) Mit dem
durch die vaterländische Not geschärf¬
ten Blick hat zumal die deutsche Publi¬
zistik das von dem Schweden gezeich-
1) Rudolf K jelien, Die Großmächte der
Gegenwart. Leipzig u. Berlin 1914. (Das
schwedische Original werk, aus dem die
deutsche Ausgabe ein Auszug ist 'erschien
in 4 Bänden 1911—1913.)
nete Bild ergänzt und erweitert Dank
dieser Aufklärungsarbeit stehen die eu¬
ropäischen Großmächte England, Frank¬
reich, Deutschland, Österreich-Ungarn,
Rußland und Italien vor uns als die
großstaatlichen Individualität«!, die auf
Grund ihrer besonderen natürlichen und
geschichtlichen Daseinsbedingungen in
dem ewigen Wettstreit um Herrschaft
und Machtstellung ihr Lebensinteresse
betätigen und darüber hinaus vom Wil¬
len zu immer größerer Macht sich vor¬
wärtstragen lassen. Wir kennen die ame¬
rikanische Großmacht der Vereinigten
Staaten und die asiatische Großmacht
Japan, die, von dem gleichen Drange er¬
füllt, mit der Erweiterung des geschicht¬
lichen Schauplatzes, der älteren Genera¬
tion zur Seite getreten sind. Wir über¬
blicken die geschichtlichen Zusammen¬
hänge, innerhalb deren sich das Werden
und Vergehen der Großmächte bis herab
auf das gegenwärtige Geschlecht voll¬
zogen hat. Wir besitzen von den be¬
sonderen Zielen der Großmachtsindivi¬
dualitäten, die den heutigen großstaat¬
lichen Areopag bilden, eine klare Vor¬
stellung und bauen darauf unser politi¬
sches Urteil. Wir würdigen ihre geogra¬
phischen und ethnischen Grundlagen,
den Umfang ihrer Machtmittel, die
Lebenskraft ihres Volkstums, die Festig¬
keit ihrer staatlichen Verhältnisse und
ziehen daraus unsere Schlüsse für die
weitere Gestaltung des Zusammenlebens
auf dem Erdball
Das letzte Wort über die Eigenart der
großstaatlichen Erscheinung ist indessen
noch keineswegs gesprochen. Vor allem
ist es nötig, mehr, als das bisher ge-
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INDIANA UNIVERSITY
535
Paul Herre, Die Großmacht
536
schehen ist, die aus der Betrachtung der
einzelnen Großmächte gewonnenen kon¬
kreten Erkenntnisse für das Verständnis
des Phänomens an sich nutzbar zu
machen, um so zu weiteren historisch-
politischen Erkenntnissen fortzuschrei¬
ten. Zur Lösung des schwierigen Pro¬
blems sollen die nachfolgenden Unter¬
suchungen beitragen. Teils selbständig,
teils den Spuren anderer Forscher fol¬
gend, gehen sie im Zusammenhänge den
Wandlungen nach, die Ausdruck und
Begriff während der letzten zwei Jahr¬
hunderte in der deutschen Beurteilung
erfahren haben, mit dem Ziele, auf die¬
sem Wege dem Verständnis des Wesens
der Großmacht selbst näherzukommen.
II.
Die beiden Wörter, deren Zusammen¬
setzung den Ausdrude Großmacht er¬
gibt, deuten klar auf die Vorbedingun¬
gen seiner Entstehung hin. Zunächst
spricht daraus die Erkenntnis, die den
wesentlichen und bleibenden Inhalt der
Lehre Machiavellis bildet, daß der Staat
Macht ist Seitdem das aus dem Renais¬
sancegeist geborene Buch „vom Fürsten“
der Welt das Auge öffnete über das
wahre Wesen des Staates, hat die Über¬
zeugung, daß Selbstsucht und Macht¬
wille die eigentlichen Triebkräfte staat¬
lichen Daseins bedeuteten, die Staats¬
männer und Politiker Europas be¬
herrscht und ihre Handlungen bestimmt
In unzähligen Aussprüchen ist diese An¬
schauung für das 16. bis 18. Jahrhundert
belegt Es ist bezeichnend, daß ein
Friedrich der Große, der als Kronprinz
die unsittliche Staatslehre des großen
Florentiners bekämpfte, als König ihm
zur Seite trat „Machiavell sagt“ so
schreibt der Begründer der preußischen
Großmachtstellung 1 ), „daß eine un-
2) Politisches Testament von 1752. Aus¬
gabe von G. KQntzel S. 47.
eigennützige Macht inmitten ehrgeiziger
Mächte unfehlbar endlich zugrunde¬
gehen würde; es tut mir leid, aber ich
bin genötigt einzugestehen, daß Machia¬
vell recht hat“ Es war nur die selbst¬
verständliche Folge dieser Erkenntnis,
wenn Staat und Macht schließlich völlig
gleichgesetzt wurden. Die handeln¬
den Staaten wurden schlechthin „die
Mächte“. Wahrend Machiavell am Be¬
ginn der Entwicklung diese Identifizie¬
rung noch unbekannt war, wurde mit
der Ausbildung einer über das euro¬
päische Staatensystem sich erstrecken¬
den Diplomatie der Ausdrude „Macht“
in dem übertragenen Sinne zum festen
Bestand des politischen Wortschatzes.
Eben die Gestaltung eines von gleich¬
artigen Grundsätzen beherrschten Staa¬
tensystems war jedoch die notwendige
Mitvoraussetzung dieses Entwicklungs¬
prozesses. Nicht der auf das Wohl der
Untertanen bedachte Staat, nicht der
innerpolitisch tätige Staat hatte An¬
spruch auf den Titel „Macht“, sondern
lediglich der nach außen handelnde
Staat, der seine Machtmittel außerpoli¬
tisch und militärisch in die Wagschale
warf. 8 ) Daraus ergab sich folgerichtig
das Weitere. Erst indem die Staaten ri¬
valisierend und miteinander sich abfin¬
dend in Berührung traten, wurde man
darauf gewiesen, sie gegeneinander ab¬
zuwägen und zu klassifizieren, kleine
und große Staaten zu unterscheiden. So¬
lange nur eine überragende Macht vor¬
handen oder solange über zahlreichen
kleinen Gebilden nur zwei Großstaaten
nebeneinander standen, die sich das
3) Demgemäß fällt fQr unsere Betrach¬
tung die Frage weg, inwieweit nicht der
Machtcharakter, sondern der Rechtscharakter
das entscheidende Merkmal des Staates ist.
Man sollte bei diesem Problem Oberhaupt
grundsätzlich die zwei Seiten des Staates
mehr auseinanderhalten: seine Stellung nach
außen und seine Einrichtung im Innern.
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Original frum
INDIANA UNIVERSITY
537
Paul Herre, Die Großmacht
538
Obergewicht streitig machten, fehlte der
Anstoß zu einer derartigen Gegen*
Überstellung. Eine Mehrzahl größerer
Staatswesen, die mit einer Vielheit klei¬
nerer Staaten ein organisches Staaten*
System bildeten, war die notwendige
Voraussetzung für das Auseinanderhal¬
ten der zwei Klassen.
Aus diesen Vorbedingungen erklärt es
sich, daß das 16. und 17. Jahrhundert,
obschon es handelnde „Großmächte“ vor
Augen hatte, noch nicht den erkennen¬
den Blick für sie gewann, denn diese
überragenden Staaten trugen noch mehr
oder weniger den Stempel des Univer¬
salreiches, das keine gleichwertigen
Nebenbuhler dulden will Erst mit der
Niederwerfung der Weltherrschaft Lud¬
wigs XIV. gestalteten sich endgültig die
' Verhältnisse, aus denen die Anschauung
von der besonderen Art der Großmacht
emporwuchs. Es ist kein Zufall, daß
Lord Bolingbroke zum ersten Male den
Ausdruck „große Mächte“ gebraucht:
der Führer Englands in der letzten
Phase des großen Kampfes gegen den
französischen Universalherrscher, der
Vater des Utrechter Friedens. In seinen
„Letters on the study and use of histo-
ry“, die in geschichtlicher Betrachtung
aus den Vorgängen der Zeit politische
Lehren zu sammeln suchen, nennt er
Frankreich und Österreich „the two
great powers", deren Gegensatz den In¬
halt der gewaltigen Auseinandersetzung
des 16. und 17. Jahrhunderts bilde. 4 )
Der große Einfluß, den das politische
Lehrbuch des englischen Staatsmanns
ausübte, führte zusammen mit dem zu¬
nehmenden Verständnis für den Charak¬
ter des staatlichen Zusammenlebens da¬
hin, daß der Ausdruck „große Mächte“
4) Ausgabe London 1752, an mehreren
Stellen des 7. Briefes, wobei „great power“
und „principal* power nebeneinander ge¬
braucht werden.
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in der historischen und politischen Lite¬
ratur aller Völker im 18. Jahrhundert
Aufnahme fand. Nicht so freilich, daß
er schlechthin Geltung gewann. Zumal
in der Diplomatie beschränkte man sich
darauf, den Ausdruck „Macht“ vorsich¬
tiger anzuwenden, in der Weise, daß
man ihn allein dem großen Staate vor¬
behielt, der im Gegensatz zu den schwä¬
cheren darauf Anspruch hatte. Indessen
dieser Sprachgebrauch beließ offensicht¬
liche Unklarheiten der Klassifizierung,
denen gegenüber der adjektivische Zu¬
satz „groß“ von Vorteil war, um so
mehr, als mancher kleinere Staat nach
dem erhöhenden Titel verlangte und ihn
im abmildernden diplomatischen Ver¬
kehr auch eingeräumt erhielt
Maßgebend für die Unterscheidung
großer und kleiner Mächte war das Stre¬
ben, aus der dabei erlangten Erkenntnis
für die politische Nutzanwendung Ge¬
winn zu ziehen. Man vergegenwärtige
sich, welche Bedeutung ein Erfahrungs¬
satz für die politische Anschauung und
diplomatische Praxis hatte, wie ihn
Friedrich der Große aufstellte 5 ): „Die
großen Monarchien gehen ihren Weg
von selber, trotz der Mißbräuche, und
halten sich durch ihr Gewicht und ihre
innerliche Stärke. Die kleinen Staaten
werden schnell zermalmt wenn nicht
alles bei ihnen Stärke, Nerv und Lebens¬
kraft ist“ Kein Wunder, daß der große
König auch in bezug auf die Klassifi¬
zierung der Staaten zu klaren Feststel¬
lungen gelangte. In seiner „Histoire de
mon temps“, die mit einer Betrachtung
der europäischen Staatenwelt beginnt
findet er für das Jahr 1740, daß die „Re¬
publik Europas“ aus zwei Gruppen von
Staaten bestehe. 6 ) Sie ergeben sich ihm
5) Expose du gouveraement prussien.
CEuvres Band 9 S. 191.
6) Fassung von 1746. Publ. aus den preuß.
Staatsarchiven Band 4 S. 206 ff.
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INDIANA UNIVERSITY
539
Paul Herre, Die Großmacht
540
aus einer Abstufung. Die eine Gruppe
umfaßt die „puissances“ oder „grandes
monarchies“, die sich in zwei Untergrup¬
pen spalten: Frankreich und England, die
nach der Weltstellung streben, und Spa¬
nien, Holland, Österreich und Preußen,
die in gewisser Hinsicht von Frankreich
und England abhängen. Die dritte
Gruppe setzt sich aus Staaten zusam¬
men, die nur mit fremder Unterstützung
sich bewegen können und ihrerseits
Europa nicht in Bewegung zu setzen
vermögen; es sind Sardinien, Dänemark,
Portugal, Polen und Schweden; auch
Rußland und die Türkei gehören ihr zu,
die halbasiatischen Staaten, die nur
durch Frankreich und England in den
europäischen Bereich hineingezogen
werden. 7 )
Immer klarer zeigte sich die Rolle, die
die großen Mächte für die Entwicklung
des Staatenlebens spielten. Vollends
seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts
würdigte man sie in ihrem besonde¬
ren Charakter, in ihrem Wirken inner¬
halb ihres besonderen Kreises als „Senat
Europas“ oder als „Aristokratie der eu¬
ropäischen Mächte.“ 8 ) Der schließliche
Ausgang des großen Kampfes gegen die
Französische Revolution und ihren Er¬
ben Napoleon befestigte diese Anschau¬
ung, obschon sich die Betrachtung in
der Zeit der Humanitätsbewegung den
machtpolitischen Fragen entfremdete.
Mochte in den Umwälzungen jener Jahr¬
zehnte auch das Urteil über den Um¬
kreis der großstaatlichen Gruppe aus¬
einandergehen und mochte die Auffas¬
sung vom Wesen der großen Macht
7) Eine ähnliche Abstufung der Mächte
findet sich bereits in den 1738 niederge¬
schriebenen .Considärations sur l’ätat prä¬
sent du corps politique de l’Europe“.
8) Diese AusdrQdce werden von den
Historikern der ersten Jahrzehnte des 19.
Jahrhunderts häufig angewendet.
noch schwanken: die Tatsache des Be¬
stehens war ein überall geltendes poli¬
tisches Axiom, und der Ausdruck „große
Mächte“ umschrieb nach wie vor die An¬
schauung vom Dasein dieser großen
Staaten. Noch fixierte er sich nicht zu
dem technischen Wort, das wir heute
gebrauchen, aber das Bestreben nach
einer schlagwortmäßigen Prägung läßt
sich deutlich erkennen; Historiker wie
Heeren, Rotteck und Schlosser bedien¬
ten sich gern des Ausdrucks „Haupt¬
mächte“. Zu einer regelmäßigen Hand¬
habung des Ausdrucks kam es jedoch
nicht Selbst Rankes klassisches Frag¬
ment vom Jahre 1833 9 ), das uns später
näher beschäftigen wird, trägt den Titel
„Die großen Mächte“. Es bedurfte eines
weiteren Anstoßes, um den Prozeß der
Gestaltung des Ausdrucks zum Ab¬
schluß zu bringen.
Dieser Anstoß kam aus den besonde¬
ren Verhältnissen des deutschen Staats¬
lebens nach dem Wiener Kongreß.
Wir besitzen eine Aufzeichnung des
Fürsten Metternich aus dem Jahre 1852
über „die Großmächte“. 10 ) Der große
Wert den sie für die Geschichte des
Ausdrucks besitzt, beruht darauf, daß
sie zum ersten Male das uns heute ge¬
läufige Wort bewußt ins Auge faßt
und über seine Entstehung wichtige Auf¬
schlüsse gibt. Metternich berichtet, daß
er selbst den Ausdruck „Großmacht“
nie gebraucht, vielmehr stets bekämpft
habe. Die Begriffe „Macht“ und „Staat“,
so meint er, bezeichneten hinreichend
9) Im zweiten Bande der von Ranke her-
ausgegebenen »Historisch-politischen Zeit¬
schrift*. Wieder abgedruckt in den .Sämt¬
lichen Werken* Band 24 und neuerdings in
diesen Wochen mit einem Vorwort von
Friedrich Meinecke in der lnselbQcherei
Nr. 200. Leipzig 1916.
10) Aus Metternichs nachgelassenen Pa¬
pieren. Band 8, S. 558—559.
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
541
Paul Herre, Die Großmacht
542
den Unterschied der materiellen Kräfte
politischer Körper, und es beweise die
Richtigkeit des alten Satzes Oxenstier-
nas von der parva sapientia: „daß die
Bezeichnung von Großmächten zuerst
von den Kabinetten der Staaten des
zweiten und dritten Ranges ausgegan¬
gen ist, und dies in Fällen, in denen sich
die Regierungen irgendwelchen Ver¬
pflichtungen zu entziehen bewogen ge¬
funden haben.“ Das zusammengesetzte
Wort erscheint dem Fürsten geradezu
gefährlich, weil es auf das moralische
Feld anspiele und so dem Mißbrauch
Tür und Tor öffne: „Mißbrauch führt
zu Anmaßungen auf dem Rechtsgebiete,
zur Mißachtung der Gleichheit der
Rechte der selbständigen politischen
Körper ohne Rücksicht auf die Ausdeh¬
nung der Staaten."
Es kann nach diesem Zeugnis Metter¬
nichs keinem Zweifel unterliegen, daß
der Ausdruck „Großmacht" aus den un¬
gesunden Verhältnissen des Deutschen
Bundes emporgewachsen ist. Die „Mit¬
telstaaten", wenn nicht gar die Klein¬
staaten, beanspruchten trotz all ihrer
Machtlosigkeit als „Macht" angesehen
zu werden. Um aber den Großen sich
nicht gleichzustellen und diesen den
Vorrang zu gewähren, den sie aus Grün¬
den der Klugheit glaubten anerkennen
zu müssen, fügten sie im Verkehr mit
den beiden deutschen Großstaaten, die
zu den „großen Mächten" Europas zähl¬
ten, der „Macht" das schmeichelnde
„Groß" hinzu. Die Entstehungszeit des
neuen Ausdrucks wird durch die Nie¬
derschrift Metternichs einigermaßen ge¬
nau bezeichnet Eine Prüfung der poli¬
tischen Äußerungen jener Jahre bestä¬
tigt die Richtigkeit dieser zeitlichen An¬
setzung. So bediente sich Bismarck in
seiner bekannten Rede vom 3. Dezem¬
ber 1850, die die klassische Formulie¬
rung der großstaatlichen Grundlage
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enthält 11 ), noch nicht des Ausdrucks
„Großmacht", sondern bezog sich ledig¬
lich auf den „großen Staat". Dagegen
nannte er bereits in seinem Berichte
vom 15. Februar 1854 an Otto v. Man-
teuffel 1 *) Österreich und. Preußen „die
deutschen Großmächte“. Es lag in
sprachlicher Hinsicht nahe, daß sich zu
den vielgebrauchten Ausdrücken „Mit¬
telstaat“ und „Kleinstaat" das ergän¬
zende Kompositum „Großmacht" bil¬
dete und einbürgerte.
Schließlich erfolgte der letzte Schritt
Das zusammengesetzte Wort „Groß*
macht", das zunächst nur für den deut¬
schen politischen Umkreis Anwendung
gefunden hatte, gewann auch für den
weiteren europäischen Bereich die Füh¬
lung und verdrängte die nebeneinan¬
derstehenden Worte „große Macht" und
das daneben gebrauchte zusammen¬
gesetzte Wort „Hauptmacht". Es wurde
zu dem technischen Ausdruck, der uns
heute geläufig ist Schon A.L.v.Rochau
gebrauchte ihn in seinen „Grundsätzen
der Realpolitik“ ganz in unserem
Sinne 13 ), und sein vielbeachtetes Buch,
das auf die junge Generation deutscher
Politiker eine große Wirkung ausübte,
sorgte für eine schnelle Verbreitung
und Einbürgerung des handlichen" und
bezeichnenden Wortes. In den 60 er und
70er Jahren gelangte es zur vollen
Herrschaft, zumal seitdem man begann,
sich mit dem Inhalt zu befassen, der
die Form füllte. Der Theoretiker Hein¬
rich v. Treitschke bediente sich des
Ausdrucks „Großmacht" mit der glei-
chen Selbs tverständlichkeit wie der
11) Bismarcks Reden hrsg. von H. Kohl.
Band 1 S. 264-265.
12) H. v. Poschinger, Preußen im Bundes¬
tag. Teil 4 S. 175.
13) Teil 1. Erste Auflage, Stuttgart 1853.
Zweite Auflage 1859. Von der inhaltlichen
Bedeutung des wichtigen Werkes wird noch
die Rede sein.
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INDIANA UNIVERSITY
543
Paul Herre, Die Großmacht
544
Praktiker Bismarck. Das allgemeine
Wort „Macht“, das sich im diplomati¬
schen Sprachgebrauch lange Zeit für
die Großmächte behauptet hatte, trat
mehr und mehr zurück und ist uns
heute geradezu ungeläufig geworden.
Es wird fast nur noch in der Gleich¬
setzung mit dem nach außen handeln¬
den Staat gebraucht, wobei von dem
Umfang seiner Machtmittel abgesehen
wird.
Indessen gilt dies lediglich für den
deutschen Sprachgebrauch und bis zu
einem gewissen Grade für den germa¬
nischen. Der aus mehr als einem Worte
bestehende technische Ausdruck wird
nur dann leicht zum festen Schlagwort,
wenn sich seine Bestandteile zu einem
neuen Worte zusammenschließen. Diese
kompositale Bildung ist aber nur den
germanischen Sprachen eigen. Dem¬
gemäß ist die Entwicklung des ent¬
sprechenden Ausdrucks in den Ländern
romanischer Zunge anders verlaufen
als in Deutschland. Allerdings gestal¬
tete sich, so sahen wir, auch in Eng¬
land 14 ) und Frankreich der Ausdruck
„große Macht", seitdem das Bewußtsein
für die besondere Stellung des Gro߬
staates erwacht war; „great power“
und „grande puissance“ gehören seit
beinahe zwei Jahrhunderten dem engli¬
schen und französischen Wortschatz an.
Aber zu dem festumgrenzenden Aus¬
drude .wie er sich im deutschen Sprach¬
gebiet entwickelte, sind sie nicht gewor¬
den. Der Franzoseund Engländer hat wie
der Italiener und Spanier in einem ur¬
sprünglicheren Sinne als der Deutsche
das Grundwort „Macht" lebendig er¬
halten und begnügt sich bis auf den
heutigen Tag, durch die Hinzufügung
der Adjektive „groß" und „klein" den
14) Die englische Sprache ist bezOglich
der Zusammensetzung mehrerer Wörter zu
den romanischen zu rechnen.
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Charakter des Staates zu kennzeich¬
nen, in der Weise, daß er nur in beson¬
deren Fällen diese Hervorhebung an¬
wendet. 15 ) Gewöhnlich werden die
Großmächte nur als „Mächte" behan¬
delt, so daß es einen korrespondieren¬
den Ausdruck zur deutschen „Gro߬
macht" bei den romanischen Völkern
nicht gibt. Vermutlich werden neben
den Tendenzen der Sprache die staat¬
lichen Verhältnisse dazu mitgewirkt
haben, daß die Entwicklung des Aus¬
drucks in den nichtdeutschen Ländern
weniger weit ging als auf deutschem
Boden. Das Fehlen jener politischen
Zersplitterung, die eine Eigentümlich¬
keit der deutschen Geschichte ist
und die an der Bildung des techni¬
schen Ausdrucks „Großmacht" einen so
großen Anteil besitzt, brachte den grö߬
ten Teil der Voraussetzungen in Weg¬
fall, aus denen die scharfe wörtliche
Gegenüberstellung großer und kleiner
Staaten hervorging.
III.
Wir sind bisher lediglich der Ent¬
wicklung des Ausdrucks nachgegangen.
Selbstverständlich steht sie von vorn¬
herein in engster Verbindung mit der
Gestaltung des begrifflichen Inhalts, die
wir nunmehr ins Auge fassen. Erst in¬
dem wir uns mit dieser Frage beschäf¬
tigen, gewinnen wir den festen Stand¬
punkt für die Beurteilung des Wesens
der Großmacht
Wir kehren zu unserem Ausgang zu¬
rück. Wie dem Ausdruck, so liegt auch
dem Begriff „große Macht“ oder „Groß-
macht“ die Tatsache zugrunde, daß
15) Ich sehe davon ab, diese Feststellung
in einzelnen Beispielen zu erhärten, wie ich
denn auch nicht beabsichtige, für alle Spra¬
chen dem Problem nachzugehen. Vielleicht
nimmt ein linguistischer Fachmann Gelegen¬
heit sich mit der interessanten Frage wei¬
ter zu beschäftigen.
Original from
INDIANA UNIVERSITY
545
Paul Herre, Die Großmacht
546
man den Staat als eine Macht sieht,
die sich selbstsüchtig zu behaupten
strebt, und daß man ihm in einzelnen
Gebilden eine besondere Machtfülle
und Machtbedeutung zuerkennt Von
Machiavell bis zu Friedrich dem Gro¬
ßen beherrschte diese Erkenntnis in
voller Klarheit die Staatsmänner und
Politiker. Nach ihr wurde auch gehan¬
delt und ein hartes, aber wahres Wort
des Fürsten Kaunitz kennzeichnet das
Wesen staatlicher Praxis in diesem
Zeitalter: „Die Verträge sind nichts
mehr. Es falle der Staat der sich nicht
zu halten vermag.“ 16 ) Aber auch die
Wissenschaft vom Staate vertrat diese
Anschauung. Es ist kein Zufall, daß
man die Staaten vorwiegend unter dem
außerpolitischen Gesichtspunkte zu be¬
trachten pflegte. So stellte der säch¬
sische Völkerrechtslehrer und Diplomat
Emerich v. Vattel, dessen Lehrbuch des
Völkerrechts 17 ) auf Theorie und Praxis
der auswärtigen Politik im 18. Jahr¬
hundert einen entscheidenden Einfluß
Qbte, die bedeutungsvollen Erfahrungs¬
sätze auf: der einzelne Staat habe zur
Aufgabe die Pflicht der Selbsterhal¬
tung; das heiße, seine Macht so stark
zu machen, daß sie zur Abwehr eines
jeden ungerechten Angriffs ausreicht.
Auch Historiker und Publizisten, wie
Schmauß, Achenwall und Andllon, er¬
blickten in den Staaten selbstsüchtige Or¬
ganismen auf der Grundlage des Macht¬
zwecks. In voller Einheitlichkeit er¬
füllte der Staatsgedanke diese Gene¬
rationen, die die großen staatlichen
Kämpfe der alten und neuen Gro߬
mächte im Zeitalter Ludwigs XIV. und
Friedrichs des Großen vor Augen
16) Kaunitz an Graf Wassenaer. Brie! aus
dem Jahre 1782. Zit. in der anonym erschie¬
nenen (von v. Goldmann verfaßten?) Schrift
.Die europäische Pentarchie“. Leipzig 1839,
S. 281. 17) Leyden 1758 erschienen.
Internationale Monatsschrift
Digntized by Gck igle
hatten. Von der abstufenden Betrach¬
tung aus, wie wir sie als bestimmend
für die Aufstellung einer Gruppe von
Großmächten erkannt haben, beurteilte
Ancillon 18 ), der am Schluß dieser Reihe
steht, den Zustand des Staatensystems
für die Zeit nach dem Hubertusburger
Frieden folgendermaßen: „Fünf große,
zu Angriff und erfolgreicher Abwehr be¬
fähigte Mächte bieten, sich wechselseitig
scharf im Auge haltend, allen Staaten zwei¬
ten Ranges Anlehnungspunkte dar und
scheinen die Stabilität Europas zu sichern.“
Es könnte danach scheinen, als ob die
politischen Denker des 18. Jahrhunderts
bereits das Wesen der überragenden
Staatswesen richtig erkannt hätten, die
wir heute Großmächte nennen. In Wahr¬
heit waren ihrer Einsicht noch erhebliche
Schranken gezogen. Die neuere For¬
schung 19 ) hat uns über den Inhalt und
die Bedeutung der Wandlung unterrich¬
tet, die die Anschauung von den großen
Mächten in den Jahrzehnten um 1800
durchmachte. Es besteht eine auffällige
innere Verwandtschaft zwischen den
tatsächlichen Vorgängen des Staaten¬
lebens und der Beurteilung, die sie sei¬
tens der Praktiker und Theoretiker der
Staatskunst erfuhren. Weit weniger
noch, als das staatliche Handeln im Zeit¬
alter der sogenannten Kabinettskriege
von den wahrhaft organischen Kräften
der Völker getragen wurde, war die An¬
schauung von dem wirklichen Ver-
18) Tableau des rövolutions du Systeme
politique de l’Europe depuis la fin du 15*
siede. Berlin 1803. Teil 1 S. LXXI.
19) Vgl. die eindringende Untersuchung
Hermann v. Caeminerers, der allzufrüh der
geschichtlichen Forschung entrissen worden
ist: Rankes »Große Mächte“ und die Ge¬
schichtschreibung des 18. Jahrhunderts. Der
Aufsatz ist ein Beitrag der .Studien und
Versuche zur neueren Geschichte, Max Lenz
gewidmet von Freunden und Schälern“.
Berlin 1910.
18
Original from
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Paul Herre, Die QroBmacht
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ständnis staatlichen Wollens und Han¬
delns erfüllt Ganz rationalistisch mit
den aus dem Naturrecht abgeleiteten
Ideen von der Planmäßigkeit des ge¬
schichtlichen Verlaufs arbeitend, sah
man den Staat gleichsam seelenlos, als
eine äußerliche Zusammenballung von
Macht, über deren inneren Gehalt man
sich keine Gedanken machte. Gewiß
trieb man auch Wohlfahrtspolitik, aber
das Volk war lediglich Objekt nicht
Subjekt dieses staatlichen Interesses,
und nur in wenigen Ausnahmemenschen
streifte es die sittliche Auffassung, die
uns heute selbstverständlich dünkt
Eine politische Richtung, die mit dem
Aufstieg des Bürgertums in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Aus¬
druck gelangte, nahm an den Wirkun¬
gen fürstlichen Willkürregiments zwar
in steigendem Maße Anstoß, fiel jedoch
nur der andern Gefahr zum Opfer, die
Machtpolitik ganz zu leugnen. Diejeni¬
gen, die an der Anschauung vom Macht¬
charakter festhielten, blieben in den
oberflächlichen Ideen der alten Staats¬
kunst stehen. So meinte Ancillon, ein
jeder Staat müsse seine Macht nach
Kräften zu entfalten suchen, aber ma߬
gebend dafür war seine Rechnung, daß
auf diese Weise Friede und Gleich¬
gewicht am besten gewahrt würden.
Allein der große König drang in
seinen theoretischen Betrachtungen zu
der Erkenntnis vor, daß bestimmte ge¬
schichtliche Kräfte die Grundlage der
Staaten bildeten. Diese Wahrheit stand
ihm vor Augen, wenn er es als not¬
wendig hinstellte, daß das Wohl des
Staates nicht von den guten oder
schlechten Eigenschaften eines ein¬
zelnen Menschen abhänge, sondern
daß er sich durch sich selbst aufrecht¬
erhalte. 80 ) Jedoch auch in der über-
20) Politisches Testament von 1752. Aus¬
gabe von G. Küntzel S. 49.
ragenden Erscheinung Friedrichs des
Großen kam die verinnerlichende Auf¬
fassung des Staates schließlich nur in
der begrenzten Vorstellung des aufge¬
klärten Despotismus zu Worte, die dem
Volke lediglich eine passive Rolle zu¬
wies und der die Einsicht in die den na¬
tionalen Lebensbedingungen entsprin¬
genden Triebkräfte fremd blieb. Auch
hinsichtlich der Methode, die er zur
Durchführung seiner Machtpolitik hand¬
habte, blieb er auf dem Boden der alten
Staatskunst stehen, wenn er mit seiner
großen Art auch die engen Schranken
der herrschenden Richtung manchmal
durchbrach, indem er sich namentlich
des häufig gebrauchten Mittels der In¬
trige enthielt Im Stile der Kabinetts-
politik trieb er jene Politik der Fein¬
spinnerei, die im Italien der Renais¬
sance zur ersten Vervollkommnung ge¬
bracht worden war. Kaum ein anderer
Staatsmann hat so nachdrücklich den
Wert des Geheimnisses in der Politik
betont wie Friedrich. In diesem Punkte
offenbart sich besonders klar der Cha¬
rakter der älteren Generation großer
Staatswesen, die sich in der Person
des Herrschers zusammenfaßten.
Bis an die Jahrhundertwende blieb
dieser Zustand bestehen. Während die
Bewegung der Französischen Revolu¬
tion und der Befreiungskriege die
Dämme des alten Fürstenstaates nieder¬
riß und den neuen volksmäßigen Theo¬
rien Eingang in das Staatsleben ver¬
schaffte, lebte die Anschauung vom
alten Machtstaat in den leitenden Krei¬
sen fort Ein Theoretiker und Prak¬
tiker der Staatskunst wie Friedrich
v. Gentz, der unter seinen Zeitgenos¬
sen vielleicht das größte Verständnis
für den staatlichen Machtkampf besaß,
wuchs weder in inner- noch außerpoli¬
tischer Hinsicht über die Auffassung
des 18. Jahrhunderts hinaus. Dieser
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549
Paul Herre, Die Großmacht
550
Mann, der in seinem erbitterten Kampfe
gegen die Universalmonarchie Napo¬
leons zum überzeugtesten Wortführer
undVorkämpfer des europäischen Gleich¬
gewichts wurde, wog klar und nüchtern
die Interessen der Großmächte gegen¬
einander ab. Sorgsam wies er einer
jeden ihren besonderen Lebensumkreis
zu, indem er zugleich auf die Inter¬
essen der kleinen Staaten Rücksicht
nahm.* 1 ) Er zeigt sich uns auch als
Gegner des durch das revolutionäre
Frankreich zertrümmerten Absolutis¬
mus, wenn er die zukunftweisenden
Worte schreibt: „Die Fürsten, heißt es,
erziehen die Völker; und in einem ge¬
wissen Sinne verhält es sich auch so;
aber in einem höheren und umfassende¬
ren gilt es, daß die Völker die Fürsten
erziehen.“**) Jedoch die Folgerung aus
dieser Erkenntnis hat Gentz nicht ge¬
zogen. Wie seinen Vorgängern erschien
ihm der Staat nur als ein hohles
Machtgebilde, wenn ihn auch sein po¬
litischer Realismus in bezug auf das
Verständnis des Charakters staatlicher
Selbstsucht jenen bei weitem über¬
legen machte. Im Grunde trug auch er
bei Verfolgen seiner politischen Ziele
mehr der Verwirklichung eines ratio¬
nalistisch angenommenen Plans der
Weltordnung Rechnung als dem Wal¬
tenlassen der in den Nationen lebenden
Kräfte, und es ist kein Zufall, daß er
schließlich in den Dienst desjenigen
Staates trat, der in den Stürmen der
Vöikererhebung gegen den korsischen
Welteroberer frei von nationaler Lei¬
denschaft blieb.
Dem toten Berater und Mitarbeiter
schrieb Fürst Metternich den bezeich-
21) Ich denke namentlich an seine .Frag'
mente aus der neusten Geschichte des po¬
litischen Gleichgewichts in Europa*. St Pe¬
tersburg 1806.
22) Eb. S. XXXVIII.
Difitized by Gougle
nenden Nekrolog**): Gentz sei der
Mensch gewesen, der „jeder Art von
Romantismus am fernsten“ gestanden
habe; erst in den letzten fünf bis sechs
Jahren habe sich eine romantische Liebe
bei ihm ausgebildet; das sei der Anfang
vom Ende gewesen. Des großen Pu¬
blizisten politische Anschauungswelt ist
in ihren Vorzügen und Schwächen mit
diesem Wort, in dem natürlich auch alle
Einseitigkeit des österreichischen Staats¬
kanzlers mitklingt, treffend gekenn¬
zeichnet Das tiefere Eindringen in das
Wirken des Phänomens „Staat“ mußte
Gentz verschlossen sein, weil er bis in
sein Greisenalter ein Mensch des 18. Jahr¬
hunderts blieb.
Aber schon war die Anschauung vom
Staate in eine neue Entwicklungsphase
eingetreten, die zugleich ein neues Ver¬
ständnis der Großmacht brachte. Den
Anstoß gab die geistige Bewegung der
Romantik, die aus der nationalen Er¬
hebung der Völker emporwuchs. Wäh¬
rend in der vorangehenden Genera¬
tion universaler Humanitätsbestrebun¬
gen das staatliche Interesse sich in der
völligen Negierung des Staates er¬
schöpft hatte, gewann es unter der
überwältigenden Einwirkung des ge¬
schichtlichen Prozesses, der sich um die
Jahrhundertwende abspielte, einen ganz
neuen Inhalt Mit ihrer Bekämpfung des
rationalistisch-weltbürgerlichen Geistes
des 18. Jahrhunderts fand die roman¬
tische Bewegung endlich den festen
Standpunkt zu den umstrittenen Fragen
des staatlichen Daseins. Mit ihrem
Sinn für die Bedeutung der geschicht¬
lichen Kräfte, die der allgemeinen staat¬
lichen Entwicklung zugrunde liegen, er¬
faßte sie das geheimnisvolle Walten
23) Mettemidi an Prokesch-Osten. Wien,
15. Juni 1832. Aus dem Nachlasse des Gra¬
fen Prokesch- Osten. Wien 1881. Band 2
S. 118.
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Paul Herre, Die QroBmacht
552
des Volkstums, das in den einzelnen
Staaten lebt und durch sie Geltung
sucht zur gemeinsamen Arbeit für den
menschlichen Kulturfortschritt. Mochte
auch in diesen neuen Vorstellungen
mancher universale Zug wirksam blei¬
ben ; das Entschejdende war, daß es die¬
sen Vertretern der früheren Romantik
gelang, die feste Einheit zwischen Staat
und Nation theoretisch zu begründen.
Es ist nicht unsere Aufgabe, hier dem
Wachsen dieser Erkenntnis im einzel¬
nen nachzugehen; Friedrich Meinecke
hat es uns in seinem bedeutenden
Werke „Weltbürgertum und National¬
staat“ 24 ) unübertrefflich geschildert.
Von Herder beeinflußt, gewannen Nova¬
lis, Schlegel, Fichte, Arndt, Stein, Hum¬
boldt und Gneisenau in steigendem
Maße und vielfach im Gegensatz zu
eigenen früheren Vorstellungen Klar¬
heit über das Problem, und für man¬
chen von ihnen wurde sie der Antrieb
zur nationalen Tat. Vereinzelt rang sich
aus dem verwirrenden Kampf alter und
neuer Anschauungen auch schon die
Anschauung von der Individualität der
Staaten durch. Ein Novalis erklärte:
„Die Staaten werden verschieden blei¬
ben .solange die Menschen verschieden
sind 25 ),“ und ein Fichte schuf bereits
die Formel: „Völker sind Individualitä¬
ten mit eigentümlicher Begabung und
Rolle dafür." 26 ) Aber wie es bei der
Herkunft und dem Ziel der neuen Ge¬
danken nicht anders sein konnte: die
Betrachtung aller dieser politischen
Denker blieb im großen ganzen auf das
innere Leben der Staaten beschränkt
Ober dem Drange, die beherrschende
Frage des Verhältnisses von Staat, Na¬
tion und Individuum einer Lösung ent-
24) Manchen 1908, 3. Auflage 1915.
25) Schriften, hrsg. von Heilbom, Band 2
S. 291.
26) SämÜicfae Werke Band 7 S. 563.
gegenzuführen, wurde das nicht minder
umfassende Problem des Zusammen¬
lebens der Staaten untereinander aus
dem Auge verloren. Wohl ließ man
die Blicke über die Grenzen der Nation
schweifen und malte ein Nebeneinander
der Völker, das die Anerkennung der
Volksindividualitäten zur Grundlage
hatte. Jedoch die Vorstellung dieses
internationalen Zustandes irrte von den
geschichtlichen Gegebenheiten ab und
verlor sich unreal wieder in welt¬
bürgerliche Ideen, die das besondere
Machtinteresse des einzelnen Staates
außer acht ließen. Soviel neue hi¬
storische und politische Erkenntnis die
Romantik vermittelte: gerade für die
Frage des Großmaditdaseins hat sie
mehr verwirrt als geklärt mehr ge¬
schadet als genützt
In dieser Doppelrolle erscheint auch
Adam Müller, der erste systema¬
tische Vertreter romantischer Staats¬
wissenschaft der es nicht verabsäumt
hat neben dem innerstaatlichen Pro¬
blem sich mit den Fragen des inter¬
nationalen Zusammenlebens und der
Wirksamkeit verschiedener Staaten in¬
nerhalb eines Staatensystems zu be¬
schäftigen. 27 ) Wie Gentz, mit dem er
anfänglich aufs engste zusammenging,
wendet er sich in dieser Hinsicht mit
Schärfe gegen die Universalmonarchie.
Aber er bekämpft auch die neutralen
Staaten, die aus dem Kampf der Gro߬
mächte in größerer Zahl hervorzugehen
schienen und zu denen er stillschwei¬
gend die Gruppe schwacher Kleinstaa¬
ten rechnet die sich zwischen den über¬
ragenden Großstaaten nicht zu behaup¬
ten vermögen. Er stellt ihnen den „or¬
ganischen Rechtsstaat“ entgegen, in
27) Malier ist auffälligerweise in v. Caem-
merers Untersuchung unberücksichtigt ge¬
blieben. Vgl. dagegen Meineckes Werk,
Kapitel 7 des ersten Buches.
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Paul Herre, Die Großmacht
554
dem sich allein eine gesunde geschieht'
liehe Entwicklung äußere. Ein solcher
echter Staat jedoch kann nach seiner
Vorstellung nur der von nationalen
Kräften getragene Volksstaat sein, der
als besondere Individualität nach seinen
eigenen Lebensbedingungen handelt;
die unvenneidliche Auseinandersetzung
zwischen diesen daseinsberechtigten
großen Staatsindividuen bilde den In¬
halt des geschichtlichen Prozesses. Wie
charakteristisch sind die Ausführungen,
die Adam Müller der umwälzendsten
historischen Erscheinung, dem Kriege,
widmet* 8 ): „Es waren nicht sowohl die
Ansichten der Kabinette, welche den
Krieg bestimmten; es war niemals der
Eigensinn der Regierenden, wie ein
weichlicher, verderbter Pöbel sich die
Sache denken mochte; es waren immer
tiefer liegende, in der notwendigen
Konstruktion des gesamten Staatenver¬
hältnisses liegende Gründe.“ Kein Zwei¬
fel, daß hier bereits die Auffassung vom
Wesen des handelnden Staates formu¬
liert ist, die wir heute als richtig er¬
kennen und in voller Übereinstimmung
hegen. Und Müller stützt diese Erkennt¬
nis durch weitere Feststellungen, die
unser Interesse in Anspruch nehmen:
»Jeder wahre organische Rechtsstaat
muß beschränkt sein im Raume, da¬
mit er ein wirkliches, lebendiges
und abgeschlossenes Individuum sein
könne.“ 29 ) Nur Staaten, die dies innere
Gleichgewicht auf natürlicher Grund¬
lage besitzen, so meint er, sind „voll¬
ständig“, alle anderen einseitig. Europa
ist der vornehmste Sitz organischer
Staaten, und zwar sind es die „Fünf-
Reiche“ Großbritannien, Spanien, Ita¬
lien, Frankreich und Deutschland; ihnen
haben Natur und Geschichte „ein leben¬
diges rechtliches und unabhängiges Da-
28) Elemente der Staatskunst. Berlin 1809.
TeU 1 S. 287. 29) Eb. S. 276.
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sein“ gegeben. Diese Unabhängigkeit
zeigt sich auch unter allem Anschein
äußerer Abhängigkeit und äußerer Ähn¬
lichkeit der Sitten. „Übrigens sind auch
nur die unter den Fünf-Reichen, welche
der Idee der politischen Einheit nicht
treu geblieben oder welche sie aus¬
zuführen durch bisher unüberwind¬
liche Schwierigkeiten verhindert worden
sind, nämlich Deutschland und Italien,
einstweilen äußerlich abhängig gewor¬
den.“ 89 )
Entsprechen auch diese Sätze unse¬
rer heutigen Anschauung? Allerdings
werfen sie die frühere äußerliche Be¬
urteilung des staatlichen Daseins über
den Haufen, aber sie versagen in bezug
auf eine Wahrheit, die die vorangehenden
Generationen bereits besessen hatten
und die die unrealistische Betrachtung
des jüngeren romantischen Geschlechtes
bis zur Bedenklichkeit verdunkelte.
Während die Romantik mit hohem Ver¬
dienst am geschichtlichen Fortschritt
auf der einen Seite neue Erkenntnis er¬
schloß, ließ sie auf der andern mit
großer Schuld wertvollen Besitz fahren.
Sie entfremdete sich dem Machtgedan¬
ken, der mit dem Staate untrennbar
verbunden sein muß, soll dieser nicht in
seinem Handeln innerhalb des Staaten¬
systems lahmgelegt werden, und rückte
an seine Stelle, als die zur Tat drän¬
gende Kraft, ein wahrem staatlichen
Leben widersprechendes Rechtsprinzip.
Adam Müllers „Fünf-Reiche“, die er
als die „organischen Staaten“ seiner
Zeit ansah, waren nicht die Gro߬
mächte, die das Staatensystem be¬
herrschten. Spanien gehörte ihnen
schon damals mehr als 100 Jahre nicht
mehr zu, und die Gründe, die ihn das
zersplitterte und unter Fremdherrschaft
seufzende Deutschland und Italien den
30) Eb. S. 281.
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Paul Herre, Die Großmacht
556
Hauptmächten zurechnen ließen, schlos¬
sen sie vielmehr aus. Es kennzeich¬
net die von unlebendigen Rechtsvorstel¬
lungen beherrschte Anschauung, daß sie
von den beiden Großmächten Öster¬
reich und Preußen gänzlich absieht,
während Rußland, „welches bisher auf
einem Fuß stand, nun auf zweien steht",
im Begriff scheint, zu „gehen". 81 ) Aber
gerade in der Betätigung einer imma¬
nent wirksamen Rechtsidee faßt sich
für Müller alles echte staatliche Leben
zusammen; sie ist der „unsterbliche
Teil“ des „organischen vollständigen
Staates". 88 )
IV.
Die große Bedeutung, die diesen An¬
schauungen für die Entwicklung des
Großmachtsbegriffs zukommt, liegt klar
zutage. Adam Müllers Theorie hat zwar
einen besonders individuellen Charak¬
ter, aber im wesentlichen spiegelt sie
lediglich die romantische Schulmeinung
wider. Es ist bekannt, daß Karl Lud¬
wig v. Haller, der einflußreichste
Vertreter romantischer Staatswissen¬
schaft, dem staatlichen Machtgedan¬
ken noch viel ablehnender gegenüber¬
stand. 88 ) Vielfach im Widerspruch mit
den geschichtlichen Tatsachen, be¬
kämpfte der Schweizer, der Sohn des
gemischtnationalen Kleinstaates, grund¬
sätzlich die von Egoismus und Macht¬
streben getragene Betätigung. Dem¬
gemäß lehnte er auch die lebendige Er¬
scheinung der Großmacht mit Entschie¬
denheit ab, ganz befangen in patriar¬
chalischen Vorstellungen, die allen Rea¬
litäten hohnsprachen. „Kleinere Staa¬
ten sind die wahre, einfache Ordnung
der Natur, auf welche sie durch ver¬
schiedene Wege am Ende allemal wie-
31) Eb. S. 276. 32) Eb. S. 277.
33) Vgl. das zehnte Kapitel des Buches
Meineckes.
der zurückführt“ 81 ) Ja, in seiner patri-
monialstaatlichen Voreingenommenheit
entschwand ihm selbst der Sinn für die
entscheidende Bedeutung der nationa¬
len Triebkräfte, wie sie sein Vorgänger
erkannt hatte. In der herrschenden ro¬
mantischen Richtung, die zumal im
Preußen Friedrich Wilhelms IV. die
Führung erlangte^ trat an die Stelle
wachsenden Verständnisses für das
Wesen des handelnden Staates ein
völliges Unverständnis, das auf die
deutsche Entwicklung einen unheilvol¬
len Einfluß geübt hat
Sogar in den Kreisen, die die Tradi¬
tionen des 18. Jahrhunderts fortzu¬
setzen suchten, machte sich diese Rück¬
bildung geltend. Das lehrt das Bei¬
spiel des Göttinger Historikers Arnol d
Heeren. Auf den Schultern der kame-
ralistischen und historischen Schule
seiner Universität stehend, sah auch
er die Staaten vornehmlich in ihrem
Zusammenleben miteinander, und es
hätte bei dieser Betrachtung, die die
machtpolitischen Gesichtspunkte in den
Vordergrund rücken mußte, für ihn
nahegelegen, unter Benutzung der neuen
Erkenntnis romantischer Geschichts-
und Staatsanschauung nunmehr das klä¬
rende Schlußwort zu sprechen, zu dem
die Entwicklung drängte. Aber das
Gegenteil war der FalL Heeren blieb
nicht nur auf dem aufklärerischen
Standpunkte der äußerlichen Betrach¬
tung des Staates stehen, indem er Adam
Müllers vertiefende Auffassung außer
acht ließ. Er entfremdete sich sogar, in
der Erkenntnis absteigend, seinen Vor¬
gängern und gab in bezug auf die Ein¬
schätzung des Machtprinzips dem ro¬
mantischen Einfluß nach. So krankt
sein Urteil über die Großmächte an
einer seltsamen Unklarheit Auf der
34) Restauration der Staatswissenschaft
Band 2 S. 535.
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Paul Herre, Die Großmacht
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einen Seite hat er ein volles Verständ¬
nis für das Dasein dieser „Aristokratie
der Hauptmächte“. Entsprechend der
politischen Wirklichkeit zählt er ihnen
Österreich, Rußland, England, Preu¬
ßen und Frankreich zu, während Por¬
tugal, Schweden und Spanien, die sich
den internationalen Abmachungen von
1815 später anschlossen, erst in weitem
Abstande folgen. 86 ) Auf der anderen
Seite aber erklärt und rechtfertigt er
die bestimmende Rolle der Großmächte
mit rein rationalistischen Argumenten.
Diese Aristokratie scheint ihm nützlich
und nötig, „weil sie aus der Natur der
Dinge hervorgeht", und unverdächtig,
„weil sie öffentlich ist“: „sie bildet ge¬
wissermaßen einen europäischen Senat,
dem es nur noch an einer festen Form
fehlt“ 8 «)
Das Bemerkenswerteste dieser An¬
schauung ist, daß ihr jede Vorstellung
von dem selbstsüchtigen Machtstreben
des Großstaates verlorengegangen war.
Heeren hat die Lücke, die dadurch in
die Beurteilung staatlichen Handelns
gerissen wurde, selbst gefühlt, und er
hat versucht, sie auf eigenartige Weise
auszufüllen. Er setzt voraus, daß sich
die Wirksamkeit der großmächtlichen
Aristokratie, um wohltätig zu sein, auf
die allgemeinen Angelegenheiten be¬
schränke, und er muß zugeben, daß sie
schädlich sei, wenn sie diese Grenzen
überschreite. Um der Politik aber die
höhere Sanktion zu geben, die die Di¬
plomatie nicht bieten kann, ruft er,
ganz Romantiker, die Religion zu Hilfe.
Er sieht so die Verbindung der Heiligen
Allianz als einen Zustand an, der das
staatliche Zusammenleben dauernd zu
35) Handbuch der Geschichte des euro¬
päischen Staatensystems und seiner Kolo¬
nien. 4. Aufl. Göttingen 1822. (Sämtliche
Werke Band 9) S. 443.
36) Eb. S. 444.
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regeln imstande sei, indem die religiöse
Gesinnung den für die menschliche Ent¬
wicklung schädlichen Äußerungen staat¬
lichen Machtstrebens Halt gebietet
Diese durch und durch unhistorische
Auffassung hat ihre Begründung in der
unbedingten Verwerfung des staat¬
lichen Egoismus. Es steht für Heeren
fest daß das Staatensystem auf der
Unabhängigkeit seiner einzelnen Glie¬
der beruht aber er sieht diese wieder
ganz äußerlich und kümmert sich nicht
darum, inwieweit und weshalb ihre
Macht ungleich ist Genug: die Prinzi¬
pien der Heiligkeit des Besitzstandes
und des politischen Gleichgewichts bil¬
den seine Grundlage; ein System, in
dem der Egoismus herrscht „nähert
sich seiner Auflösung“. 87 ) Demgemäß
findet ein Staat wie Preußen, der sich
von seinem gesunden Egoismus zur
Großmacht emportragen ließ, eine ent¬
schiedene Verurteilung. Friedrich dem
Großen selbst bringt Heeren eine per¬
sönliche Bewunderung entgegen. Im
übrigen aber ist sein Urteil: „Das Ent¬
stehen einer Macht in einem Staaten¬
system, der Vergrößerung Bedürfnis ist,
kann nicht anders als gefährlich für
dasselbe sein.“ 88 )
Daß ein führender Historiker, der
der auswärtigen Politik der Staaten
sein besonderes Interesse zuwendete,
solche Ansichten vertrat und auf die
Mitlebenden damit eine große Wirkung
übte, war nur deshalb möglich, weil das
staatliche Zusammenleben in der Epoche
der Restauration zeitweilig selbst von
Einflüssen beherrscht wurde, die außer¬
halb der staatlichen Daseinsbedingun¬
gen lagen. In dem Augenblick, wo sich
die gegensätzlichen Machtinteressen der
Großmächte wieder siegreich gegenüber
wirklichkeitsfremden Prinzipien durch-
37) Eb. S. 7.
38) Eb. Band 8 S. 339.
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Paul Herre, Die QroBmacht
560
setzten, öffnete sich das Tor für klarere
Vorstellungen. Zumal hinsichtlich der
politischen Anschauungen verrichtete
der langsam emporsteigende Realis¬
mus in Deutschland ein heilsames und
erzieherisches Werk. So wurde Schritt
für Schritt der verlorengegangene Bo¬
den wiedergewonnen.
An der Schwelle der neuen Zeit steht
Hegel, der große Vorkämpfer der
idealistischen und spekulativen Philo¬
sophie. Mit hervorragendem realpoliti¬
schem Verständnis wußte er die Er¬
kenntnis der aufklärerischen und ro¬
mantischen Denker zu verbinden, um
dem Staat sein Recht zurückzugeben. 39 )
Die Machtpolitik als die entscheidende
Äußerung staatlichen Handelns erlebte in
der „Philosophie des Rechts“ ihre Wie¬
derauferstehung ebenso wie das aus dem
„Volksgeist“ verstandene nationale Prin¬
zip als die bestimmende Kraft staat¬
licher Entwicklung. Hegel sah wieder
den von besonderen Interessen geleite¬
ten Volksstaat: „als einzelnes Indivi¬
duum ist er ausschließend gegen andere
ebensolche Individuen.“ Die zukunft¬
weisenden Anschauungen des 18. Jahr¬
hunderts und der Romantik schienen zu
der Einheit verknüpft, die das wahre
Verständnis des handelnden Staates er¬
schließen mußte. Indessen von speku¬
lativen, universalistisch gefärbten Ideen
erfüllt, vermochte der große Philosoph
nicht die Folgerung aus seinen eigenen
Feststellungen zu ziehen. Mit der An¬
nahme auserwählter Völker, die als die
Werkzeuge des Weltgeistes jeweils be¬
rechtigt sind, die Weltherrschaft aus¬
zuüben, blieb Hegel, Fichte nahekom¬
mend, auf dem Wege zur letzten Er¬
kenntnis vor dem Ziele stehen. Die be¬
wertende Klassifizierung der Nationen
verdunkelte ihm den Blick für das We-
39) Im einzelnen vgl. Meinecke, Kapitel 11
des ersten Buches.
sen der großen Staaten, deren Wirken
den geschichtlichen Gang bestimmt.
Nicht der Philosoph, sondern der Hi¬
storiker machte endgültig die Bahn frei.
Leopold v. Ranke wurde dank sei¬
ner genialen Veranlagung, die mit dem
großartigen geschichtlichen Sinn ein
klares Verständnis für das Bestehende
verband, der vielbewunderte Interpret
und Verkünder der tatsächlichen Er¬
scheinung der Großmacht. 40 ) Oberall
knüpft seine Anschauung an die frühe¬
ren Vorstellungen an, aber indem sie
jeder Einseitigkeit ausweicht und immer
wieder der wahrhaft geschichtlich er¬
faßten Bedingtheit Rechnung trägt, ver¬
breitet sie ein geradezu neues Licht
über das komplizierte großstaatliche
Gebilde. Von großer Bedeutung waren
die Lehren, die ihm der von Gentz ver¬
mittelte Einblick in das politische Ge¬
triebe der Großmächte erteilte. 41 ) Die
Beobachtung der erneut zum Durch¬
bruch gekommenen großstaatlichen In¬
teressengegensätze schärfte sein Auge
für den besonderen Daseinsinhalt der
überragenden Staatswesen und führte
ihn dazu, sich grundsätzlich mit ihnen
auseinanderzusetzen. So erstand im
zweiten Jahrgang seiner „Historisch¬
politischen Zeitschrift“ das schon ge¬
nannte großartige Fragment „Die gro¬
ßen Mächte“; so behandelte das als
Schlußwort der Zeitschrift geschriebene
„Politische Gespräch“ von 1836 das Pro¬
blem nochmals in allgemeinerem Zu¬
sammenhänge, und durch all die objek¬
tiv-ruhigen geschichtlichen Arbeiten der
späteren Schaffenszeit Rankes blitzt
40) Auch für Ranke verweise ich auf Mei¬
neckes Werk, dessen zwölftes Kapitel ihm
und Bismarck gewidmet ist. Eine ins ein¬
zelne gehende Untersuchung der politischen
Anschauungen Rankes verdanken wir O.
Diether: Ranke als Politiker. Leipzig 1911.
41) Darauf legt v. Caemmerer mit Recht
großen Wert. A. a. O. S. 310 ff.
Original fram
INDIANA UNtVERSITY
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561
Paul Her re, Die Großmacht
immer wieder hell und klar jene Er¬
kenntnis auf, die das Fundament des
Verständnisses staatlichen Einzelda¬
seins und staatlichen Zusammenlebens
bleiben wird.
Das Besondere Rankescher Auffas¬
sung von der Großmacht ist nicht so sehr
die Feststellung ihres von staatlichem
Egoismus bestimmten Machtcharakters
und ihrer von eigensten Lebensbedin-
gungen geleiteten Individualität; beides
hatten bereits die vorangehenden Den¬
ker erkannt Was ihn über diese hin-
anshebt und zum Repräsentanten einer
ganz neuen Anschauungswelt macht, ist
die kühle Folgerung, die er zuerst aus
jenen Vorstellungen zog. Rankes Macht-
Staat ruht auf der Nation. Aber indem
er tatsächlich Greifbares und unreal
Geistiges in ein innerliches Verhältnis
brachte, umging er die Einseitigkeit, die
die frühere Beurteilung der nationalen
Kräfte hemmte. Die Nation macht den
Staat aber der Staat macht auch die
Nation: das ist sein Grundsatz. Ent¬
scheidend ist die von selbstsüchtigen
Antrieben getragene lebendige Kraft in
der Gestalt der dem Staate innewoh¬
nenden moralischen Energie. So ist für
Ranke der moderne Staat: „ein Staat
von organischer Einheit von einem ein¬
zigen und durchgehend herrschenden
Interesse". 48 ) Innere und äußere Ent¬
wicklung werden in untrennbarer Be¬
ziehung zueinander gesehen, da für
beide die eine Grundkraft treibend ist.
»In jedem unserer großen Staaten", so
sagt er 43 ), „ist ein lebendiges, individu¬
elles, ihnen innewohnendes Prinzip, von
dem seine Tätigkeit nach außen, seine
innere Gestaltung abhängt"
Damit ist dem lebendigen Staat das
42) »Die spanische Monarchie*, Einleitung.
Sämtliche Werke Band 35-36 S. 87.
43) »Politisches Gespräch*. Eb. Band 49—50
S. 332.
Internationale Monatsschrift
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562
uneingeschränkte Recht zuerkannt zu
sein, zu bleiben und zu wachsen. Aber
dieses höchste Recht auf besonderes
Dasein erscheint Ranke zugleich als
bindende Pflicht „Das Maß der Unab¬
hängigkeit“, so folgert er unerbittlich,
„gibt einem Staate seine Stellung in der
Welt; es legt ihm zugleich die Notwen¬
digkeit auf, alle inneren Verhältnisse zu
dem Zweck einzurichten, sich zu be¬
haupten. Dies ist sein oberstes Ge¬
setz.“ 44 ) Egoismus wie Machtstreben
erscheinen so wie Äußerungen, die aus
den innersten Lebenskräften des gro¬
ßen Volkes notwendig herauswachsen,
nicht nur wie Eigenschaften, die zu¬
fällig Herrschern und Regierungen an¬
haften. Dieser vertiefenden Beurteilung
entspricht Rankes sittliche Auffassung
vom Machtstreben des großen Staates.
Machtpolitik sieht er untrennbar mit
staatlicher Geltung verbünden, und
mit beinahe friderizianischen Worten
spricht der Historiker zu seinem Volk:
„Um etwas zu sein, muß man sich er¬
heben aus eigener Kraft, freie Selbstän¬
digkeit entwickeln, und das Recht, das
uns nicht zugestanden wird, müssen
wir uns erkämpfen." 4Ö ) Es ist durch¬
aus richtig, wenn man den Inhalt der
Politik in Rankes Sinn dahin bezeich¬
net hat: sie sei „machtmehrende Ver- *
folgung derjenigen staatlichen Inter¬
essen, welche die innere Ordnung und
die äußere Geltung fördern". 46 ) Von
der Überzeugung ausgehend, daß das
Machtstreben nur der notwendige Aus¬
fluß im Staate organisierter nationaler
Lebenskräfte ist, weist Ranke den Ein¬
wand zurück, daß die Anerkennung
44) Eb. S. 334. 45) Eb. S. 327.
46) M. v. Szczepanski, Rankes An¬
schauungen Ober den Zusammenhang zwi¬
schen der auswärtigen und der inneren Politik
der Staaten. Zeitschrift für Politik. Band 7
S. 618.
I^figiral frcm
INDIANA UNiVERSITY
563
Paul Her re. Die Großmacht
564
einer solchen Machtpolitik zur Gut¬
heißung roher Gewalt führe, 47 ) Selbst
der Krieg erscheint ihm lediglich als ein
„Wettstreit der moralischen Energie“ 48 ).
er prägt das kühne Wort .-„Große Ar¬
meen werden gebildet, um große Ge¬
danken durchzuführen.“ 49 )
Jm ganzen gesehen steht Rankes Auf¬
fassung vom Staate und seinen Da¬
seinsbedingungen den Anschauungen
des 18. Jahrhunderts näher als denen
der Romantik. Ja, sie will das in aus¬
drücklicher Absicht Denn der große
Historiker, der sich über dielrrtümer der
deutschen Politik seiner Zeit klar ge¬
worden war, hatte sich das hohe Ziel
gesteckt, seinen Landsleuten die Augen
zu öffnen über das wahre Wesen der
großen Staaten. So stellte er in diesen
publizistischen Arbeiten geflissentlich
alles zurück, was das Bild der groß-
staatlichen Aufgaben und Mittel trüben
konnte, was den verwirrenden Vorstel¬
lungen der Humanität und Romantik
entgegenkam. Unter diesem Gesichts¬
punkt erklärt sich das absprechende
Wort, daß „die oft so zweifelhafte För¬
derung der Kultur“ nicht den einzigen
Inhalt der großen Völkerkämpfe der
Geschichte bilde. 60 ) Im übrigen lehrt
die ganze Geschichtsauffassung Ran¬
kes, daß der von ihm in seinem Wesen
scharf erfaßte Machtstaat im wahrsten
Sinne eine Kulturerscheinung ist Wie
sehr diese staatlichen Individualitäten
bei aller Eigenheit ihres Wollens und
Handelns doch ganz idealistisch im
allgemeinen geschichtlichen Zusammen¬
hänge gesehen sind, bringt ein anderes
Wort zum Ausdruck. Sie erscheinen ihm
„in unaufhaltsamer Entwicklung begrif-
47) „Politisches Gespräch*. A. a. O. S. 334.
48) Eb. S. 327.
49) „Weltgeschichte“. Band I, 2 S. 221.
50) „Die Großen Mächte*. Sämtl. Werke
Band 24 S. 39.
Digitized by Gougle
fen, mitten in den Verwirrungen der Welt
durch inneren Trieb nach dem Ideal fort¬
schreitend, eine jede auf ihre Weise“. 51 )
Mit dem ihm angeborenen geschicht¬
lichen Instinkt und mit dem an der
staatlichen Wirklichkeit geschärften po¬
litischen Urteil hat es Ranke weise ver¬
mieden, die großartige Mannigfaltigkeit
seiner Eikenntnis in einengende For¬
meln zu gießen. Er unterließ es, dem
tragenden Grundbegriff der Nationali¬
tät einen einschränkenden Stempel auf¬
zudrücken und ihn des mehrdeutigen
Sinnes, wie ihn die Geschichte kennt,
zu berauben. Er umging es, den neu¬
entdeckten Machtstaat in einer politi¬
schen oder staatsrechtlichen Wendung
zu umschreiben. Gerade dieses beson¬
nene und verzichtende Offenlassen, an
dem seine unvergleichliche künstle¬
rische Gestaltungskraft einen hervor¬
ragenden Anteil hat, sichert seinen Fest¬
stellungen die Unvergftnglichkeit Noch,
heute gilt, was Ranke 1833 von den gro¬
ßen Mächten zusammenfassend schrieb:
„Es sind Kräfte, und zwar geistige,
Leben hervorbringende, schöpferische
Kräfte, selber Leben, es sind moralische
Energien, die wir in ihrer Entwicklung
erblicken. Zu definieren, unter Abstrak¬
tionen zu bringen sind sie nicht; aber
anschauen, wahmehmen kann man sie;
ein Mitgefühl ihres Daseins kann man
sich erzeugen. Sie blühen auf, nehmen
die Welt ein, treten heraus in dem man¬
nigfachsten Ausdruck, bestreiten, be¬
schränken, überwältigen einander; in
ihrer Wechselwirkung und Aufeinan¬
derfolge, in ihrem Leben, ihrem Ver¬
gehen oder ihrer Wiederbelebung, die
dann immer größere Fülle, höhere Be¬
deutung, weiteren Umfang in sich
schließt, liegt das Geheimnis der Welt¬
geschichte.“ 6 *) (Schluß folgt)
51) „Politisches Gespräch*. A.a.0. S.339.
52) „Die Großen Mächte*. A. a.O. S.39—40.
Original from
INDIANA UNIVERSIT7
505 Fr- Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 50g
Die internationale Meeresforschung vor und nach
dem Kriege.
Von Fr. Heincke.
I.
Die Vereinigung der Staaten Gro߬
britannien und Irland, Deutschland,
Rußland und Finnland, Norwegen,
Schweden, Dänemark, Niederlande und
Belgien zur gemeinsamen wissenschaft¬
lichen Erforschung der nordeuropäi¬
schen Meere im Dienste der Seefische¬
rei, kürzer die internationaleMee-
resforschung, wurde auf Grund des
Christiania-Programms von 1901 be¬
gründet Nach Genehmigung desselben
durch die beteiligten Regierungen und
Bereitstellung der nötigen Mittel konnte
die gemeinsame Arbeit organisiert und
im Jahre 1902 begonnen werden.
Die nächste Aufgabe der internatio¬
nalen Meeresforschung war die natur¬
wissenschaftliche Erforschung der nutz¬
baren Fische unserer nordeuropäischen
Meere, insbesondere der noch sehr we¬
nig bekannten physischen und biologi¬
schen Bedingungen ihres Lebens, ihrer
Ernährung und Fortpflanzung, ihres
Wachstums, ihrer Wanderungen u. a.
Das große Endziel der Arbeiten ist,
durch solche Kenntnisse die wissen¬
schaftlichen Grundlagen zu schaffen für
eine vernünftige Bewirtschaftung des
Meeres an Stelle der plan- und rück¬
sichtslosen Ausnutzung durch den
gegenwärtigen Betrieb der Seefische¬
rei. Dabei galt es zunächst die Mög¬
lichkeit von Schonmaßregeln für ge¬
wisse von der jetzigen Raubfischerei
besonders stark betroffene Nutzfisch¬
arten zu prüfen und gegebenenfalls
solche Schonmaßregeln durch interna¬
tionales Übereinkommen gesetzlich ein¬
zuführen. Bei der Organisierung der
Digitized by Gougle
internationalen Meeresforschung war
das Wichtigste, daß die Forschungen
über die in Betracht kommenden phy¬
sischen Verhältnisse des Meeres, über
den Betrieb und die Erträge der Fische¬
reien und über die einzelnen Nutzfische^
z. B. den Hering und die Scholle, von
allen beteiligten Ländern gleichzeitig in
allen Teilen des großen Untersuchungs-
gebietes und nach denselben wissen¬
schaftlichen Methoden ausgeführt wur¬
den. Dazu wurde eine leitende und kon¬
trollierende Zentralstelle errichtet, der
aus je zwei Delegierten von jedem Staat
zusammengesetzte und meist jährlich
einmal zusammentretende Zentral-
aus schuß mit einem festen Zentral¬
bureau in Kopenhagen für die Ge¬
schäftsführung und die Herausgabe der
gemeinsamen Veröffentlichungen. Die
Kosten der Zentralstelle trugen die be¬
teiligten Staaten gemeinsam mit nach
ihrer Größe abgestuften jährlichen Bei¬
trägen. Den Vorsitzenden des Zentral¬
ausschusses stellte zuerst, bis 1908,
Deutschland, dann, bis 1912, England,
dann wieder Deutschland. Die Ausfüh¬
rung der eigentlichen Forschungsarbeit
selbst war Sache der einzelnen betei¬
ligten Länder und geschah auf deren
Kosten; sie setzten ihrerseits wieder
besondere staatliche Kommissionen da¬
für ein, errichteten wissenschaftliche
Laboratorien an Land und stellten vor
allem für die Arbeit auf See besondere
für diesen Zweck erbaute oder einge¬
richtete Untersuchungsdampfer bereit,
so Deutschland den Reichsforschungs¬
dampfer „Poseidon". So entstand nach
und nach ein großer Apparat von La-
Original from
INDIANA UNIVERSITY
567 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 568
boratorien und Untersuchungsfahrzeu¬
gen jeder Art und ein Stab von mehr als
hundert Gelehrten, womit die wissen¬
schaftliche Erforschung unserer Meere
bald in weit größerer Ausdehnung und
mit größerer Kraft ausgefQhrt werden
konnte, als jemals zuvor.
Nach Überwindung der ersten me¬
thodischen und praktischen Schwierig¬
keiten, die bei der Größe und Mannig¬
faltigkeit der Aufgaben längere Zeit er¬
forderte, sind bald sowohl allgemein-
wissenschaftliche wie praktische Er¬
folge erzielt worden. Diese Erfolge
und die Notwendigkeit, sie zu ver¬
größern und auszubauen, bewirkten,
daß die anfangs nur für einen Zeitraum
von fünf Jahren geplanten Arbeiten
wiederholt verlängert wurden. Sie ver-
anlaßten auch im Jahre 1913 die Ver¬
einigten Staaten von Nordamerika, der
europäischen Vereinigung beizutreten,
weil sie sich praktischen Nutzen für
ihre eigenen Seefischereien davon ver¬
sprachen. Auch unsere europäischen
Regierungen mußten sich überzeugen,
daß die öffentlichen Mittel, die ja
hauptsächlich für die Erreichung prak¬
tischer, meerwirtschaftlicher Ziele ge¬
währt wurden, fruchtbringend verwen¬
det waren. Im Jahre 1913 konnte der
Zentralausschuß für die internationale
Meeresforschung den beteiligten Regie¬
rungen die ersten auf praktisch-wissen¬
schaftliche Untersuchungen begründe¬
ten Vorschläge vorlegen zu einem ge¬
setzlichen Mindestmaß für die Landung
und den Verkauf der Scholle in der
Nordsee.
In diesem Augenblick, wo Gelehrte,
Fischer und Gesetzgeber der beteilig¬
ten Staaten den ersten wohlüberlegten
und erfolgverheißenden Schritt zu einer
vernünftigen Bewirtschaftung des Mee¬
res tun wollten, unterbrach der Krieg
jählings die internationale Arbeit und
machte ihre Fortsetzung so gut wie un¬
möglich. Zwar besteht das Zentral¬
bureau in Kopenhagen noch weiter, da
die meisten Staaten, auch England, ihre
Beiträge im ersten Kriegsjahre weiter¬
gezahlt haben, aber dieser anerkennens¬
werte Versuch, die zentrale Organisa¬
tion während des Krieges und darüber
hinaus zu erhalten, bedeutet doch
kaum mehr als die Möglichkeit, ge¬
wisse laufende Veröffentlichungen des
Zentralbureaus abzuschließen.
Am schwersten ist durch diesen plötz¬
lichen Abbruch der internationalen Ar¬
beiten die deutsche Meeresfor¬
schung betroffen worden. Gerade sie
hatte ihre besten Kräfte an die Lösung
der neuen wissenschaftlichen Aufgaben
gesetzt und bei mancher derselben die
Organisierung und die geistige Füh¬
rung übernommen. Nun ist sie mit
einem Male ganz zur Untätigkeit ver¬
urteilt Der Seekrieg und der Still¬
stand der deutschen Hochseefischerei
machen wissenschaftliche Forschungs¬
arbeiten auf See und in den Fischerei¬
häfen unmöglich. In unseren Meeres¬
laboratorien an Land kann kaum noch ge¬
arbeitet werden; ihre Gelehrten stehen
im Felde oder die Anstalten sind ganz
geschlossen, wie Helgoland. Überall
aber fehlen zugleich die allemotwen-
digsten Geldmittel, und so ist es zum
größten Schaden der Sache nicht ein¬
mal möglich, wichtige angefangene Ar¬
beiten abzuschließen und zu veröffent¬
lichen. Die neutralen Staaten und selbst
England sind hierin weit besser dran
als Deutschland; die ersteren haben so¬
gar ihre Arbeiten auf See teilweise fort¬
setzen können.
Für die internationale Meeresfor¬
schung bedeutet der Krieg, wie für so
viele andere Friedenswerke, ein großes
Unglück. Ihr Schicksal im Kriege wird
aber noch ein besonderes durch den
Original from
INDIANA UNtVERSITY
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Gck igle
569 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 570
ausgesprochen internationalen Charak¬
ter ihres Gebietes, des Meeres, und
ihres Hauptgegenstandes, der Hochsee¬
fischerei. Geht es in diesem Kriege um
die Freiheit der Meere, so gewiß auch
um die Freiheit der Seefischerei; diese
kann nur bedeuten eine auf freies Über¬
einkommen aller Völker gegründete ge¬
meinsame wirtschaftliche Ausnutzung
des Meeres, gesichert durch einen ge¬
setzlich geregelten vernünftigen Betrieb
der Fischerei und durch internationale
Fischerei vertrüge. Diese zu fördern ist
aber nach dem Christiania-Programm
von 1901 das wichtigste praktische Ziel
der internationalen Meeresforschung.
Angesichts der üblen Lage, in die
der Krieg die internationale Meeresfor¬
schung und im besonderen die deutsche
Meeresforschung gebracht hat und bei
der großen Gefahr, die ihrem Fort¬
bestehen droht ist es nötig jetzt noch
während des Krieges klare Einsicht in
einige wichtige Fragen zu bekommen,
von deren Beantwortung ihr ferneres
Schicksal abhängt Diese Fragen sind
folgende
Erstens: Ist die internationale Mee¬
resforschung notwendig und unentbehr¬
lich zur Erreichung wichtiger wissen¬
schaftlicher und praktischer Ziele für
die Beherrschung des Meeres durch
den Menschen? Sind ihre bisherigen
Leistungen und Erfolge groß genug, um
die dafür aufgewandten öffentlichen
Staatsmittel zu rechtfertigen und die
Gewährung weiterer Mittel zu fordern?
Muß sie daher nach Beendigung des
Krieges auf jeden Fall wieder auf¬
genommen werden?
Zweitens: Ist ihre Wiederaufnahme
in absehbarer Zeit nach Friedensschluß
möglich?
Drittens: Hat Deutschland ein be¬
sonderes Interesse an ihrer Förderung
und Fortsetzung?
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Um die erste und wichtigste dieser
Fragen recht zu verstehen, muß man
sich klarmachen, daß die internatio¬
nale Meeresforschung dreifacher Art ist:
erstens eine Erforschung des Meeres im
allgemeinen, zweitens eine Forschung
im Dienste der Seefischereien und drit¬
tens eine internationale, also gemein¬
same Arbeit mehrerer Länder.
II.
Die allgemeine Meeresfor¬
schung umfaßt die gesamten phy¬
sischen und biologischen Verhält-
hältnisse des Meeres. Begründet und
zuerst ausgebaut von den mehr see¬
fahrenden Völkern, namentlich Eng¬
land, ist sie in den letzten Jahrzehnten
auch durch Deutschland gefördert und
erweitert worden, so besonders durch
die Deutsche Plankton-Expedition des
„National“ (1889) und die Deutsche Tief-
see-Expedition der „Valdivia“ (1898).
Die deutsche Wissenschaft hat hier Be¬
deutendes geleistet durch die Auffin¬
dung neuer fruchtbarer Untersuchungs¬
methoden, besonders der Hensenschen
quantitativen Bestimmung des Plank¬
tons, d. h. der frei im Wasser schwe¬
benden Umahrung aller höheren Mee¬
restiere; durch sie ist die Grundlage
für eine allgemeine Biologie des Meeres
geschaffen und die Erkenntnis des inne¬
ren Zusammenhanges zwischen den
physischen und biologischen Verhält¬
nissen des Meeres mächtig gefördert
worden. Bei solchen Forschungen
wurde es auch bald klar, daß sie auf
die Dauer nur durch internationales Zu¬
sammenarbeiten mehrerer Länder er¬
folgreich sein konnten. Die gewaltige
Größe und Unzugänglichkeit des Mee¬
res erfordern sehr bedeutende Mittel
und Kräfte, die ein einzelnes Land nicht
aufbringen kann. Die räumliche Verbin¬
dung aller Meere untereinander und der
Original fro-m
INDIANA UNIVERSITY
571 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 572
damit gegebene Zusammenhang aller
ihrer physischen und biologischen Vor¬
gänge verlangt die Anwendung glei¬
cher, durch internationale wissenschaft¬
liche Arbeiten festgestellter Unter¬
suchungsmethoden. Neuere Forschun¬
gen über die hydrographischen Verhält¬
nisse des nordatlantischen Ozeans, na¬
mentlich seiner Strömungen, haben er¬
geben, daß ihr Verlauf und ihre pe¬
riodischen Schwankungen in ursäch¬
lichem Zusammenhang stehen mit der
Witterung in Mittel- und Nordeuropa
und dadurch auch mit der Fruchtbar¬
keit unserer Meere und Länder, die also
durch ozeanische Verhältnisse wesent¬
lich mitbedingt werden. Die Witte¬
rungsbeobachtungen sind bekanntlich
seit geraumer Zeit international orga¬
nisiert; dasselbe muß auch mit den hy¬
drographischen Meeresbeobachtungen
geschehen.
Die allgemeine Meeresforschung in
dieser ihrer neuen Gestalt als ange¬
wandte Naturwissenschaft ist nun die un¬
entbehrliche Grundlage und die Voraus¬
setzung des Erfolges für die besondere
Meeresforschung im Dienste
der Seefischerei. Auch sie ist ge¬
boren im Beginn des vorigen Jahrhun¬
derts. Aber nicht wie jen^ aus allge¬
meinem Wissenstrieb, angeregt durch
die gewaltige Steigerung der übersee¬
ischen Schiffahrt, sondern unmittel¬
bar aus einer großen wirtschaft¬
lichen Not der Seefischerei, wie
sie damals an den Westküsten Schwe¬
dens und Norwegens durch das plötz¬
liche Fernbleiben der gewohnten Fisch¬
züge, besonders des Herings, entstan¬
den war. Wo lagen hier die Ursachen:
in menschlichem Verschulden durch un¬
vernünftigen Betrieb der Fischerei oder
allein in natürlichen Verhältnissen, auf
die der Mensch keinen Einfluß hatte?
War Abhilfe möglich? Indem die Re¬
gierungen der nordischen Länder zur Be¬
antwortung dieser wirtschaftlich über¬
aus wichtigen Fragen auch die Hilfe
der Naturwissenschaft als unentbehr¬
lich erkannten, entstanden im ersten
Drittel des vorigen Jahrhunderts die
ersten wissenschaftlichen Meeresunter¬
suchungen im Dienste der SeefischereL
Im Aufträge und mit Unterstützung des
Staates sind so in unseren nordischen
Nachbarländern eine fortlaufende Reihe
grundlegender Untersuchungen über die
Naturgeschichte wichtiger Nutzfische,
namentlich des Kabeljaus und Herings,
durch namhafte Forscher, wie Nilsson,
G. O. Sars u. a., ausgeführt und bis in
die neueste Zeit fortgesetzt worden.
Diese neue Art der praktisch-wissen¬
schaftlichen Meeresforschung wurde in
der Folge zunächst in Deutschland von
der 1870 begründeten Kieler Kommis¬
sion zur Untersuchung der deutsdien
Meere mit großem Eifer aufgenommen
und mit deutscher Gründlichkeit ver¬
tieft und ausgebaut Nord- und Ostsee
wurden jetzt zum ersten Male physisch
und biologisch planmäßig erforscht und
im besonderen die Bearbeitung der Na¬
turgeschichte wichtiger Nutzfische, wie
des Herings, in Angriff genommen.
Diese in vieler Beziehung bahnbrechen¬
den und vorbildlichen Arbeiten der Kie¬
ler Kommission haben wesentlich da¬
zu beigetragen, auch in den anderen
Küstenländern solche Untersuchungen
durch Staatsmittel zu fördern. Es wur¬
den ständige Kommissionen dafür ein¬
gesetzt und besondere Meereslaborato¬
rien begründet die, wie die KgL Biolo¬
gische Anstalt auf Helgoland, nicht nur
der allgemeinen Meeresbiologie, son¬
dern auch der angewandten im Dienste
der Seefischerei dienen und deren Lei¬
ter zugleich auch Berater der Regierun¬
gen in Seefischereiangelegenheiten sind.
Inzwischen vollzog sich in der See-
Digitized by
Go», igle
Original frum
INDIANA UNIVERSITY
573 Fr* Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 574
fischerei der nordeuropäischen Länder
eine gewaltige Veränderung: der Über¬
gang von der Küstenfischerei zur Hoch¬
seefischerei. In früherer Zeit und noch
bis in die Mitte des vorigen Jahrhun¬
derts konnten die Seefischer mit ihren
kleinen, von Wind und Wetter abhän¬
gigen Segelfahrzeugen und ihren klei¬
nen und leichten Fanggeräten nur in
engen Meeresbuchten, in Flußmündun¬
gen und auf den flachen Küstengrün¬
den der offenen See mit Erfolg fischen;
ihre schwankenden Fangerträge wurden
wesentlich mitbestimmt durch die wech¬
selnden Mengen der vor den Küsten
mehr oder weniger regelmäßig erschei¬
nenden Züge der Wanderfische. Wie
ganz anders jetzt 1 Große und seetüch¬
tige Fischerfahrzeuge, ausgerüstet mit
Dampfmaschinen und Motoren aller
Art und vergrößerten und verbesserten
Fanggeräten, gewaltigen Grundnetzen
und kilometerlangen Treibnetzen, durch¬
kreuzen zu Tausenden tagaus, tagein
unsere nordischen Meere; kein Fang¬
platz ist für sie zu weit abgelegen,
keine Meerestiefe und kein Meeresgrund
mehr unerreichbar. Die Gesamterträge
dieser Hochseefischerei sind gegen
früher enorm gestiegen und steigen
noch von Jahr zu Jahr. Der ungeheure
Verbrauch von Seefischen im Binnen¬
lande reizt zu immer neuem Gewinne
und zu einer stetigen Ausdehnung der
Fischerei Auf dem freien extraterrito¬
rialen Gebiet des Meeres keinerlei Be¬
schränkung irgendwelcher Art unter¬
worfen, wird sie immer mehr zu einer
rücksichtslosen Ausbeutung der reichen
Schätze des Meeres, zu einer Raub-
fischerei im schlimmsten Sinne des
Wortes. Sie ist wirklich im Meere das¬
selbe, wie auf dem Festlande das Nie¬
derlegen ganzer Wälder und die Aus¬
rottung wertvoller Tiergattungen.
Die örtlichen Küstenfischereien frühe¬
rer Zeiten wurden oft schwer betroffen
durch das Fernbleiben der segenbrin¬
genden Fischscharen, das, wie jetzt
wohl als sicher gelten kann, rein na¬
türliche und menschlicher Einwirkung
entzogene Ursachen hatte. Der gewalti¬
gen, an keinen Ort mehr gebundenen
Hochseefischerei droht eine andere, weit
größere und dauernde Gefahr, die der
Überfischung. Kann der natürliche
Bestand eines Meeres an Nutzfischen,
z. B. der Nordsee, eine so starke Be¬
fischung auf die Dauer ohne ernste
Schädigung ertragen? Wird ihm jetzt
nicht alljährlich mehr entnommen, als
durch seine natürliche Wachstums- und
Zeugungskraft in gleichem Zeiträume
nachwachsen kann? Und wenn eine
solche Überfischung ernstlich droht
oder bereits besteht sind Gegenma߬
regeln nötig und möglich, und welcher
Art müssen sie sein?
Die Antwort auf diese Fragen wird
sehr wahrscheinlich dahin ausfallen,
daß eine Überfischung der Nordsee in
der Tat droht oder bereits besteht Dafür
sprechen mancherlei Anzeichen, so die
relative Abnahme der großen und Zu¬
nahme der kleinen Fische in den Fän¬
gen, besonders aber, daß die Gesamt¬
erträge der Hochseefischerei in gerin¬
gerem Grade wachsen als der Umfang
des Betriebes und die Ausdehnung der
Fischgründe; dies weist deutlich auf
eine Abnahme der Ertragsfähigkeit der
alten Fischgründe der Nordsee hin. In
England, das den weitaus größten An¬
teil an der Hochseefischerei hat ist die
Frage der Überfischung und der damit
zusammenhängenden sinnlosen Vernich¬
tung junger, untermaßiger Fische schon
lange mit großem Interesse und in brei¬
ter Öffentlichkeit verhandelt worden,
auch sind vielfache Abhilfemaßregeln
vorgeschlagen, ohne daß ein greifbares
Ergebnis erzielt wäre. In Deutschland,
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
575 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 576
das seine Hochseefischerei erst in den
letzten dreißig Jahren aus kleinen Anfän¬
gen zu achtungswerter Höhe entwickelt
hat, sind jene Fragen von Anfang an mehr
wissenschaftlich behandelt worden. Be¬
sonders der Deutsche Seefischerei-Ver¬
ein und die Biologische Anstalt auf Hel¬
goland haben immer wieder darauf hin¬
gewiesen, daß eine befriedigende und
endgültige Antwort auf diese biolo¬
gisch wie wirtschaftlich gleichwich¬
tigen Fragen nur bei einer partei- und
leidenschaftslosen Behandlung dersel¬
ben durch streng wissenschaftliche Un¬
tersuchungen gegeben werden könne.
In der Tat ist die Frage, ob der natür¬
liche Bestand einer Fischart der Nord¬
see, z. B. der Scholle, jetzt überfischt
ward oder nicht, ein rein biologisches
Problem. Wir können es erst lösen,
wenn wir nicht nur gleicherweise die
Größe und Zusammensetzung dieses Be¬
standes nach Menge und Art der Fische
kennen, sondern auch die ganze Ent-
wicklungs- und Lebensgeschichte der
Scholle, vor allem ihre Ernährung, ihr
Wachstum und ihre Fortpflanzung;
denn davon hängt die Möglichkeit ab,
den weggenommenen Teil des Bestan¬
des regelmäßig wieder zu erzeugen.
Daß wir ohne solche rein naturwissen¬
schaftliche Kenntnisse auch nicht im¬
stande sein werden, die Wirksamkeit
und Zweckmäßigkeit irgendeiner Schon¬
maßregel, sei es Schonrevier oder
Schonzeit oder Mindestmaß für den
Fang, zu beurteilen, vielmehr mit der¬
artigen Maßnahmen völlig im Dunkel
tappen müssen, versteht sich hiernach
von selbst Eine Fischereigesetzgebung
zum Schutze und zur Erhaltung der na¬
türlichen Fischbestände unserer Meere
ohne solche wissenschaftliche Kennt¬
nisse ist eine Unmöglichkeit Endlich
kann nur die wissenschaftliche For¬
schung entscheiden, ob wirklich das
Meer als Ganzes so unendlich reich aji
Fischen und so unerschöpflich für den
Menschen ist wie die allein ihrem
Verdienst nachgehenden Fischer und
manche andere glauben; so reich, daß
jeder noch so große örtliche, durch
menschliche Schuld veranlaßte Verlust
stets schnell wieder aus der unerme߬
lichen Fülle des Ozeans ersetzt wird.
Die hier unentbehrliche wissenschaft¬
liche Forschung konnte aber nur dann
erfolgreich sein, wenn sie ein organi¬
siertes internationales Zusammen¬
arbeiten aller an der Hochseefischerei
beteiligten Staaten wurde, teils wegen
des großen Umfanges der Arbeit die
ein einzelner Staat nicht leisten konnte,
teils auch in Ansehung ihres prakti¬
schen Endziels, nämlich einer gesetz¬
lichen Regulierung des Hochseefische¬
reibetriebes, die nur durch internatio¬
nale Fischereiverträge sichergestellt
werden kann. Die in letzterer Bezie¬
hung gebotene, durch keinerlei natio¬
nale Sonderwünsche getrübte Sachlich¬
keit der Untersuchungen wird nur ge¬
währleistet durch ein internationales,
sich selbst kontrollierendes Zusammen¬
arbeiten. Ein lehrreiches Beispiel dafür,
wie es in solchen Dingen nicht zu¬
gehen darf, liefert der vor etwa dreißig
Jahren gemachte englische Vorschlag,
die Deutsche Bucht der Nordsee zu einem
internationalen Schonrevier zu machen,
weil sie der Hauptaufenthaltsort, die
„K i n d e r s t u b e" der jungen Nutzfische
der Nordsee, besonders der Scholle,
sei. Eine solche, auf einer ganz unge¬
nügenden Kenntnis des Lebens der be¬
treffenden Fische beruhende Maßregel
würde, wenn sie hätte durchgeführt wer¬
den können, die damals eben aufblühende
deutsche Hochseefischerei im Keime er¬
stickt, England aber nur kleine Unbequem¬
lichkeiten und schließlich große Vorteile
auf unsere Kosten gebracht haben.
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Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
577 Fr. Heincke. Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 578
Unter dem Zwange solcher Tatsachen
und Erwägungen entstand die inter¬
nationale Erforschung der Nordmeere,
zuerst und fast gleichzeitig geplant in
Deutschland, Holland und Schweden
und im Jahre 1902 verwirklicht Nicht
plötzlich und als etwas Neues, sondern
aus kleinen Anfängen entwickelt, als
etwas natürlich Gegebenes und Not¬
wendiges in der fortschreitenden ma¬
teriellen Beherrschung und wirtschaft¬
lichen Ausnutzung des Meeres durch
den Menschen. Die Wissenschaft als die
geistige Fahrerin aller schaffenden und
fruchtbringenden menschlichen Arbeit
erweist sich jetzt auf dem Meere so un¬
entbehrlich wie auf dem Lande, für die
Seefischerei so nötig als wie für die
Landwirtschaft für Handel und Indu¬
strie. Ohne sie gibt es im Meere nur
Raubfischerei, die früher oder später
große Werte unwiederbringlich vernich¬
ten muß, mit ihr wird künftig eine ver¬
nünftige Meerwirtschaft entstehen, die
auf die Dauer größere Erträge bringen
muß, als der jetzige Fischereibetrieb.
IIL
Die Notwendigkeit der inter¬
nationalen Meeresforschung ist
damit bewiesen. Es soll jetzt untersucht
werden, ob ihre bisherigen Erfolge groß
und namentlich in Ansehung ihrer End¬
ziele wichtig genug sind, um eine wei¬
tere staatliche Förderung zu rechtfer¬
tigen.
Bei der Größe der neuen hier zu
lösenden Aufgaben und ihrer man¬
nigfachen Schwierigkeiten konnte trotz
großen Arbeitsaufwandes nicht erwar¬
tet werden, daß in der kurzen Zeit von
zwölf Jahren auf edlen Gebieten ab¬
schließende Ergebnisse erzielt werden
würden. In der Tat, wenn auch schon
jetzt manche schönen und großen Er¬
folge zu verzeichnen sind, so bleibt
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doch noch viel mehr zu erforschen
übrig. Aber man darf erwarten und
verlangen, daß methodisch und ziel¬
bewußt gearbeitet wird und daß die
Forschung jetzt die rechten Mittel
und Wege zeigen kann, die zum End¬
ziele führen. Und daß dem so ist, darf
getrost behauptet werden.
In der allgemeinen Meeresforschung
ist in erster Linie die Hydrographie
der nordeuropäischen Meere mächtig
gefördert worden. Auf Grund der vier¬
mal jährlich zu gleichen Zeiten und auf
vorgeschriebenen Linien ausgeführten
Terminfahrten und zahlreichen Zwi¬
schenbeobachtungen können wir jetzt
genaue Karten entwerfen von dem phy¬
sisdien Zustande des Meeres nachSalz-
und Gasgehalt, nach Temperatur und
Strömungen in edlen Tiefen und von
ihrem regelmäßigen Wechsel im Laufe
des Jahres. Dadurch sind zugleich höchst
wichtige Aufschlüsse gewonnen über die
engen Beziehungen zwischen der Physik
und Chemie und der Biologie des Mee¬
res, z. B. über den Einfluß von Tempe¬
ratur, Salzgehalt und Strömungen auf
die Verbreitung der schwimmenden Eier
unserer Nutzfische, ihrer jungen Brut
und deren erster Nahrung, des Plank¬
tons. Unser Wissen von der qualitati¬
ven und quantitativen Verteilung des
letzteren ist dabei außerordentlich ge¬
fördert worden. Dasselbe gilt von dem
Gehalt des Meeres an Bakterien, der
von bestimmendem Einfluß ist auf seine
Produktion an organischer Substanz.
In der Naturgeschichte der
Nutzfische hat die internationale
Meeresforschung ganz außerordent¬
liche, vorher kaum geahnte Fortschritte
gebracht, die hauptsächlich der verbes¬
serter Technik der wissenschaftlichen
Fischerei zu verdanken sind. Die Er¬
findung neuer mannigfacher Netze und
Fanggeräte gestattet uns jetzt, jede
19
Original frorn
INDIANA UNIVERSITY
579 Fr. Heincke, Die internationale Meeresiorschung vor und nach dem Kriege 580
Fischart des Meeres auf jeder Lebens¬
und Größenstufe und in jeder Meeres¬
tiefe mit Sicherheit zu fangen und da¬
mit auch ihre Lebensgeschichte, vor
allem ihre Fortpflanzung und ihre Wan¬
derungen, in allen Einzelheiten zu er¬
forschen. Der größte Erfolg dieser Art
ist die endgültige Lösung des jahrhun¬
dertealten Problems der Fortpflan¬
zung d e s A a 1 s. Es ist jetzt sicher nach¬
gewiesen, daß edle Aale Europas zum
Laichen bis mitten in den Atlantischen
Ozean wandern müssen, und daß ihre
junge, dort geborene Brut nach Zurück¬
legung einer wu n derbarenMetamorphose
alljährlich in ungeheuren Mengen an die
Küste zieht und weiter in die süßen Ge¬
wässer aufsteigt Die Größe dieser Fort¬
schritte in der Naturgeschichte unserer
marinen Nutzfische wird man vielleicht
am besten daran ermessen, daß wir
über sie jetzt fast in jeder Beziehung
besser unterrichtet sind wie über unsere
Süßwasserfische. Das ist allein das Er¬
gebnis eines zielbewußten und methodi¬
schen Zusammenarbeiten, das uns lei¬
der in der Süßwasserfischerei noch
fehlt. In dieser Beziehung kann und
wird die Meeresforschung anregend
und befruchtend auf die Süßwasserfor-
schung wirken; in erster Linie bei sol¬
chen Fischen, die, wie der Aal, der
Lachs u. du, einen Teil ihres Lebens im
Meere zubringen und die vielfachen
engen Beziehungen zwischen Festlands¬
und Meeresleben erkennen lassen.
Ers* auf Grund einer solchen genauen
Kenntnis der Naturgeschichte der Nutz¬
fische und ihrer allgemeinen physi¬
schen und biologischen Lebensbedingun¬
gen konnte die internationale Meeres¬
forschung an die Lösung der prakti¬
schen Fragen der Überfischung
und der Schonmaßregeln mit Aussicht
auf Erfolg herangehen. Hier gilt es die
Beantwortung folgender Fragen: l.Wie
groß ist der natürliche Bestand eines
Meeres, z. B. der Nordsee, an Nutz¬
fischen, und wie ist der Bestand jeder
Art zusammengesetzt nach Größen¬
stufen, Geschlechtern u. a.? 2. Wie
groß ist die Fischmenge jeder Art nach
Zahl, Gewicht und Zusammensetzung,
die die Fischerei alljährlich dem Be¬
stände entnimmt? 3. Kann diese jähr¬
lich weggefischte Menge durch die Ver¬
mehrung und das Wachstum der übrig¬
gebliebenen Fische regelmäßig und voll¬
ständig ersetzt werden, oder wird mehr
weggefangen, als normalerweise nach¬
wachsen kann (Überfischung), und
welches sind die sichtbaren Folgen da¬
von in der Größe und Zusammensetzung
des Bestandes? 4. Sind solche Anzei¬
chen von Überfischung wissenschaftlich
untrüglich festzustellen? Oder beruhen
vielleicht alle bisher nachweisbaren
Schwankungen und Veränderungen in
den Erträgen der Fischerei nur auf na¬
türlichen, jedem menschlichen Einfluß
entzogenen Ursachen? 5. Wenn eine
Überfischung besteht, welche Mittel
sind geeignet, den normalen Zustand
wiederherzustellen, und wie muß der
Fischereibetrieb reguliert werden, um
einen Fischbestand, ohne ihn dauernd
zu schädigen, mit größtmöglichem
Nutzen zu befischen?
So leicht diese Fragen gestellt und
so kurz sie ausgedrückt werden können,
ebenso schwer und langwierig ist ihre
Beantwortung. Sie würde aussichtslos
gewesen sein, wenn man sich nicht zu¬
nächst auf einen einzigen wichtigen
Nutzfisch beschränkt hätte, und zwar
auf die Scholle der Nordsee, bei
der eine Überfischung mit großer Wahr¬
scheinlichkeit bereits besteht Die gründ¬
liche Bearbeitung dieses einen Fisches
hat aber recht bald dahin geführt die
Mehrzahl der obigen Fragen zu beant¬
worten, wenn auch keineswegs erschöp-
Digitized by
Go^ 'gle
Original from
INDIANA UNIVERSITY
581 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 582
fend, doch so weit, daß hier ein gang¬
barer Weg zu notwendigen Schon-
maßregeln gezeigt werden kann. Die
Ergebnisse dieser Untersuchungen über
die Scholle sind in einem von
Heincke ausgearbeiteten Generalbe¬
richt niedergelegt; auf Grund des¬
selben konnte der Zentralausschuß in
Kopenhagen im Jahre 1913 den Re¬
gierungen der beteiligten Staaten die
ersten positiven Vorschläge zu einem
gesetzlichen Mindestmaß für die Scholle
der Nordsee machen.
Von den mannigfachen Mitteln und
Wegen, wie diese Ergebnisse erreicht
wurden, können und sollen hier nur
einige wenige genannt werden, teils um
die Größe der geleisteten Arbeit zu er¬
messen, teils um zu zeigen, wie nur die
konsequente Anwendung streng wis¬
senschaftlicher Untersuchungsmethoden
hier zu Erfolgen führen kann.
Das erste und vornehmste dieser For¬
schungsmittel ist die Bestimmung
der Lünge, des Gewichts, des
Geschlechts und des Reifesta¬
diums bei vielen Tausenden ein¬
zelner Schollen aus allen Teilen der
Nordsee und zu edlen Zeiten des Jahres.
Solche Bestimmungen sind ausgeführt:
1. an Land bei den Schollenfängen,
wie sie in den Nordseehäfen gelemdet
werden; sie belehren uns über die Zu¬
sammensetzung der in den mensch¬
lichen Verbrauch übergehenden Schol¬
lenmengen nach Zahl, Länge, Gewicht
u. a. der einzelnen Fische; 2. auf See
bei solchen Schollenfängen, wie sie in
den Grundnetzen der gebräuchlichen
Fisdierfahrzeuge gefunden werden; sie
zeigen die Zusammensetzung der dem
Schollenbestande des Meeres entnom¬
menen und damit vernichteten Schol¬
lenmengen, die stets größer sind als die
gelandeten und damit nutzbar gemach¬
ten; 3. auf See bei den rein wissen-
Difitized by Gougle
schaftlichen Fängen der Forschungs¬
dampfer mit Grundnetzen von verschie¬
dener Maschenweite; sie zeigen uns die
Zusammensetzung jener Teile des na¬
türlichen Schollenbestandes, die von
den gebräuchlichen Fischerfahrzeugen
nicht gefangen werden können, weil sie
durch die Maschen ihrer Netze wieder
entweichen. Die wissenschaftliche Ana¬
lyse dieser drei Arten von Schollenfän¬
gen zusammen und ihre Verarbeitung
geben uns dann ein Bild von der Zu¬
sammensetzung des natürlichen Schol¬
lenbestandes der Nordsee nach Zahl,
Länge, Gewicht, Geschlecht und Reife
der einzelnen Fische.
Selbstverständlich können nicht alle
einzelnen Schollen gemessen und ge¬
wogen werden, sondern stets nur Stich¬
proben der Anlandungen und Fänge.
Solche Proben müssen das sein, was
man in der Statistik „repräsenta¬
tiv“ nennt und deshalb nach streng
wissenschaftlichen, mathematisch be¬
gründeten Methoden ausgewählt und
behandelt werden, um brauchbare
Schlußfolgerungen zu gestatten. Die
geistige Arbeit, die hier über das mehr
oder weniger mechanische Messen und
Wägen mehrerer Millionen einzelner
Schollen hinaus geleistet werden mußte,
ist eine recht große.
Ein zweites, sehr wichtiges For¬
schungsmittel sind die Versuche mit
dem Aussetzen und Wiederfan¬
gen markierter, d. h. solcher
Schollen, die mit einer Marke ver¬
sehen sind, an der Zeit und Ort der
Aussetzung zu erkennen sind. In den
Jahren 1902 bis 1912 sind rund 29000
solcher Schollen in der Nordsee aus¬
gesetzt und 9000 davon von der Fische¬
rei wiedergefangen und zurückgeliefert
worden. Diese Versuche belehren uns
über die Wanderungen und das Wachs¬
tum der Schollen, vor allem aber in
19*
Original from
5ND1ANA UNIVERSITY
583 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 584
dem Verhältnis der wiedergefangenen
zu den ausgesetzten Fischen über die
Wahrscheinlichkeit, mit der eine Scholle
der Nordsee Aussicht hat, im Laufe
eines Jahres von der Seefischerei gefan¬
gen zu werden. Man darf diese Wahr¬
scheinlichkeit auf Grund der bisheri¬
gen Untersuchungen zwischen */io und
4 / 10 , im Mittel auf Vs» veranschlagen.
Diese Zahl, der sog. Befischungs¬
koeffizient, bedeutet, daß die Schol¬
lenfischerei in der Nordsee jährlich etwa
V 3 aller jener Schollen des ganzen Be¬
standes wegnimmt, die innerhalb der
von den gebräuchlichen Geräten fang-
baren Größen liegt Auf Grund der
obengenannten fangstatistischen Unter¬
suchungen kann man die Gesamtzahl
der alljährlich aus der Nordsee von
erstklassigen Fahrzeugen gelandeten
Schollen durchschnittlich auf rund 200
Millionen Stück von 18 cm Länge an
schätzen. Dazu kommen weitere 300
Millionen Schollen von etwa 12 bis
20 cm Länge, die zwar von den Grund¬
netzen mitgefangen, aber als wertlos
wieder über Bord geworfen und nutz¬
los vernichtet werden. Dies ergibt 500
Millionen als Gesamtzahl aller von der
Fischerei jährlich dem Bestände der
Nordsee entnommenen Schollen über
12 cm Länge. Bei einem Befischungs¬
koeffizienten zwischen 8 /io und 4 /io» hu
Mittel von Vs, berechnet sich hiernach
die Zahl aller die Nordsee bevölkernden
Schollen über 12 cm auf 1250 bis 2500,
wahrscheinlich 1500 Millionen Stück.
Ein drittes und nicht das unwich¬
tigste Forschungsmittel ist die Alters¬
bestimmung der Schollen. Die
Möglichkeit das Alter der Fische in
Jahren nach den sog. Jahresringen der
Schuppen, Gehörsteine und Knochen zu
bestimmen, ist bei Beginn der interna¬
tionalen Meeresforschung von deut¬
schen Gelehrten entdeckt und zu einem
hohen Grade der Sicherheit gebracht
worden. Bis heute liegen bereits bei
etwa 30000 einzelnen Schollen solche
Altersbestimmungen vor; sie haben sich
als außerordentlich wichtig für die Lö¬
sung vieler praktisch-wissenschaftlichen
Fragen erwiesen. Wir wissen jetzt daß
die Seefische ein viel höheres Alter er¬
reichen können, als man bisher ge¬
glaubt hat die Scholle z. B. bis zu
50 Jahren und mehr. Wir können nun
bestimmen, in welchem Alter männliche
und weibliche Schollen fortpflanzungs¬
fähig werden. Da jede Scholle ihren
Geburtsschein gleichsam als versteinerte
Urkunde bei sich trägt können wir jetzt
die Zusammensetzung der Schollen¬
fänge nicht nur nach Geschlecht
Länge und Gewicht sondern auch nach
dem Alter der einzelnen Fische fest¬
stellen. Daraus ergibt sich die Möglich¬
keit die Zusammensetzung der Schol¬
lenbevölkerung eines Meeres in glei¬
cher Weise zu bestimmen, wie es
beim Menschen durch die Bevölke¬
rungsstatistik auf Grund der Volkszäh¬
lungen geschieht Auf diesem Wege ge¬
langt man weiter durch vergleichende
Untersuchung der Schollenbestände ver¬
schiedener Meere zu einem wirklichen
wissenschaftlichen Beweise für eine
tatsächlich bereits bestehende Über¬
fischung in der Nordsee. Es hat sich
gezeigt daß die Schollenbestände in
solchen Meeren, die erst seit kurzer Zeit
mit großen Grundnetzen befischt wer¬
den, z. B. im Weißen oder Barents¬
meere, eine wesentlich andere Zusam¬
mensetzung haben, als in der schon so
lange und so stark befischten Nordsee.
Die Schollen erreichen im Barentsmeere
nicht nur ein wesentlich höheres Alter
als in der Nordsee, auch die verhältnis¬
mäßige Zahl der alten und großen
Schollen ist dort viel größer. Die
aus dem Zahlenverhältnis der einzel-
Digitized by
Go^ 'gle
Original from
INDIANA UNIVERSITY
585 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 586
nen Jahrgänge der Schollen erschlie߬
bare wahrscheinliche Lebensdauer einer
Scholle von bestimmtem Alter ist im
Barentsmeere ganz bedeutend höher als
in der Nordsee, ein deutlicher Beweis,
daß die Schollen in der letzteren viel
stärker verfolgt werden. Hält man da¬
mit zusammen, daß nachweislich in
dem Maße, wie die neuere zerstörende
Grundnetzfischerei in der Nordsee an
Stärke und Ausdehnung von Jahr zu
Jahr zugenommen, auch die verhältnis¬
mäßige Zahl der großen zu den kleinen
Schollen stetig abgenommen hat und
gleichzeitig auch die absolute Größe
der Fänge für die Fangeinheit (Trawl-
stunde, Dampfertag u. a.), so ist sicher
bewiesen, daß der ursprüngliche na¬
türliche Schollenbestand der Nordsee
durch andauernde übermäßige Be¬
fischung bereits ernstlich angegriffen
und nicht mehr imstande ist, die jähr¬
lich ihm entnommenen Fischmengen auf
natürlichem Wege wieder zu ersetzen.
Die Fischerei entnimmt also hier dem
Meere nicht bloß den normalerweise
möglichen Zinsertrag, sie zehrt bereits
vom Kapital selbst; wird hier nicht
ernstlich Einhalt geboten, so muß die¬
ses Kapital, der wertvolle Schollen¬
bestand der Nordsee, früher oder spä¬
ter erschöpft werden.
Die Altersbestimmung der Schollen
liefert uns aber nicht nur den Beweis
für die Überfischung des Schollen¬
bestandes der Nordsee, sie zeigt auch
deutlich, wie unwirtschaftlich und ge¬
radezu verwüstend die Art des Fische¬
reibetriebes wirkt Wie oben gesagt,
kann man die Zahl der jährlich aus der
Nordsee entnommenen Schollen auf
etwa 500 Millionen von 12 cm Länge an
schätzen. Von diesen werden 300 Mil¬
lionen — etwa 12 bis 20 cm lange und
2 bis 3 Jahre alte — Schollen im Ge¬
samtgewicht von etwa 120000 Doppel-
□ igitized by Gougle
zentnem vollkommen nutzlos vernich¬
tet. Rund 200 Millionen Schollen von
18 an Länge an mit einem Durch¬
schnittsgewicht von etwa 220 g und
einem Gesamtgewicht von 450000 Dop¬
pelzentnern werden gelandet und dem
menschlichen Gebrauch zugeführt Da¬
von sind aber rund 80 Millionen im Ge¬
samtgewicht von etwa 90000 Doppel¬
zentnern sog. untermaßige, unter
25 cm messende und unter vier Jahren
alte Schollen, die nur einen äußerst ge¬
ringen Marktwert haben und die Kosten
ihres Fanges nicht decken. Als wirklich
wirtschaftlich verwertbar bleiben also
von den 500 Millionen vernichteter
Schollen nur 120 Millionen von über
25 cm Länge und einem Alter von vier
Jahren an mit einem mittleren Gewicht
von 300 g, einem Gesamtgewicht von
360000 Doppelzentnern und einem
Marktwert von etwa 16 Millionen Mark.
Um diesen wirtschaftlich verwertbaren
Fang zu erzielen, werden gleichzeitig
an Zahl mehr als dreimal und an Ge¬
wicht über einhalbmal soviel Schollen,
unter 25 cm lang und unter vier Jahren
alt, so gut wie zwecklos vernichtet
Dieser junge Schollennachwuchs steht
noch weit vor dem Eintritt in die volle
Zeugungs- und Wachstumskraft; seine
Vernichtung ist also sowohl wirtschaft¬
lich für den Menschen wie biologisch
für die Erhaltung des Schollenbestan¬
des geradezu verhängnisvoll.
Die Altersbestimmung der Fische ist
endlich das einzige Mittel, uns über die
Größe und den Gang des natürlichen
Wachstums der Schollen Aufschluß
zu geben. Durch sie wissen wir jetzt
daß die Schollen normalerweise nur in
den Frühjahrs- und Sommermonaten
wachsen, aber nicht im Herbst und
Winter. Wir können ferner bestimmen,
wie groß die mittlere Länge und das mitt¬
lere Gewicht der Schollen in jedem ein-
Original from
END1ANA UNtVERSITY
587 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 588
zelnen Jahre ihres Lebens sind und wie
sie von Jahr zu Jahr zunehmen, d.h.wie
groß das mittlere Wachstum in jedem
Lebensjahre ist Dabei hat sich u. a.
ergeben, daß die Schollen, wie zu er¬
warten, nicht in jedem Jahre ihres Le¬
bens gleichviel an Masse oder Gewicht
zunehmen, oder, was dasselbe sagt,
gleichviel an nutzbarem Fischfleisch
hervorbringen, sondern daß es eine Pe¬
riode gibt, wo sie eine größere Wachs¬
tumskraft haben und eine größere jähr¬
liche Gewichtszunahme erfahren als zu
irgendeiner anderen Zeit ihres Lebens.
Bei den Schollen der südlichen Nord¬
see fällt diese Zeit des stärksten Wachs¬
tums in das Alter von 3,5 bis 7 Jahren
und zwischen 25 und 45 cm Körper¬
länge. Hiermit eröffnet sich die Mög¬
lichkeit, bei jeder Scholle außer ihrer
wahrscheinlichen Lebensdauer auch ihre
wahrscheinliche Gewichtszunahme in
einem bestimmten Abschnitt ihres Le¬
bens zu berechnen und damit auch ihren
wirtschaftlichen Wert als Erzeuger von
Fischfleisch. Die Kenntnis solcher Dinge
ist ja bekanntlich unentbehrlich für eine
rationelle Viehzucht; sie wird es auch
für jede künftige Fischkultur im Meere
sein. Von Bedeutung ist in dieser Hin¬
sicht auch die durch die Altersbestim¬
mungen festgestellte Tatsache, daß die
Wachstumsgröße und Wachstumskraft
der Schollen in verschiedenen Meeren
auch sehr verschieden groß sein kann.
In diesem Sinne gibt es „schnell¬
wüchsige“ Schollen, wie in der Nord¬
see und bei Island, und „langsam-
wüchsige“, wie in der Ostsee und im
Barentsmeere; um eine Länge von35cm
zu erreichen, gebrauchen z. B. die erste-
ren nur 4 bis 5, die letzteren 10 bis
12 Jahre; zu einer Länge von 50 cm
jene nur etwa 10, diese 20 bis 30 Jahre.
Es kann als sicher angesehen werden,
daß die Schollenbevölkerungen der ge-
Digitized by Gougle
nannten und anderer Meeresteile nicht
nur in dieser Art ihres Wachstums, son¬
dern auch in vielen anderen körper¬
lichen Eigenschaften konstitutionelle
und erbliche Unterschiede besitzen, sog.
Lokalformen oder Rassen der Scholle
sind, ähnlich den verschiedenen Rassen
unserer Haustiere und Kulturpflanzen.
Solche mit Hilfe der Altersbestim¬
mung gewonnenen Kenntnisse von dem
Wachstum der Schollen sind von be¬
sonderer und grundlegender Bedeutung
für die Ergreifung richtiger und brauch¬
barer Schonmaßregeln, eines der End¬
ziele der internationalen Meeresfor¬
schung.
Die Altersbestimmung der Fische hat
sich auch bei anderen wichtigen Nutz¬
fischen, über die ähnliche Untersuchun¬
gen wie bei der Scholle im Gange sind,
als äußerst fruchtbar für die Lösung
biologischer Fragen erwiesen. So hat
z. B. eine Untersuchung der großen He-
ringsschwärme an der Küste Norwe¬
gens ergeben, daß dort im letzten Jahr¬
zehnt — einer Periode besonders rei¬
cher Fischerei — ein bestimmter Jahr¬
gang der Heringe, nämlich die nach
ihrer Altersbestimmung im Jahre 1904
geborenen, eine Reihe von Jahren hin¬
durch an Zahl der Individuen alle ande¬
ren Jahrgänge stark überwogen hat
Dies kann nur daher kommen, daß im
Jahre 1904 an der norwegischen Küste
eine viel größere Menge von Herings-
brut erzeugt worden ist, als in jedem
der Jahre vorher und nachher. Damit
eiklärt sich sehr wahrscheinlich der
große Heringsreichtum der letzten zehn
Jahre in Norwegen durch dieses eine
außerordentlich reiche Brutjahr 1904.
Solche guten Brutjahre sind auch
bei anderen Fischarten durch die inter¬
nationale Meeresforschung nachgewie¬
sen worden; sie scheinen periodisch
aufzutreten und haben Ursachen, die
Original from
INDIANA UN1VERSITY
589 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 590
sicher außerhalb menschlichen Einflus¬
ses und in zeitlichen und örtlichen Be¬
sonderheiten der physischen und bio¬
logischen Zustände* der betreffenden
Meeresgebiete liegen, vermutlich in einer
besonders üppigen Produktion jener
kleinsten Formen des organischen Plank¬
tons, die die erste Nahrung der neu¬
geborenen Fischbrut bilden. Hier eröff¬
net sich die Aussicht, das Geheimnis
der sog. Fischperioden zu enthül¬
len, d. h. des periodischen Anschwel¬
lens und Abschwellens der Menge ge¬
wisser Fischarten, einer der bemerkens¬
wertesten Erscheinungen in der Biolo¬
gie unserer nordischen Meere. Das ist
ein neuer schöner Erfolg streng wis¬
senschaftlicher Untersuchungsmethoden
und ihrer gleichzeitigen und gemein¬
samen Anwendung in dem ganzen gro¬
ßen Gebiet unserer Meeresforschung.
IV.
Schon vorher haben wir die Unent¬
behrlichkeit der internationalen Meeres¬
forschung erkannt Jetzt ist wohl auch
bewiesen, daß sie bereits Bedeutendes
geleistet hat und auf dem rechten Wege
ist zur Erreichung ihrer großen wissen¬
schaftlichen und wirtschaftlichen End¬
ziele. Damit ist dann auch die Aufwen¬
dung staatlicher Mittel dafür gerecht¬
fertigt und die Notwendigkeit ihrer
Fortsetzung nach dem Kriege gegeben.
Hiervon sind jetzt alle sachverständi¬
gen und maßgebenden Stellen der betei¬
ligten Länder fest überzeugt, auch in
England, dessen voriger Minister für
Landwirtschaft und Fischerei es wäh¬
rend des Krieges auch öffentlich aus¬
gesprochen hat.
Es fragt sich nun, ob die Wiederauf¬
nahme und Fortsetzung der internatio¬
nalen Arbeiten alsbald nach Friedens¬
schluß möglich sein wird. Diese Frage
Digitized by Gougle
ist größtenteils eine politische; ihre Be¬
antwortung hängt wesentlich vom Aus¬
gange des Krieges ab, besonders davon,
wie sich das künftige Machtverhältnis
zur See zwischen Deutschland und Eng¬
land gestalten wird. Behauptet und be¬
festigt England seine maritime Vorherr¬
schaft, so würde es möglicherweise
selbst im Frieden nicht vor dem Ver¬
suche zurückschrecken, die Fischereien
seiner Seenachbam zu vergewaltigen
und die wirtschaftliche Ausnutzung des
„freien Meeres“ zu seinem alleinigen
Nutzen zu regeln. Das wäre wohl auch
das Ende der internationalen Meeres¬
forschung. Kann dagegen Deutschland
seine Seegeltung siegreich behaupten
und vergrößern, so wird gewiß die jetzt
lahmgelegte Hochseefischerei nach Be¬
endigung des Krieges sofort sehr ener¬
gisch und in friedlichem Wettbewerb
der Völker wieder aufgenommen wer¬
den. Dann wird sich auch sehr bald die
Notwendigkeit einer vernünftigen Rege¬
lung des Hochseefischereibetriebes von
neuem geltend machen, und alle betei¬
ligten Staaten, auch England, werden
im eigenen Interesse gezwungen sein,
gemeinsam über internationale Schon¬
maßregeln zu beraten und Fischereiver¬
träge miteinander abzuschließen. Da¬
zu müssen aber unsere abgebrochenen
Arbeiten wieder aufgenömmen werden.
Ob dies freilich sofort nach Friedens¬
schluß möglich sein wird, ist wohl
zweifelhaft Main wird damit rechnen
müssen, daß — wie Fürst Bülow sagt
— Haß und Rachegefühl noch lange die
internationalen Beziehungen beeinflus¬
sen werden. So können wohl noch
einige Jahre vergehen, bis die Gelehrten
der jetzt so tief verfeindeten Völker im¬
stande sein werden, auf internationalen
Zusammenkünften sachlich und leiden¬
schaftslos miteinander zu arbeiten. Aber
kommen wird dieser Tag über kurz
Original from
INDIANA UNIVERSITY
591 Fr. Heincke, Die internationale Meeresforschung vor und nach dem Kriege 592
und lang, weil er kommen muß; ist doch
alle wahre Wissenschaft international.
Wenn aber die Unterbrechung unse¬
rer gemeinsamen Arbeiten durch den
Krieg auch noch nach Beendigung des¬
selben vielleicht eine Zeitlang fort¬
dauert, so darf und kann doch diese
Pause nicht ungenutzt bleiben. Wo die
internationale Arbeit ruht, muß die na¬
tionale um so größer sein. Zunächst
und _ vor allem ist es notwendig, in
jedem Lande nach Bereitstellung aus¬
reichender Kräfte und Mittel die an¬
gefangenen Arbeiten abzuschließen und
ihre Ergebnisse zu veröffentlichen; so¬
dann müssen gewisse laufende Unter¬
suchungen, namentlich hydrographische
und allgemein biologische, energisch
fortgesetzt werden. Wird beides un¬
möglich gemacht, so verliert auch die
ganze mühsame Arbeit der letzten Jahre
zum größten Teile ihren Wert, beson¬
ders in Deutschland. Endlich hat das
durch den Krieg erzwungene Aufhören
des größten Teiles der Hochseefischerei
in der Nordsee und die dadurch ihrem
Fischbestande unfreiwillig gewährte
Schonzeit von bereits mehr als zwei
Jahren die Meeresforschung vor ein
ganz neues Problem gestellt, dessen
Lösung sofort nach Friedensschluß mit
allen Kräften versucht werden muß.
Welche Veränderungen hat diese Schon¬
zeit in der Größe und Zusammen¬
setzung des Fischbestandes der Nord¬
see hervorgebracht, besonders bei der
Scholle? Die Untersuchungen hierüber,
die ziemlich erhebliche Mittel und vor
allem die Wiedereinstellung des For¬
schungsdampfers „Poseidon“ in den
wissenschaftlichen Dienst erfordern,
sollten auf jeden Fall ausgeführt wer¬
den; ihre Unterlassung würde ein un¬
verzeihlicher, später nicht wieder gut
zu machender Fehler sein.
Wenn der hier versuchte Beweis von
der Notwendigkeit und der großen Be¬
deutung der internationalen Meeresfor¬
schung geglückt ist, so muß Deutsch¬
land auch gewillt und bereit sein, sie
zu erhalten und weiter zu fördern, sei
es in der bisherigen Form oder mit
einer vereinfachten zentralen Organi¬
sation oder vorläufig als nationales Un¬
ternehmen. Wenn irgend möglich, soll¬
ten die dazu nötigen Mittel schon jetzt
— noch während des Krieges — ge¬
sichert werden, um eine zu lange Un¬
terbrechung unserer Forschungsarbeit
zu vermeiden, die einer so groß ange-
gelegten Sache verhängnisvoll werden
kann.
Deutschland hat in den letzten Jahr¬
zehnten die geistige Führung in der
Meeresforschung gehabt; es muß sie
auch in Zukunft behalten und seine
Seegeltung auch in der wissenschaft¬
lichen und wirtschaftlichen Eroberung
des Meeres fortschreitend betätigen.
Digitized by
Gck igle
Original frum
INDIANA UNIVERSITY
993
Alfred Gercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios
594
Neue Lieder der Sappho und des Alkaios.
Von Alfred Gercke.
Je mehr wir von der lesbischen Dich¬
tung kennen lernen, um so zarter und
inniger, leidenschaftlicher und offener
offenbart sich uns das Gemüt der grö߬
ten Dichterin der Liebe, die die Welt
kennt; um so gewinnender und ergrei¬
fender zeigt sich ihre in ihrer ungesuch-
ten Schlichtheit so beredte Kunst, in der
sich die Sprache mühelos dem Vers-
rhythmus anschmiegt; um so schwerer
verwinden wir den Verlust der kostba¬
ren Liedersammlung, die in hellenisti¬
scher Zeit neun Bücher umfaßte. Jetzt
haben uns kurz vor Kriegsausbruch
ägyptische Papyrusfunde 1 ) eine An¬
zahl Gedichte aus den beiden ersten
Büchern wiedergeschenkt, vieles frei¬
lich nur in jämmerlichen Fetzen, und
auch die besterhaltenen lückenhaft und
unvollständig, aber doch, wie etwas,
eines Versuches der Übertragung oder
Nachdichtung, der Ergänzung und Be¬
sprechung wert Sie sind sämtlich ohne
Überschriften überliefert, die uns selbst¬
verständlich, ja unentbehrlich scheinen.
Die Allgewalt der Liebe,
an Anaktoria.
Manchen dünkt, es wäre ein Trupp von
Reitern
Oder Fußvolk oder ein Schiffsgeschwader
Auf der schwarzen Erde das Schönste: mir
scheint's
Nur der Geliebte.
1) The Oxyrynchos-Papyri ed. by Hunt
Vol. X, Lond... 1914 Vgl. den Artikel „Neue
Lesbische Lyrik“ von U. v. Wilamowitz-
Moellendorff in Neue Jahrb. XXXIII (1914)
225fl. Obiger Beitrag wurde im Juni 1914 dem
Herausgeber eingereicht konnte aber bisher
nicht gedruckt werden. Neuere Literatur ist
nicht berücksichtigt, da der Verfasser seit
zwei Jahren als Kommandant eines Kriegsge¬
fangenenlagers auf dem Hochmoore sitzt
Internationale Monatsschrift
Digitized by Gch gle
Alles trägt die Liebe ja leicht, und alles
Lehrt sie uns verstehen. Von allen Männern
Wählte als den schönsten die vielbegehrte
Helena jenen,
Der vernichten sollte die Scheu vor Troja;
Ihrer Tochter, ihrer geliebten Eltern
Dachte sie nicht weiter: verführt von Kypris
Folgte sie Paris.
Mich auch wußte Kypris im Flug zu fesseln,
Daß ich nichts mehr schaute und nichts
mehr hörte,
Auch von ferne immer gedenkend, Anak¬
toria, deiner.
Deinen lieben Schritt zu vernehmen, deiner
Anmut Glanz zu sehen, erhoff ich sehnlichst,
Statt der Kampfeswagen der Lyder, statt der
Reiter im Panzer.
Ach, es ist nicht möglich, ich weiß es freilich,
Und mein Sehnen bleibt nur ein frommes
Wünschen,
Aber bitten darf ich darum die ew’gen
Seligen Götter.
Das Schicksal der Doricha.
(Erhalten ist von dem merkwürdigen
Liede nur der Schluß.)
Du auch, Kypris, zeigtest dich harten Herzens,
Dbcfa mit Prahlen haben erzählt die Männer,
Wie zum zweiten Maie verlangend Sehnen
Doricha stillte.
Gebet an Hera.
Nahe trat im Traume mir, Herrin Hera,
Deine anmutsvolle Gestalt, so wie sie
Vordem Atreus’ Söhne erblickten, beide
Betend in Nöten.
Ares’ Arbeit hatten sie kaum vollendet,
Waren von Skamanders Gestade hierher
Aufgebrochen, konnten jedoch die Seefahrt
Nimmer vollenden.
Bis sie dich und Zeus den gewalt'gen gnädig
Fanden nebst dem lieblichen Sohn Thyonas.
So auch bist du gnädig erschienen mir jetzt.
Als ich dich anrief.
Altem Brauche folgend, und Opfer brachte
* * • • • • # •*•••••••#
Diese Lieder sind alle im sapphischen
Versmaße gehalten: dessen Strophe be-
19**
Original from
INDIANA UNIVERSITY
595
Alfred Gercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios
596
steht aus drei Elfsilblem(_u_y_ww_u_o)
und einem Adonius (.uw.c, benannt
nach dem Kehrverse „wehe Adonis“).
Das erste Buch der großen, mit
erklärenden Anmerkungen versehenen
Ausgabe umfaßte alle Gedichte in die¬
sem nach der Dichterin selbst benann¬
ten Maße, das waren im ganzen, wie
wir jetzt aus der Buchunterschrift er¬
fahren, 1320 Verse oder 440 Strophen.
Dieses Buch wurde schon im Altertume
besonders gern gelesen und ausge¬
schrieben, und die modernen Papyrus¬
funde haben uns Reste dreier Exem¬
plare geschenkt, von denen die zuletzt
gefundenen die ergiebigsten sind. Lei¬
der ist das meiste sehr verstümmelt.
Wie Anaktoria, so wird auch eine andere
leidenschaftlich geliebte Freundin, die
Gongyla, angeredet: die Göttin von Ky-
pros schilt ihr Vorhaben, vermutlich
eine Reise, und sie selbst ist zur Freude
der Dichterin erschrocken, als sie das
Reisekleid (?) erblickt, so daß nun die
Hoffnung auf ihr Bleiben auf leben kann,
die Liebessehnsucht bis zuletzt umgibt
Eine andere Geliebte vergleicht Sappho
mit Hermione und ihrer göttlichen Mut¬
ter, der blonden Helena, „wenn solcher
Vergleich Sterblichen erlaubt ist"; jeden¬
falls vergißt sie bei ihrem Anblicke aller
Sorgen und will mit der Geliebten die
Nacht durchschwärmen. Auch in dem
Schlußgedichte des Buches ist von einem
Nachtfeste der Jungfrauen die Rede, und
darunter steht unmittelbar die erwähnte
Unterschrift „Buch I der Lieder“ mit
der Angabe der Zeilen.
Die eigenartige, uns wie hypermodern
erscheinende Selbständigkeit des weib¬
lichen Geschlechtes im öffentlichen Le¬
ben auf Lesbos war uns aus älteren
Liedern bereits bekannt, erhält aber
doch noch weiteres Licht und neue Sei¬
ten durch den jetzigen Fund. Die Lei¬
denschaftlichkeit der lesbischen Liebe
Digitized by Google
tritt immer stärker hervor und läßt uns
jetzt erst ganz verstehen, wie die von
der Großstadtluft Athens gepflegte
Posse eine Sappho und ihre Gefähr¬
tinnen in den Schmutz ziehen und ein
Vorurteil aufbringen konnte, von dem
erst Welcker die edle und doch so na¬
türlich empfindende Sappho befreite.
Vielleicht hat auch Doricha Mädchen
geliebt, und die Männer sprachen da¬
von nicht eigentlich prahlend sondern
mit Freude am Klatsch: was darüber
Auskunft geben könnte, fehlt leider,
nämlich das ganze vorangehende Gedicht.
Ebenso fehlt der Schluß des Gebets
an Hera und damit sein Anlaß. Ob die
Dichterin noch lebendigen Götterglau¬
ben hatte, erführen wir gern. Denn
Aphrodite, die in einem längst bekann¬
ten, wundervollen Gedichte angerufen
wird, das sich durchaus als ein tief
empfundenes Gebet darstellt, wird doch
auch sonst so häufig als Kypris
usw. erwähnt, daß derartiges sichtlich
zu dem bequemen Vorräte von poeti¬
schen Vorstellungen und Wendungen
gehört, der schon durch ältere Poesie an
die Hand gegeben war.
Völlig abgeblaßt erscheinen die reli¬
giösen Vorstellungen in den meisten
Götterhymnen des Landsmannes und
Zeitgenossen der Sappho, Alkaios,
von denen wir mehrere bereits aus Zi¬
taten kannten, den auf Hermes gedich¬
teten nur durch eine Nachbildung des
Horaz (1 10) kennen. Diese Dichtungen
waren mehr vom Verstände als vom Ge¬
fühle diktiert, obwohl mit sicherem poe¬
tischen Takte durchgeführt Das zeigt
deutlich der neue Hymnus:
Gebet an die Dioskuren.
Kommt hierher, verlaßt den gestirnten
Himmel
Und erscheinet gütige Hilfe bringend,
Zeus’ und Ledas mächtige Söhne, Kastor
Und Polydeukesl
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INDIANA UNIVERSITY
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Alfred Gercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios
598
Ober Landesbreite und alle Meere'
Reitet ihr auf eilender Rosse Rücken,
Und die Menschen rettet ihr leicht von
Todes
Eisigem Grauen.
Hurtig eilt ihr Ober der Tempel Zinnen,
Laßt von fern erglühen des Mastes Spitze
Und bringt Hoffnungschimmer dem
schwarzen Schiff in
Nächtlicher Brandung.
Dies könnte eine in sich abgeschlossene
Dichtung sein. Aber vielleicht ist der
Hymnus unvollständig, vielleicht folg¬
ten berühmte Taten der göttlichen Brü¬
der, vielleicht die Begründung der Bitte?
Bei Sappho würde man das Letzte mit
Sicherheit voraussetzen, aber die Ode
des Horaz auf Merkur mahnt zur Vor¬
sicht, da ihr gerade das persönliche
Moment fehlt, dagegen eine kurze my-
thographische Skizze das Wesen des
Gottes erläutert. Daß diese dem Vorbilde
selbst entlehnt sein kann, lehrt moder¬
nem Zweifel gegenüber jetzt das Gedicht
auf die Dioskuren. Dazu kommt das Sa¬
tyrspiel „Die Spürhunde“ des Sophokles,
dessen erste Hälfte im Jahre 1910 ge¬
funden wurde: der doppelte Diebstahl
des Hermes und seine Erfindung der
Leier, die schließlich Apollon erhält,
waren hier der Kern der Handlung, und
eben dies hatte längst vorher Alkaios,
wie auch ein homerischer Hymnus,
scherzhaft behandelt Die älteren Dich¬
ter hatten den Respekt vor den Göt¬
tergestalten des Volksglaubens gründ¬
lich untergraben, und man kann nicht
behaupten, daß Alkaios dagegen nach¬
drücklich angekämpft hätte, wenn er
auch zu den Dioskuren ernsthaft betet,
was man ihn als Kind gelehrt hatte.
Mit Religion hat aber nichts mehr zu
tun das folgende Gedicht:
Das Walten der^Eris.
Wie es heißt, erfuhren mit böser Tücke
Priamos und seine geliebten Kinder
Bitter Leid durch dich, du entfachtest Glut im
Heiligen Troja.
Dich nicht wollte Aiakos’ Sprößling ehren,
Als er alle Götter zur Hochzeit einlud,
Da das zarte Mädchen aus Nereus’ Haus in
Cheirons Behausung
Er als Gattin führte. Es löste der keuschen
Jungfrau Gürtel Liebe des edlen Peleus
Zu der allerschönsten der Nereustöchter.
Und einen Knaben
Schon im Jahresringe gebar sie: Glückskind,
Einen Halbgott, Lenker der falben Rosse.
Als die Phryger Helenas wegen fielen
Samt ihrer Feste,
War auch ihm des Todes Geschick be-
schieden_
Das Gedicht steht an poetischer Kraft
und im Einzelnen im Ausdruck nicht
ganz auf der Höhe der meisten Dichtun¬
gen des Alkaios. Daß ich Eris, die nicht
genannt wird, hineingebracht habe, ist
leicht verständlich, weil dieser ungebe¬
tene Gast bei Peleus* und Thetis’ Hoch¬
zeit rachsüchtig den „Parisapfel" unter
die geladenen Hochzeitsgaste warf und
dadurch den zehnjährigen Brand ent¬
fachte und die Vernichtung der unschul¬
digen Trojaner und vieler Griechen her¬
vorrief. Ob ich Achills Tod als Schluß
des Liedes mit Recht vermutet habe (die
letzte Zeile ist nicht überliefert), mag
zweifelhaft scheinen. Jedenfalls ist der
Stoff dem Epos entlehnt, nicht der Ilias
sondern den verlorenen Kyprien, die die
Vorgeschichte des trojanischen Krieges
ausführlich erzählten. Eine Reminiszenz
daran flicht auch Sappho ihrem Liebes-
liede an Anaktoria ein.
Auch in dem Gebete an Hera hat
Sappho epischen Stoff verwendet, die
Heimfahrt der Zerstörer Ilions, denen die
Götter günstigen Fahrwind versagten:
diese Erzählung entstammte gewiß den
verlorenen Nosten. Wir kannten die alte
epische Erzählung bis in viele Einzel¬
heiten bereits aus der Odyssee, wo
Nestor dem jungen Telemachos aus¬
führlich erzählt, was er von der Heim¬
fahrt der Helden weiß (III 103 ff.). Da¬
mit stimmt das Lied der Sappho teil-
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Alfred Qercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios
600
weise überein. Lesbos kommt beide
Male vor, da der blonde Menelaos nach
der Telemachie hier die Vorausgefahre¬
nen einholte. Aber als erste Station, wo
die voraussegelnde Hälfte der Griechen
den Göttern Opfer brachte, nennt Nestor
die kleine Insel Tenedos vor der troi-
schen Küste; Agamemnon oder vielmehr
beide Atriden blieben zunächst mit der
anderen Hälfte der Mannen zurück. Auch
die Anrufung des Dionysos, Sohnes der
Semele oder der Thyone, und die der
Hera selbst bei dieser Gelegenheit war
bisher nicht überliefert, da vielmehr
Athena neben Zeus als die zürnende
Gottheit galt Die neuen Sagenzüge
werden schwerlich lediglich dem les¬
bischen Lokalpatriotismus verdankt wer¬
den sondern gestatten einen Einblick in
das ältere Epos, das durch die der
Odyssee eingefügte Telemachie halb er¬
setzt und bald verdrängt wurde. Dieser
Einblick ist auch für die Geschichte des
hellenischen Heldenepos ein Gewinn.
In der Ilias wird die Vermählung
Hektors mit Andromache schon als
längst vollzogen vorausgesetzt, beider
Sohn war ein unmündiges Kind und
blieb es auch, als sich der Krieg über
zehn Jahre ausdehnte. Die Hochzeit
gehörte der Vorgeschichte an, war also
vermutlich in den Kyprien ausführlich
geschildert worden, wie dieses verlo¬
rene und als Ganzes schwer vorstell¬
bare Epos seine Bilder breit und behag¬
lich zu malen liebte. Von dort hat
Sappho wohl Umrisse und Farbenton
zu dem Gemälde genommen, das das
Schlußstück ihres zweiten Buches bildet.
Dies war entweder der Kern eines Hoch¬
zeitsgedichtes, worin Sappho eine be¬
sondere Stärke besaß, oder man muß
darin ein Seitenstück zu der homeri¬
schen Dichtung erblicken, da es, soweit
es erhalten ist nichts von subjektiver
Lyrik enthält sondern einen Ausschnitt
aus dem Epos darstellt sogar in einem
an den epischen Hexameter erinnernden
daktylischen Maße.
Die Einholung der Andromacha.
Botschaft brachte Idaios der Held zu der
Heimat hin.
Und der eilige Bote verkündete folgendes:
„König Priamos, Fürsten von Troja und
Dardanos
Und ganz Asien, lauschetI Unsterblichen
Ruhm gewann
Hektor samt den Gefährten, sie führen im
Schiffe heim
Von dem heUigen Theben und Plakias
Quellgebiet
Die glutäugige, zarte Andromacha über die
Salzflut und eine Fülle von goldenen
Schnecken auch,
Purpurgürtel und schöne Rosetten und
Spielerei’n,
Ungezählte Gefäße von Silber und Elfen¬
bein.“ —
Sprach’s, und hurtig erhob sich vom Sitze
der alte Held.
Und die Kunde durcheilte die weithinge-
baute Stadt
Eiligst spannten die Weiber vor Karren
mit kreisenden
Rädern Mäuler, und alles bestieg sie in
Ungeduld,
Die schlankfüßigen Mädchen und Frauen
ohn’ Unterschied
Außer Priamos' Töchtern, die fuhren getrennt
für sich.
Und die Männer bespannten mit Rossen
den Wagenpark,
Junggesellen sie alle, mit weithin erschal¬
lendem
Rufe trieben die Lenker der Wagen nun
ihr Gespann....
Also zogen sie aus zum Gestade der Mee¬
resflut.
.... (Von dem Landen des Schiffes ist
nichts, von der Begrüßung und Rückfahrt
sind nur wenige Worte erhalten.).
Weihrauch aber empfing sie daheim und
verbrannter Zimt
Und es schluchzten die Frauen, die edlem
Geschlecht entstammt
Und es jauchzten die Männer und riefen mit
hellem Klang
Den Ferntreffer, den Heiland Apollon, den
Leierfreund,
Jetzt zu preisen den Hektor im Bund mit
Andromacha.
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Alfred Qercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios
602
Die epische Breite und der epische Ton
sind unverkennbar, manche Beiwörter
lassen sich aus Homer belegen, in Klei¬
nigkeiten weicht das Gedicht sogar von
der sonst bekannten Technik der Sappho
ab. Das ganze II. Buch enthält übri¬
gens Dichtungen in demselben Vers¬
maße (einem Vierzehnsilbler y_
-ww-uo), das nicht aus dem ionischen
Epos stammt Aber Stoff und Sprach-
form stammen daher.
Auffällig ist im ganzen, wie völlig
Ilias und Odyssee zurücktreten: diese
wird gar nicht gestreift von der
Ilias scheint Alkaios nur einmal berück¬
sichtigt zu haben, was wir jetzt gegen
Schluß des ersten Gesanges lesen, wie
Thetis dem Zeus ihres Sohnes Groll be¬
richtet und ihn fußfällig um Genug¬
tuung angeht Gewiß gab es schon um
die Mitte des 7. Jahrhunderts die Ilias,
die im Wesentlichen unserer Ilias ent¬
sprach, und von der Odyssee scheint
wenigstens der Kern Vorgelegen zu
haben, wie hauptsächlich darauf fußende
Dichtungen des spartanischen Chordich¬
ters Alkman beweisen. Aber noch um
600 v. Chr. waren Kyprien, Nosten und
die Gesänge von der Zerstörung Ilions
auf Lesbos die beliebtesten Epen.
Damit wird einer antiken, noch heute
vielfach geglaubten Legende der Lebens¬
nerv zerschnitten. Ein griechisches Hel¬
denepos, behauptete man, gab es nicht,
bevor der athenische Tyrann Peisistra-
tos um 550/30 durch Sammlung und Ord¬
nung der umlaufenden Heldengesänge
die beiden großen Epen Ilias und Odys¬
see schuf; alle anderen Epen entstanden
erst später in formaler Anlehnung an
diese umfassenden Werke. Gegen diese
im ganzen unwahrscheinliche und im
einzelnen unhaltbare Hypothese hat sich
die moderne Homerforschung in zahl¬
reichen, eindringenden Untersuchungen
gewendet Jetzt liegen die Akten dafür
vor, daß Kyprien und Nosten ebenso alt
sind wie die beiden erhaltenen Epen
oder wenigstens schon am Ausgange
des 7. Jahrhunderts weltbekannt waren.
Die Redaktion des Peisistratos war also
nicht epochemachend für die Entstehung
des Epos, sie kann nur Bedeutung für
die buchmäßige Niederschrift und Er¬
haltung der Epen beanspruchen.
Der Erfindung der griechischen Laut¬
schrift (um 900) folgte nach Freigabe
des ägyptischen Handels unter Psam-
metich die Herstellung geschriebener
Bücher und bald auch ihre gewerbs¬
mäßige Verbreitung im Buchhandel,
etwa in Sapphos Jugend oder wenig
früher. Dadurch wurden die zahllosen
Elegien, Iamben, Lieder seit Mitte des
7. Jahrhunderts aus der Verzettelung und
Verwahrlosung gerettet, keine älteren.
Doch zurück zu den lesbischen Ly¬
rikern selbst und ihrem Nachlaß!
Auch Alkaios verstand es, in der Art
der ihm sonst vielfach überlegenen
Sappho, durch Einflechten von Sagen
oder Zügen alter Sage der zart abge¬
tönten Stimmung eines Liedes eine noch
größere Weihe zu geben. Wohl das
schönste von allen, die wir von ihm
kennen, ist das in demselben Maße wie
Sapphos Einholung der Andromache ge¬
dichtete
Vermessenheit,
an Melanippos.
Du willst sterben mit mir, Melanippos, zu-
gleich? Und dann,
Wenn du über des Acheron wirbelnde Flut
gesetzt,
Willst du schauen noch einmal der Sonne
erquickend Licht
Droben? Nein, auf Unmögliches richte du
nicht den Sinn.
Wähnte Sisyphos nicht, der aiolische König,
auch
Einst dem Tod zu entrinnen, von allen der
klügste Mensch?
Doch wie sehr er verschlagenen Sinnes, er
mußte doch
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Alfred Gercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios
604
Ober Acherons wirbelnde Fluten zurück
zuletzt:
Kronos* Sohn, der gewaltige, legte ihm
schwere Last
Auf dort unter der schwarzen Erde. Drum
wollen wir
Nicht hinab ins Verschlossene dringen, so¬
lange uns
Noch zu leben beschieden, was immer zu
leiden bleibt,
Was der Wind des Geschickes mit eisigem
Hauch uns bringt
Unter den Büßern im Hades hat
Odysseus auch den Sisyphos gesehen,
wie er unablässig einen Stein bergauf
in stets vergeblicher Anspannung aller
Krüfte wälzen muß zur Strafe für ein
nicht genanntes und nicht bekanntes
Vergehen. So hatten ihn die Orphiker
als warnendes Beispiel geschildert Ent¬
weder dorther oder wahrscheinlicher
aus einer älteren, reicheren Quelle
schöpfte Alkaios, vielleicht einer münd¬
lich fortgepflanzten Volkssage, die uns
freilich nur in junger, grotesk possenhaf¬
ter Ausstattung genauer bekannt ist Wie
im deutschen Märchen der Teufel ge¬
prellt wird, so betrog Sisyphos, der Über¬
kluge, den Hades: dem Tode, den Zeus
ihm wegen Verrats eines Geheimnisses
schickte, kam er zuvor, bezwang ihn
und legte ihn in starke Fesseln, so daß
nun niemand mehr starb, bis Ares den
Tod befreite und ihm den Frevler über¬
gab; da ließ dieser seine Gattin die
Totenopfer zurückhalten und erbot sich
nun bei dem verwunderten und unwilli¬
gen Hades, die Sache droben in Ord¬
nung zu bringen, kehrte aber nicht zum
Hades zurück sondern blieb bis in sein
hohes Alter König von Korinth. Nicht
dieser Schwank, in den die schließliche
furchtbare Strafe ohne Ende schlecht
hinein paßt, sondern eine ältere Gestal¬
tung der Sage lag der orphischen Pre¬
digt wie dem lesbischen Liede zugrunde,
und ihr schmiegten sich die schwer¬
mütigen Todesgedanken an.
Derselbe Alkaios, der die offiziell ver¬
ehrten Gottheiten mit offiziellen Hym¬
nen feiert, weiß doch des Mythus tiefen
Sinn zu verstehen und zu deuten und
zeigt in aller Lebensfreude bisweilen
einen ungewöhnlichen Emst der Lebens¬
auffassung, der nicht nur durch bittere
Erfahrungen veranlaßt war sondern im
Grunde auch in einer tiefreligiösen Über¬
zeugung wurzelt, die ja mit dem Gottes¬
glauben nicht zusammenfällt.
Was niemand aus den Götterhym¬
nen schließen könnte, das verraten
andere Dichtungen: ein aufgewühltes;
zerrissenes Gemüt, eine zu Extremen nei¬
gende Leidenschaftlichkeit, einen jähen
Wechsel der Stimmung. In einem neuen
Bruchstücke offenbart er sich als Fata¬
list, darin über gelegentliche Äußerun¬
gen der homerischen Gedichte noch hin¬
ausgehend und wenig übereinstimmend
mit dem etwas jüngeren Philosophen
Pherekydes von Syros, der mit Pitta-
kos von Lesbos in Verbindung ge¬
bracht wird. Denn dessen Darstellung
in poetischer Prosa zeigt mehr das my¬
thische Gewand hesiodeischer Theologie
als die Schärfe philosophischer Beweis¬
führung.
Ganz allein steht Alkaios in dem
geradezu an einen Ausspruch Jesu
(Matth. 10, 30. Luk. 12, 7. 21, 18) er¬
innernden Satze, daß kein Mensch auch
nur ein Haupthaar verlieren würde gegen
den Willen der Moira des Zeus. Das
ist eine ganz unerwartete Lehre alter
Zeusreligion oder selbständiger Grübe¬
lei, die der Dichter vielleicht nicht im
eigenen Namen vorgebracht, sondern
irgend jemand in den Mund gelegt
hatte, ein Vorläufer der gelästerten An¬
schauung eines Xenophanes über das
Wesen und Walten der Weisheit Got¬
tes, der tiefste Spruch aus dem Zeitalter
der sieben Weisen. Eben diese Tiefe
sieht dem Alkaios nicht ähnlich, er hat
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Alfred Gercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios
600
die Lehre ohne Frage nicht selbst erfun¬
den. Aber wir wissen nicht, woher er
den Spruch hatte.
Fatalismus und zugleich feste Zuver¬
sicht auf irdische und überirdische Hilfe
und glücklichen Ausgang erfüllte den
streitbaren Dichter in den langwierigen
Bürgerkfimpfen seiner Vaterstadt Myti-
lene, in die er als Parteigänger des
Adels verstrickt war. Seine politischen
Lieder haben einen ansehnlichen Zu¬
wachs erhalten und wenigstens in einem
tritt zuversichtliche Hoffnung auf eine
Wendung zum Guten durch göttliche
Fügung klar zutage. Der Name des an¬
gerufenen Gottes (Zeus?) ist nicht er¬
halten. Das Lied ist in einem eigentüm¬
lichen Versmaße gehalten, mit zwei
schweren dreisilbigen Füßen (zumeist Pa-
limbakcheen) anhebend, dann in leich¬
terem Takte gehalten (vgL die Askle-
piadeen Maecenasatavts | editeregibus):
-vy-
— v-/ — V_/ — — W w/ — W —
Melanchros unser Feind.
imm er trieft des Palast’s Schwelle von
üppigen
Tranks Völlerei, seiner | zechenden Rotte
Schwann
tut sich gütlich mit ihm an der Gemeinde
Mark.
Er selbst, der Eidam sich | eines Atriden
rühmt,
mag verschlingen die Stadt (Myrsilos
lehrte ihm’s),
Bis hier der Kriegsgott uns | alles zu wen¬
den gibt
Dann soll unseres Volk’s Hader vergessen
sein:
Herzfressend Elend, wir | wollen es achten
samt
bflrgermordendem Krieg. Einer der Götter
hat
Uns dies geschickt, ja, ge blendet des Volkes
Sinn —
Gib dem Phittakos jetzt sehnlich erhofften
Ruhm.
Wir wußten bereits von der Gewalt¬
herrschaft des Myrsilos, des Melan¬
chros und verschiedener Geschlechter
wie der Kleanaktiden, denen erst das
Waffenglück und die Friedensliebe
des gerechten und weitschauenden Pit-
takos oder vielmehr Phittakos ein
Ende machte. Dieser stand, wie Solon
in Athen, zehn Jahre (590—580?) an der
Spitze des Staates und verstand die Par¬
teien zu versöhnen, so daß er wie So¬
lon um seiner praktischen Klugheit wil¬
len spater zu den sieben Weisen ge¬
rechnet wurde. Von seiner festen Hand
und seinem milden Sinne erhofften
schon lange vorher Aristokraten wie Ple¬
bejer, darin merkwürdig einig, Ordnung
der Wirren, stammte er doch mütter¬
licherseits von dem alten lesbischen
Könige Penthilos und weiterhin von den
mythischen Königen Atreus und Aga¬
memnon ab, wahrend sein Vater Hyr-
ras ein Zugewanderter war, der nicht
mehr Rechte als das gemeine Volk be¬
saß. Auch der in den ersten Versen An¬
gegriffene rühmte sich seiner Verschwä¬
gerung mit den Atriden, war also irgend¬
wie mit Pittakos verwandt, aber nicht
mit ihm identisch. Denn der Ausruf
„möge er die Stadt verzehren" ist grim¬
mige Ironie: der Prasser war einst ein
Werkzeug und Helfershelfer des in¬
zwischen gestürzten Tyrannen Myrsilos
gewesen und hat sich nun selbst der
Stadt bemächtigt, wahrend sich die Emi¬
granten unter Pittakos, Alkaios und sei¬
nen Brüdern zum Angriffe rüsten. Da¬
von wußten wir bereits, aber erst jetzt
ist gesichert, daß Pittakos nicht den
Myrsilos stürzte und unmittelbar nach
dem Sturze seine Reformen einführte,
sondern daß dazwischen die Tyrannis
eines Dritten gehört, höchst wahrschein¬
lich des Melanchros. An Pittakos, in
einem etwas früheren Zeitpunkte, wird
auch gerichtet sein die
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Alfred Qercke, Neue Lieder der Sappho und des Alkaios
608
Warnung.
Schmerbäuche sieh, die Lippen herabgesenkt.
Bei Tage fallt man sich in Gelagen an.
Und nachts rumoren die Gedärme,
Die man befreit, der Natur gehorchend.
Auch jener selber konnte das nimmermehr
Verleugnen, seit mißhandelt er die Natur:
Er macht die Nacht mit Fleiß zum Tage —
Schon ist der Boden im Faß zu spüren.
Du selber stehst, obwohl du aus solchem
Haus,
Im besten Rufe: den Edelsten der Nation,
Die wackre Eltern streng erzogen,
Gleichst du durchaus in dem besten
Streben.
Eine solche Ermahnung mußte, auch
wenn sie in guter Absicht an einen sehr
jungen Menschen gerichtet war, ihren
Zweck verfehlen, da sie mit einer Ver¬
höhnung der Familie, einer ganz per¬
sönlichen Invektive verbunden war, wie
man sie in der Form des lyrischen Vers¬
maßes, der alkäischen Strophe, nicht er¬
wartet Sie erinnert starte an den Reis¬
läufer und gottbegnadeten Dichter Ar-
chilochos (um 648), der keine persön¬
liche Verunglimpfung scheute und seine
Schimpfworte bisweilen von der Gasse
auflas. Dessen giftige Iamben erzähl¬
ten aber auch gelegentlich einfach Tat¬
sachen und wirkten dann um so nach¬
haltiger. Das hat Alkaios in einem seiner
Lieder glücklich nachgeahmt dessen
Vorwurf wir nicht weiter kennen:
Ein Schuft
Schamlos hat er Menschen sowohl wie
Götter,
Alle, betrogen.
Vater Zeus, die Lyder gewährten damals,
Viermaltausend Drachmen als Ehrengabe
Unsrer Rotte, falls es ihr glückte, jene
Feste zu nehmen.
Segen freilich konnten sie nicht erwartea.
Doch der tief verschlagene Fuchs gedachte,
Uns zu hintergehen mit wenig Mühe,
Als er uns anwies
Der Schluß der Geschichte, wie die
Söldner um ihren Lohn gebracht wur¬
den, fehlt Aber wir sehen den Dichter
selbst in fremdem Solde, wie auch seine
Brüder Kriegsdienste in der Ferne taten.
Ein Bruchstück spricht auch, ohne sonst
Neues zu bieten, von Askalon, dem hei¬
ligen Babylon und dem Todesgange.
Die Vaterstadt hat die Anhänger der
unterlegenen Partei ausgestoßen. Im
Krieg und wilden Lagerleben, beim
Becher und im Liebestaumel suchen sie
Trost und Vergessen, um doch immer
wieder auszuschauen, wie es daheim
aussieht, und sich beim ersten Winke der
zurückgebliebenen Gesinnungsgenossen
zusammenzufinden und je nachdem zu
einem unüberlegten oder wohlvorberei¬
teten Putsch zurückzukehren. Eine der¬
artige fast verzweifelte Stimmung, weit
entfernt von stiller Ergebung in das un¬
abänderliche Schicksal, spiegelt ein am
Anfänge und Schlüsse verstümmeltes
Lied in alkäischem Maße wider:
Das Schiff am Strande.
Schon ist die Fracht gebracht vom Schiffe,
Wo sie am besten geborgen lagert
Gepeitscht von heftig brandender Wogen
Schlag,
Im Kampf mit Sturm und strömendem
Regenguß,
Hat’s keinen Wunsch mehr, sondern
fürchtet.
Rasch am verborgenen Riff zu bersten:
So wird das Schiff geschleudert nach hier
und dort.
Ich aber will, mein Lieber, vergessen dies
Und mich mit euch beim Wein vergnügen
Und mit dem Bykchis im Reigen tanzen.
Uns soll auch Sehnsucht nimmer erneu’n
den Schmerz,
Mag einer noch so reichlich.
Das Bild des herrenlosen, der Gewalt
der Elemente preisgegebenen Schiffes
war von Alkaios aufgebracht und schon
im Altertume auf das Staatsschiff ge¬
deutet wie in der bekannten horazi-
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INDIANA UNIVERSITY
609 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 610
sehen Übertragung eines ganz ähnlichen
Liedes (O navis referent). Diese Deu¬
tung ist gewiß richtig.
Auch der Umschlag der Stimmung ist
für den Dichter charakteristisch. Von
dem unkünstlerischen, gesuchten und
verletzenden Umkippen bei Heine ist er
weit entfernt, denn auch durch alle lär¬
mende Fröhlichkeit des Zechens und Tan-
zens klingt doch stets der eine Ton eines
fast verzweifelten Sichberauschens und
Vergessenwollens hindurch: das ist fast
die wehmütige Lustigkeit des Narren im
„König Lear“. So bieten diese politischen
Lieder reich bewegte und immer wech¬
selnde Bilder, den Ausdruck der äußeren
und inneren Erlebnisse einer starken Per¬
sönlichkeit in wild bewegten Zeitläuften,
lauter Schöpfungen des Augenblickes.
An poetischem Werte stehen sie hoch
über den glatten, unpersönlichen Götter-
hymnen, die mit seinem Herzblut ge¬
schriebenen Dichtungen eines großen
Dichters; die schönsten von ihnen kön¬
nen den reineren, harmonischeren Lie¬
dern derSappho wohl zur Seite stehen.—
Diese Mitteilungen mag ich nicht
schließen, ohne dem Manne öffentlich
Dank zu sagen, der seit zwei Jahr¬
zehnten mitgeholfen hat, die neuen, so
schwer verständlichen und stark zer¬
störten Funde zu bergen, zu enträtseln,
zu würdigen. Sein Name verschwindet
fast in den Veröffentlichungen, obwohl
die englischen Herausgeber ihren Dank
ihm abzustatten nie versäumt haben.
Aber nur wer Einblick hat in die eigent¬
liche Arbeit, die der Veröffentlichung
vorausgegangen ist, weiß, daß wir ihm
nicht bloß einzelne Ergänzungen und
Erklärungen verdanken, sondern daß
häufig auch da, wo jetzt alles klar auf
dem Papyros zu stehen scheint, ur¬
sprünglich nichts als wenige zusammen¬
hanglose Buchstaben gelesen wurden,
bevor Ulrich von Wilamowitz-Möllen-
dorff an die Entzifferung ging und mit
genialem Blicke ihre Bedeutung er¬
kannte und die weitere Lesung er¬
zwang. Einen solchen Retter brauchten
Sappho und Alkaios.
Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung.
Von Bernhard Fehr.
I.
Die Gestalt Charles Dickens’ ist uns
bis jetzt meistens nur in dem verklä¬
renden Licht der Legende erschienen.
Der ganz überwältigende Erfolg seiner
Werke hat ihn in den Augen der mei¬
sten Leser zu einem literarischen Hel¬
den gestempelt Wohl machte sich in
den späteren Jahren die scharfe Kritik
der gebildeten englischen Kreise gel¬
tend. Im großen und ganzen ist aber
das Bild vom literarischen Riesen in
den wesentlichen Zügen dasselbe ge¬
blieben. Die gewissenhafte, scharfe For-
Internationale Monatsschrift
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schung allein ist hier imstande, dem
Bild die Umrisse der Wahrheit zu geben.
Wie nimmt Dickens sich aus, wenn
wir ihn in seine Zeit richtig hinein¬
gestellt haben? Was ist das Wesen sei¬
ner Persönlichkeit? Wie äußern sich
Zeit und Persönlichkeit in seiner Kunst
und wie ist diese Kunst selber entstan¬
den? Diese drei großen Fragen vor
allen Dingen und andere mehr hat
Wilhelm Dibelius in seinem tief¬
gründigen Werk beantwortet. 1 ) Eine
Flut von Eindrücken stürmt auf den
1) Wilhelm Dibelius, Charles Dickens.
B. G. Teubner 1916. Geh. 8 M., geb. 10 M.
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Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 612
Leser, der sich in die Ideenwelt dieses
Buches versenkt hat, ein. Aus ihrer
Menge wählen wir einen ganz beschei¬
denen Teil aus, den wir hier als Roh¬
material benutzen wollen, um ein klei¬
neres Gebäude, Abbild des größeren,
von Dibelius aufgetürmten, vor den
Augen des Lesers zu errichten.
II.
Dickens ist ein Kind des idealen
englischen Liberalismus, mit ihm
aufgewachsen und vielleicht später wie¬
der mit ihm untergegangen. Seine
Haupttätigkeit fällt in die dreißiger und
vierziger Jahre des vorigen Jahrhun¬
derts. 1850 hat er schon seinen be¬
rühmtesten Roman „David Copperfield“
geschrieben. Was nachher kommt, ist
immer noch gewaltige Leistung, steht
aber an Kraft und schöpferischem Wert
hinter den Werken der ersten Zeit be¬
deutend zurück. Philosophisch-politisch
und künstlerisch ist Dickens ausgewach¬
sen, sein Werk eigentlich jetzt schon
abgeschlossen.
Der Liberalismus aber, den Dickens
in den dreißiger Jahren vorfand, war
eine nüchterne, farblose, gefühlsfeind¬
liche Verstandeslehre. Hier war nach
Locke der Freiheitsbegriff in der inne¬
ren Politik zum Grundsatz des Staats¬
lebens erhoben worden. Locke schwebte
die Freiheit des Volkes im Gegensatz zum
Despotismus vor. In Wirklichkeit han¬
delte es sich aber hier nur um die Frei¬
heit der herrschenden Klasse gegen¬
über jeder Kontrolle von unten und von
oben. Der Adlige verschafft sich Ge¬
folgschaft im Parlament, der kleine Jun¬
ker regiert mit dem Geistlichen zu¬
sammen seine Grafschaft Die jüngeren
Söhne der Adligen werden Bischöfe
und Richter. Dieser Freiheitsbegriff
wird nun aber gegen das Ende des
18. Jahrhunderts von dem neuen, durch
den Industrialismus gestärkten Bürger¬
tum übernommen und auf seine Weise
umgedeutet Der reiche Bürger waltet
nun in seiner Fabrik wie der Grundherr
auf dem Lande. Freiheit bedeutet für
ihn das Recht den Schwachen, den Ar¬
beiter, rücksichtslos zu unterdrücken.
Das Ideal, das später Matthew Arnold
als das Krebsübel der englischen De¬
mokratie hingestellt hat das „Tue, was
dir beliebt“ (Do as you like), hat in den
behäbigen Bürgerkreisen seine Verwirk¬
lichung schon gefunden.
Die Not ist groß. Auf dem Lande
läuft der Hauptgewinn in die Taschen
des großen Grundherrn und großen
Pächters. Der Landarbeiter geht leer
aus. Auf ihm lasten die hohen
Kornpreise, die erhöhten Steuern, Fol¬
gen des Napoleonischen Krieges. In
Südengland flammen 1816 die Heuscho¬
ber auf. Die Revolution steht drohend
vor der Türe.
Das Spinnrad schnurrt nicht mehr im
Bauernhause, der Webstuhl ruht Die
Stadt hat die landwirtschaftliche Bevöl¬
kerung in Massen an sich gezogen...
Dort sinken die Löhne durch das über¬
wältigende Angebot der Arbeitskräfte
und durch die Konkurrenz der Kinder¬
arbeit; denn die Gemeinden haben die
Kinder des Armenhauses in Scharen
dem Fabrikherrn zugetrieben.
Nun kommt die Wissenschaft und
liefert für alle diese Zustände die lo¬
gische Rechtfertigung. Das muß so
seinl Es ist ein Naturgesetz, daß der
Reiche reicher, der Arme ärmer werde.
Aber immer noch bleibt der Grund¬
gedanke die Freiheit Schon Adam
Smith hat sie für den Handel gefor¬
dert den er von allen Schranken, von
den Hemmungen aller Innungen und
Gilden und Organisationen befreien
möchte. „Jeder sorge für sein eigenes In¬
teresse; damit sorgt er am sichersten für
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INDIANA UNIVERSITY
613 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung @14
das Gemeindewohl; denn die Weisheit
des Schöpfers hat es so gefügt, daß das
Streben des Menschen, seine wirtschaft¬
liche Lage zu verbessern, dem Ganzen
zugute kommt“ So wird die mensch¬
liche Selbstsucht mit der göttlichen Vor¬
sehung in Einklang gebracht. Malthus
kommt mit seiner Bevölkerungstheorie,
einer Ergänzung zu Smiths Lehre, zum
Schluß, daß alle die schlimmen Mi߬
stande unvermeidlich sind, denn jedes
Jahr stößt der menschliche Gesell¬
schaftsorganismus einen Teil der über¬
flüssigen Bevölkerung ab, um zwischen
Menschen- und Nahrungsmittelvorrat
das Gleichgewicht herzustellen. Ri¬
cardo beweist durch sein ehernes
Lohngesetz, daß der eigentliche Vorteil
dem Grundherrn verbleiben muß. Bent-
ham schließlich empfiehlt einen Staat
in dem das selbstsüchtige Interesse des
Individuums mit dem Interesse der Ge¬
samtheit zusammenfällt so daß die eine
Selbstsucht die andere aufhebt Jede
Handlung muß nützlich sein für die
größtmögliche Zahl.
Die Selbstsucht ist als eine unantast¬
bare menschliche Kraft als Urtrieb
menschlicher Handlung erkannt wor¬
den, als notwendigste Grundlage jedes
Staatswesens. Da der Staat aber nicht
geistig, sondern wirtschaftlich aufgefaßt
wird, so muß er eine ungehemmte wirt¬
schaftliche Interessenpolitik, den Frei¬
handel, gewähren lassen. Richard
Cobden (1804—1865) ist der große
Agitator dieses Liberalismus, den er in
richtiger Erkenntnis des englischen Na¬
tionalcharakters zur Religion der Masse
umgestaltete. Er hat eine von jenen ver¬
blüffenden Gleichungen aufgestellt, die
wir in der Geschichte des Puritanismus
immer wieder finden. Freihandel be¬
deutet den Frieden zwischen den Völ¬
kern. Wer also dem Freihandel dient,
wird zugleich ein Wohltäter des
Difitized by Gougle
Menschengeschlechtes. Freihandel bringt
auch dem Einzelwesen den größten Ge¬
winn. Der eigene Geschäftsvorteil wird
somit wiederum der Sache der Mensch¬
heit gleichgesetzt Der Cant erreicht in
jenem Zeitalter den Gipfelpunkt
Der äußerste linke Flügel der Libera¬
len, der philosophische Radikalismus,
verlangt eine Reform, die vor keinem
Mittel zurückschreckt. Er hat erkannt
daß die aufklärende Arbeit der Volks¬
erziehung und Volksbildung die Ver¬
wirklichung eines politischen Planes am
meisten fördern kann. Zwei Schriftstel¬
lerinnen, Jane Marcet und Harriet
Martineau, besorgen diesen Aufklä¬
rungsdienst indem sie Erzählungen und
Novellen im Volke verbreiten, die natio¬
nalökonomische Grundsätze, vor allen
Dingen die Lehre eines Malthus, künst¬
lerisch verwerten. Miß Martineau ver-
steigt sich in einer Erzählung (Man¬
chester Strike) zu folgendem hübschen,
an die Adresse der Arbeiter gerichteten
Malthusschen Trostsatze: „Wir Fabri¬
kanten tun für euch alles, was wir
können, indem wir das Kapital vermeh¬
ren, das euch die Existenz bietet; ihr
müßt das übrige tun, indem ihr eure
Anzahl den Existenzmitteln anpaßt“
Der rein wirtschaftlich gefaßte Frei¬
heitsgedanke, den der Bürger dem Ad¬
ligen abgelauscht hatte, geht in der Ge¬
werkschaftsbewegung auch auf den
englischen vierten Stand über, der in
grob selbstsüchtiger materialistischer
Weise die Grundsätze der klassischen
Nationalökonomie auch seinen Zwecken
dienstbar zu machen weiß und sich
heute von jeder Kontrolle freigemacht
hat Der Chartismus, der dem Schoße
des Radikalismus entsprungen ist, bil¬
det in, den vierziger Jahren dazu eine Er¬
gänzung, mündet dann aber immer
mehr in das sozialistische Fahrwasser
ein.
20 *
Original fram
INDIANA (JNIVERSITY
615 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung
616
Der Liberalismus war erstarrt. Er
ward gewogen und zu leicht erfunden.
Selbst der feinsinnigste und begabteste
Liberale, John Stuart Mill, der eine
rein verstandesmäßige Erziehung ge¬
nossen hatte, fühlte im Vollbesitze sei¬
ner Kenntnisse, daß ihm zum ganzen
Menschen etwas fehlte, und mit Trä¬
nen in den Augen gestand er sich, daß
er bei seinen reichen Verstandesgütem
allein nie glücklich sein könnte. Die
fromme, schlichte, romantische Dich¬
tung eines Wordsworth brachte ihm
Trost
III.
Die Romantik ist die Gegenbewe¬
gung zum Liberalismus, dessen nüch¬
ternes, kaltes Wesen glücklicherweise
England nie ganz beherrschen konnte.
Aus der spanischen Mystik gelangt über
Frankreich der Kultus der schönen Seele
nach England, wo er in Richard-
sons „Pamela“ (1740) seine literarische
Verkörperung erhält Mit Sternes
„Sentimentaler Reise“ (1768) lernt der
englische Leser wieder weinen. Young
und Blair bringen Grabesstimmung in
die englische Dichtung und Blake die
heilige Tiefe der Mystik. In der Poli¬
tik predigt der Konservative Burke
die Lehre von einem Staate, der ein
lebendiger Organismus ist belebt von
der Tradition, von der ererbten Ange¬
wöhnung an alles Gute und Heilige.
Coleridge greift die Aufklärung an
und wird zum Vorboten Carlyles. Durch
den von dem abtrünnigen Wesley be¬
gründeten Methodismus wird auch die
englische Staatskirche gezwungen, dem
gesamten Volke zu dienen, will sie nicht
zu einer bloßen Brahmanenkaste zu¬
sammenschrumpfen. So wirkt auf ihrer
äußersten Linken der Geist des ab¬
trünnigen Wesley als Sauerteig in der
sog. „evangelischen Partei“. Viel stär¬
ker bricht die Kraft der Kirche in den
dreißiger Jahren in der OxforderBe-
wegung durch. Die Macht der Mystik
und der Schönheit der Sinn für die
Vergangenheit wurden aufs neue ge¬
weckt die Forderungen künstlerischer
Erziehung für die höheren Schichten,
der Vertiefung der Gefühlswerte im
Volksleben aufgestellt und die Lösung
der sozialen Frage als wichtig aner¬
kannt
Die größte Stoßkraft jedoch in der
romantischen Gegenbewegung liegt in
dem schottischen Puritaner Carlyle
verborgen. Er besaß die tiefe Einsicht
daß alte Dogmen, Grundsätze und all¬
gemeine Wahrheiten als Symbole fest¬
gehalten werden müssen; er war ein
Gegner der Nationalökonomie, war aber
einsichtig genug, sich gewisse ihrer
Ideen zueigen zu machen. Er begriff,
daß der alte Agrarstaat geopfert und
zum Industriestaat fortschreiten muß,
daß in der Industrie Englands wirt¬
schaftliches Heil liege. Aber er wollte
nicht gestatten, daß die Entwicklung
sich selbst überlassen werde. Eine Ari¬
stokratie sollte sie lenken und leiten:
Zur alten Aristokratie des Landes ge¬
selle sich heute die neue, die aus den
Offizieren der Industrie besteht.
Carlyle hat nach allen Seiten hin ge¬
wirkt Nicht nur finden sich seine
Grundgedanken in Einklang mit den
seelischen Kräften, die bei den An¬
hängern der evangelischen Partei wir¬
ken, bei den warmherzigen Fabrikanten
David Dale (1739—1806), Robert Peel
(1750—1830), dem Vater des berühmten
Ministers, bei John Fielden (1784 bis
1849), bei dem Kaufmann Thomas Sad-
ler (1780-1835), bei Richard Oastler
(1789-1861), dem König der Fabrik¬
arbeiter, bei B.Seeley (1798—1886), dem
Verleger der evangelischen Partei, bei
dem strengen Tory, dem Grafen von
Shaftesbury (1801—1885). Seine Lehre
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617
Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 618
findet Verbreitung und Anhang bei den
führenden Geistern der konservativen
ParteL Hier ist es vor allen Dingen der
ehrgeizige und phantasievolle Dis-
raeli, der sich Carlyles System an¬
zueignen versteht Nicht der Verstand
allein kann die großen Rätsel des Le¬
bens lösen. Groß ist der Mensch eigent¬
lich nur, wenn er unter der Herrschaft
der Leidenschaft steht Diese roman¬
tische Auffassung färbt bei ihm ab auf
den Staatsbegriff und auf die Politik,
und Disraeli hofft auf dem Boden des
Bestehenden, auf dem alten Staate in sei¬
ner Verbindung mit der Kirche, auf der
Grundlage der alten sozialen Abstufung
die soziale Frage lösen zu können. Er
verkündigt in seinen beiden Romanen
„Coningsby“ (1844) und „Sibyl" (1845)
Carlyles Patriarchalismus, während der
Geistliche Charles Kingsley (1819
bis 1875) Carlyles rein sittliches, nicht
christliches System wieder auf den Bo¬
den des Christentums stellen möchte.
Dem Liberalismus der dreißiger und
vierziger Jahre muß ein schlechtes
Zeugnis ausgestellt werden; denn alle
großen Leistungen auf dem Gebiete der
sozialen Fürsorge verdankt das dama¬
lige England den Konservativen. Die
Konservativen waren die geistig stärke¬
ren. Sie konnten aber den Liberalismus
nicht entwurzeln. Das viktorianische
und das moderne England tragen sein
Gepräge. Die Nützlichkeit bleibt immer
noch der wichtigste Wertmesser der
menschlichen Handlung, die Begeiste¬
rung wird als unbequem empfunden.
Aber die Romantik mit ihren starken
Gefühlsmächten hat das englische Gei¬
stesleben ergriffen, und ihrem Einfluß
konnte sich auch der Liberalismus nicht
entziehen.
IV.
Die auffallendste Verkörpe¬
rung dieser Vereinigung von
Romantik und Liberalismus ist
Charles Dickens. Er bekennt sich
zu den besten liberalen Traditionen, die
er mit den Erfordernissen des Tages und
mit den Gefühlswerten der führenden
konservativen Geister auf geschickte
Weise verschmolzen hat. Er ist kein
großer Menschheitsprophet. Was er zu
verkündigen hat, ist längst bekannt, ist
das geistige Besitztum anderer. Aber
gerade darum war er volkstümlich, weil
er geistiges Gemeingut verbreitete.
Die Persönlichkeit Dickens’ hat
sympathische und abstoßende Züge. Er
gehört dem bürgerlichen Mittelstände
an, ist nicht, wie oft behauptet wird,
Vertreter des vierten Standes. Von sei¬
nem Vater, der im praktischen Leben
nichts taugte, hat er den Flug der Phan¬
tasie, vielleicht auch die schauspiele¬
rische Ader, von der Großmutter väter¬
licherseits die Lust am Fabulieren. Die
Mutter übermittelt ihm den Sinn für das
Komische, aber sonst nichts;wenigstens
fühlt sich Dickens ihr gegenüber nicht
zu Dank verpflichtet; in seinen Briefen
wird sie nie erwähnt Eindrucksvoll
sind des Dichters Kinderjahre in Land¬
port, wo er 1812 das Licht der Welt er¬
blickte. Es ist das Peggottymilieu, das
auf ihn einwirkt Die Eindrücke werden
ergänzt und verstärkt durch Phantasie
aufpeitschende Ammenerzählungen, spä¬
ter durch Reisebeschreibungen und
Abenteuergeschichten, durch Smollet,
Fielding, Goldsmith, Defoe, Cervan¬
tes, Gil Blas, Tausendundeine Nacht,
durch die moralischen Wochenschriften
des 18. Jahrhunderts. Auch der Ernst
des Lebens blickt finster in die heitere
Jugendszene. Im Hafen liegt das dü¬
stere Sträflingsschiff, das von Verbre¬
chen und Sünde, von Strafe und Leiden
spricht Schlimme Tage sammeln sich
über der Familie. Der Ort wechselt An
die Stelle der heiteren Küste tritt ein
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INDIANA UNIVERSITY
619 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 620
schmutziges Quartier in der Hauptstadt
London. Der Vater wandert in das
Schuldgefängnis, und der zwölfjährige
Charles muß sein eigenes Brot verdie¬
nen. Hier übertreibt die Dickenslegende,
die uns zu sagen vergißt, daß die har¬
ten, demütigenden Tage in der Schuh¬
wichsefabrik nur wenige Monate aus¬
machen, daß sie wohl hätten vermieden
werden können. Freudlos ist überhaupt
die Jugendzeit Dickens* nicht Es folgt
eine interessante Schulzeit bis der vier¬
zehnjährige Knabe bei einem Rechtsan¬
walt Stellung findet und es endlich mit
19 Jahren zum Parlamentsberichterstat¬
ter gebracht hat Daneben findet Dickens
Zeit recht häufig ins Theater zu gehen
und sich an den Erzeugnissen der klei¬
nen Muse, an Posse und Melodrama, zu
ergötzen. Nun geht es fabelhaft schnell
vorwärts. 1833 veröffentlicht er seine
erste Skizze. Schon drei Jahre später
erscheinen die ersten Nummern seiner
„Pi ckwi ckie r“, durch die er mit einem
Male zum berühmten Manne wird, 1837
folgt „01 i v e r T w i s t“. Die Verleger be¬
ginnen sich um ihn zu reißen. „Nicho-
las Nickleby“ (1838), „Der alte Rari¬
tätenladen“ (1839) bedeuten weitere Tri¬
umphe. Sein Ruhm dringt nach Ame¬
rika. Er fährt nach Neu-England hin¬
über und wird, wo er sich nur zeigt
als geistiger Held gefeiert Der Erfolg
läßt ihn nie mehr im Stich. Sein Leben
wird für den Außenstehenden, trotz
dem unaufhörlichen ungeheuren Kraft¬
aufwand, den es aufweist uninter¬
essant Am Schluß seiner Laufbahn
wirkt er als Mime, der Szenen aus sei¬
nen Romanen vor einer eindrucksfähi¬
gen Menge mimodramatisch aufführt
Dabei aber verschwendet er seine ganze
Kraft und liefert sich dem Tode aus
(1870). Wer Pikantes in Dickens’ Leben
sucht wird schwer enttäuscht Wohl
hört er, daß Dickens mit seiner Frau
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Catherine Hogarth auf gespanntem Fuße
lebte, daß es später zum Bruch kam,
daß der Dichter die jüngere Schwägerin
Mary (f 1837) innig liebte, daß seine
zweite Schwägerin Georgina seine
eigentliche Lebensgefährtin war. Aber
er vernimmt auch, daß Dickens bei alle¬
dem ein untadeliger Ehemann blieb.
Die bisherigen Tatsachen und Züge
machen uns Dickens eher sympathisch.
Neugierig lauschen wir, wenn von
der stark pathologischen Seite dieses
Mannes die Rede ist Krankhaft ist
eigentlich schon die fast an Wahnsinn
grenzende, übereilte Verausgabung sei¬
ner Kräfte am Ende seiner Laufbahn.
Nervenkrank erscheint uns Dickens,
wenn wir sehen, wie er mitten in der
Nacht aufsteht sich ankleidet, sich auf
die dunkle Straße begibt und nun die
ganze finstere Nacht hindurch seine
48 Kilometer durchrast durch die Gas¬
sen der Stadt über die dunkle Land¬
straße dahineilt „Er schläft ein beim
monotonen Klang seiner Füße, die regel¬
mäßig ihre sechs Kilometer stündlich
zurücklegen. Meile um Meile bewältigt
er, ohne das Gefühl der Anstrengung,
in schwerem, von Träumen durchzoge¬
nem Schlummer.“ In diesem eigenarti¬
gen Rauschzustand hat er seine Visio¬
nen, sieht er die Gestalten, mit denen er
seine Romanwelt bevölkern will, hört
er ihre abgebrochenen Worte, die für
ihn zu Stichworten werden. Und hat
er einmal seine Gestalten in der Erzäh¬
lungvoll und ganz erschaffen, so lassen
sie ihn nicht mehr los. Sie bewegen
sich immer noch, ebenso rastlos wie im
Roman, auf der inneren Bühne seines
Geistes, die sich allem Widerstreben
zum Trotz mit der äußeren Bühne der
Wirklichkeit zu verwischen beginnt Da
wandelt er auf der Straße inmitten sei¬
ner Romangestalten, wandelt unter
ihnen selbst in Begleitung seiner stau-
Original from
INDIANA UNIVERSITY
621
Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 622
nenden Freundei Er flüstert ihnen zu:
„Da kommt Mr. Pumblehook — eine Fi¬
gur aus den ,Großen Aussichten* — und
will uns begrüßen; wir wollen ihm aus-
weichen; dort ist Mr. Micawber, lassen
Sie uns lieber in diese Straße ein¬
biegen.' 4
Zu den krankhaften gesellen sich lei¬
der aber auch unangenehme Züge. Die¬
ser Dickens ist in erster Linie ein ver¬
schlagener Geschäftsmann, der sich bei
seinen Werken vor allen Dingen um
den buchhändlerischen Erfolg, nicht so
sehr um die künstlerische Leistung in¬
teressiert. Wie quält er seine Verlegerl
Zuerst verpflichtet er sich, dem kleinen
Macrone einen Roman für 200 Pfund zu
liefern. Er erfüllt den Vertrag nicht,
verspricht statt dessen dem reichen
Bentley zwei Romane zu je 500 Pfund,
die er zwei Jahre spater eigenmächtig
in 750 Pfund verwandelt, zu schreiben.
Er schreibt die Romane nicht, unterhan¬
delt aber mit Chapman und Hall. Jetzt
bietet ihm der geangstigte Bentley 4000
Pfund für einen Roman allein, wahrend
Dickens das Verlagsrecht des andern
zurückkauft Dickens ist rücksichtslos
in der Durchführung seiner Plane und
vergißt alte Freunde leicht Er ist eitel
bis zur Lächerlichkeit pflegt eifrig und
sorgfältig seine Lochen und kleidet sich
stutzerhaft auffallend. Er protzt mit sei¬
nem Reichtum, glanzt durch übertrie¬
benen Aufwand an seinen Gesellschafts¬
abenden. Er schart mittelmäßige Geister
um sich, um deren Lob zu hören. Mit
großen und starken Persönlichkeiten
kann er nicht verkehren. Gegen Kritik
ist er überempfindlich. Die Zeit seiner
Armut verschweigt er echt bourgeois-
mäßig. Er ist ein Snob.
V.
Dickens erscheint uns auf den ersten
Büch als ein Dichter, der mit einer un-
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erschöpflichen Phantasie begabt
ist. Auch gegen diese Ansicht greift die
Forschung berichtigend ein. Sie zeigt
uns den Ursprung der Stoffe, wie
Dickens seine Stoffe und Motive, Cha¬
raktere und Formen von allen Seiten
her geholt hat
Vieles liefert ihm das Leben, die
Fülle seiner Zeit mit ihren guten und
bösen Elementen. Dickens wollte das
Leben seines Volkes sittlich heben und
mußte unwillkürlich an die Mißstande
seines Zeitalters anknüpfen. So ist der
Ausgangspunkt seines Romans „Oliver
Twist“ das in malthusianischem Geiste
erdachte neue Armengesetz des Jahres
1834 mit seinen Härten. Mit vielen an¬
deren Politikern bekämpft Dickens den
Geist dieses Gesetzes, das den Armen
das Recht auf regelmäßige Gemeinde¬
unterstützung entzieht So malt das
nächste Buch „Nicholas Nickleby“ einen
buntscheckigen gesellschaftlichen Hin¬
tergrund, auf dem die Hauptfiguren
sich abheben sollen: die unglaublichen
Zustande in den berüchtigten York-
shire-PrivatschuIen, wo die Jungen ge¬
flissentlich ausgehungert und lahmge¬
prügelt werden. Das Schulmeisterunge¬
heuer Shaw steht Dickens für den noch
schauderhaftem Squeers Modell. Die
Eindrücke, die Dickens von der ameri¬
kanischen Gesellschaft erhalt verdich¬
ten sich in „Martin Chuzzlewit“ zu der
Gestalt Pecksniffs, des Heuchlers, des
Bannerträgers der verheerenden Macht
der englischen Selbstsucht die er in
Amerika in gesteigerter Form vorfand.
Die beiden ersten Weihnachtsgeschich¬
ten spiegeln ganz einfach die herz¬
lose Gesinnung zeitgenössischer Kapi¬
talisten, Kaufleute, Politiker und Ge¬
lehrten wider, die, gestützt auf die will¬
kommenen Erklärungen der National¬
ökonomie, jede Anteilnahme an dem
Kampf gegen das große, gesellschaft-
Original fram
INDIANA UNliVERSITY
623 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung
624
liehe Elend, jedes Mitgefühl mit den Lei¬
den der Schwachen auszuschalten wu߬
ten. Scrooge braucht nicht auf einem le¬
bendigen Vorbild zu beruhen. Der Volks¬
wirtschaftler Filer ist wohl bloße Ver¬
körperung des damals so beliebten und
wichtigen Sozialtheoretikers, der die ge¬
läufigen volkswirtschaftlichen Schlag¬
worte in den Mund nehmen muß. Aber
Alderman Cute ist Karikatur eines Po¬
litikers jener Zeit, Sir Peter Laurie,
wahrend Sir Joseph Bowley, Vertreter
der „Jung-England-Partei“, wieder Ver¬
körperung ist, aber Verkörperung da¬
mals wirkender begrifflicher Möchte.
Auch die der Unterhaltung dienenden
„Pickwickier“ verraten den Einfluß zeit¬
licher Zustande. Das Schuldgefangnis
wird geschildert und spater in „Little
Dorrit“ noch einmal eindrücklich vor¬
geführt. Gerade in diesen spateren Ro¬
msmen ist der Ausgangspunkt immer
noch irgendein zeitgenössisches Obel:
Die verrostete Verwaltungsmaschine in
„Little Dorrit“, das versteinerte Rechts¬
verfahren in „Bleak House“, die Ehe¬
scheidung in „Hard Times“. Die ganze
Romanwelt Dickens’ ist angehaucht von
der neuen bourgeoismäßigen Gesinnung
der viktorianischen Zeit Dickens’ Held
ist meistens — man denke an David
Copperfield — ein jüngerer Mann des
besseren Bürgertums, der gezwungen
ist, Geld zu verdienen und energisch
nach oben strebt Die Helden Fieldings
und Smollets haben das nicht nötig,
ihre Mittel sind unbeschränkt Sie dür¬
fen allerlei Liebschaften mit Mädchen
der niedrigen Stände haben, ohne da¬
durch Verpflichtungen auf sich zu neh¬
men, ganz im Einklang mit den An¬
sichten des 18. Jahrhunderts, die Ver¬
fasser und Leserschaft miteinander tei¬
len. Dickens aber schreibt für eine
andere Klasse und für eine andere Zeit.
Steerforth, der Emily verführt, begeht
ein Verbrechen, das gesühnt werden
muß; denn die bescheidenen Bürger
haben genau so wie die Adligen ihr
Ehrgefühl und ihre heilige Würde, aber
auch ihren Edelsinn. Der edle Gran-
dison ist zum Fischer Ham Peggotty
geworden. Immerhin hütet sich Dickens,
allzu tief hinunterzusteigen. Nur seine
Hintergrundfiguren entstammen der un¬
tersten gesellschaftlichen Schicht Seine
Helden sind stets Mittelklassenbüiger.
Selbst der Waisenknabe, der anschei¬
nende Spurius Oliver Twist ist ein ver¬
sprengtes Glied der besseren Gesell¬
schaft Nell und ihr Großvater (im „Ra¬
ritätenladen“) kommen allerdings von.
unten, haben aber das Betragen der
vornehmen Welt. Erst George Eliot
hat es in ihrem „Adam Bede“ gewagt,
einen schlichten Arbeiter zum Helden
zu wählen und zum Helden wirkungs¬
voll zu gestalten. Dickens macht aller¬
dings, seiner Zeit gehorchend. Ver¬
suche, den Fabrikarbeiter künstlerisch
darzustellen. William Fern in den „Sil¬
vesterglocken“ ist ein wohlgelungener
Versuch, steht aber in Dickens’ Por¬
trätgalerie vereinzelt da. Seine Vorgän¬
ger, Mrs. Gaskeil und Disraeli, über¬
treffen ihn mit ihrem John Barton und
Gerard. Auch der Kapitalist, dieser
neue Typus, den Dickens dem Leben
der Zeit entnimmt, ist ihm nicht gelun¬
gen. Er hat einfach den alten literari-,
sehen Typus des Geizhalses seiner vie¬
len Nebenzüge entblößt und die eisige
Seelenkälte stehengelassen. Die Fa¬
brikstadt aber in ihrer Häßlichkeit hat
er künstlerisch erfaßt Über Mrs. Gas¬
keil, Kingsley und Miß Martineau hin¬
ausgehend, hat er es verstanden, den
Gesamtcharakter dieser neuen Erschei¬
nung wiederzugeben. Auch die künstle¬
rischen Entwicklungsmöglichkeiten, die
in dem Bilde der Eisenbahnen verbor¬
gen liegen, sind ihm nicht entgangen.
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Original frorn
INDIANA UNIVERSITY
625 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 626
Er vergleicht die Güterzüge mit gewal¬
tigen, übersinnlichen Leichenprozessio-
nen, die sich schuldbewußt aus der Ge¬
genwart der hellen Laternen fortsteh¬
len und von Kohlenzügen als Detek¬
tiven verfolgt werden, und die Eisen-
bahnfahrt weiß er sinnlich wirksam
wiederzugeben durch Einfügung rhyth¬
mischer, regelmäßig sich wiederholen¬
der Sätze, ein Verfahren, das Mark
Twain in seinem „Punch, brothers,
punch with care, punch in the pre-
sence of the passenjare“ ebenso wirk¬
sam ins Komische umgebogen hat
Dickens hat offene Augen für das
Schöne in der ihn umgebenden Natur.
Er hat viele Landschaften in seinen
Romanen verewigt: Canterbury, das
hübsche, alte, erinnerungsreiche Städt¬
chen, die Marschlandschaft des Ostens,
die Hafenstadt Yarmouth, die Urwald¬
landschaft am Mississippi, die Wälder
und Wiesen bei Salisbury, gelegentlich
auch die Alpen und Italien. Er verwen¬
det sie nach romantischem Verfahren
als Umrahmung der Geschichte, in inni¬
ger seelischer Verbindung mit den han¬
delnden Menschen. Man wird aber vor
allen Dingen an Dickens als den Geo¬
graphen der Hauptstadt denken. Auf
diesem Gebiete ist ihm ganz gewaltig
vorgearbeitet worden durch Addison
und Steele, Leigh Hunt, Irving und
Lamfa. Und da wir bis jetzt schon
mehrfach gezwungen waren, von Vor¬
gängern zu reden, so ist es an der Zeit,
daß wir Dickens in seiner so durchaus
engen Verknüpfung mit der literari¬
schen Tradition betrachten.
VL
Schon in der allgemeinen Form, die
Dickens wählt, in der literarischen
Gattung, die er pflegt, zeigt sich die
Macht der Tradition. Dickens vereinigt
ganz einfach die beiden im 18. Jahr¬
hundert noch getrennt nebeneinander
herlaufenden Typen des Romans, den
Abenteuerroman Defoes und Fieldings
und den psychologisch gerichteten Per¬
sönlichkeitsroman Richardsons. Schon
Scott hat die Verschmelzung vollzogen.
Dickens hat ihr aber durch seine Volks¬
tümlichkeit zum endgültigen Siege ver¬
holten. „Oliver Twist“ wird für das
spätere 19. Jahrhundert zum typischen
englischen Roman. Dickens selber ver¬
sucht mit der Hemdlungsfreude die ein¬
gehende Betrachtung seelischer Zu¬
stände zu verbinden. Doch neigt der
eine oder andere Roman mehr oder
weniger zum einen oder andern Typus
hinüber. „Oliver Twist“ und „Nicholas
Nickleby“ sind zunächst Problemromane.
Dann wird das Problem aufgegeben, um
in dem einen Falle in einen Verbrecher¬
roman, im andern in einen reinen Aben¬
teuerroman überzulenken. Nicholas Nick¬
leby ist ein typischer Tom Jones, der
jugendliche, aufbrausende Held Fiel-
dings, Schirmer aller Bedrückten, Feind
aller Bedrücker, begleitet von dem obli¬
gaten Bedienten des Fieldingschen Ro¬
mans, von dem Yorkshireburschen John
Browdie. Er stürzt sich in einen wah¬
ren Wirbelstrudel von Handlungen. Er
kommt zu Schauspielern, rettet eine
Dame vor Zwang und will sogar gro߬
mütig seine Liebe zu ihr opfern, wäh¬
rend er sich gegen die Liebe eines auf¬
dringlichen Weibes wehren muß. Man
reist in Postkutschen, belauscht Unter¬
redungen, findet Briefe, sieht die Böse-
wichter bestraft und die Guten verhei¬
ratet, das Ganze nach der Art des alten
Romantypus. Im „Alten Raritätenladen“
steht kein handelnder junger Mann im
Vordergrund, sondern eine leidende
Heldin. Die kleine Nell ist eine vom
Schicksal verfolgte Clarissa, ihr Leiden
und Sterben das eigentliche Thema des
Romans. Dickens folgt diesmal nicht
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INDIANA UNIVERSITY
627 Bernhard Fehr, Charles Dickens
Fieldings, sondern Richardsons Spuren.
Nicht die Abenteuer, sondern der See¬
lenzustand der Verfolgten verlangt das
tiefste Interesse. Die idyllische Welt
eines Goldsmith tritt in den Vorder¬
grund. Die Sentimentalität Richardsons
und Sternes feiert ihre Auferstehung.
Das übertriebene Pathos wird etwas ge¬
mildert durch komische oder groteske
Gestalten, wie Dick Swiveller und
Quilp. „David Copperfield“ fangt an
als typischer Abenteuerroman, dessen
Züge er auch spater zu erkennen gibt
Der jugendliche Held und sein Beglei¬
ter fehlen auch hier nicht Dann aber
macht sich wieder Goldsmiths idylli¬
sches Moment geltend und überwuchert
die Fieldinggrundzüge. Brave Men¬
schen, die Peggottys, werden geschil¬
dert, die wir alle schon von Goldsmith
her kennen. Ham ist Moses, Emily ist
Olivia, Daniel Peggotty ist Primrose.
Auch die Handlung verlauft parallel.
Steerforth verführt Emily, der alte Peg¬
gotty macht sich auf die Suche nach
der Entschwundenen wie bei Goldsmith.
Die Hauptmerkmale der beiden Ro¬
mantypen wiederholen sich bei Dickens
immer wieder. Wir finden einen mo¬
dernisierten Tom Jones wie Nicholas
Nickleby, wie Mart in „Chuzzlewit“, wie
Pip (in „Großen Erwartungen“) oder
wir finden einen verzeihenden, selbst¬
losen Liebhaber wie Ham Peggotty, wie
Tom Pinch (in „Martin Chuzzlewit“),
wie Jarndyce in „Bleak House“, wie
Stephen Blackpool (in „Harte Zeiten“).
Dabei haben wir noch gar nichts von
den zahllosen Nebenzügen, die Dickens
mit dem 18. und frühen 19. Jahrhun¬
dert gemeinsam hat, gesagt.
Ganz nach dem Muster des 18. Jahr¬
hunderts zeigt uns Dickens seinen Hel¬
den im Kampf mit einem Rivalen, der
die gleiche Geliebte begehrt Dabei ist
der Nebenbuhler gerne ein scheußliches
im Lichte der neuesten Forschung 628
Wesen, das vielleicht mit dämonischen
Zügen ausgestattet ist Um Agnes wirbt
nicht nur der edle Copperfield, son¬
dern auch der Dämon Uriah Heep;
Madeline Gray wird nicht nur von Ni¬
cholas Nickleby geliebt; sie ist den
Verfolgungen des zahnlosen Ungeheu¬
ers Gride ausgesetzt Dies ist in An¬
lehnung an die Technik des Schauer¬
romans der Mrs. Radeliffe und
des Abenteuerromans Marryats. Der
Schauerroman hat überhaupt in
technischer Hinsicht großen Einfluß auf
Dickens ausgeübt Seine Kunst des Re-
tardierens hat er Mrs. Radcliffe ab¬
geguckt die durch ihren Stoff gezwun¬
gen war, die verschiedenen Spannungs¬
mittel bis aufs äußerste auszunutzen.
Das zeigt die Geschichte des unglück¬
lichen Smike in „Nicholas Nickleby“.
Der Elende wird verfolgt wir ahnen ge¬
heimnisvolle feindliche Mächte, er flieht,
wird von seinem alten Peiniger wieder
gefangen, entkommt aufs neue, da for¬
dert sein angeblicher Vater, der Un¬
hold Snawly, seine Auslieferung. End¬
lich wird Smike von seinen Qualen
durch den Tod erlöst Erst jetzt folgt
die Enthüllung. Aber sie wird uns in
zwei Dosen gegeben: Ralph ist sein
Vater und — sein geheimer Verfolger.
Mrs. Radcliffe zeigt auch Dickens,
wie die Katastrophe sorgfältig vor¬
bereitet werden muß. Im „Alten Ra¬
ritätenladen“ wird der kommende
Tod der kleinen Nell schon früh
mehrfach leise angedeutet Der brave
Schulmeister spricht davon, der alte
Großvater selbst und die Dorfkinder
ahnen ihn. Die ganze Spannungstechnik
des Schauerromans ist von Dickens
übernommen worden, nicht um das
Gruseln zu erregen, sondern um das
sentimentale Pathos ins Gewaltige zu
steigern. Wenn Mrs. Radcliffe uns auf
kommenden Schauer vorbereitet so
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INDIANA UNIVERSITY
620 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung
630
schafft Dickens in uns die Vorahnung
der Trauer und des Leides. Auch die
detaillierte Schilderung des In-
nenraumes, die Mrs. Radcliffe zur
Schaffung eines schauerlichen Milieus
entwirft, hat bei Dickens Spuren hin-
terlassen. Er zeigt uns seine Menschen
stets in ihrer Umgebung, in ihrem Zim-
mer voll altem Kram, in einem Raume,
der wie im Schauerroman mit einer der
Person entsprechenden Stimmung er-
fQllt ist Unter Lumpen und Gerümpel,
alten Flaschen, schäbigen Büchern auf
wackligen Regalen, zerknitterten, farb¬
losen Papieren und alten Knochen sitzt
der alte Geizhals Krook (in „Bleak
House“) mit seinem leichenfarbigen Ge¬
sicht und seiner Oberfülle an weißem
Haar. Diese Schilderung geht nun aller¬
dings über die Grenzen der Schauer¬
romantechnik schon bedeutend hinaus
in das Gebiet einer gewaltsamen Stili¬
sierung der Wirklichkeit, die sich der
Symbolik nähert und deren Über¬
treibung eigentlich geradezu Dickens’
Eigenart ist
Alter Tradition folgt Dickens, wenn
er neben seinen Helden einen edeln
Beschützer oder einen braven, dummen
Gesellen aus den untern Ständen stellt
Oliver Twist steht im Schutze Mr.
Brownlows, Nicholas Nickleby wird
von Newman Noggs unterstützt Auch
die alte Regiefigur Goldsmiths und
Scotts ist Dickens wohlbekannt die
meist im Hintergrund steht aber alle
Fäden der Geschichte in der Hand hält.
Unbemerkt lenkt der alte Martin Chuzz-
lewit die Schicksale der Hauptperson.
Wie bei Scott die Bettler und Zigeuner
gegen den Schluß des Romans uner¬
wartet zu leitenden Kräften der Hand¬
lung werden, so greift auch bei Dickens
der Verachtete als Werkzeug strafender
Gerechtigkeit ein und entlarvt den
Bösen. Rühmlich bekannt ist der un-
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brauchbare Mr. Micawber, der am Schluß
die Fäden, die der Intrigant Heep ge¬
sponnen hat, kühn zerreißt und zum
Retter der Tugend wird.
Im übrigen verfolgen wir auch sonst
die einfachen Linien Fieldingscher
Handlungsführung. Eine Intrige arbei¬
tet gegen den Helden. Menschen treten
auf, deren Stellung zur Hauptgestalt
erst allmählich klar wird. Dann wendet
irgendein plötzlicher Vorfall des Helden
Geschick. Am Schluß setzt stärkere
Spannung ein.
Auch in den Charakteren und der
Porträtierung ist Dickens in zahl¬
losen Fällen auf der Stufe des 18. Jahr¬
hunderts stehen geblieben. Wie bei
Walter Scott, dessen Helden und Hel¬
dinnen mehr einem technischen Erfor¬
dernis als einem inneren Erlebnis ihr
Dasein verdanken, kommt Dickens bei
den Hauptgestalten über das blasse
Schema nicht hinaus. Wie wenig pla¬
stisch ist sein Held Nicholas Nickleby,
wie farblos sein David Copperfield!
Wie geradezu puppenhaft sind seine
Heldinnen! Nelly Trent, Amy Dorrit,
Agnes Wickfield, Florence Dombey,
Kate Nickleby sind mit den Augen des
18. Jahrhunderts gesehene Dulderinnen
in der Art von Fieldings Amelia. Sie
sind meistens sogar noch blässer als
ihr Vorbild. Die verheirateten Frauen
sind mit den alten traditionellen Zügen
gezeichnet Er kennt die hohlen Ge¬
sellschaftsdamen des Frauenromans:
Mrs. Merdle, Fanny Dorrit, Mrs. Go-
wan. Er kennt das keifende Weib der
Legende: Mrs.Varden, Mrs. Snagsby, Mrs.
Gargery. Sein Bild der Frauenwelt ent¬
spricht der Vorstellung eines damaligen
rückständigen Durchschnittsmenschen.
Das junge Mädchen muß stets inter¬
essant ideal, heroisch, groß im Leiden,
die verheiratete Frau aber stets uninter¬
essant, launisch, tyrannisch, im günstig-
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sten Falle komisch sein. Die geistig
unbedeutende Frau ist für Dickens
wie für frühere Zeiten etwas ganz
Selbstverständliches. Seiner eigenen
Zeit allerdings hätte sie schon längst
nicht mehr etwas Selbstverständliches
sein sollen. Man denke an die bedeu¬
tenden englischen Frauen des 19. Jahr¬
hunderts, an Mary Wollstonecraft
Shelley, an Harriet Martineau, an Flo-
renceNightingale! Und wie ganz anders
sind die Frauengestalten, die Schrift¬
stellerinnen wie Miß Austen, Charlotte
Brontß und Elizabeth Barrett Browning
zu zeichnen wissen! Dickens kommt
über die minderwertige Frau nicht hin¬
aus. In Dora Spenlow hat er sie sogar
in verklärter Form als bürgerliches Ideal
hingestellt
VII.
So weit dürfte der alte Roman auf
Dickens eingewirkt haben. Andere
literarische Traditionen machen
sich deutlich geltend. Die Auffassung
des Kindes deckt sich bei Nelly Trent
und Amy Dorrit ungefähr mit der Vor¬
stellung, die sich Wordsworth davon
gemacht hatte. Der Byronsche Typus
des Giaour hat in dem romantischen
Monks des „Nicholas Nickleby“ nach¬
gewirkt
In die Augen fallend ist Dickens’ Ab¬
hängigkeit von den großen Essaischrei-
bem des 18. Jahrhunderts in seinen
Skizzen, die londonsche Krähwink¬
lerei schildern. Addison, Steele, Tho¬
mas Hood, W. Irving, Lamb, Leigh
Hunt haben hier den Anfang gemacht
und das Londoner Milieu mit immer
größerer Liebe behandelt Pie ree
Egan hat sich hier vor Dickens zum
Spezialkünstler dieses Gebietes herange¬
bildet Dickens’ nächster Vorgänger aber
war der Polizeiberichterstatter des„Mor-
ning Herald“ J. Wight, der seine Be¬
richte in Buchform erscheinen ließ
(„Momings at Bow Street“, 1824, „More
Momings at Bow Street“, 1827). Hier
werden wir mitten hineingestellt in das
schmutzige Londonmilieu der Drosch¬
kenkutscher und Scheuerfrauen, des
Pfandhauses und des Speisehauses; wir
machen Ausflüge am Sonntagnachmit¬
tag und werden Zeugen von Eifer¬
suchtsszenen, die in Prügeleien enden.
Hier hat Dickens angesetzt, weitergear¬
beitet und die Gattung der Skizze auf
ihren Höhepunkt geführt
Auch die berühmten „Pick-
wickier“ sind weiter nichts als die er¬
folgreiche Ausgestaltung einer damali¬
gen Modegattung, die der erwähnte
Pierce Egan in „Life of London“ (1821
bis 1828) und andere gepflegt hatten:
die Literatur des Sportes, heraus¬
gewachsen aus den komischen Epen
des Dichters William Combes vom ko¬
mischen Geistlichen Dr. Syntax (1812
u. ff.). Mr. Pickwick ist eine Verschmel¬
zung des weltentrückten Syntax und
des korpulenten Herrn und alten Jung¬
gesellen Sir John Blubber bei Egan, der
auch schon den reisenden Klub und die
vier Genossen kennt
Die berühmte erste Weihnachts¬
geschichte ist ein realistisches Mär¬
chen. Dickens hat sie höchstwahrschein¬
lich einem alten Volksbuch von Robin
Goodfellow entnommen, das 1840 ge¬
druckt wurde, und der Eingangsfabel
von Lesages „Hinkendem Teufel“. Jenes
lieferte ihm den alten Knauser mit
seinen Visionen, dem Geist als Nachtra-
ber und dem Geist mit der Fackel, und
die Bekehrungsgeschichte, dieser die er¬
eignisreichen Fahrten durch die Nacht
und die Episode von der herzlosen
Freude des Erben des Geizhalses.
Scrooge selber trägt die Züge eines
Märchenbösewichts, und dies führt uns
hinüber auf das literarische Gebiet
dessen Schätze Dickens am allerhäufig-
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633 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 634
sten ausgegraben hat, die Volksdich¬
tung, wie sie uns im Märchen, in der
Straßenballade, aber auch im Melo¬
drama und in der niedrigen Posse ent¬
gegentritt Eine Betrachtung dieser Ein¬
flüsse bringt uns auch das eigentliche,
tiefinnerste Wesen Dickensscher Kunst
näher. Allerdings lassen sich hier nur
ganz allgemeine Angaben machen. Es
ist unmöglich, im einzelnen Falle zu
sagen, ob der Zug aus dem Märchen
oder aus dem Volksdrama stammt weil
sich beide gegenseitig beeinflußt haben
und der alte Roman vieles aus der
Volkskunst in sich aufgenommen, vieles
aber auch ihr zurückgegeben hat.
VIII.
Märchenhaft ist schon Dickens*
Auffassung der Belohnung der Tugend.
Sein Held wird nach märchenhafter
Vorstellung am besten dadurch belohnt
daß er am Schluß ein schönes, edles,
reiches Mädchen, die Märchenprinzes¬
sin, heimführen darf; ähnliche mär¬
chenhafte Züge finden wir auf Schritt
und Tritt ;Quilp ist ein echtes, zwerghaf-
tes Märchenungeheuer. Doch mischen
sie sich stets mit den melodramati¬
schen. Dickens hat die Pseudokunst des
Melodramas vollständig in sich auf-
genommen. In seiner Jugend begeisterte
er sich an Charles Mathews, einem
berühmten Solospieler, der alle mög¬
lichen Typen des niedrigen Dramas,
die komischen Ausländer, Franzosen,
Iren, Schotten, die betrunkenen Bauern,
Quäker, alten Jungfern, hilflosen Po¬
lizisten, Sonntagsjäger, improvisierte.
Mathews hat uns noch seine Szenarien
hinterlassen, die oft an Dickens* volks¬
tümliche Kunst erinnern. Die Motive
des Melodramas sind den Stoffen, die
wir von Dickens her kennen, sehr
ähnlich. Unendlich edle Liebhaber und
heroische Jungfrauen werden mit
den schwärzesten Schurken kontrastiert,
Freude und Leid wechseln mit über¬
raschender Schnelligkeit Sensationelle
und sentimentale Szenen werden vor¬
geführt: Jagdfeste, Gefängnisszenen,
Schiffbruch an felsiger Küste — man
denke an die große Szene in „David
Copperfield“ —, Mordtat im Gewitter.
Der Stil ist geschraubt oft hohl und
rhythmisch, genau so wie bei Dickens,
dem das Pathos selten gelingt und der
oft in Blankvers übergeht 0. Ludwig
hat die dramatische Technik Dickens*
schon längst erkannt er nennt seine
Romane erzählte Dramen mit erzählter
Zwischenmusik, aber — wir merken
uns — Dramen der niedrigsten, volks¬
tümlichen Art Bösewichter werden be¬
lauscht, alte Freunde und Gegner tref¬
fen sich in unwahrscheinlichen Situa¬
tionen, Personen des entgegengesetzten
Standes (wie die vornehme Rose May-
lie und die Straßendirne Nancy in „Oli¬
ver Twist“) werden durch die Hand¬
lung zusammengebracht. Gegen den
Schluß hin gipfelt sie gerne in einer
mächtigen Anklageszene, in der der
Bösewicht vor dem Guten sich verant¬
worten muß. Wie ein geschickter Re¬
gisseur schiebt dann Dickens alle
nur aufzutreibenden Personen auf die
Bühne, um der großen Szene eine stark
theatralische Wirkung zu verleihen. Hier
prägt sich uns die Micawber-Heepszene
in „David Copperfield“ besonders deut¬
lich ein, und wir erinnern uns, wie Mi-
cawber echt bühnenmäßig mit seinem
Lineal aufHeep einschlägt und ihm den
Unterarm zerknickt. Immer wieder fin¬
den wir bei Dickens solche melodra¬
matische Szenen, wie sie die neuzeit¬
liche volkstümliche und sogar bessere
Bühne Englands auch noch aufweist
und die der Durchschnittsengländer
sich eigentlich ganz gern gefallen läßt.
In „Dombey und Sohn“ stößt der Vater
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INDIANA UNIVERSITY
635 Bernhard Fehr, Charles Dickens im Lichte der neuesten Forschung 636
die Tochter brutal von sich, in „Martin
Chuzzlewit“ wird der Böse durch den
Stockhieb des Guten zu Boden ge¬
schmettert
Eine ganze Reihe seltsamer Charak¬
tere geht auf die BQhnentradition zu¬
rück: die Pantoffelhelden Pott Snags-
by und Wilfer, die komisch-ungeschick¬
ten Liebhaber Chivery, Moddle, Guppy,
die polternden, guten Alten Meagles
und Grimwig, die komische alte Jung¬
fer Betsy Trotwood, die abenteuern¬
den Picaros Trotter und Jingle, von
denen der letztere mit seinen abge¬
brochenen Sätzen in Mathews Reper¬
toire schon vorkommt
Die auffallendste Stilform, von der
Dickens ausgiebigsten Gebrauch macht
ist der immer wiederkehrende, über¬
trieben starkbetonte Einzelzug bei der
Zeichnung der Person, ihrer örtlichen
Umgebung und der Natur selber. Der
Mensch trägt seine charakteristische
Geste als ständiges Attribut gibt regel¬
mäßig bei seinem Auftreten seine ganz
bestimmten, stehenden Sätze von sich,
reduziert sich immer mehr vor unseren
Augen auf diese stark markierten Ein¬
zellinien. Cuttle schwingt seinen Haken,
Newman Noggs läßt die Knöchel seiner
Hand knacken, Traddles wühlt in seinen
Haaren, Casby zeigt immer seinen glän¬
zenden kahlen Schädel und Carker seine
gleißenden Zähne. Dieser Carker ist
eigentlich nur Kiefer und Zahn. „Geht
er spazieren, so lüftet er die Zähne,
spricht er zu jemandem, so wendet er
ihm seine weißen Zähne zu, singt er, so
vibrieren sie mit der Melodie, schaut er
jemandem nach, so folgt er ihm mit den
Gebiß ... Carker liest einen Brief lang¬
sam, wägt jedes einzelne Wort und läßt
jeden einzelnen Zahn darauf wirken...
Mr.Carker... erledigte eine Menge Ge¬
schäfte im Laufe des Tages und ließ
seine Zähne auf eine Menge Menschen
wirken. Im Kontor, auf dem Hofe, auf der
Straße, auf der Börse glitzerten sie...
Und als die sechste Stunde kam und
mit ihr Mr. Carkers Brauner, da stiegen
sie zu Pferde und ritten leuchtend die
Straße herauf.“ Dies ist eine reichliche
Ausbeute des alten Stilmittels der Volks¬
kunst in Märchen und Ballade, wo der
König immer eine Krone trägt, Robin
Hood immer guter Dinge ist, Bogen
und Horn an seiner Seite hat, oder im
Volksdrama, wo der Teufel immer
brüllen muß, der Vater immer tyran¬
nisch, der Soldat immer prahlerisch ist.
Dickens wiederholt die ständigen Züge
und die stehenden Stichworte so häu¬
fig wie im Lustspiel, wo die folgerich¬
tige Wiederholung schließlich komisch
wirkt Dickens geht noch weiter und
dehnt den typischen Zug auf die ört¬
liche Umgebung aus. Der mathema¬
tische Tatsachenmensch Gradgrind hat
ein rechteckiges, mathematisches Ge¬
sicht hat rechteckige Finger und recht¬
eckige Schultern. Vor ihm sitzen in
einem rechteckigen Schulzimmer die
Schulkinder gleich Gefäßen, in die er
die Tatsachen gießen kann. Wir be¬
treten Gradgrinds Haus, das groß und
rechteckig ist Säulenhallen verdunkeln
die Fenster wie seine Brauen die Augen.
Wir betrachten die Stadt Gradgrinds,
die ebenso häßlich und mechanisch aus¬
sieht wie Gradgrind selber. Hier sind
wir nun allerdings bei einer Verein¬
fachung und einseitigen Übertreibung
der Zeichung angelangt von der die
Volkskunst noch keine Ahnung hatte,
bei einem komischen Symbolis¬
mus oder bet einer symbolischen
Karikatur.
Gelegentlich hat Dickens es verstan¬
den, durch die Wiederholung des typi¬
schen Zuges eine leitmotivartige
Wirkung zu erzielen, die im Roman
als Ganzem eine dekorativ-harmonische
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Nachrichten und Mitteilungen
638
Gliederung vomimmt In „Dombey und keit, unter den Cockneys der Neuzeit,
Sohn“ flüstern die heisern Wellen, win- und doch ist die ganze Welt, in die
ken weiße Anne im Mondlicht an drei wir hineinversetzt werden, etwas Phan-
Stellen, jedesmal, wenn der Tod wieder tastisches. Menschen wie Mr. Pick¬
seinen Eintritt hält in der Familie. wick und Mr. Micawber, das Präch¬
tigste, was Dickens an Porträtierung
IX. geleistet hat, sind Unmöglichkeiten,
Dickens wähnte sich als ein Realist Und doch sind sie lebendig. Vielleicht
Er gab vor, die Wirklichkeit darzustel- fehlt ihnen oft die Beziehung zu unse-
len. Aber die ganze Fülle seiner rea- rer Welt Aber sie behaupten das Feld
listischen Stoffe ist überall durchzogen der feenhaften kleinen Welt in die
von romantischen Elementen, von mär- Dickens sie hineingestellt hat Dort im
chenhaften, melodramatischen Zügen, Lande des Humors, wo das Feme und
sein Werk ist ein Gemisch von Realistik das Nahe sich treffen, weht auch jener
und Phantasie. Seine Romane können Geist, der Dickens noch lange Zeit als
wie die Victor Hugos als reali- Liebling des englischen Volkes erhal-
stische Märchen betrachtet werden, ten wird, der Glaube an die unsterbr
Wir leben in dem London der Wirklich- liehe Freude.
Nachrichten und Mitteilungen.
Der Rbeia-Donau-Kanal und der alte Handelsweg großen Schäden, die das Gut durch die
nach Indien. Fluten und Eisgänge des Winters erlitten.
Die Anfrage unter obigem Titel im Sep- besonders noch vergrößert durch die fort-
temberheft 1916 hat einen unerwarteten laufende Reihe der Altwasser (alter ver-
Erfolg gehabt, weniger für die Geschichte lassener Flußbetten). Dies veranlaßte mich
des Einsiedlers von Gauting als für die zu der Äußerung: daß diese lange Reihe
Vorgeschichte des Ludwig-Kanals. Durch stehender kleiner Seen vielleicht bestimmt
die GQte des Herrn Professor R. Fick in sein könnten, noch recht nutzbar gemacht
Innsbruck bin ich in der Lage, von zwei zu werden, wenn dereinst der große Ge-
Schriftstficken zu berichten, durch die sich danke Karls d. Gr. einer Verbindung des
der Gedanke, den Plan Karls d. Gr. zur Mains mit der Donau mittels der Rezat
Ausführung zu bringen, bis zum Jahre 1805 und Altmühl wieder aufgegriffen und zur
zurückverfolgen läßt Danach ist dieser Ge- wirklichen Ausführung gebracht werde,
danke von dem Professor der Geschichte woran er schon mit einem bedeutenden
und Geographie in Erlangen Dr. Johann Heere gearbeitet habe, jedoch durch eine
Christian Fick ausgegangen. Sein Sohn, in Pannonien ausgebrochene Empörung und
der spätere Geheime Oberbaurat F. Fick Krieg unterbrochen worden sei, welche
in Kassel, erzählt in der mir freundlichst deutliche Spuren dieser Arbeiten der Was-
zur Verfügung gestellten Lebensbeschrei- sersefaeide zwischen Rezat und Altmühl
bung seines Vaters: in der Gegend der Stadt Weißenburg und
.Der selige Vater ging mit mir und dem nahe an dem Dorfe Graben — welches
damaligen Adjunkt der philosophischen wahrscheinlich von diesen Arbeiten den
Fakultät — nachmaligen Professor der Namen hatte — ich bei meinen Reisen als
Staatswissenschaften zu Marburg — Lips Forstgeometer in den Fürstentümern Ans¬
spazieren nach Oberndorf, eine Stunde von bach und Eichstädt in Erfahrung brachte.
Erlangen, um dem Bruder des letzteren Lips griff diesen Gedanken eines Donau¬
einen Besuch zu machen, der zu jener Zeit kanals mit vieler Wärme auf und gab
freiherrlich von Egloffsteinischer Beamter mehreres Geschichtliche von diesem großen
gewesen ist. Als wir, uns unterhaltend, Gedanken Karls d. Gr. — der nun zwischen
auf Bauhölzern im Schloßhofe dasaßen, acht und neun Jahrhunderten wieder ein-,
fiel unter anderem das Gespräch auf die geschlafen war — zum besten.
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Nachrichten und Mitteilungen
640
„Der selige Vater, immer wärmer von
diesem Gedanken durchdrungen, rief end¬
lich mit größter Lebhaftigkeit aus: .Hört
einmall Ihr beiden müßt dar Aber etwas
schreiben, um diesen Gedanken Karls des
Großen dem gegenwärtigen Zeitalter wie¬
der zu erwecken!‘ So entstand das Schrift-
chen ,Der Kanal in Franken usw.‘, in wel¬
chem Lips den geschichtlichen und staats¬
wissenschaftlichen Teil und ich, damaliger
Kreisbaukondukteur in Erlangen, den tech¬
nischen Teil mit einem Kärtchen bearbei¬
tete, welches Schriftchen der königl. preußi¬
schen Regierung und dem Kurfürsten Maximi¬
lian Josef von Bayern übersendet wurde.
„Besonders von diesem letzteren Fürsten
wurde das Schriftchen mit ausnehmendem
Anteile aufgenommen, so daß er sich be¬
wogen fand, den beiden Verfassern, die
damals noch nicht in seinen Diensten waren,
sehr huldvoll zu danken und jeden mit
der großen goldenen akademischen Me¬
daille (25 Dukaten schwer, mit der Auf¬
schrift ,Bene merentibus* und auf dem
Averse mit dem Brustbilde des Kurfürsten
geziert) zu beglücken."
Diese denkwürdige Schrift war 1805 er¬
schienen. 1819 verfaßte Chr. Fick eine an¬
dere, „an die hohe deutsche Bundesversamm¬
lung" gerichtete: „Welche Folgen hat die
Unabhängigkeit Amerikas auf Europa, und
was haben wir jetzt zu tun, um die Folgen,
welche daraus entstehen, besonders für
Deutschland, minder schädlich zu machen?"
Hier behandelt er die damals wichtige Frage,
durch welche Mittel man die große Kon¬
kurrenz Amerikas ausgleichen könne. Doch
davon soll jetzt nicht die Rede sein; ich
hebe daraus nur die für die Vorgeschichte
des Ludwig-Kanals wichtigen Sätze hervor.
„Bei den besten Kunststraßen und bei
den besten Fuhrwerken wird der Trans¬
port zu Lande immer viel kostspieliger
sein als der zu Wasser. Daher müssen die
Flüsse schiffbar gemacht und durch Kanäle
miteinander verbunden werden. Unendlich
viel ist hierin für Deutschlands Gesamtwohl
und der einzelnen Staaten zu tun. Man muß
darüber staunen, daß eine Nation, die sich auf
einen so hohen Standpunkt der geistigen
Bildung und Beurteilungsgabe geschwun¬
gen hat, in diesem Gegenstände die Ge¬
schichte ganz für sich verloren gehen läßt.
welche uns sagt, daß Staaten nur durch
die Beförderung der Schiffahrt im Innern
zu einer großen Blüte und ausgezeichne¬
tem Wohlstand gelangt sind. Karl ,<L Gr.
in einem Zeitalter der Roheit und mit
den damals äußerst geringen hydraulischen
Kenntnissen entwarf den eines großen
Mannes würdigen Plan, den Rhein mit der
Donau vermittels der schwäbischen Rezat
und der Altmühl zu verbinden', und schon
weit war er in seinem unternommenen
Werke vorgerückt, als neue Kriege sein
ganzes Augenmerk fesselten. Die Legende
sagt, daß jedesmal in der Nacht Teufel den
Graben wieder zugefüllt hätten, welcher
den Tag über aufgeworfen worden war.
Wahrscheinlich ist dieses eine Mythe, und
unter diesen Teufeln muß man diejenigen
verstehen, welche sich wohltätigen Plänen
widersetzen. Schon oben erwähnte ich des
Vorhabens von Kaiser Karl d. Gr., den
Rhein oder die Nordsee mit der Donau
oder dem Schwarzen Meere zu verbinden.
Dieser Plan, von einem guten Könige
schon lange mit Wohlgefallen beehrt, muß
wegen seiner großen Wichtigkeit zuerst
vorgenommen werden. Allein auch die
Schiffahrt auf der Donau von Regensburg
bis Wien bedarf wichtiger Verbesserungen.
— Doch die Verbindung der Donau mit
dem Rhein, die Schiffbarmachung mehrerer
Nebenflüsse usw., alle diese großen Ver¬
besserungen würden den Hauptzweck nicht
erfüllen, würden den großen Nutzen nicht
stiften, wenn man auf der Donau mit sei¬
nen Gütern und Handelswaren nicht ins
Meer hinaus und von diesem den Strom
herauf schiffen könnte. Denn eben der Zu¬
sammenhang eines schiffbaren Flusses mit
einem oder dem anderen Meere schafft den
Zusammenhang mit allen Völkern der Erde,
folglich den Handel mit allen Nationen.
„Ein großes durchaus notwendiges Un¬
ternehmen zur steigenden Industrie und
Handel im Innern und ins Ausland ist eine
Wasserverbindung des südlichen Deutsch¬
lands mit dem nördlichen oder der Donau
und des Mains mit der Saale vermittels der
Tettau und Lockwitz, ein Unternehmen,
das in der Ausführung weniger Schwierig¬
keiten darbieten wird, als man anfänglich
vermuten muß.“
Prof. Dr. H. Draheim.
Für di« Schriftleitung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellus, Berlin W30, Luitpoldstraße 4.
Druck von B.O.Teubner ln Leipzig.
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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
II. JAHRGANG HEFT 6 1. MÄRZ 1917
Die Plünderung Roms durch Bonaparte.
Von Emst Steinmann.
L
Nicht nur Taten vollbrachte der noch
nicht dreißigjährige Feldherr in Italien,
Taten von solcher Kraft und Kühnheit
und Genialität, daß er sich ihrer noch
auf St Helena mit stolzer Freude er¬
innerte, er verstand es auch, seinen
Worten den reinen Glanz und den vol¬
len Klang des Goldes zu verleihen:
„Völker Italiens, die französische Ar¬
mee kommt eure Ketten zu brechen!
Kommt ihr mit Vertrauen entgegen.
Euer Eigentum, eure Religion, eure Ge¬
bräuche sollen nicht angetastet werden
Jeder soll zum allgemeinen Wohl bei¬
steuern, jeder soll in Sicherheit sich
seines Besitzes freuen und unter dem
Schutz der Tugend seine Rechte aus-
flben.
Die Völker sollen ruhig sein! Wir
sind die Freunde aller Nationen und
insbesondere der Nachkommen des Bru¬
tus, der Scipionen und der großen Män¬
ner, die wir uns selbst als Vorbilder
gewählt haben. Das Kapitol wieder-
herzustellen und dort die Statuen jener
Heroen zu errichten, die es berühmt ge¬
macht haben, das römische Volk zu er¬
wecken, das erstarrt ist in Jahrhunder¬
ten der Knechtschaft — das sei die
Frucht unse rer Siege!“ 1 )
1) Correspondance de Napoleon I", Paris
1858. Proklamationen an die Armee. I S. 220
Diese Worte erklangen in ganz Ita¬
lien so laut und hell, wie die Taten
dunkel waren, die ihnen folgen sollten.
„Die Herren Italiener“ — so belehrte
man sie später — „waren sehr gütig,
wenn sie geglaubt haben, wir seien
nach Italien gegangen, um ihnen die
Freiheit zu bringen oder die Einigung
als Nation. Wir haben uns dieses Lan¬
des nur bemächtigt, um dort unsere
Geschäfte zu machen. Was unsere Pro¬
klamationen und Versprechungen an¬
langt — schlimm genug, wenn sie sich
von ihnen täuschen ließen.“*)
Was diese „Geschäfte“ bedeuteten,
das hat Barzoni freimütig in einem Be¬
richt an Bonaparte ausgesprochen, in
dem er das „erneuerte Italien“ einer
ungeheuren Totenbahre verglich, auf
der eine ganze Generation hingeopfert
liege. 3 ) Was diese Segnungen franzö¬
sischer Eroberungssucht bedeuteten.
nr. 234 (26. April 1796) und I S. 369 nr. 461
(20. Mai 1796). Es wird nach der Quartaus-
gäbe zitiert
2) Angeloni, Luigi, Dell' Italia uscente il
settembre del 1818, Parigi 1818. II S. 199
Anm. 10. Das Buch erschien 1826 in zwei¬
ter Auflage unter dem Titel: Deila forza
delle cose politiche, ragionamenti quattro.
3) Malamani, Vittorio, I francesi a Vene-
zia e la satira. Venezia 1887. S. 64 ff. Tro-
lard, Eugene, De Rivoli & Marengo et ä Sol-
ferino. Paris 1893. II 2 S. 202.
Dem Herrn Direktor Schnorr v. Carolsfeld gebührt mein uneingeschränkter Dank für
das Wohlwollen, mit dem er meine Arbeit in der Hof- und Staatsbibliothek in München
gefördert hat. E. St.
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
644
643
das haben Stadt und Land in Italien
von Mailand und Venedig bis hinunter
nach Rom erfahren. Und nirgends hat
sich dies Verhängnis zu so tragischer
Größe gestaltet, wie eben in Rom, wo
der Papst seine tausendjährige Herr¬
schaft an den Sieger verlor und mit
seinem Sturz den tausendjährigen Glanz
seiner dreifachen Krone begrub.
Wie einmal Italien die Welt regiert
hatte, so sollte jetzt Frankreich die
Welt regieren. Caput mundi — das war
einmal der Ruhmestitel Roms gewesen;
er sollte auf Paris übergehen. „Je me
plais beaucoup ä voir Paris le rendez-
vous de toute l’Europe“, schrieb Bona¬
parte bereits am 2. Juli 1796 an Carnot,
mit dem er sich völlig eins wußte in
der Absicht, Rom zu berauben, um Paris
zu schmücken. 4 )
Das Direktorium hatte seinem sieg¬
reichen General in diesem Sinne schon
einige Monate früher ganz bestimmte
Anweisungen aus Paris zugehen lassen:
„Italien verdankt den schönen Künsten
zum großen Teil seine Reichtümer und
seinen Ruhm. Aber die Zeit ist gekom¬
men, wo ihr Reich nach Frankreich
übersiedeln muß, das Reich der Freiheit
zu bestätigen und zu schmücken. Dieser
glorreiche Feldzug, der unserer Repu¬
blik die Macht geben wird, den Feinden
den Frieden zu diktieren, er muß uns
auch für die Zerstörungen entschädigen,
die der Vandalismus unter uns angerich¬
tet hat“ 5 ) Und gleichzeitig hatte Car¬
not in bezug auf Rom an Bonaparte ge¬
schrieben: „Einige seiner schönen Mo¬
numente, seiner Statuen, seiner Ge¬
mälde, seiner Medaillen, seiner Biblio¬
theken, seiner Bronzen, seiner silbernen
4) Correspondance I 561 nr. 715.
5) Brief Camots vom 7. Mai 1796 in Cor¬
respondance inödite officielle et confiden-
tielle de Napoleon Bonaparte en Italie. Pa¬
ris 1819. 1155.
Madonnen und selbst seiner Glocken
werden uns ja für den Aufwand ent¬
schädigen, den ein Besuch in Rom Euch
kosten würde.“ 6 )
Dies Schreiben Carnots, in dem zum
erstenmal mit zynischer Offenheit die
Absicht ausgesprochen wird, die Stadt
der Päpste aufs schändlichste zu plün¬
dern, trägt das Datum des 7. Mai 1796.
Wenige Tage später — am 9. und am
17. desselben Monats — wurden bereits
mit den Herzögen von Parma und Mo¬
dena die Verträge abgeschlossen, die
ihnen je zwanzig Meisterwerke ihrer
Gemäldegalerien kosten sollten. 7 )
In Paris war die Frage, ob man
mit Recht einen besiegten Feind seiner
Kunstdenkmäler berauben könne, aufs
eifrigste diskutiert worden. Bonaparte
der wie jeder Usurpator auf die Öffent¬
liche Meinung das größte Gewicht legte,
mußte mit Verdruß erkennen, daß es
unter den Franzosen Leute gab, die
sein Raubsystem rückhaltlos verurteil¬
ten. Der Architekt Quatremöre de Quin-
cy stand mit seiner Meinung keines¬
wegs allein da, als er noch als politi¬
scher Gefangener im „Redacteur“ seine
warnende Stimme erhob. 8 ) Im Som¬
mer 1796 erschienen seine gesammelten
Briefe an Miranda, in denen sich der
Autor nur mit den Anfangsbuchstaben
seines Namens A. Q. bezeichnet hatte.*)
6) Correspondance in6dite I 153.
7) Correspondance I 303 nr. 368 und 305
nr. 439.
8) J. Guiffrey, L’acadömie de France ä
Rome 1793—1804 in Journal des savants 1906
S. 658 Anm. 7, und R. Schneider, Quatre-
möre de Quincy et son Intervention dans
les arts (1788-1830) S. 164 ff.
9) Lettres sur le pröjudice qu’occasion-
neroient aux Arts et ä la Science le döpla-
cement des monuments de l'art de l’Italieetc.;
eine zweite Ausgabe des Buches wurde
mit dem Protest der französischen Künstler
gegen den Raub i. J. 1815 in Rom gedruckt
Ein dritte Ausgabe erschien nach Guiffrey
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INDIANA UNIVERSITY
645
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
646
Ja, Quatremöre fand den Mut, seine
Schrift dem ruhmgekrönten Heerführer
nach Italien zu senden. Zwischen den
tönenden Reden und schwülstigen
Schriften innerer Unwahrhaftigkeit,
heuchlerischer Lüge, frevelhaften Über¬
mutes, übelriechender Selbstverherr¬
lichung, mit denen Frankreich damals
Europa überschwemmte, wirken die
Briefe von Quatremfere wie das Licht
in der Finsternis. Mit einem Ernst,
einer Ehrlichkeit, einem Freimut, einer
Wörme, die Sympathie und Bewunde¬
rung wecken, beschwört Quatremöre
den damals schon allmächtigen und un¬
besiegbaren Genius Frankreichs, an
sich selbst und an anderen, an Italien
und an Frankreich nicht unsühnbares
Unrecht zu begehen.
Er beginnt von einer Republik in
Europa zu sprechen, die von den Kün¬
sten und Wissenschaften gegründet sei
und alle Menschen zu Brüdern mache.
„Diese glückliche Gesinnung", schreibt
er, „kann selbst nicht durch die blutigen
Uneinigkeiten erstickt werden, welche
die Nationen verleiten, sich untereinan¬
der zu zerfleischen. Fluch über den
Grausamen, den Toren, der die hei¬
lige Flamme der Menschenliebe und
der Menschlichkeit auslöschen wollte,
welche die Liebe zu Kunst und Wissen¬
schaft noch in einigen Menschen unter¬
halt. Die Aufklärung allein hat Europa
diesen unschätzbaren Dienst geleistet,
daß es heute keine Nation mehr gibt,
die einer anderen Nation den erniedri¬
genden Namen des Barbaren zurufen
könnte. Als Bürger einer allgemeinen
Republik der Künste und Wissenschaf¬
ten und nicht als Angehöriger dieser
oder jener Nation werde ich das Inter-
i. J. 1836. Eine Übersetzung der sechs ersten
Briete brachte Archenholz in seiner Minerva
schon 1796. VIII 87—120 und 271-309.
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esse untersuchen, das alle Parteien zur
Erhaltung des Ganzen verbindet“
„Tausend Dinge," so beginnt der
zweite Brief, „haben dazu beigetragen,
Italien zum großen Museum Europas zu
machen." Er schildert das Verantwor¬
tungsgefühl der Päpste, die jahrhun¬
dertelang bemüht gewesen sind, die hei¬
ligen Reliquien ihrer Stadt zu sammeln,
zu erhalten, wiederherzustellen. Er ist
erstaunt, daß man nicht mehr in Eu¬
ropa getan habe, die Päpste zu unter¬
stützen, wo doch Europa vollen Anteil
hatte an den Segnungen der Kultur, die
von Rom über die Welt verbreitet wur¬
den. „Was würde man aber von einer
Nation sagen," ruft er aus, „die, statt
solche Bestrebungen zu fördern, es
wagen wollte, die Quellen auszutrock¬
nen, durch die die Welt befruchtet
wird?“ Und mit dem Namen Roms
werden tausend Bilder und Vorstellun¬
gen in Quatremöres Seele lebendig, und
die Erinnerung an glückliche Jahre, in
denen er selbst an diesem Quell der
Weisheit getrunken hatte, leiht seiner
Feder Begeisterung und Kraft Er
schaudert förmlich bei dem Gedanken,
die Statu$n und Gemälde, die nur im
hellen Licht am Tiber verstanden und
genossen werden können, im grauen
Tag von Paris Wiedersehen zu müssen,
wo jene große Voraussetzung beschau¬
licher Ruhe fehlt, die Rom besitzt „Ist
nicht die Antike Roms ein großes Buch,
dessen Blätter die Zeit zerstreut hat
und das wir jeden Tag bestrebt sind
wiederherzustellen ? Andere Museen ließ
ein Zufall entstehen. Rom allein ist
durch Naturgesetz entstanden. Unteil¬
bar ist dies Museum, ob es sich gleich
aus zahllosen Statuen und Tempeln,
Thermen und Amphitheatern, Gräbern
und Inschriften zusammensetzt“
„Der gelehrte Winckelmann hat zu¬
erst in dieses Chaos Ordnung gebracht
21 *
Original frum
INDIANA UNIVERSITY
647
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
648
Er hat den Geist der Beobachtung ge¬
weckt. Er hat Kritik und Methode an¬
gewandt Aber hätte Winckelmann tun
können, was er getan hat ohne die
Fülle des Materials, das ihm zur Ver¬
fügung stand? Man stelle sich vor, er
hätte statt der Galerien Roms die Gale¬
rien Europas durchwandern müssen,
würde ihm überhaupt der Gedanke ge¬
kommen sein, ein Werk wie das seinige
zu unternehmen?
Es würde heißen, die Sonne in Sterne
zersplittern zu wollen, wollte man die
Schätze Roms aus Rom entwenden- Un¬
wissende Freundschaft ist schlimmer als
Feindschaft Aber was in Europa den
Künsten und Wissenschaften angehört
ist den Gesetzen von Krieg und Sieg
nicht untertan. Friedrich der Große be¬
gnügte sich damit zweimal als Sieger
in Dresden einziehend, die prächtigen
Gemälde seiner Galerie zu bewundern.“
Und immer dringender, immer be¬
redter werden seine Beschwörungen in
den nächsten Briefen. Er fleht Minerva
und Apollo an, den Raub nicht zu-
zulassen- Er besteht darauf, daß es
außer Rom keine Stadt in der Welt
gäbe, die würdig sei, ein Tem¬
pel jener Heiligtümer zu sein, die
zu ihr gehörten wie das Lidit zur
Sonne: Rom ist eine Welt! Nach Rom
wird jeder pilgern müssen, der seine
Augen öffnen will für Natur und Kunst
denn das Kolosseum, die Säulen Tra-
jans und Antonins, die Kolonnaden von
St. Peter, die Tore und die Brunnen
kann kein Eroberer ihm rauben. Er
schildert seine Enttäuschung, als Kastor
und Pollux — die berühmte Gruppe von
San Idelfonso — nach Spanien gebracht
wurden, er beklagt die Entführung von
Raffaels Kartons nach London. Teilen
ist Zerstören! Zur Freude der Mensch¬
heit, zur höchsten Belehrung aller derer,
die hören wollen, will er Rom unver¬
sehrt erhalten wissen als große Schale
der Menschheit — jene Stadt von der
schon Montaigne gesagt hat sie sei die
gemeinsamste der Welt wo der Unter¬
schied der Nationen sich am wenigsten
bemerkbar mache, wo alle Welt ein Zn-
Hause suche, weil alle Welt hier zu
Hause sei.
Hätte die Sache Roms einen besseren
Anwalt finden können? Konnte es mög¬
lich sein, die Stimme eines solchen Pre¬
digers in der Wüste gänzlich zu über¬
hören? Die Bittschrift die Frankreichs
beste Künstler — unter ihnen David
und die beiden Moreau, Lesueur und
Pajou, Fontaine und Perder, Girodet
Robert ja selbst Vivant Denon — da¬
mals an das Direktorium richteten, sind
ein Echo der Briefe Quatremöres an
Miranda. 10 ) Die Bitte war bescheiden:
Nehmt nichts fort aus Rom, bis sach¬
kundige Männer euch ihren Rat erteilt
haben! Aber die Bitte kam zu spät Sie
blieb unbeantwortet Die Helden der
Rhetorik und der Phrase hatten den Un¬
wissenden längst andere Wünsche ins
Herz gesenkt una nicht den Unwissen¬
den allein.
„Nicht mehr Blut verlangt der Fran¬
zose,“ schrie einer dieser Maulhelden,
der während der Revolution gelernt
haben mochte, wie man zum Volke
reden müsse, „es sind nicht Sklaven,
nicht einmal Könige, die er an seinen
Wagen fesseln will. Mit den glor¬
reichen Trophäen der Künste will er
seine Triumphe schmücken! Dieser hei¬
ßen Leidenschaft der großen Seelen,
dieser Ruhmessehnsucht, dieser Begei-
10) Die Bittschrift ist vielfach gedruckt
worden. Archenholz gibt in der Minerva
(1796) VII S. 500 eine Übersetzung. Vgl.
Schoell, Recueil de pteces officielles pour
detromper les frangais IX (1816) S. 318,
Toumeux, Bibliographie de l’histoire de
Paris I (1890) 473 nr. 4955, und Müntz in der
Revue d’histoire diplomatique IX(1895)S.379.
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
650
Sterling für große Talente verdanken
die Griechen ihre erstaunlichen Er¬
folge. Ihre Tempel, ihre Statuen, ihre
Denkmäler verteidigten sie bei Sala¬
mis und Marathon! Und so gehen
unsere siegreichen Kämpferscharen vor¬
an, begleitet vom Genius der Kunst, ge¬
folgt vom Genius des Friedens, und
bald werden sie am Fuß der stolzen Ba¬
silika von St Peter angelangt sein!“ 11 )
Tosender Beifall belohnte den Red¬
ner, und er konnte sich einbilden, das
Schicksal Roms besiegelt zu haben. Von
allen Seiten wurden beifällige Stimmen
laut Lebreton, der Sekretär des In¬
stituts, erklärte feierlich, das römische
Volk sei nicht länger würdig, der Be¬
wahrer der von den Griechen erbeute¬
ten Schätze zu sein. 12 ) Des Gegenpro¬
testes, den Isabey, Regnault, Ggrard
Lenoir und viele andere Künstler und
Gelehrte zugunsten der Raubabsichten
Bonapartes ergehen ließen, und der erst
am 5. Oktober 1796 im „Moniteur“ er¬
schien, hätte es gar nicht mehr be¬
durft 18 ) Aber der Geist Quatremöres
blieb lebendig wie Bankos Geist und
nach der Schlacht von Belle-Alliance
standen die Toten wieder auf.
In Italien selbst sah man dem Raube
mit gemischten Empfindungen zu. 14 )
„Die Republikaner,“ so berichtet Botta,
„nicht die guten, sondern der Auswurf
derselben, zeigten die Kunstschatze den
Räubern an, die mäßigeren trösteten
sich mit der Hoffnung, daß Italien zur
Hervorbringung anderer, ebenso kost-
11) Moniteur universel (6. Juni 1796) Tome
XIV S. 1030.
12) Archenholz, Minerva (1796) VIII466«.
13) Vgl. Toumeux, Maurice, Bibliographie
de l’histoire de Paris. Paris 1900. III 896
nr. 19968. Übersetzung bei Archenholz, Mi¬
nerva (1796) VIII 476«.
14) Silvagni, U., Napoleone Bonaparte e
i suoi tempi, Roma 1895, II350«., verteidigt
die Beraubung seines Vaterlandes.
barer Schätze noch fruchtbar genug sei;
die strengen dagegen freuten sich über
den Raub, indem sie sagten, die Frei¬
heit bedürfe dieser Pracht nicht, Brot
und Eisen sei für den Republikaner ge¬
nug.“ Alle aber, die in Bonapartes Er¬
oberungsgelüsten ein furchtbares Ver¬
hängnis für ihr Vaterland erkannten,
und die durchschauten, welch ein Un¬
heil die trügerische Botschaft von Frei¬
heit und Gleichheit über ihr unglück¬
liches Vaterland heraufbeschwor, alle
die, welche Italiener blieben und nicht
Franzosen wurden, waren von tiefer
Trauer erfüllt und teilten die Erbitte¬
rung des Volkes gegen seine Bedrücker.
Aber die eiserne Faust des Siegers er¬
stickte jeden Laut der Klage. Anonyme
Anklagen, die meistens in der Schweiz
gedruckt wurden, verhallten ungehöru
Barzoni, der damals sein berühmtes
Buch „Die Römer in Griechenland“ ver¬
faßte und damit die Franzosen in Ita¬
lien meinte, mußte flüchtig werden. 15 )
Aber es gab Italiener in Paris, die das
Mus6e Napoleon nicht betreten haben,
solange es ihre vaterländischen Heilig-
15) Im Jahre 1799 erschienen auch an¬
onym die Briefe von Francesco Becatini voll
fürchterlicher Anklagen und bitterer Ironie:
Storia del memorabile triennale govemo
Francese e sedicente Cisalpino nella Lom-
bardia. Zwei anonym erschienene Schrif¬
ten, die sich mit den furchtbaren Verlusten
Italiens beschäftigen, führt Trolard a. a. O.
II 2 S. 310 u. 312 auf: Le richezze dell’ Italia
passate in Francia, ossia prospetto delle
spoglie fatte dalla Republica francese, Ita-
lia 1800, und Quadri sulla democratizzione
nel secolo XVIII, Zürich 1799.
Trolard II2 S. 310 gibt eine Inhaltsangabe
des Buches: Le richezze dell’Italia. Schon die
Überschriften geben eine Vorstellung von
dem, was Italien damals an Qold, Silber, Geld
und Kunstschätzen aller Art verloren hat.
Die Angaben sind keineswegs so übertrie¬
ben, wie Trolard behauptet, und werden,
was die gezahlten Millionen anlangt, durch
Bonapartes Friedensabschlüsse bestätigt.
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651
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
652
tümer barg, und eine vornehme Röme¬
rin, die sich doch entschlossen hatte,
Napoleons Raub- und Ruhmestempel zu
betreten, brach beim Anblick der römi¬
schen Götter und Kaiserbilder vor
Schmerz über die Schande ihres Vater¬
landes ohnmächtig zusammen. 16 )
Rückhaltlos nahm man in Deutsch¬
land Partei für das unglückliche Land.
Wie hätte das Vaterland von Winckel-
mann und Goethe, die eben erst in
Deutschland mit lauter Stimme das Evan¬
gelium von Italiens versunkener Größe
und unsterblicher Schönheit gepredigt
hatten, diese schmachvolle Beraubung
nicht als einen Frevel an Kultur und
Gesittung empfinden sollen? Schiller
geißelte den Kunstraub Bonapartes in
den berühmten Strophen: „Die Antiken
zu Paris“, und in seinen „Horen“ er¬
schienen im Jahre 1797 die zornigen
Verse von Gries über die Gallier in
Rom. 17 ) Am ergreifendsten aber hat
August v.Platen noch viele Jahre später
in seinem „Alten Gondolier“ tiefe Trauer
und verhaltene Empörung zum Aus¬
druck gebracht:
16) Der Vorgang wird ausführlich ge¬
schildert bei Angeloni a. a. 0. II194 Anm. 7.
17) Die Horen, Jahrgang 1797 (Tübingen)
Neuntes Stück S. 79ff.:
Ihr droht umsonst; denn Jovis Donner
schweigen
Und seine Blitze sind entflohn.
Die Götter selbst, die stolzen Götter steigen
Herab von ihrem Thron
Und folgen willig dem erhabnen Sieger
Bis in den rauhen Norden nach.
Vergebens flehen Roms entnervte Krieger,
Zum Widerstand zu schwach.
Die Rüdekehr der Antiken nach Rom am
4. Januar 1816 hat Reinhold in ziemlich
schwachen Versen in ähnlicher Weise be¬
sungen:
Sie kehren heim, die göttlichen Heroen,
Die ew’gen Wunder in die ew’ge Stadt usw.
(Morgenblatt für gebildete Stände. 26. März
1816 Nr. 74 S. 293/94.)
Wir sahen den Marcuslöwen
Zum fernen Strand entführen.
Wir sahen, wie man mit Schwüren
Und mit Besiegten scherzt!
Wir sahn zerstört von Frevlem,
Was würdig schien der Dauer.
Wir sahn an Tor und Mauer
Die Wappen ausgemerzt.
i
Das Verzeichnis der hundert Kunst¬
werke, die Rom kraft der Verträge von
Bologna und Tolentino verlieren sollte,
wurde mit und ohne Kommentar in den
besten deutschen Zeitschriften abge¬
druckt: in Wielands „Teutschem Mer¬
kur“ 18 ), in Posselts „Europäischen An¬
nalen" 19 ), in Archenholz’ „Minerva“* 0 ),
in den „Neuesten Staatsanzeigen“ 21 ),
im „Politischen Journal“. 22 ) Es ist er¬
staunlich, wie allgemein das Interesse
an den Vorgängen in Italien war, und
wenn es auch an Bewunderung nicht
fehlte für das Genie des jugendlichen
Eroberers, so fand er für seinen Kunst¬
raub doch kaum eine Entschuldigung.
Der Maler Fernow, der sich auch in
der Kunstgeschichte einen Namen ge¬
macht hat, war damals in Rom ansässig.
Ihm verdanken wir nicht nur die zuver¬
lässigsten Listen aller in Italien ge¬
raubten Kunstwerke, Manuskripte und
Naturalien, er hat auch im „Teutschen
Merkur“ über Beginn, Verlauf und
Schluß des Raubgeschäftes getreulich
Bericht erstattet. Überall wurden Stim-
18) Über die Kunstplünderungen in Ita¬
lien und Rom in: Der neue Teutsche Mer¬
kur (Weimar 1796) III 249-279. Vgl. eben¬
dort 1797 II59ff. D. Vogel, Rom behalte sei¬
nen Apollon und Laokoon.
19) II (1796) S. 236-240 Posselt bringt
schon früher (I 261 ff.) die Verzeichnisse des
Kunstraubes aus Mailand und Parma.
20) XIII (1796) S. 77—86.
21) IV (1798) S. 535-39.
22) 1796 II1012—14 (abweichend und feh¬
lerhaft). Vgl. auch den Leipziger Gemein¬
nützigen Zeitungsmann vom 9. Juli 1796 und
endlich das unvollständige Verzeichnis im
Rheinischen Merkur vom 17. Juli 1815(Nr.269).
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durdi Bonaparte
054
men laut, daß Apollo und Laokoon nach
Rom gehörten und nicht nach Paris.
Jeder wußte ffir diese Behauptung
andere Gründe anzufflhren.
In Leipzig wurde im Jahre 1803 das
von Rinaldo Santalone verfaßte Ver¬
zeichnis der 500 Codices gedruckt die
der Vatikan verlor. 28 ) In Hamburg hat
Archenholz in der „Minerva“ eine
Anzahl merkwürdiger Dokumente ge¬
sammelt, die sich auf den Kunstraub
nicht nur in Italien, sondern auch in
Ägypten beziehen. Archenholz selbst
suchte in seiner Abhandlung zu bewei¬
sen, daß Rom und Rom allein das Va¬
terland für große Künstler sei. 24 ) Ja,
er ließ die Franzosen sich selbst be¬
kämpfen, und obwohl die Beraubung
Roms längst eine beschlossene Sache
war, druckte er einen Protest von Roe-
derer ab, des bekannten Herausgebers
des „Journal de Paris", der später als
Minister und Staatsrat Napoleons eine
große Rolle spielen sollte. * 6 ) Mit weni-
23) Recensio manuscriptorum codicum qui
ez universa bibliotheca vaticana selecti
iussu dnr. nri. Pii VI. Pont. M. prid. id. iul
an 1797 procuratoribus gallorum iure belli
seu pactarum induciarum ergo et initae
pacis traditi fuere. Lipsiae 1803. Als Ver¬
fasser dieser anonym erschienenen Schrift
wird im Teutsdien Merkur (1802 II 221) Ri-
naldo Santalone genannt Im Anhang ist
der zweite Raub v. J. 1798 von Büchern,
Manuskripten, Vasen und Medaillen ver¬
zeichnet, die dem Maler Wicar ausgehän-
digt werden mußten.
24) Minerva VII (1796) S. 201: Ober die
Verpflanzung großer Kunstwerke aus Italien
nach Frankreich.
25) Minerva X (1797) S. 126: Ober Buona-
partes Zug nach Rom und über die Gemälde
und Statuen Italiens. In Roederers gesam¬
melten Werken — CEuvres du comte P. S.
Roederer I -VI, Paris 1853—57 — habe ich
diesen Aufsatz nicht zu finden vermocht
Gegen Roederer, den Franzosen, versuchte
Stegmann, der Deutsche, Frankreichs Kunst¬
raub zu entschuldigen. Er behauptet, in Ita¬
lien sei am wenigsten, in Paris am meisten
ger Rhetorik, aber mit demselben Frei¬
mut und der gleichen Wärme wie Qua-
tremöre vertrat auch Roederer den
Raubgelüsten Bonapartes gegenüber die
Gesetze von Recht und Billigkeit „Die
Kriegsgesetze", führt er aus, „erlauben
weder herabwürdigende Beraubungen,
die dem besiegten Lande alle Achtung
entziehen, noch unersetzbare Ver¬
schlechterungen, die, da sie täglich fühl¬
bar sind, ewige Rachsucht veranlassen.
Haben Correggio, Carracci, Domini-
chino ihre Meisterwerke für euch her¬
vorgebracht?“ fragt er seine Lands¬
leute. „Römer, laßt keine Bildsäule,
sondern Bildhauer kommen,“ sagte Cy-
neas zu den Siegern in Afrika; „nehmt
keine Gemälde, sondern unterrichtet die
Maler. Nicht der Genuß dessen, was
man genommen, sondern dessen, was
man gemacht hat ist süß und glor¬
reich!"
Die völkerrechtliche Frage wurde von
K. H. Heydenreich in der „Deutschen
Monatsschrift“ erörtert 26 ) Er fragt ob
gegen den Kunstraub geschrieben worden.
Vgl. Fragmente über Italien aus dem Tage¬
buche eines jungen Deutschen (s. I. 1798
anonym erschienen). I S. 322ff. In Cottas
neuester Weltkunde (13. Januar 1798) findet
sich der klassische Satz: .Gerne opferten
die Italiener die Reichtümer der Kunst und
des Kunstfleißes, um den ersten Schritt in
das Heiligtum der Freiheit zu tun.“ .Diese
Göttin“ — schrieb Woyda in seinen Briefen
über Italien III 242 — .existiert nirgend an¬
ders als in der Vignette auf den Stempeln
oder dem Briefpapier; wer sie in den Ver¬
ordnungen selbst sucht, erstaunt nicht wenig,
statt ihrer den mit schweren Ketten belaste¬
ten Despotismus zu finden.“ Vgl. Briefe über
Italien, geschrieben in den Jahren 1798 und
1799 vom Verfasser der Vertraulichen Briefe
über Frankreich und Paris. Anonym erschie¬
nen i. J. 1802 in Leipzig. Ober den Haupt¬
mann Woyda, den „freimütigen polischen
Schriftsteller“, derl798in französische Kriegs¬
dienste trat, finden sich einige Notizen in
Wielands Teutschem Merkur 1800III316—18.
26) Darf der Sieger einem überwundenen
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durdi Bonaparte
656
es dem Sieger rechtlich zu stehe, einem
überwundenen Volke Werke der Lite¬
ratur und Kunst zu entreißen, und er
richtet die Gegenfrage an die Franzo¬
sen, ob sie mit dem menschlichen Geiste
Krieg führen wollten, ob sie von dem
Genius der großen Kunst Italiens an¬
gefeindet worden seien. Und er kommt
zu dem Schluß, daß Güter, die der
Menschheit angehören, auch dem Feinde
heilig sein müßten, ja daß es ein Ver¬
brechen gegen die Menschheit bedeute,
einer besiegten Nation nationale Mei¬
sterwerke zu rauben. Und wie auch
Roederer sieht er in solchem Akt die
Verewigung des Hasses und der Rache:
denn solange die besiegte Nation dauert,
wird auch die Kränkung dauern über
ihren Verlust. 27 )
Vor allem aber wendet sich Heyden¬
reich mit Empörung gegen die Schän¬
dung der italienischen Kirchen durch
die französischen Apostel eines neuen
Glaubens, eines neuen sittlichen Ideals.
Niemand habe das Recht, die Religion
eines anderen Volkes für Aberglauben
zu erklären; über die Denkart und den
Glauben einer Nation könne niemand
Schiedsrichter sein. Die Franzosen be¬
haupteten, die Sache der Menschheit zu
führen. Freiheit, Kultur und Glück
hätten sie den Völkern verheißen, denen
sie alle geistigen und materiellen Güter
auf die schonungsloseste Weise raub¬
ten. Diesen Widerspruch würden sie
niemals lösen können. „Wahrlich," so
schließt der Verfasser, „soviel Ehre
Volke Werke der Literatur und Kunst ent¬
reißen? Eine völkerrechtliche Quästion in
der Deutschen Monatsschrift August 1798
S. 290-295.
27) Die gleiche Ansicht findet sich im
Journal des Luxus und der Moden (Weimar
1802) S. 246/7 vertreten. Vgl. auch Friedrich
J. L. Meyer, Fragmente aus Paris im IV.
Jahre der Französischen Republik (Hamburg
1797). II 194—199.
ihnen auch die zahllosen Fahnen machen,
die sie ihren Feinden entrissen haben:
die geraubten Meisterwerke Italiens
wird gewiß kein edlerer Fremdling
ohne ein Gefühl von Entrüstung in den
Pariser Kunstsälen erblicken können."
Bonaparte hat im Waffenlärm, der
ihn in Italien umklirrte, diese Stimmen
entweder gar nicht gehört oder nicht
hören wollen. Gegen Raub und Plün¬
derung wendete er sich mit hochtönen¬
den, mehr oder weniger heuchlerischen
Worten mehr als einmal in seinen Ar¬
meebefehlen; daß ihm die Wegführung
der Kunstschätze aus Italien Gewissens¬
skrupel verursacht hätte, deutet nicht ein
einziges Wort in seinen Berichten ein
das Direktorium an. Im Gegenteil I er
verweilt mit besonderer Vorliebe bei
diesem Thema, und bei den glänzen¬
den Berichten über seine glorreichen
Waffentaten veigißt er nicht hinzuzu¬
fügen, daß man den heiligen Hierony¬
mus des Correggio gerne für eine Mil¬
lion zurückkaufen würde, und daß er
bedaure, daß der Heilige die Reise nach
Paris in einer so schlechten Jahreszeit
antreten müsse. 28 )
Der Geist des Raubes war in der
französischen Armee, seit sie die Alpen
überschritten hatte, mit neuen Siegen
neu erwacht. „Ein schmutzigeres und
habgierigeres Heer ist seit den Tagen
der Landsknechte nicht mehr in die Ge¬
filde Italiens herabgestiegen“, klagte
Francesco Melzi, ein erklärter Freund
Bonapartes, der zukünftige Herzog von
Lodi von Napoleons Gnaden. 2# ) „Die
französische Invasion zerstörte wie ein
Feuer der Hölle Italiens Wohlfahrt
überall und auf allen Gebieten," schreibt
ein Engländer, der all das Unglück mit
28) Correspondance I 302 nr. 367 und 517
nr. 663.
29) Memorie, documenti. Milano 1865
S. 152.
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
658
eigenen Augen gesehen hatte. 30 ) Aber
was konnte von den Soldaten erwartet
werden, wenn sich die Heerführer selbst
auf die schamloseste Weise zu berei¬
chern suchten? Was konnte schließlich
Bonaparte selbst verlangen, wenn seine
eigenen Hände nicht rein waren?
In Italien wollte man wissen, daß sich
der Generalissimus selbst mit 20 Mil¬
lionen bereichert habe, und man er¬
zählte sich, daß selbst Berthier, sein
bester General und sein vertrauter
Freund, nicht gewagt habe, ihn von
dem Vorwurf der Raubgier freizu¬
sprechen. 31 ) Und war nicht Josephine,
dem Sieger auf den Spuren folgend, in
Mailand und Venedig erschienen, um
sich wie einer Königin huldigen zu
lassen? Jedermann wußte, wie sehr die
schöne Frau Gold und Perlen, Gemälde
und Bronzen und andere Köstlichkeiten
liebte. Man wußte sich seltsame Dinge
zu erzählen, wie sie sich gelegentlich
selbst diese Dinge angeeignet hatte, wie
leicht es war, ihre Gunst und Für¬
sprache durch kostbare Geschenke zu
erwerben, wie selbstverständlich sie es
fand, daß von der großen Siegesbeute
Bonapartes ihr die Kleinigkeiten in den
Schoß fielen. 33 )
30) Rev. John Chetwode Eustace, A clas-
äcal tour through Italie an. 1802. 4. Aufl.
London 1817. Vol. II 58.
31) Sala, Giuseppe Antonio, Diario Ro¬
mano I 45, erschienen in Miscellanea della
R. Societä Romana di Storia Patria. Roma
1886.
32) Für Josephinens gänzliche Skrupel¬
losigkeit lassen sich zahllose Beispiele an-
lflhren, und über Malmaison haben nicht
nur die Gemälde der Kasseler Galerie, son¬
dern z. B. auch eine der herrlichsten Ka¬
meen aus dem päpstlichen Schatz im Vati¬
kan, Tolomeus II. und Arsinoe darstellend,
den Weg nach Petersburg genommen. Vgl.
n. a. Trolard a. a. O. I 385, Lanzac de Labo-
rie, Paris sous Napoleon Bd. VIII (1913) S. 316
Anm. 3 und Marion du Mersan, Notice des
monuments, Paris 1840, S. 181. Besonders
Französische Offiziere sprachen es
gelegentlich selbst aus, der Krieg in Ita¬
lien werde nur um des Raubes willen
geführt: guerra degli assassini!“ 3S )
Ein Brigadechef, Dupuy, schrieb aus
Mailand an einen Freund: „Ici tout ce
monde volel“ Garreau berichtete an das
Direktorium nach Paris: „Das Prinzip
aller höheren Beamten bei der Armee in
Italien ist, daß man in sechs Monaten
ein reicher Mann werden muß.“ 34 )
„Pour se faire un sort“ ging man über
die Alpen zur Armee Bonapartes. „Gag-
ner“ war der technische Ausdrude, mit
dem Generale, Offiziere und Kommis¬
sare ihren schnellen Erwerb von Gütern
belegten,“ schreibt Woyda 35 ), der bald
als Zuschauer, bald als Offizier und Ad¬
jutant am Feldzuge in Italien teilgenom-
men hatte. „Ich hörte eines Abends
zwei Soldaten sich auf der Straße über
das Thema unterhalten: ,Voler,‘ sagte
einer zum andern, ,c’est malhonnöte; le
soldat trouvel“
Ober das Raubsystem in der franzö¬
sischen Armee berichtet Woyda 36 ) mit
einer Aufrichtigkeit und Selbstverständ¬
lichkeit, als hätte es gar nicht anders sein
können. Und da er gleichsam als Fran¬
zose unter Franzosen lebte und die Dinge
sehen konnte, wie sie wirklich waren,
haben wir keinen Grund, seine Angaben
charakteristisch ist in diesem Sinne ein
Schreiben von Denon an Daru aus Braun-
schweig, datiert vom 14. Februar 1807: J'ai
eu l’honneur de lui röpondre (ä Josephine),
que mon dfesir de la servir m’avait fait tou-
jours joindre aux tableaux que j’gtais Charge
d’enlever (ä l’gtranger) nombre de petits
objets charmants qui pourraient ötre extraits
de ceux destings au Musge et que S. M.
l'empereur serait sürement ravie de lui don-
ner. Vgl. Lanzac de Laborie, Paris sous
Napoleon Bd. VIII (1913) S. 316 Anm. 3.
33) Sala, Diario 145.
34) Trolard a. a. O. II 2 S. 396 u. I 269.
35) Briefe über Italien III134.
36) A. a. O. UI 261.
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659
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
660
zu bezweifeln: „Was Bonaparte im
großen trieb,“ schreibt er, „übten die
ihm untergeordneten Generale, Offiziere
und Kommissare im kleinen. Italien war
dazumal noch nicht erschöpft und so
ward es einem jeden, der sich nur
irgend zu benehmen wußte, sehr leicht
ein ansehnliches Vermögen zu gewin¬
nen. Überdies hatte man in Italien nicht
die Schwierigkeiten der Sprache zu
überwinden, wie am Rhein und in Hol¬
land. Mit den gewonnenen Schätzen
eilten dann viele nach Paris, um sie
dort durchzubringen. Dieses erregte die
Aufmerksamkeit der Nation. Man er¬
fuhr, daß die Armee bis über die Ohren
im Golde stecke. Mailand wurde als
ein Klein-Paris ausposaunt und ganz
Italien als das gelobte Land. Es ward
Mode, nach Italien zu gehen. Wer sein
Vermögen verloren oder verjubelt hatte,
glaubte nur nach Mailand reisen zu
dürfen, um sich dort ein neues zu er¬
werben. Um einander aber keinen Ab¬
bruch zu tun und das Land recht syste¬
matisch auszusaugen, wurde schließlich
einem jeden eine besondere Stadt zu
seiner Bereicherung zugewiesen. Aber
die Zahl dieser Leute nahm fortwäh¬
rend zu. Man mußte auf Mittel sinnen,
der Habsucht neue Quellen zu er¬
schließen. Rom, das reiche, das präch¬
tige, wurde dazu bestimmt Berthier
erhielt die Ausführung dieser Expedi¬
tion, und ihn begleitete ein unsäglicher
Schwann von hungrigen Kommissaren.
Solange dieser General an der Spitze
der Armee stand, ging alles nach
Wunsch. Ein jeder nahm, was ihm an-
stand, man plünderte Kirchen, Klöster
und Paläste, teilte sich ehrlich in den
Gewinn und erreichte vollkommen sei¬
nen Zweck.“
Was immer auch Bonaparte bestimmt
haben mag, sein Programm in Italien
auf Rom auszudehnen, Tatsache ist,
daß es ihm zunächst darauf ankam,
sich die Schätze, die in der Engels¬
burg am Tiber bewahrt wurden, zur Un¬
terhaltung seiner Armee und zur weite¬
ren Verwirklichung seiner gigantischen
Pläne zu eigen zu machen. Die Verträge
von Bologna und Tolentino haben wohl
nicht nur die Italiener infame Schrift¬
stücke genannt.
Im Waffenstillstand von Bologna
vom 23. Juni 1796 verzichtete der Papst,
der nie die Absicht gehabt hatte, mit
Frankreich Krieg zu führen, auf die
Legationen in Bologna und Ferrara, er
gab dieRomagna preis, er zahlte 21 Mil¬
lionen in Gold, Silber, Edelsteinen und
Kriegslieferungen, und er verpflichtete
sich endlich, hundert Gemälde, Büsten,
Vasen oder Statuen nach Auswahl be¬
sonders zu ernennender Kommissare
dem Sieger auszuliefem. 37 )
Bereits am 19. Mai war in Mailand
ein von Bonaparte und Saliceti unter-
zeichnetes Dekret erschienen, in dem
Jacques Pierre Tinet zum Agenten der
französischen Armee in Italien ernannt
worden war mit der Befugnis, die Ob¬
jekte von Kunst und Wissenschaft zu be¬
zeichnen, die aus Italien nach Frankreich
übergeführt werden sollten. 38 ) Aber
Monsieur Tinet scheint die Erwartun¬
gen, die man in seine Kunstkennerschaft
37) Art. 8, die Auslieferung der Kunst¬
werke betreffend, lautet: Le Pape livrera ä
la R6publique frangaise cent tableaux, bu-
stes, vases ou statues, au choix des com-
missaires qui seront envoyfes ä Rome, parmi
lesquels objets seront notamment compris
le buste en bronze de Junius Brutus et ce-
lui en marbre de Marcus Brutus, tous les
deux place s au Capitole et cinq Cents ma-
nuscrits au choix des dits commissaires. Cor-
respondance de Napoleon I. Tome I 529
nr. 676.
38) Dieses wichtige Dekret regelte in 8
Artikeln die Tätigkeit der Kunstkommissare.
Correspondance I 363 nr. 455.
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€61
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
662
gesetzt hatte, nicht gerechtfertigt zu
haben. Als die erste Sendung des Raubes
aus Mailand mit Büchern, Gemälden und
Manuskripten in Paris anlangte, stellte
sich heraus, daß überhaupt nur fünf
etruskische Vasen Museumsstücke waren.
Von den Gemälden und übrigen Kunst*
Objekten aber las man im „Magasin
encyclop&dique", sei nichts wert ge¬
wesen, der Republik dargebracht zu wer¬
den. 59 )
Bonaparte hatte auch selbst schon am.
6. Mai aus Tortona um die Entsendung
einiger Künstler gebeten, die die Aus¬
wahl unter den Schützen Italiens zu
überwachen hütten. 40 ) Im Juni waren
bereits Barthölemy in Bologna, Monge,
Berthollet und Thouin mit Eifer und Er¬
folg in Pavia tütig. 41 ) Noch niemals
war es geschehen, daß sich Gelehrte
von Ruf ohne weiteres bereitgefunden
hatten, ihr Wissen in den Dienst der
Beraubung eines besiegten Volkes zu
stellen. Bonaparte aber war zufrieden.
Am 2. Juli berichtete er nach Paris, daß
in Parma, Modena, Mailand, Bologna
und Ferrara 110 Gemülde aufgebracht
worden seien. 42 )
Nun stürzten sich diese und andere
Kommissare — der Schrecken Italiens
— auf die Residenz des Papstes. Ende
Juli meldeten Cacault, der Agent der
Französischen Republik, und Azara, der
spanische Botschafter am päpstlichen
Stuhl, daß die Gelehrten und Künstler,
die die Auswahl der hundert Kunst-
Objekte und der fünfhundert Handschrif¬
ten zu treffen hätten, am Tiber angelangt
seien: „Ich werde mein möglichstes
tun,“ schrieb Azara an Bonaparte,
»ihnen die Aufgabe zu erleichtern und
39) II 4 (1796) S. 411.
40) Correspondance I 283 nr. 337.
41) Correspondance 1517 nr. 663 Brief ans
Directoire vom 21. Juni 1796.
42) Correspondance I 557 nr. 710.
den Aufenthalt so angenehm zu machen
wie möglich.“ 4 ®)
Beneidenswert allerdings konnte die
Mission bei der erregten Stimmung in
Rom gegen die Franzosen nicht genannt
werden, ja, man zweifelte selbst in
Paris daran, ob der Abtransport des ge¬
waltigen Raubes überhaupt ohne weite¬
res gelingen werde. Cacault mußte be¬
richten, daß man in Rom die noch übri¬
gen Herrschaftsgebiete des Papstes lie¬
ber an Frankreich abgetreten haben
würde, als die heiligsten Reliquien des
alten und des neuen Rom. 44 ) Tatsäch¬
lich hatten die päpstlichen Soldaten ge¬
nug zu tun, die Franzosen in den
Straßen Roms vor Beleidigungen zu
schützen, und zwei Sekretäre der Kunst¬
kommission sahen bei einem Aufstande
ihr Leben ernstlich gefährdet 45 )
Polybios erklärte den Römern, die
sein Vaterland erobert und geplündert
hatten, niemand würde den Besitzer an¬
gesichts seiner geraubten Güter glück¬
lich preisen können, denn man würde
immer Mitleid haben mit dem, der einst
dies Gut besessen hatte. Auch in Paris
war man sich dieser Wahrheit bewußt
und um solch Mitleid in der Wurzel zu
ersticken, wurden über Sitten und Cha¬
rakter Pius’ VI. die unglaublichsten Ge¬
rüchte verbreitet Man lese nur, was die
„Döcade philosophique“ über den grei¬
sen Papst zu sagen wußte 46 ), und man
wird erkennen, daß der Geist wilder
43) Correspondance inGdite I 412.
44) L’Italie nous verrait cGder sans regret
par le Pape toutes les terres domaniales ap-
partenantes ä la Chambre apostolique, si
nous voulions les prendre en Gehänge des
monuments. Vgl. Journal des savants 1906
S. 660.
45) Cacault an Bonaparte am 10. August
1796 in Correspondance ingdite I 471.
46) Abgedruckt bei G.Fr. Rebmann, Zeich¬
nungen zu einem Gemälde des jetzigen Zu¬
standes von Paris. Altona 1798. II173.
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
664
Grausamkeit, den die Revolution ge¬
boren hatte, noch immer unter den Söh¬
nen Frankreichs lebendig war. Mit der
größten Kaltblütigkeit ging man daran,
den Papst politisch und moralisch zu¬
grunde zu richten, um sich seiner
Schatze ungestraft zu bemächtigen?
„Eure Märsche nach dem Süden Ita¬
liens“, schrieb das Direktorium am
18. Mai 1796 an Bonaparte, „müssen
schnell und unwiderstehlich vor sich
gehen; die ungeheuren Hilfsquellen, die
sich euch erschließen werden, sind ohne
Verzug nach Frankreich abzuführen.
Laßt nichts in Italien zurück, das uns
nützlich sein könnte und das unsere
politische Lage uns mitzunehmen er¬
laubt. 47 )
Beschützt vom Waffenruhm Bona¬
partes, getragen vom Machtgefühl der
Sieger, gingen die Abgesandten der Re¬
publik unentwegt ihrem Ziele entgegen.
Geschmückt mit ihren dreifarbigen Ko¬
karden, sah man sie durch die Straßen
Roms spazieren. Bereits am 14. August
konnte die Liste der zu wählenden
Kunstobjekte in letzter Fassung nach
Paris gesandt werden: 54 Statuen,
12 Büsten, Vasen, Altäre, Grabreliefs
und endlich 16 Gemälde. 48 )
Der Apollo, den einst Julius II. in
seinem Viridarium aufgestellt hatte, der
47) Correspondance inödite 1198.
48) Die offizielle Liste der hundert Kunst¬
werke des Tolentino-Vertrages brachte das
Magasin encyclopödique II 3 S. 424. Sie
wurde später u. a. auch in den Misceilanea
della R. Societä Romana III S. 213 (Sala,
Diario Romano) wieder abgedruckt. Die
Liste wurde vorher in Paris genau geprüft
und mehrfach umgeändert. Vgl. Mag. enc. II
3 (1796) S. 272-277. Unvollständige Ge¬
samtlisten des Raubes wurden von Pomme-
reul. De l’art de voir dans les Beaux-Arts
traduit de l’italien de Milizia Paris 1798
S. 275—314 und in Venedig gedruckt: Cata-
logo de’ capi d’opera etc. trasportati dall’
Italia in Francia. Venezia 1799.
Laokoon, durch dessen Auffindung in
den Titusthermen einst ganz Rom in Auf¬
regung geraten war, der Torso des Bel¬
vedere, auf dem ein Abglanz des
unsterblichen Ruhmes Michelangelos
ruhte, die Flußgötter Tiber und Nil, die
schlafende Ariadne, damals Kleopatra
genannt, die Statuen der römischen Kai¬
ser Augustus, Tiberius und Trajan, die
Büsten des Marcus und des Junius Bru¬
tus, der Antinous’, der Grabstein von
„Cato und Porzia“, der Dornauszieher
und der sterbende Gallier — kurz, das
Köstlichste, was der* kunstsinnige Pius
eben mit neuer Pracht im Museo Pio
Clementino, im Konservatorenpalast und
im Kapitolinischen Museum hatte auf¬
stellen lassen — alles, alles wanderte
nach Paris. Es war, als ob man zugleich
mit dem Papsttum auch die historische
Vergangenheit Roms zerstören wollte.
Aus dem Vatikan aber schleppte man
von eben den Altären die Altarbil¬
der fort, für die sie Guercino, Andrea
Sacchi, Guido Reni, Poussin und andere
gemalt hatten; aus dem Quirinal raubte
man Guerdnos Meisterwerk, die hei¬
lige Petronilla, aus S. Girolamo Domi-
nichinos Kolossalgemälde, die Kommu¬
nion des heiligen Hieronymus, aus S.
Pietro in Montorio Raffaels Verklärung
Christi. Auch Annibale Carracd und
Michelangelo daCaravaggio mußten das
Beste hergeben, was sie in Rom gemalt
hatten, und Carracds Grablegung Christi
aus S. Francesco a Ripa ist noch heute
nicht aus Paris zurückgekehrt.
Zunächst allerdings mußte die wei¬
tere Entwicklung der politischen Lage
den Bevollmächtigten der Republik
einen argen Strich durch die Rechnung
machen. „Noch schließt der Vatikan alle
seine Bewohner ein“, schrieb W. Uhden
am 12. November 1796 aus Rom an den
„Teutschen Merkur“. 49 ) „Einige nur sind
49) 1797 I S. 56.
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665
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
666
von den französischen Kommissärs von
ihren Sitzen gestoßen worden, stehen
und liegen auf dem Boden und r—
lassen sich so von den Antiquaren um
so genauer beschauen. Der Apoll und
Laokoon sind indes noch um keine Hand
breit gewichen. Auch die Handschriften
sind unangetastet Die Kommissärs
haben sich von Rom entfernt und nur
der Agent der Republik ist noch hier.
— Merkwürdig war es, daß unter den
Kommissarien kein Philolog zur Aus-
suchung der Handschriften befindlich
war, und ebenso auffallend, daß die
Auswahl der Statuen einem alten Bild¬
hauer überlassen war, der nie in Italien
gewesen ist Wenn es auch wirklich
ernst geworden wäre, so scheint es doch
wahrscheinlich, daß die Werke der alten
Skulptur Rom nicht verlassen, sondern
einen von französischen Künstlern an¬
gekauften Platz geschmückt hätten. Die
Kommissarien sollen aber Noten der zu
fordernden Kunstwerke und Handschrif¬
ten bei sich gehabt haben, die von
sehr kundigen Männern aufgesetzt sein
mußten.“
So dachte und hoffte man noch in
Rom im November, aber diese Hoffnun¬
gen sollten sich als trügerisch erweisen.
Zunächst hatte es sich Pius VI. ange¬
legen sein lassen, alles Gold, das in
Rom flüssig war, in Papier umzusetzen
und so die ersten 5 Millionen der Kriegs¬
kontribution abzuliefern. Dann aber
hatte das ungebührliche Verlangen des
Direktoriums, der Heilige Stuhl solle
alle Bullen und Breven widerrufen, die
seit 1787 in bezug auf Frankreich er¬
lassen worden waren, die Verhandlun¬
gen zum Stillstand gebracht Der Papst
■weigerte sich entschieden, dies Ansin¬
nen zu erfüllen, und, unsicher tastend,
suchte er erst bei Neapel, dann bei
Österreich Schutz zu gewinnen. Aber
bald sah er sich auch hier von Bona¬
parte überlistet und endlich, von den
französischen Truppen hart bedrängt
am 19. Februar 1797 zu dem demüti¬
genden Frieden von Tolentino gezwun¬
gen. 60 ). Das Lösegeld, das Rom zu zah¬
len hatte, wurde auf 30 Millionen er¬
höht und die Ablieferung der hundert
Kunstwerke sollte nun ohne Verzug zur
Ausführung gebracht werden. „Die Zah¬
lung von 30 Millionen,“ schrieb Cacault
wenige Monate später aus Rom nach
Paris, „nach all den früheren Verlusten,
hat aus den Adern dieses alten Leich¬
nams alles Blut gesogen. Wir lassen ihn
im kleinen Feuer sterben; er wird von
selbst Umfallen.“ 61 )
Der Friede von Tolentino hat Rom
damals nicht nur seiner größten Kunst¬
werke beraubt — er zwang auch den
Papst um die ungeheure Kontribution
zu zahlen, alle Schätze zu opfern, die
seine Vorgänger in der Engelsburg und
in den päpstlichen Palästen aufgehäuft
hatten. Die Tiaren Julius’ II„ Pauls III.,
Clemens’VIII. und Urbans VIII. sind da¬
mals ihrer Steine beraubt und ein¬
geschmolzen worden. 62 ) Die Mantel¬
schnallen, die Caradosso für Julius II.
und Benvenuto Cellini für Clemens VII.
gearbeitet hatten, Meisterwerke der
Goldschmiedekunst wie sie alle späte¬
ren Jahrhunderte nicht wieder hervor¬
zubringen vermochten, sind damals
gleichfalls den Raubgelüsten der Fran¬
zosen zum Opfer gefallen. „Wir haben
alle Einzelheiten dieser traurigen Exe-
50) Correspondance II446 Nr. 1511, wo es
in bezug auf die Auslieferung der 100 Kunst¬
werke heißt: Art. 13. L’article du trait& d ar-
mistice sign£ ä Bologne, concemant les
manuscrits et objets d’art aura son ex£cu-
tion enttere, et la plus prompte possible.
51) Brief vom 5. August 1797. Correspon¬
dance in£dite II 516.
52) Vgl. Moroni, Dizionano di erudizione
storico-ecclesiastica vol. LXXXI S. 57ff. Un¬
ter Triregno.
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667
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
668
kution, der noch viele andere Wunder¬
werke der Goldschmiedekunst zuip
Opfer fielen, vom letzten Goldschmied
des Vatikans, Spagna, erzählen hören“,
schreibt Eugöne Piot im „Cabinet de
l’Amateur“. „Ihm war ein unauslösch¬
licher Eindruck von dieser entsetzlichen
Zerstörung haften geblieben, an der er
einst als junger Arbeiter teilgenommen
hatte.“ 53 ) Man kann einen Menschen
nicht mehr quälen, wie Pius VL damals
von den französischen Säckelmeistem ge¬
quält worden ist In der Tragödie dieses
Greises ist die Zerstörung des wunder¬
barsten Schatzes, den je ein Souverän
der Erde besessen hat ein Akt für sich.
Aber was bedeutete selbst dieser Raub
im Vergleich zu dem, was noch kommen
sollte?
Wie sehr Bonaparte darauf bedacht
war, daß nun auch die Kunstwerke
schnell nach Paris geschafft würden,
beweist ein Erlaß, der gleichfalls aus
Tolentino datiert ist und einen Tag vor
dem Friedensschluß mit dem Papst er¬
ging. Auf Ansuchen des Kommissars
Monge traten die Maler Wicar, Gros,
Gerli, der Komponist Kreutzer, der Bild¬
hauer Marin, ein Sekretär und ein Agent
der Kommission in Rom mit einem Mo¬
natsgehalt von 250 Livres bei. 54 )
Und nun scheint sich in der Tat das
53) Müntz, Les annexions de collections
etc. in Revue d’histoire diplomatique X
(1896) S. 496. Müntz, Trolard, Chevenniöres,
Saulnier und alle übrigen modernen Fran¬
zosen, die den Kunstraub Napoleons behan¬
delt haben, suchen ihn — häufig auf Kosten
der Wahrheit — zu beschönigen und seine
furchtbaren Wirkungen abzuschwächen. Nie¬
mand hat den Mut gefunden, die Wahrheit
zu sagen wie s. Z. Quatremöre de Quincy
und Roederer. Mit rühmenswerter Offenheit
behandelt Lanzac de Laborie das heikle
Thema, sooft er es in seinem ausgezeich¬
neten Buch Paris sous Napoleon berührt.
54) Schreiben an den General Berthier in
Correspondance II 440 Nr. 1506.
Weitere in Rom ziemlich schnell und
ohne Zwischenfälle entwickelt zu haben.
Wir können uns von der Arbeit der
Kommissare dank eines Überflusses von
Dokumenten eine sehr deutliche Vor¬
stellung bilden. Die Transporte ver¬
ließen Rom — um kein Aufsehen zu er¬
regen bei nächtlicher Stunde — am
9. April, am 9. Mai, am 10. Juni und am
8.Juli. 55 ) Schon am 3.Juni 1797 glaubte
Cacault nach Paris berichten zu können,
daß der § 13 des Vertrages von Tolen¬
tino so gut wie erfüllt sei 56 ): „Die
Kunstwerke sind abgeliefert und ein¬
gepackt. Zwei große Wagenzüge mit
den größten Kostbarkeiten befinden sich
bereits außerhalb der päpstlichen Staa¬
ten; ein dritter Zug geht in drei Tagen
ab. Aber zwei andere Transporte
können erst später abgehen, da die
Wagen noch nicht fertig sind. Das
Eisen fehlt 1 Oberhaupt müssen wir uns
hier mit einer Bettelhaftigkeit abfinden,
von der man sich keine Vorstellung
machen kann. Die römische Kurie hat
den ganzen Aufwand für die Verpackung
zu tragen, der enorm ist; sie zahlt die
Wagen, sie zahlt die Transportkosten
bis Livorno. Man schätzt die Ausgabe
auf 800000 Livres. Es sollte Rom eine
Million erlassen werden, um diese Sum¬
men zu zahlen, und alles, was sich sonst
auf Kunst und Wissenschaft und die
Agenten bezieht.“ Und daß auch diese
letzten Ausgaben nicht gering gewesen
waren, beweist die Rechnungsablage von
Thouin. Reisen und Gratifikationen, die
sich auch auf den Architekten Valadier
und den Präfekten des Vatikans er¬
streckten, hatten mehr als 50000 Livres
verschlungen. 67 )
55) Guiffrey, Journal des savants 1906
S. 658-662.
56) Correspondance in&dite II 272.
57) Correspondance ingdite II 444 —447.
Das Benehmen des Präfekten des Vatikans
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660
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
Thouin verdanken wir auch die
äußerst lebendige Schilderung eines sol¬
chen Wagenzuges, wie sie damals in
kurzer Aufeinanderfolge viermal von
Rom nach Livorno gingen. 58 ) Nachdem
die ganze Route sorgfältig festgelegt
und Straß^i und Brücken hergerichtet
waren, setzte sich der Zug in Bewe¬
gung, Rom durch die Porta Angelica
verlassend. „Man kann sich das Auf¬
sehen nicht vorstellen, das diese Wagen¬
züge erregt haben“, schreibt Thouin,
nachdem er mit dem zweiten Wagen¬
zug in Livorno angekommen war. „Zwölf
Wagen von besonderer Struktur, alle
neu, rot angestrichen, mit riesigen Bal¬
len beladen, die die Aufschrift trugen:
A la Rgpublique Franchise, au Ministre
des Relations extörieurs, fuhren voraus,
und ihnen folgte ein dreizehnter, der
die ungeheuren Kisten trug mit den Ge¬
mälden Raffaels und der übrigen ita¬
lienischen Meister. Es folgten vier klei¬
nere Wagen, die mit Reisegeräten und
einer Kiste beladen waren, die alle Uten¬
silien und Handwerkszeuge zur Aus¬
besserung der Wagen, der Kisten und
auch der Wege barg. Alle diese Wagen
wurden gezogen von 120 Büffeln und
60 riesigen Ochsen mit mächtigen Hör-
bei dieser Gelegenheit berechtigt zu den
schwersten Vorwürfen. Ein gleichzeitiges
Dokument sagt über ihn: Mons. Reggi in-
vece di attendere esso alla scelta de’ 500
codici vaticani, che il commissario Monge
venne per fare secondo il trattato di Tölen-
tino, deputö a tal cosa il Santoioni, sco-
patore della Biblioteca, e questi si portö in
modo che si acquistö la benevolenza del
commissario ed in fine parecchie centinaie
di piastre. Vgl. Le Grelle, Saggio storico
delle Collezioni numismatiche Vaticane
S. XLVIII Anm. 3 in Camillo Serafini, Le Mo-
nete e le bolle plumbee Pontificie del Me-
dagliere Vaticano. Milano 1910.
58) Magasin encyclop6dique III 2 (1797)
S. 411—415: Schreiben an das Direktorium
aus Livorno vom 28 prairial an 5 (16. Juni
1797).
670
nem. Einige Pferde, etwa 100 Römer, Ar¬
beiter, Handwerker, Soldaten und end¬
lich ein französischer Kommissar beglei¬
teten den Zug, der sich langsam feist über
eine Viertelmeile dahinbewegte. Näherte
man sich den Städten, oder mußte man
durch sie hindurch, so entstand regel¬
mäßig ein großer Volksauflauf, und be¬
sonders aus Livorno hatte sich die ganze
Stadt aufgemacht, den Wagenzug an¬
kommen zu sehen. Alle diese Zu¬
schauer waren ergriffen von der Macht
der Nation, die hundert Meilen von der
Heimat entfernt auf Befehl eines der
12 Generale ihrer Armee solche Schätze
aus Rom entführt hatte und sie über die
Gebirge des Apennin führte, um da¬
mit die Hauptstadt ihres Reiches zu
schmücken. Was für eine Nation, sag¬
ten sie, sind die Franzosen 1 Sie haben
eine so hohe Meinung von uns, daß sie
gar kein anderes Wort hinzufügten und
uns schlechtweg die Nation nannten,
als wenn es gar keine andere Nationen
gäbe.“
Nichts kann besser den naiven Stolz
des machtbewußten Eroberers veran¬
schaulichen als diese Beschreibung.
Nichts beweist besser, wie gut Bona¬
parte seine Landsleute kannte, wenn er
den Raub der Kunstschätze Italiens als
ein besonders wirkungsvolles Betäu¬
bungsmittel auswählte. Was würde es
erst bedeuten, wenn alle diese Herr¬
lichkeiten in Frankreich angelangt, dort
in feierlichem Triumphzuge durch Stadt
und Land dem Bürger und Bauern von
den Ruhmestaten Frankreichs in Italien
berichten würden! Thouin konnte sich
von einer solchen Vorstellung nicht wie¬
der losreißen. „Ein Zug von 50 Wagen,“
schreibt er, „beladen mit den Trophäen
Italiens, geführt von mehr als 700 Zug¬
tieren, gefolgt von Kamelen, von den
schönen Eseln Toskanas, den römischen
Ochsen mit den großen Hörnern, den
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071
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
072
Bflffeln der Pontinischen Sümpfe, das
wäre ein Triumphzug, der den Einwoh¬
nern Frankreichs einen hohen Begriff
von den Siegen seiner Armeen, von der
Energie seiner Regierung und der All¬
macht seiner Nation geben würde.“ 69 )
Am 8. Juli endlich konnten Monge,
Barth61emy, Tinet und Moitte nach Paris
berichten, daß der vierte und vorläufig
letzte Transport nach Livorno abgegan¬
gen sei. 60 ) Er enthielt nicht nur die Sta¬
tuen der schlummernden Ariadne, der
Urania, des Diskoboi, der Musen Mel-
pomene und Terpsichore, sondern auch
drei Kisten für die Citoyenne Bona¬
parte mit Geschenken des unglücklichen
Papstes, der nichts mehr besaß. 61 ) Auch
die Auswahl der 500 Manuskripte aus
der vatikanischen Bibliothek war be¬
endet; zwei Fuhrleute sollten die wohl¬
versiegelten Kisten sofort nach Livorno
schaffen. Mit der Auswahl der Typen
der Propaganda, auf deren Besitz man
in Paris besonderen Wert legte, wollte
sich der gelehrte Monge die letzten
Tage vor seiner Abreise noch besonders
beschäftigen. Nur die Marmorstücke,
die so groß und so schwer waren, daß
es unmöglich erschien, sie auf dem Land-
59) Ähnlich äußerte sich Belleville, der
französische Generalkonsul in Livorno, in
einem langen Schreiben an Bonaparte vom
17. Juli 1797, das besonders lesenswert ist
Correspondance in&dite II 476—480. Der
Brie! Thouins ist von Archenholz in der Mi¬
nerva XI (1797) S. 447—453 übersetzt worden.
60) Correspondance inödite II 447—451.
61) Cacault berichtete über diese Ge¬
schenke an Bonaparte in einem Schreiben
vom 8. Juli 1797 (Correspondance in£dite II
443). Ober ein kostbares Halsband schreibt
er folgendes: Je sais, qu’on pröpare un Col¬
lier de camöes, qui sera pr£sent£ ä Mada¬
me Bonaparte de la pari du pape. De tel-
les attentions et hommages, noblem ent Of¬
ferts ä l’6poque, oü tout est ä peu prös Jini
ici, ne sauraient döplaire ä votre grande
ame, et j’espöre, que vous ne me blämerez
pas d’en remercier le saint-pöre.
wege zu transportieren, waren unter
dem Schutze Cacaults gleichfalls ver¬
siegelt und verpackt in einem Magazin
des Vatikans zurückgeblieben: die rie¬
sige Melpomene, der Nil, Apollo mit
dem Greifen, ein Sarkophag, eine Ba¬
saltvase und jener Tiber, den tausend
Erinnerungen mit Rom verbanden, der
im Januar 1512 bei S. Maria sopra Mi¬
nerva ausgegraben worden war, den
Julius II. sofort für sein Viridarium er¬
worben hatte, und den Canova unbe¬
greiflicherweise im Jahre 1815 in Paris
zurückgelassen hat* Diese Schätze soll¬
ten auf dem Tiber eingeschifft werden
und, sobald es die Sicherheit der Meere
gestattete, zur See ihren Weg nach
Frankreich nehmen.
Wenn man den Bericht liest, den die
Kommissare schon früher an die Ver¬
waltung des Mus6e National nach Paris
gesandt hatten, ein Bericht, der genaue
Rechenschaft ablegt über Verpackung
und Transport der Statuen und Gemälde,
so wird man zugeben müssen, daß sich
diese Männer der furchtbaren Verant¬
wortung bewußt gewesen sind, die auf
ihnen ruhte. 62 ) Die hundert Kunstwerke
des Tolentino-Vertrages wurden als
Krone des ganzen Kunstraubes aus Ita¬
lien angesehen; sie wurden angesichts
Europas aus Paris entführt, man fühlte
sich Europa verantwortlich für den
Schaden, den sie erleiden würden.
Trotzdem wurde schon damals in Rom
an der Verpackung der Gemälde wenig¬
stens eine scharfe und gerechte Kritik
geübt: „Unbegreiflich bleibt es mir,“
schreibt Böttiger, nachdem er seiner
Verwunderung Ausdruck gegeben über
so manches Kunstwerk, das die Fran-
62) Dieser undatierte von Monge, Bar-
th61emy und Moitte Unterzeichnete Bericht
ist mir nur aus der Übersetzung bei Archen-
holz (Minerva XI [1797] S. 429—447) bekannt
geworden.
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673
674
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
zosen ihrer Auswahl würdig befunden
hatten 83 ), „unbegreiflich bleibt es mir,
wie die französischen Kommissairs das
ungeschickte Obereinanderrollen der Ge¬
mälde auf Leinwand gestatteten und
so die herrlichsten Meisterstücke einem
fast unvermeidlichen Verderben über¬
geben konnten. Es wurden immer sechs
Stück solcher Gemälde in- und über-
einandergerollt und dann zum Versen¬
den emballiert Es ist gar nicht zu be¬
rechnen, was dies bei Ölgemälden, wo¬
von die meisten mehr als einhundert
Jahre zählen, zum Teil durch Restau¬
ration stark inkrustiert und überall zu
einer solchen Behandlung viel zu spröde
sind, für nachteilige Folgen gehabt haben
muß. Ich möchte bei ihrem Auspacken
in Paris nicht zugegen sein. Doch dies
kümmert die Herren wenig, sie können
ja frisch anpinseln.“
Bonaparte selbst war mit der Tätig¬
keit seiner Abgesandten wohl zufrieden,
und das war die Hauptsache. Wenige
Wochen später bereitete er seinen Die¬
nern im Hauptquartier von Passariano
einen überaus gnädigen Empfang. „Die
Regierungskommissare für Kunst und
Wissenschaft in Italien haben ihre Mis¬
sion beendet“, schrieb er am 13. Sep¬
tember 1797 nach Paris. 64 )
„Ich behalte die Bürger Berthollet
und Monge noch zurück. Die Bürger
Tinet und BarthElemy reisen nach Paris
ab. Die Bürger Moitte undThouin haben
die Transporte von Rom aus begleitet
und sind bereits in Marseille angelangt
Diese ausgezeichneten Männer haben
der Republik mit einem Eifer, einer
Arbeitsfreudigkeit, einer Bescheidenheit
und einer Selbstverleugnung ohneglei¬
chen gedient Ausschließlich mit dem
63) Auszug aus dem Briefe eines teutschen
Künstlers in Wielands Teutschem Merkur
1798 1167.
64) Correspondance III S. 389 nr. 2192.
Internationale Monatsschrift
Erfolg ihrer Mission beschäftigt, haben
sie sich die Achtung der ganzen Armee
erworben. Sie haben Italien in der heik¬
len Angelegenheit, die ihnen oblag, ein
Beispiel jener Tugenden gegeben, die
fast immer große Talente begleiten.“
Hätte man, um das Gelingen einer
häßlichen Tat zu preisen, schönere
Worte finden können? Hat es jemals
eine Hand gegeben, die so sicher
wie diese die Feder zu führen ver¬
stand und das Schwert? Das war der
Kirchenräuber, der von Mailand bis
Rom nicht einen Kirchenschatz un¬
berührt gelassen hatte. Das war der
Städteplünderer, der nach Paris be¬
richtete, die Disziplin seines Heeres und
die Achtung vor Religion und Ge¬
rechtigkeit hätten ihm in Italien den
Sieg verschafft Das war derselbe Bona¬
parte, der erklärte, man könne nur mit
Weisheit und Gerechtigkeit große Taten
vollbringen. 66 ) Das war der dunkle Ge¬
nius, dessen schreckliches Geheimnis
niemand zu ergründen vermochte. Und
wer es erfaßt zu haben glaubte, der
mußte die Erkenntnis teuer zahlen: „Es
vereinigten sich in seinem Charakter“,
schrieb der General Landrieux in seinen
zum Teil noch ungedruckten Memoi¬
ren 66 ), „die Kühnheit der unverschäm-
65) Correspondance III 490 nr. 2292: „Ce
n’est qu'avec de la prudence, de la sagesse,
beaucoup de dextEritE, que l'on parvient ä
de grands buts, et que l’on surmonte tous
les obstacles: autrement on ne rEussira en
rien. Du triomphe ä la chute il n’est qu’un
pas. J’ai vu dans les plus grandes circon-
stances, qu’un rien a toujours dEcidE les
plus grands EvEnements.“ Vorher spricht er
von der Disziplin, der Gerechtigkeit und
dem großen Respekt, que nous avons tous
eu pour la religion! Bekanntlich war Fried¬
rich der Große derselben Ansicht, daß oft
das Schicksal der Schlachten und folglich
der Völker an Bagatellen hänge.
66) Landrieux, MEmoires ed. LEon Grasi-
lier. Paris 1893. 120.
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675
Paul Herre, Die Großmacht
676
testen Lügenhaftigkeit mit einer unbe-
zwinglichen Gier nach Reichtum und
Macht und die durchtriebenste Heuche¬
lei mit einer tätigen Kraft, wie man sie
nur noch bei den Soldaten fand, die
ihm folgten.“
Das war der spiritus rector der fran¬
zösischen Armeei Das war der Mann,
dem ein hinfälliger Greis im Frieden
von Tolentino alle Mittel überantwor¬
tete, die zur Erhaltung eines Staats-
wesens notwendig sind. Pius VI. mochte
damals glauben, der Erbarmungslose
habe ihm den Kelch seiner Leiden bis
an den Rand gefüllt Er sollte bald er¬
kennen, wie furchtbar er getäuscht wor¬
den war.
(Schluß folgt)
Die Großmacht
Deutsche Betrachtungen über Ausdruck, Begriff und Wesen.
Von Paul Herre.*)
V.
Der alte Boden war wiedergewonnen
und neues Gebiet hinzuerobert Mit der
Klarstellung des Begriffs der Großmacht
konnten auch die handelnden Politiker
neue Wege beschreiten. Aber allzusehr
hatten sich die Menschen der Restau¬
rationszeit in dem feinmaschigen Netze
der Romantik verstrickt, als daß es ihnen
möglich war, die ihnen ans Herz gewach¬
sene gefühlsmäßige oder von unpoliti¬
schen Grundsätzen bestimmte Betrach¬
tungsweise aufzugeben. Allzutief hatte
sich die liberale Opposition in die Ideen
der Französischen Revolution versenkt,
als daß sie für etwas anderes Sinn hatte
als Verwirklichung des konstitutionel¬
len Prinzips. Rankes Stimme verhallte
ungehört, weil die ganze Fragestellung
unverstanden blieb. Gewiß erstrebten
Konservative und Liberale in Preußen
wie im übrigen Deutschland einen
deutschen Einheitsstaat, den sie sich
als eine ähnliche Großmachterscheinung
vorstellten, wie sie in Frankreich, Eng¬
land und Rußland bestand. Aber es war
das tragische Verhängnis, daß sie alle
die politische Einheit der deutschen Na¬
tion herbeiführen wollten, ohne darüber
*) Siehe Heft 5.
klar zu sein, daß sich diese auf
einer vom Machtgedanken beherrschten
Staatspersönlichkeit gründen müsse.
Das deutsche Volk hatte es in seiner
geschichtlichen Entwicklung zu tragen,
daß man einen Großmachtstaat er¬
strebte, ohne dessen Natur zu kennen.
Alle Parteien, die sich in den dreißiger
bis fünfziger Jahren um die Schaffung
des Einheitsstaates bemühten, waren an
diesem politischen Grundirrtum betei¬
ligt, mochten ihre Wege noch soweit
auseinandergehen. Liberale Historiker
wie Rotteck und Schlosser, deren Werke
in den Händen des großen Publikums
waren, blieben in der Beurteilung des
Machtstaats ganz auf dem Boden der
Humanitätsauffassung der älteren Ge¬
neration stehen. Sie sahen die Mächte,
auch „die Hauptmächte“, durchaus
äußerlich in der Art des 18. Jahrhun¬
derts und würdigten sie allein unter
dem Gesichtspunkt der Erhaltung und
Förderung des liberalen Prinzips. Ober¬
haupt traten die machtpolitischen Fra¬
gen in ihrer Betrachtung bei weitem
vor den Problemen innerstaatlicherEnt-
wicklung zurück; dem Verfassungsleben
und den ständischen Verhältnissen der
Völker war ihr eigentliches Interesse
gewidmet Männer wie Gervinus, Dahl-
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Paul Herre, Die Großmacht
678
677
mann, Droysen, Duncker, Heinrich
v. Gagern und all die sonstigen Re¬
präsentanten der konstitutionellen und
nationalen Bestrebungen der Revolu¬
tionszeit waren zwar erhaben Ober die
hohlen Anschauungen der Aufklärung
und kamen hinsichtlich der Bewertung
der nationalen Kräfte für den Staat
Ranke nahe. Aber in dem leidenschaft¬
lichen Bemühen, ihr Ideal zu verwirk¬
lichen und der deutschen Kultumation
den ersehnten Einheitsstaat zu erkämp¬
fen, verloren auch sie den rechten
Standpunkt gegenüber den Fragen
machtstaatlichen Daseins. Es ist cha¬
rakteristisch, daß Dahlmann den zwei¬
ten Teil seines vielgelesenen Lehrbuchs
über „Politik“ 63 ), der die auswärtigen
Verhältnisse und das internationale Zu¬
sammenleben der Staaten behandeln
sollte, niemals geschrieben hat, und
noch bezeichnender ist es, daß Droysen
die preußische Monarchie schwanken
läßt ob sie „Staat“ oder „Macht“ sein
wolle 64 ), daß er die beiden Begriffe
einander gegenüberstellt statt sie zu
identifizieren. Kaum daß sich einmal die
Publizistik grundsätzlich mit den Fragen
der internationalen Politik beschäftigte;
die v. Goldmann zugeschriebene Schrift
über „Die europäische Pentarchie“ 66 ),
die zu bemerkenswerten Erkenntnissen
über die fünf Hauptmächte und das
durch diese bestimmte Staatsleben auf¬
steigt ohne schließlich doch die prin¬
zipielle Gebundenheit abstreifen zu kön¬
nen. blieb eine seltene Ausnahme. Die
Romantiker aber erwärmten sich für die
Idee der christlichen Gemeinschaft und
entfremdeten sich mehr noch als ihre
53) Teil 1 (Göttingen 1835) erschien 1847
sogar in zweiter Auflage.
54) Vgl. G. Droysen, J. G. Droysen.
Leipzig 1910. Band 1 S. 274.
55) Leipzig, Otto Wigand, 1839. — Vgl.
Anm. 16.
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liberalen Widersacher der realen Er¬
kenntnis staatlichen Daseins.
Friedrich Meinecke hat in seinem
Werke die Ursachen dieser Erschei¬
nung dargelegt Die Einwirkung univer¬
saler und unpolitischer Ideale, die im
18. Jahrhundert die gebildeten Schich¬
ten des Volkes erfaßt und in der um¬
wälzenden Entwicklung der Französi¬
schen Revolution und der Befreiungs¬
kriege Zugang zum Staatenleben ge¬
funden hatten, trug die Schuld daran.
Sicherlich aber waren darüber hinaus
die neue Anschauung von den staat¬
lichen Grundlagen und das Bemühen,
ihr in der Praxis Rechnung zu tragen,
in hohem Maße mitbestimmend. Voll¬
ends seitdem man den Staat vom Volke
her sah, machte sich die alte Abnei¬
gung gegen den Egoismus und Macht¬
charakter geltend, die man bereits dem
fürstlichen Staate entgegengebracht
hatte. Die Völker als Träger der Staa¬
ten, so nahm man instinktiv Stellung,
müßten ein neues staatliches Zusam¬
menleben heraufführen können, und so
wie Kant bereits der Erwartung Aus¬
drude gegeben hatte, die „Republikani-
sierung“ der Staaten werde die Kriege
vermindern und zuletzt verschwinden
machen, rechnete nun die jüngere Ge¬
neration, Grundsätze des Rechts und
der Moral würden künftig das Verhält¬
nis der Staaten untereinander regeln.
Die unbestreitbare Wahrheit, daß poli¬
tische Sittlichkeit niemals mit privater
Moral und volksmäßiger Sittlichkeit
übereinstimmt, machte sich, zumal in
der Frühzeit volksstaatlichen Wirkens,
zum Schaden der politischen Anschau¬
ung geltend.
Auch zum Schaden der politischen
Praxis. Denn es wurde nicht nur ge¬
fühlsmäßig geurteilt, sondern auch so
gehandelt Während die Großmacht
ihrem Wesen entsprechend, draußen in
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INDIANA UNIVERSITY
679
Paul Herre, Die Großmacht
680
der Welt ihre Rolle weiterspielte, nah¬
men Friedrich Wilhelm IV.und sein
Kreis das Interesse Preußens, das doch
auch den Großmächten zugehörte, im
Sinne romantischer Auffassung wahr.
Unbelehrbar hielten sie an dem Stand¬
punkt fest, daß der Staat nicht allein
den Geboten seiner eigensten Lebens¬
bedingungen unterworfen sei, sondern
auch noch bestimmten sittlichen Ge¬
boten. Es entging ihnen, daß sie damit
der unvoreingenommenen Betätigung
eines gesunden staatlichen Egoismus
und berechtigter staatlicher Machtziele
den Boden entzogen, und so war denn
die Regierung des romantischen Königs
eine ununterbrochene Kette von Ver¬
sündigungen am preußischen Macht¬
gedanken. Weltenfern standen diese
christlichen Weltbürger dem Verständ¬
nis großstaatlichen Daseins, und noch
am Ende der Epoche, da die Stürme
der Revolution und des Krimkriegs
über Europa hingebraust waren, vertei¬
digte Leopold v. Gerlach diese Art
„realpolitischer" Staatskunst mit den
bezeichnenden Worten: „Es ist doch
nicht zu verkennen, daß nur der zuver¬
lässig ist, welcher nach bestimmten
Grundsätzen und nicht nach schwan¬
kenden Begriffen von Interessen usw.
handelt.“ 66 ) Friedrich Wilhelm selbst
aber begnügte sich mit dem Ehrentitel
eines christlichen Herrschers und wies
es mit sittlichem Abscheu von sich,
die Hand nach fremdem Gut auszu¬
strecken ! 57 )
Anders sah es im österreichischen La¬
ger aus. Wohl berührte sich Fürst Met¬
ternichin der Hochschätzung der Prin¬
zipien für das staatliche Handeln mit
56) Gerlach an Bismarck. Berlin, 6. Mai
1857. Briefe (Ausgabe von H. Kohl. 1912)
S. 212.
57) Radowitz, Neue Gespräche aus der
Gegenwart. Erfurt 1851. Teil 1 S. 206.
den Anschauungen, wie sie am preußi¬
schen Hofe herrschten. Von ihm stammt
der Ausspruch: „Grundsätze werden zu
allen Zeiten die unverwüstliche Grund¬
lage der Politik bilden; die Anwendung
derselben kann allein wechseln, und der
Wechsel muß seinerseits die Grundsätze
nicht beseitigen.“ 68 ) Aber bei aller
Gebundenheit seiner staatsmännischen
Theorien war der Staatskanzler der
überlegene Diplomat, der in das Ge¬
triebe staatlicher Praxis klaren Einblick
hatte, und als Verkörperer einer jahr¬
hundertealten Tradition blieb er auf dem
Boden der Wirklichkeit Wenn seine
Staatskunst schließlich Schiffbruch er¬
litt, so war das mehr im Charakter des
österreichischen Staatswesens selbst be¬
gründet als im Regierungssystem Met¬
ternichs.
Die politische Verständnislosigkeit
Friedrich Wilhelms IV. drohte Preußen
aus der Reihe der Großmächte hin¬
auszuwerfen, und die Prinzipienpoli¬
tik des Liberalismus schuf kein Gegen¬
gewicht dazu. Diese Gefahr war es,
die den politischen Realismus in die
Schranken rief zum Kampfe gegen jene
nebelhafte Ideenwelt, die den Dingen
des Staates Gewalt antat Was der be¬
trachtende Historiker erkannt und aus¬
gesprochen hatte, nahm der handelnde
Staatsmann jetzt auf, um es in die Tat
umzusetzen. 69 ) Otto v. Bismarck
war als überzeugter Anhänger der stän¬
disch-konservativen Partei zum Politi¬
ker geworden; in den Nöten seines
Staates weiterwachsend, wurde er zum
Staatsmann, dem sich das Auge inwun-
58) Metternich an Prokesch-Osten. Wien,
24. April 1852. Aus dem Nachlaß des Grafen
Prokesch-Osten, Band 2 S. 402.
59) Für die geistige Verwandtschaft zwi¬
schen Ranke und Bismarck vgl. neben Mei¬
neckes Buch den schönen Aufsatz von Max
Lenz, Bismarck und Ranke. (Kleine histo¬
rische Schriften Nr. 21.)
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081
Paul Herre, Die Großmacht
682
derbarer Klarheit für das Wesen des
Staates öffnete. Der junkerliche Partei¬
mann, der eben noch in heißer Fehde
gegen die liberalen Betreiber der deut¬
schen Einheit gestanden hatte, wandte
sich seit den Tagen der OlmQtzer De¬
mütigung mit der gleichen Entschieden¬
heit gegen seine bisherigen Freunde.
Indem er sich mit dem preußischen
Staate gleichsetzte, dessen Dasein ihn
erfüllte, gewann er den rechten Blick
für das, was Preußen nottat, was ihm
die Stellung unter den Großmächten
wiederschenken konnte. Und so zeich¬
nete er mit den großen und einfachen
Worten seiner berühmten Rede vom
3. Dezember 1850 das Bild der Gro߬
macht mit ihren besonderen Daseins¬
bedingungen und Aufgaben: „Die ein¬
zig gesunde Grundlage eines gro¬
ßen Staates, und dadurch unterschei¬
det er sich wesentlich von einem
kleinen Staate, ist der staatliche Egois¬
mus und nicht die Romantik, und es ist
eines großen Staates nicht würdig, für
eine Sache zu streiten, die nicht seinem
eigenen Interesse angehört“ 60 ) In immer
neuen Wendungen verteidigte Bismarck
während der folgenden Jahre staats-
männischer Praxis diese Lehre vom
Recht und von der Pflicht selbstsüch¬
tigen staatlichen Handelns und vom
Machtcharakter des Staates. Man wird
an Friedrich den Großen erinnert wenn
man die von genialer Unbefangenheit
getragene Darlegung liest die er seinem
Vorgesetzten Minister unterbreitete: „Die
großen Krisen bilden das Wetter, wel¬
ches Preußens Wachstum fördert, indem
sie furchtlos, vielleicht auch sehr rück¬
sichtslos von uns benutzt werden.“ 61 )
Vollends großartig offenbart sich der
staatsmännische Genius Bismarcks in
60) Reden (Ausg. Kohl) Band 1 S. 264.
61) Bismarck an Manteuffel. Frankfurt
15. Februar 1854. Poschinger, Band 4 S. 177.
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dem Briefwechsel mit dem einstigen
Parteifreunde Leopold v. Gerlach, gegen
dessen äußere Politik er den berechtig¬
ten Vorwurf richtete, daß sie die Rea¬
litäten ignoriere. 68 ) Die unmittelbare
tiefste Erfassung staatlichen Seins und
Handelns war die Frucht dieser Lehr-
und Kampfjahre des großen Mannes,
und die Klarheit die er selbst gewann,
wurde zum Gewinn für sein Volk.
Denn das eigentlich Bedeutungsvolle
des politischen Aufklärungswerkes Bis¬
marcks war, daß es nicht theoretische
Erkenntnis blieb, sondern die Grundlage
der eigenen staatsmännischen Leistung
wurde. Als der gehaßte und befehdete
Träger der Anschauung vom Egoismus
und Machtstreben des Großstaates von
Sieg zu Sieg schritt, zerteilten sich wie
von selbst die Nebel, die sich auf die
Geister gelegt hatten, und faßbar für
jedermann erhob sich nun aus der Dun¬
kelheit politischer Verständnislosigkeit
die gebieterische Erscheinung der Gro߬
macht Bismarck allein gebührt das Ver¬
dienst Indessen darf darüber nicht die
gedankliche Mitarbeit vergessen’ wer¬
den, die neben ihm in den weiteren Krei¬
sen des Volkes geleistet wurde und die
seiner entscheidenden Wirkung den Bo¬
den bereitete. In denselben Jahren, da,
zunächst nur für wenige Menschen be¬
merkbar, der Staatsmann sich zur Klar¬
heit durchrang, vertrat ein Anhänger des
politischen Radikalismus bereits in der
Öffentlichkeit die gleichen Anschauun¬
gen. Der völlig in Vergessenheit geratene
August Ludwig v. Rochau führte
mit seinen „Grundsätzen der Realpoli¬
tik“ dieses Wort in die deutsche Sprache
ein und ließ mit seinem erbitterten
Kampf gegen die Phrase die junge Ge-
62) Bismarck an Gerladi. Frankfurt, 2. Mai
1857. Briefe (Ausgabe von H. Kohl 1896)
S. 315.
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INDIANA UNIVERSITY
«83
Paul Herre, Die Großmacht
684
neration aufhorchen. 6S ) Kein Geringe¬
rer als Heinrich v. Treitschke hat es be¬
zeugt, welchen tiefen Eindruck diese
Schrift in seinen Kreisen machte.® 4 ) Es
war aus der klaren Einsicht in das
Wesen der Großmacht gesprochen, man
darf sagen: es war bismarckisch, wenn
Rochau mit der Sicherheit des großen
Politikers den Satz auf stellte: „Weder
ein Prinzip noch eine Idee noch ein Ver¬
trag wird die zersplitterten deutschen
Kräfte einigen, sondern nur eine über¬
legene Kraft, welche die übrigen ver¬
schlingt“
Durch Bismarcks staatsmännisches
Werk war Rankes Erkenntnis der gro߬
staatlichen Natur für die praktische Po¬
litik gewonnen. Es konnte nicht aus-
bleiben, daß sie sich in der ständigen
politischen Handhabung Schritt für
Schritt konkretisierte. Der Historiker
hatte sich darauf beschränkt das Grund¬
sätzliche staatlichen Daseins zu erken¬
nen und zu erläutern. Der Staatsmann
und Politiker bemühte sich darüber hin¬
aus, die gesicherte allgemeine Erkennt¬
nis auf Grund der Erfahrungen noch
bestimmter zu fassen. Von der fest¬
stehenden Sonne der „geborenen und
natürlichen Interessen“ strahlten plötz¬
lich helle Lichter auf das Getriebe der
einzelnen politischen Welten. Mit dem
geschärften Blick des um die Gro߬
machtstellung seines Staates besorgten
Patrioten sah Bismarck als „die Basis
des Einflusses, den ein Staat heute zu
63) Grundsätze der Realpolitik, ange¬
wendet auf die staatlichen Zustände Deutsch¬
lands. Stuttgart 1853. Eine zweite Auflage
erschien 1859; ein zweiter Teil, der in der
völlig veränderten Welt bezeichnenderweise
ganz unbeachtet blieb, erschien Heidelberg
1869.
64) Nekrolog für Rochau in den Preußi¬
schen Jahrbüchern. Band 32 S. 585—591.
Neu gedruckt in den Histor. u. Polit Auf¬
sätzen Band 4.
Friedenszeiten üben kann“: „alle die
Nuancen von Möglichkeit, Wahrschein¬
lichkeit oder Absicht für den Fall eines
Krieges dieses oder jenes Bündnis
schließen, zu dieser oder jener Gruppe
gehören zu können.“ 66 ) Die prinzipien¬
lose Technik des politisch-diplomati¬
schen Handwerks, die alle Bindungen,
wie „Antipathien oder Sympathien für
Zustände und Personen“ 86 ), über Bord
warf, allein im klar erfaßten Staats¬
interesse ihren Augenpunkt hatte, kam
zu neuen Ehren. Aber sie erstand nicht
wieder in der alten Gestalt der Ränke.
Schleichmittel und geheimen Machen¬
schaften, sondern bei Anwendung aller
menschlichen List und Verschlagenheit
in der neuen Gestellt einer großartigen
Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit Wenn
Bismarck sich immer als Gegner der
„Feinspinnerei früherer Zeiten“ 67 ) zeigte,
so war das nicht nur in der Erfahrung
begründet daß eine offene Politik eher
zum Ziele führe als eine versteckte, son¬
dern mehr noch in den neuen Verhält¬
nissen der vom Volke getragenen Gro߬
macht die sich der einstigen Kleinmit-
tel nicht mehr bedienen mochte. Der
Italiener Francesco Crispi, der warme
Freund Deutschlands und der bewun¬
dernde Schüler des deutschen Kanzlers,
faßte einmal die von Bismarck begrün¬
dete und betätigte, ganz unitalienische
Anschauung in Worte, als er eine seiner
Reden mit dem Satze einleitete: „Ich
werde gemäß den Regeln der modernen
Diplomatie, welche die alten Künste der
Täuschung und der Lüge verachtet klar
und aufrichtig sprechen.“ 68 )
65) Bismarck an Gerlach. Frankfurt, 2. Mai
1857. A. a. O. S. 316.
66) Eb. S. 321.
67) Gedanken und Erinnerungen (Volks¬
ausgabe) Band 2 S. 282.
68) Memoiren Crispis. Deutsche Bearbei¬
tung S. 237.
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685
Paul Herre, Die Qroßmacht
686
Aus dem gleichen Verantwortungs¬
gefühl des großen Staatsmannes an
der Spitze der großen Nation erwuchs
das von wahrhaft geschichtlichen Er¬
wägungen bestimmte Maßhalten, das
im Augenblick des Sieges Trümpfe aus
der Hand zu geben schien und doch um
so dauernder den Enderfolg sicherte.
Auf ihm gründete sich das ruhige Vor-
schreiten auf einmal eingeschlagener
Bahn, das vorsichtige Verzichten auf ver-
lockende Sprünge, die das gemessene
Weiterwachsen des geschichtlich Ge¬
wordenen stören konnten. Manche die¬
ser Errungenschaften großmachtlieher
Staatskunst waren nur individuelle Äuße¬
rungen des politischen Genies, das in
der Geburtsstunde der deutschen Gro߬
macht an deren Spitze stand. Aber als
ein unvergleichliches Gnadengeschenk
hat der große Kanzler dem neugeeinten
Volke sein Selbst mit in die Wiege ge¬
legt, und es ist Deutschlands Vorrang,
wenn auch nicht leichte Aufgabe, diesen
kostbaren Besitz in seiner großartigen
Besonderheit zu erhalten und zu pfle¬
gen.
So gewann der Begriff der Gro߬
macht mit allen seinen Ausstrahlungen
lebendige Gestalt im deutschen Volke,
und Bismarcks staatsmünnisches Werk
verrichtete eine wunderbare Erziehungs¬
arbeit Ihre entscheidende Wirkung war
doch die gesicherte Anschauung von
der Großmacht unmittelbar. Sie durch¬
drang die Nation und schuf einen neuen
nationalen Geist. Was Ranke einmal
von der werdenden Großmacht Preu¬
ßen gesagt hatte, wollte man nun mit
dem neuen Reich sein: „eine selbstän¬
dige, keines Bundes bedürftige, auf sich
selber gestellte Macht“ 69 ) Mit starkem
Willen handelte Deutschland nun nach
dem Worte Bismarcks, „daß eine Groß-
60) Preußische Geschichte. Sämtl. Werke
Band 27-28 S. 250.
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macht zu ihrer Anerkennung vor allen
Dingen der Überzeugung und des Mutes,
eine solche zu sein, bedarf.“ 70 ) Deutscher
Art gemäß spann man diesen Gedanken
weiter aus und bemühte sich, den groß-
staatlichen Charakter in engeren For¬
meln und Regeln zu umschreiben. So
suchte noch Rochau die allgemeine hi¬
storische Erkenntnis politisch auszumün¬
zen, indem er demjenigen Staat den
Rang einer Großmacht zuerkannte, der
„alierwenjgstens auf das Recht einer selb¬
ständigen Politik Anspruch macht“. 71 )
So erörterte Treitschke den ungeschrie¬
benen Gegensatz zwischen der Gro߬
macht und den Staaten zweiten und
dritten Ranges und bezeichnete als die
erste den „Staat, der im gegebenen Falle
nicht durch einen einzigen Staat völlig
vernichtet werden könnte, sondern nur
durch eine Koalition“. 78 ) So folgerte
Julius Froebel aus der geographischen
Lage, aus der Natur und Kultur des
Landes und Volkes sowie aus dem ge¬
schichtlich bedingten kulturhistorischen
Beruf für den Großstaat einen bestimm¬
ten Machtbedarf, der zugleich das ent¬
sprechende Recht auf Machterwerbung
gibt: „Von dieser Berechtigung muß er
Gebrauch machen, um den Beruf erfül¬
len zu können, wenn er sich auf seiner
Höhe erhalten oder es vermeiden will,
historisch überflüssig zu werden.“ 73 )
Überhaupt wandte man sein Augenmerk
jetzt wieder den Fragen des staatlichen
Zusammenlebens zu, und während die
politischen Handbücher der Jahrzehnte
zuvor sich vorwiegend mit den inner¬
staatlichen Problemen beschäftigt hatten,
trat das außerstaatliche Interesse nun-
70) Gedanken und Erinnerungen, Band 2
S. 305.
71) »Realpolitik* S. 194.
72) .Politik“, Band 2 S. 562.
73) .Die Gesichtspunkte und Aufgaben
der Politik“. Leipzig 1878. S. 452-453.
Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
687
Paul Herre, Die Großmacht
688
mehr entscheidend in den Vorder-
grund. 74 ) Ja, man dehnte diese Betrach¬
tung auf die geo- und ethnographischen
Vorbedingungen des staatlichen Daseins
aus. und ein Friedrich Ratzel entwickelte
in gedankenreichen Arbeiten eine Lehre
von der Wechselwirkung ethnischer,
geographischer und staatlicher Verhält¬
nisse. Mochten solche Formulierungen
mitunter zu weit gehen und einer so
komplizierten Erscheinung wie der
Großmacht allzu enge Grenzen ziehen,
ohne doch zugleich das politische Ver¬
ständnis und die politische Nutzanwen¬
dung recht zu fördern, so lassen diese Er¬
örterungen doch erkennen, daß Deutsch¬
lands politische Führer endlich den festen
Boden staatlichen Denkens und Han¬
delns gewonnen hatten. Im wesentlichen
hatten sie den Begriff „Großmacht“ er¬
faßt und sich zu eigen gemacht
In unsern Tagen hat Rudolf Kjel-
16n am Schlüsse seines eingangs er¬
wähnten Werkes mit plastischen Wor¬
ten Begriff und Wesen der Großmacht
gekennzeichnet Er definiert sie folgen¬
dermaßen: „Die Großmacht ist kein
mathematischer, kein ethnischer oder
kultureller, sondern ein psychologischer
Begriff. Die großen Maße sind nötig,
ebenso hohe Kultur und eine gewisse
Verfassungsharmonie, aber sie konsti¬
tuieren eine Großmacht erst wenn ihnen
eine starke Seele eingeflößt wird. Die
Großmacht ist prinzipiell ein mit reich¬
lichen Machtmitteln ausgestatteter Wille,
der sich in Ansprüchen und Einflüssen
der äußeren Welt abspiegelt“ 76 ) Die
voranstehenden Betrachtungen zeigen,
daß der schwedische Forscher damit
nur die Erkenntnisse wiedergibt, die auf
74) Es sei nur auf die politischen Lehr¬
bücher Dahlmanns, Waitz', Mohls und
Roschers gegenüber denen Froebels und
Treitsdikes hingewiesen.
75) A. a. O. S. 195.
deutschem Boden gewonnen worden
waren. 76 ) Eben die verhängnisvollen Ir¬
rungen, die die staatliche Entwicklung
Deutschlands jahrzehntelang belastet
hatten, brachten die Anschauungen von
der Großmachterscheinung in dem ver¬
rufen unpolitischen Volke schließlich zu
besonders bewußtem Ausdruck. Auch
die Franzosen und Engländer besitzen
sie, aber da sie sich die Vorstellung
vom Machtcharakter der Großmacht
nicht mühsam zu erkämpfen brauchten,
sondern unter der glücklichen Einwir¬
kung einer langen, von nationalem Gel¬
tungswillen getragenen geschichtlichen
Entwicklung wie einen selbstverständ¬
lichen Besitz in sich trugen, so äußert
sie sich bei ihnen mehr instinktiv. Ein
Buch, das, wie das Werk Friedrich Mei¬
neckes, dem Problem der Auseinander¬
setzung zwischen Weltbürgertum und
Nationalstaat für die deutsche Ge¬
schichte nachgeht, ist für die franzö¬
sische und englische Geschichte un¬
denkbar oder würde wenigstens nur in
geringem Maße das staatlich-politische
Leben in Rechnung ziehen. 77 ) Der Gro߬
machtsbegriff spielt im Bereich der
westeuropäischen Nationalstaaten eine
vorwiegend tat sä ch liehe Rolle. Unser
Volk hingegen hat ihn bisher mehr ge¬
sehen als erlebt Gewiß war er seit den
Zeiten des Großen Kurfürsten im preu¬
ßischen Staate als lebendige Kraft wirk-
76) Das gilt auch von der andern Haupt¬
seite Kjeilönscher Betrachtungsweise, der
geopolitisch-ethnographischen, in der er sich
in ähnlicher Weise von Ratzel beeinflußt
zeigt wie in der historisch-politischen von
Ranke. Diesen Zusammenhängen weiter
nachzugehen, liegt außerhalb der Absicht
meiner Untersuchung.
77) Bezeichnend für die besonderen An¬
schauungen der Franzosen ist beispielsweise
die weite Auslegung, die Emest Seilliöre
auf philosophischer Grundlage dem Begriff
des Imperialismus gibt, worauf hier nicht
näher einzugehen ist
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
089
Paul Herre, Die Großmacht
690
sam, und in der Verkörperung großer
Männer hat er Großes geleistet, aber
als nationale Kraft ist er jung, steht er
erst am Anfang einer geschichtlichen
Entwicklung. Gerade das freilich be¬
rechtigt zu hohen Erwartungen für die
deutsche Zukunft
VI.
Der zum politischen Axiom gewor¬
dene Großmachtsbegriff gründete sich
auf der Idee des nationalen Staates. Das
war der selbstverständliche Ausdruck
der tatsächlichen geschichtlichen Ent¬
wicklung, die die abschließende Bildung
nationaler Einheitsstaaten zum Inhalt
hatte, und an der nicht nur die großen
Nationen, sondern auch die kleinen Völ¬
ker Anteil hatten. Wie aber vertrug sich
die Anschauung von der nationalen
Grundlage der Großmacht mit dem klar
erkannten Gesetz, daß der große Staat
und das große Volk das Recht besitzen,
weiterzuwachsen? Das ist das beherr¬
schende Problem unserer Tage.
In seinem Buch über die Großmächte
läßt Rudolf Kjell6n der Feststellung,
daß die Großmacht ein mit reichlichen
Machtmitteln ausgestatteter Wille sei,
den vielsagenden Zusatz folgen: „Ein
Wille zugrößererMacht. Keine Gro߬
macht ist im Grunde .saturiert*. Gro߬
mächte sind .Expansionsstaaten*. 78 ) Des¬
halb sehen wir sie alle mit einem größe¬
ren oder geringeren Anhängsel von In¬
teressensphären auftreten; die Interes¬
sensphäre gehört zum Begriff der Gro߬
macht — wir möchten sagen, wie der
Schwanz zu dem des Kometen.“ 79 )
Ober die allgemeine Charakterisie¬
rung hinaus definiert Kjellön in diesen
78) Hier bezieht sich Kjellön auf die Aus¬
führungen Karl Lamprechts. Deutsche Ge¬
schichte, 2. Ergänzungsband, 2. Hälfte S.613H.
79) A. a. O. S. 195—196.
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Sätzen die zur Weltmacht gewordene
Großmacht In der Tat ist unter dem
Anstoß imperialistischer Bestrebungen
die Entwicklung diesen Weg gegangen:
durch kriegerische Eroberung und wirt¬
schaftliche Ausdehnung hat die Gro߬
macht es unternommen, sich einen wei¬
teren Raum für ihren Geltungswillen zu
schaffen. Aber im Gegensatz zur vor¬
angehenden Epoche vollzog sich diese
Expansion nicht auf festländischer
Grundlage—von Rußland ist in diesem
Zusammenhänge nicht zu sprechen —,
sondern über die Meere in kolonialer
Richtung. Dieses Hinausgreifen der
Großmächte in Gebiete, die nicht von
gleichwertigen Kulturnationen bewohnt
werden, hat das Festhalten am national¬
staatlichen Prinzip zur Voraussetzung,
Weil man das nationale Daseinsrecht
der kleinen Staaten anerkannte, wandte
sich die Expansion den überseeischen
Räumen zu. So fanden sich Machtstre¬
ben und nationalstaatliche Idee mitein¬
ander ab, und erst die großen Umwäl¬
zungen des Weltkrieges im kontinenta¬
len Bereiche Europas lassen das Problem
in neuer Gestalt vor unser Auge treten.
Um was es sich dabei handelt, wird
uns deutlich, wenn wir den Blick auf
Bismarcks politische Gedankenwelt zu¬
rücklenken. Es ist mit besonderem
Nachdruck zu betonen, daß die Begriffe
Ausdehnung und Expansion keinerlei
Rolle in seinem Sprachgebrauch ge¬
spielthaben. Der Reichsgründer wurzelte
völlig im nationalstaatlichen Boden,
und da seine Anschauungen stets von
den Gesichtspunkten der praktischen
Politik bestimmt waren, schwebte ihm
insbesondere der deutsche Einheitsstaat
als richtunggebendes Ziel vor. Wenn er
es nach dem Frankfurter Frieden immer
wieder aussprach, daß Deutschland „sa¬
turiert“ sei, so war das nicht nur eine
politisch zu verstehende Äußerung, die
Original fro-m
INDIANA UNliVERSITY
69t
Paul Herre, Die Großmacht
692
von den tatsächlichen Verhältnissen
ausging, sondern der Ausdruck einer
wirklichen Überzeugung. Mit dem
grundsätzlich einschränkenden nationa¬
len Standpunkt Bismarcks hängt auch
die Deutung zusammen, die er trotz
aller Einsicht in den Machtcharakter
des Staates dem Begriff „Machtpolitik”
gab. Höchst bezeichnend dafür sind die
Worte, mit denen er auf der höchsten
Höhe seiner Machtstellung die Notwen¬
digkeit des Fernbleibens Deutschlands
von den orientalischen Wirren begrün¬
dete. „Jede Großmacht," so führte er
damals aus, „die außerhalb ihrer Inter¬
essensphäre auf die Politik der anderen
Länder zu drücken und einzuwirken
und die Dinge zu leiten sucht, die pe-
riklitiert außerhalb ihres Gebietes, wel¬
ches Gott ihr angewiesen hat, die treibt
Machtpolitik und nicht Interessenpoli-
tik, die wirtschaftet auf Prestige hin." 80 )
Das heißt nichts anderes, als daß
Machtpolitik, identisch mit Prestigepoli¬
tik, als eine ungesunde Äußerung staat¬
lichen Wollens der allein berechtigten
Interessenpolitik gegenübergestellt wird.
Vergegenwärtigen wir uns, unter
welchen Voraussetzungen Bismarck zu
seiner realpolitischen Betrachtungsweise
gelangte, so erscheint uns diese Auf¬
fassung weniger auffällig. War es doch
nur sein Ziel, die politische Ideenwelt
der Zeit Friedrich Wilhelms IV. von den
gefährlichen Grundsätzen zu befreien,
die wahres staatliches Handeln unmög¬
lich machten. Fürst Bülow hatte durch¬
aus recht, wenn er in einer seiner
Reichstagsreden diese Anschauung, die
allein vom Staatsinteresse ausging und
sich der Prinzipienpolitik der Fran¬
zösischen Revolution und der Legiti¬
mitätsauffassung der Romantik ent-
gegenstellte, als den wertvollen In-
80) Rede vom 6. Februar 1888. Reden,
Band 12 S. 447.
halt der Lehre und des Werkes Bis¬
marcks rühmte. 81 ) Ein weiteres Macht¬
ziel lag außerhalb der Vorstellung, die
sich der Reichsgründer vom deutschen
Großstaat machte. Dem entsprach das
innere Zögern, mit dem .Bismarck die
neuen kolonialen Bahnen beschritt. Am
Beginne der weltpolitischen Entwick¬
lung beobachtete er den neuen Ausbrei-
tungstendenzen gegenüber eine seinem
sonstigen Wesen nicht entsprechende
Zurückhaltung. Sie schienen ihm nicht
unbedingt im Staatsinteresse begründet:
die nationale Selbstbehauptung über¬
wog in seinem politischen Urteil und
Wollen durchaus die staatliche Expan¬
sion.
Indessen die tatsächliche weltpoli¬
tische Entwicklung, die in steigendem
Maße auch Deutschland in ihren Bann¬
kreis zog, schuf allmählich eine erwei¬
terte Auffassung der Großmacht In
sehr viel bewußterer Weise machte sich
nunmehr neben dem nationalen Selbst¬
behauptungsdrange der Expansionstrieb
geltend. Immer entschiedener wurde die
Lehre in den Vordergrund gerückt, daß
der nationale Lebens- und Machtwille
über die Selbsterhaltung hinaus Entfal¬
tung und Ausbreitung bedeute, und es
wurde mit Nachdruck als das Wesen
der zur Weltmacht gewordenen Gro߬
macht hingestellt daß sich das große
Volk nicht mit dem begnügen dürfe,
was es besitzt sondern nach weiterem
Wachstum streben müsse. Aus dem
ungeheuren Erstarken der Volkskräfte
und aus der Erweiterung des Macht¬
bereichs aber ergab sich in auffälliger
Folge eine neue Steigerung des Natio¬
nalgefühls, die sich unter dem Ein¬
wirken der politischen Unreife vielfach
im einem übertreibenden Machtkultus
äußerte. Mit derselben Unreife und Ein-
81) Rede vom 26. Februar 1906. Reden,
Band 3 S. 107-108.
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Go», igle
Original from
INDIANA UNIVERSITY
€93
Paul Herre, Die Großmacht
694
seitigkeit nahmen die Unbelehrbaren
Stellung, die unter dem zunehmenden
Einfluß internationaler Strömungen ide¬
eller und materieller Art Geltung such¬
ten und mehr oder weniger den Macht¬
charakter des Staates grundsätzlich
leugneten. Während die breiten Schich¬
ten des Volkes sich, dem unpolitischen
Nationalcharakter entsprechend, zurück-
hielten, fiel der verantwortlichen Regie¬
rung die undankbare Aufgabe zu, in
Kundgebungen und Handlungen die
rechte Mitte zu halten. Die Kritik mag
an der Durchführung des weltpoliti¬
schen Programms nicht wenig aussetzen:
für den Beurteiler, der es in seinen be¬
stimmenden Zügen überblickt, kann kein
Zweifel bestehen, daß es im letzten von
der rechten Anschauung des Groß-
machtbegriffes getragen war. Berechtig¬
tes Machtstreben weltpolitischen Cha¬
rakters, geschichtliches Verständnis der
besonderen nationalen Daseinsbedin¬
gungen des deutschen Volkes und Wür¬
digung der geographischen Gegebenhei¬
ten scheinen in den Anschauungen Wil¬
helms II. und seiner Helfer zu einer
wirklichen Einheit innerlich verknüpft 89 )
Ober alle Parteimeinung hinweg wird
man geschichtswissenschaftlich nicht
anders Stellung nehmen können.
Bedauerlicherweise wurde jedoch in
dem verwirrenden Kampf um die neuen
politischen Erfordernisse des Tages die
Einheit der Anschauungen nicht wieder¬
gewonnen, die sich unter der zielsiche¬
ren Leitung Bismarcks gebildet hatte.
Bei Ausbruch des Weltkrieges gab es in
Deutschland keine einheitliche Vorstel-
82) Es ist bezeichnend, daß der Kaiser
dem feindlichen Ausland als der eigentliche
Verkörperer des deutschen Machtkultus gilt
während ihm von anderer Seite Vorstellun¬
gen von einer universalen Kulturaufgabe
des deutschen Volkes vorgeworfen werden,
die an das einstige Humanitätsideal er¬
innerten.
□ igltlzed by Gougle
lung davon, was Welt-Großmacht sei
oder nicht sei. In dem aus der voran¬
gehenden Epoche fortwirkenden Stre¬
ben, die großstaatliche Erscheinung in
einen gleichmäßigen Begriff zu fassen,
gab man vielfach die längst gesicherte
Erkenntnis preis, daß ein jeder Staat
eine Besonderheit darstelit deren Ent¬
wicklungsgesetze unvergleichbar sind.
Die erfolgreiche Expansion des insu¬
laren England, das sich, wie Rußland in
seinem asiatischen Bereiche, von uner¬
sättlichen Machtinstinkten vorwärtstra¬
gen ließ, wurde für eine ungestüme
patriotische Richtung der Maßstab
für Großmachtsbetätigung schlechthin 83 ),
und die in unserer geographischen Lage
ruhende Bedingtheit wurde nicht selten
außer acht gelassen.
Demgegenüber erteilt uns das große
Ringen, das über uns hereingebrochen
ist, eine heilsame Lehre. In aller Unmit¬
telbarkeit tritt uns die Ungleichartig¬
keit großstaatlicher Grundlagen wieder
entgegen. Schon beginnt das Schlag¬
wort „Imperialismus", das die großen
Nationen blendete und in dem sich aller
Großmachtswille zusammenfaßte, in dem
ihm beigelegten Sinne des Weltherr-
schaftsstrebens zu verblassen. 83 ) Die
besonderen kontinentalen Voraussetzun¬
gen, denen zumal Deutschlands Gro߬
machtstellung unterliegt, fordern wie¬
der mehr ihr Recht und rücken all¬
mählich das wieder in den Vorder¬
grund, was vor der kolonialen Ära der
83) Auch Kjell6n hat in seiner zusam¬
menfassenden Charakteristik der Großmacht
etwas einseitig die englische Weltmacht
vor Augen und mißt nach deren Maßen.
84) Es ist von Interesse, daß Fürst Bülow
in seiner .Deutschen Politik" (selbständige
Ausgabe, Berlin 1916 S. 255) von .derjenigen
Form der Kolonialpolitik* spricht, .die mit
einem nicht ganz zutreffenden und biswei¬
len falsch angewandten Schlagwort Impe¬
rialismus genannt wird.
Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
Paul Herre, Die Großmacht
696
695
Anblick der GroBmachterscheinung im
unmittelbaren Zusammenleben der staat¬
lich organisierten Nationen gelehrt hatte.
Nicht als ob damit der hohe Wert der
Errungenschaften des kolonialen Zeit¬
alters irgendwie in Zweifel gezogen
werden soll: „Die Interessensphäre
gehört zum Begriff der Großmacht“
Kein großes Volk kann in dem neuen
Zeitalter der Weltwirtschaft kolonia¬
len Besitz entbehren, und ihn ihm
vorenthalten wollen hieße, seinen Le¬
bensnerv treffen. Aber der Wille zur
Ausbreitung schließt die Gefahr in
sich, allzusehr in die Weite zu schwei¬
fen und die eigentlichsten Grund¬
lagen des nationalen Daseins aus dem
Auge zu verlieren. Nicht umsonst macht
die Expansionspolitik unsrer Gegner den
Eindruck des Ungesunden auf uns, und
gerade die Verurteilung dieser Macht¬
überspannung, die dem Leben der Völker
Gewalt antut, kann uns die Gewißheit
geben, daß hier staatliche Kräfte wirk¬
sam sind, die mit dem wahren Wesen
der Großmacht nichts zu tun haben.
Denn das Ziel des Staates, auch des
Staates als Macht, beschränkt sich auf
die Erhaltung und Entfaltung der tra¬
genden Nation, und ein Staat, der um
hohler Machtgelüste willen gegen dieses
Grundgesetz verstößt, macht sich der
Unsittlichkeit schuldig, die dem Welt¬
herrschaftsstreben mit Recht immer wie¬
der vorgeworfen worden ist Rankes
klassischer Satz von der obersten Auf¬
gabe des Staates, sich selbst zu behaup¬
ten, erstreckt sich nicht nur auf das Ge¬
bot, nach außen Macht zu sein, sondern
auch auf die Pflicht den nationalen Da¬
seinsbedingungen Rechnung zu tragen.
Die ungeheuren Schwierigkeiten, die
in unseren Tagen dem versöhnlichen
Ausgleich des Macht- und Ausdeh-
nungsstrebens auf der einen Seite
und der nationalen Sicherung auf der
anderen entgegenstehen, zeigen aufs
klarste, daß man sich über den beherr¬
schenden Machttendenzen der Zeit dem
Problem der staatlichen Weiterbildung
auch in Deutschland entfremdet hat
und es erwächst uns die Notwendig¬
keit ihm in gesteigertem Maße wieder
unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Denn in der fortschreitenden Entwick¬
lung besteht ein enger Zusammenhang
zwischen der internationalen Machtstel¬
lung und der innerstaatlichen Gestal¬
tung. Alles äußere Wachstum stellt die
Großmacht immer von neuem vor die
Aufgabe, den bestehenden staatlichen
Organismus mit den mehr oder weniger
anders gearteten Erfordernissen eines
neuen größeren Bereiches in Einklang
zu bringen, wenn nicht lediglich rohe
Unterwerfung angestrebt wird. Nur so
behält das große Staatswesen seine
innere Fühlung zu den Kräften des ge¬
schichtlichen Fortschritts, nur so den
Adel seiner von hoher Kultur getrage¬
nen Eigenart In diesem Zusammenhang
aber kommt der Elastizität der Staats-
idee eine große Bedeutung zu. 86 )
Es ist sicher, daß die Staatsidee unter
der Einwirkung des Nationalitätsprin¬
zips viel von ihrer Anpassungsfähigkeit
verloren hat, aber zumal auf dem euro¬
päischen Kontinent drängt die Entwick¬
lung dahin, hemmende Fesseln abzu¬
streifen. Was die koloniale Ausbreitung
nicht bewirkt hat das werden die gro¬
ßen zu erwartenden Umwälzungen in
85) Auf die hohe Bedeutung dieses Ge¬
sichtspunktes hat in geschichts-philosophi-
schem Sinne Kurt Riezler hingewiesen. Vgl.
seine Schritt: Die Erforderlichkeit des Un¬
möglichen. Prolegomena zu einer Theorie
der Politik und zu anderen Theorien. Mfln-
chen 1913. Dieses Buch ist gegenüber dem
späteren, pseudonym (J. J. Ruedorffer) er¬
schienenen Werke desselben Verfassers
.Grundzüge der Weltpolitik* merkwürdig
unbeachtet geblieben.
Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
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«97
Paul Herre, Die Großmacht
698
Europa selbst hervorrufen: die Aus¬
breitung des Staates Aber die nationale
Grundlage hinaus ist das Problem der
Zukunft Wie starr der nationalstaat-
liche Begriff geworden war, lehrt die
Beurteilung, die der Nationalitätenstaat
Österreich-Ungarn in den letzten Jahr¬
zehnten bei uns und im Auslande, ja
vielfach in der Donaumonarchie selbst
erfahren hat. Er war das „Monstrum“
im Zeitalter der nationalstaatlichen Ent¬
wicklung, und vom nationalen Stand¬
punkt wurde ihm bis in unsere Tage
hinein das Daseinsrecht abgesprochen,
sein Untergang vorausgesagt Sicherlich
wäre Österreich-Ungarn, allein geblie¬
ben, dem Ansturm der eroberungsgieri¬
gen Gegner zum Opfer gefallen; es ver¬
dankt seine Erhaltung der engen Gemein¬
schaft mit Deutschland. Der deutsche
Nationalstaat hat sich mit seinem Da¬
sein für den Fortbestand des österrei¬
chisch-ungarischen Nationalitätenstaates
eingesetzt. Dieses Eintreten aber hat
seinen tiefen geschichtlichen Sinn. Hal¬
ten wir ihn uns wohl vor Augen!
Hätte die nationale Idee schlechthin gel¬
tende Kraft, würde Deutschland der ge¬
schichtlichen Entwicklung und damit
seinem eigensten Lebensprinzip ent¬
gegengehandelt haben, würde es für
ein dem Tode verfallenes Staatswesen
sein Blut geopfert haben, indem es sich
der verbündeten Macht zur Seite stellte.
Die Geschichte hat es eingerichtet,
daß die Erhaltung des nichtnationalen
Österreich-Ungarns zu einem natio-
nalstaatlichen Interesse Deutschlands
wurde, und es ist eine eigentümliche
geschichtliche Verflechtung, daß kein
anderer als der Begründer des deutschen
Nationalstaats selbst mit großartigem po¬
litischen Instinkt den Grund dieser Ge¬
meinschaft gelegt und die Erhaltung der
Donaumonarchie als eine Notwendigkeit
für Deutschlands Dasein bezeichnet hat
Wie von einer geheimen Kraft be¬
stimmt hat Deutschland diese Stel¬
lung genommen, und es muß nun auf
dem Schicksalswege weiterschreiten. Aus
jener Verkettung, die zur weltgeschicht¬
lichen Tatsache geworden ist, muß es,
seiner neuen großen Aufgabe sich
bewußt werdend, nun die Folgerung
ziehen. Die deutsche Großmacht der Zu¬
kunft wird sich, wenn die Entwicklung
der letzten Jahrzehnte Sinn haben soll,
nicht auf dem starren nationalen Staats¬
begriff des 19. Jahrhunderts aufbauen,
sondern auf einer Staatsidee, die das
engere Nationalitätsprinzip überwölbt
und den Zusammenschluß verschiede¬
ner Nationen auf der Basis übereinstim¬
mender Interessen und auf der Grund¬
lage annähernd gemeinsamer oder we¬
nigstens verwandter Kultur möglich
macht. Gewiß nicht in der Weise, daß
die geschlossene Besonderheit der ein¬
zelnen Nation und ihres Staates auf¬
gegeben wird, die die unentbehrliche
Vorbedingung alles selbständigen Kul¬
turschaffens bleibt 88 ) Wohl aber so,
daß die zusammenzuschließenden Na¬
tionen sich zu einer Einheit verbinden,
die in der Gemeinsamkeit politischer
und wirtschaftlicher Funktionen zum
Ausdruck kommt und in der gemein¬
samen Entfaltung schirmender Macht
gipfelt
Es ist nicht wertlos, zu bemerken,
daß wir mit dieser Betrachtung wieder
ganz auf dem Boden Rankescher Auf¬
fassung stehen. Weder der Machtcha¬
rakter noch die Individualität der Gro߬
machterscheinung sind aus dem Bilde
verschwunden, das wir für die Zukunft
86) In diesem wichtigen, vielleicht ent¬
scheidenden Punkte verläßt Friedrich Nau¬
manns „Mitteleuropa“, dem sich die oben
vertretene Auffassung in einzelnen Punkten
nähert, den realen Boden, während Rue-
dorffer, mit dem sich meine Darstellung
ebenfalls berührt, ganz auf ihm stehen bleibt.
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INDIANA UNIVERSITY
690
0. Walzel, Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe'
700
sehen. Auch der Nationalitätsbegriff,
den Ranke in der ihm eigentümlichen
geschichtlichen Vielseitigkeit vor Augen
hatte, ist ihm keineswegs verloren¬
gegangen, denn die zukünftige Gro߬
macht mag sich auf einer Mehrzahl von
Einzelnationen aufbauen: als handeln¬
des Machtindividuum wird sie durch
eine neue Art von Staatsnation getragen
sein, deren Charakter durch die richtung¬
gebende Einzelnation bestimmt wird.
Und diese Großmacht ist vor der Ge¬
schichte um so mehr daseinsberechtigt,
als sich in ihr lebensstarke Kräfte auswir¬
ken können, die einen neuen geschicht¬
lichen Fortschritt verbürgen. Denn ver¬
gessen wir nicht, daß sich die Geschichte
nicht im nationalen Entwicklungsprozeß
erschöpft, sondern daß dieser nur ein
Teil des allgemeinen historischen Ver¬
laufs ist Wie es wiederum Ranke ein¬
mal in klassischen Worten formuliert
hat: „Große Völker und Staaten haben
einen doppelten Beruf: einen nationalen
und einen weltgeschichtlichen.“ 87 ) Der
starke Glauben unseres deutschen Ge¬
schichtsforschers an das dauernde Leben
der großen Nation, die sich mit aller
nationalen Selbstsucht dem großen Gan¬
zen geschichtlicher Entwicklung einord-
net, kann uns auch in diesen Tagen
Wegweiser sein.
87) Französische Geschichte, Vorrede.
Sämtliche Werke Band 8 S. V.
Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“.
Von O. Walzet
Botticelli und Lorenzo di Credi sind
zeit- und stammverwandte Künstler,
beides Florentiner des späteren Quat¬
trocento; aber wenn Botticelli einen
weiblichen Körper zeichnet, so ist es
nach Gewächs und Formenauffassung
etwas, das nur ihm eigentümlich ist
und was von jedem Frauenakt des Lo¬
renzo sich so grundsätzlich und unver¬
wechselbar unterscheidet wie eine Eiche
von einer Linde.
Kein holländischer Baumstamm hat
das Pathos der flämischen Bewegung,
und selbst die mächtigen Eichen Ruis-
daels erscheinen noch feingliedrig neben
den Bäumen des Rubens. Rubens geht
mit dem Horizont hoch hinauf und
macht das Bild schwer, indem er es mit
viel Materie belastet, bei den Hollän¬
dern ist das Verhältnis von Himmel
und Erde grundsätzlich anders: der Ho¬
rizont liegt tief, und es kann Vorkom¬
men, daß vier Fünftel des Bildes der
Luft überlassen sind.
Der Zentralbegriff der italienischen
Renaissance ist der Begriff der voll¬
kommenen Proportion. Die Säule, der
Flächenausschnitt an der Wand, das
Volumen eines einzelnen Raumgliedes
wie des Raumganzen, die Massen des
Aufbaues insgesamt — es sind lauter
Gestaltungen, die den Menschen ein in
sich befriedigtes Dasein finden lassen.
Barock bedient sich des gleichen For-
mensystems, gibt aber nicht mehr das
Vollkommene und Vollendete, sondern
das Bewegte und Werdende, nicht das
Begrenzte und Faßbare, sondern das
Unbegrenzte und Kolossale. —
Drei Möglichkeiten der Stilbetrach-
tung prägen sich in diesen drei Bei¬
spielen aus. Der erste Fall geht auf in¬
dividuellen Stil, der zweite auf Volks¬
stil, der dritte auf Zeitstil. Nicht
alles, was von Heinrich Wölfflin
in seinen „Kunstgeschichtlichen
Grundbegriffen“ (München,F.Bruck-
mann A.-G„ 1915) zur Beschreibung der
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INDIANA UNIVERSITY
701
O. Walzel, Wölfflins „Kunstgeschichtiiche Grundbegriffe'
702
drei Falle vorgebracht wird, führte ich
an. Aber ich hielt mich möglichst an
seinen Wortlaut in den Sätzen, die ich
vorlegte.
Wölfflin will durch die Skizzierung
der drei Falle die Ziele einer Kunst¬
geschichte bezeichnen, die den Stil in
erster Linie als Ausdrude faßt, sei es
eines persönlichen Temperaments, sei
es einer Volks-, sei es einer Zeitstim¬
mung. Solcher kunstgeschichtlichen Be¬
trachtungsweise stellt Wölfflin die Fra¬
gen gegenüber, die der Künstler auf¬
wirft: ob das einzelne Werk gut, ob es
in sich geschlossen sei, ob die Natur zu
einer starken und klaren Darstellung
komme. Geht es dort auf Ausdruck, so
geht es hier auf Qualität
Wölfflin aber behauptet daß weder
die Prüfung des Ausdrucks noch der
Qualität den Tatbestand erschöpfe. Als
drittes komme die Darstellungsart hin¬
zu. Jeder Künstler finde bestimmte op¬
tische Möglichkeiten vor, an die er ge¬
bunden ist Nicht alles sei zu allen Zei¬
ten möglich. Das Sehen habe seine Ge¬
schichte. Wölfflin erkennt in der Auf¬
deckung dieser „optischen Schichten“
die elementarste Aufgabe der Kunst¬
geschichte.
Abermals verdeutlichen einzelne Falle
den Gedanken Wölfflins. Obwohl Zeit¬
genossen, stehen der Italiener Bernini
und der Holländer Terborch nach ihrem
Temperament weit auseinander. Allein
mögen auch die stürmischen Figuren
Beminis und die stillen, feinen Bildchen
Terborchs noch so weit voneinander ab¬
liegen, so weisen doch die Zeichnungen
beider die gleiche Manier eines Sehens in
Flecken statt in Linien auf, etwas, was
wir malerisch nennen und was ein
unterscheidendes Merkmal des 17. Jahr¬
hunderts ist gegen das 16. Jahrhundert
Es ist nach Wölfflin etwas ganz ande¬
res, als wenn man von dem Schwung
barocker Massenbehandlung im Gegen¬
satz zu der Ruhe und Gehaltenheit der
Hochrenaissance spricht. „Größere oder
geringere Bewegtheit sind Ausdrucks¬
momente, die mit einheitlichem Maßstab
gemessen werden können: malerisch
und linear aber sind wie zwei verschie¬
dene Sprachen, in denen man alles mög¬
liche sagen kann, wenn auch jede nach
einer gewissen Seite hin ihre Stärke
haben und aus einer besonderen Orien¬
tierung zur Sichtbarkeit hervoigegan-
gen sein mag.“
Wölfflin reiht noch andere Falle an.
Er verwahrt sich dagegen, alle die Un¬
terschiede auf den Ausdruck zu be¬
ziehen. Nicht jeder Stimmung hätten
jederzeit die gleichen Ausdrucksmittel
zur Verfügung gestanden. Auch von
neuer Naturbeobachtung solle man nicht
schlechtweg reden. Die Beobachtungen
des 17. Jahrhunderts seien nicht einfach
in das Gewebe der cinquecentistischen
Kunst eingetragen worden; die Gesamt¬
unterlage war nach Wölfflin vielmehr
eine andere geworden. „Alle Steigerung
in der .Hingabe an die Natur' erklärt
nicht die Art, wie sich eine Landschaft
des Ruisdael von einer Landschaft des
Patenier unterscheidet, und die 1 .fort¬
geschrittene Bewältigung des Wirk¬
lichen' macht den Gegensatz zwischen
einem Kopf des Frans Hals und einem
Kopf Albrecht Dürers noch nicht ver¬
ständlich.“ Ein anderes optisches Sche¬
ma liegt zugrunde, das tiefer ver¬
ankert sei als in den bloß imitativen Ent¬
wicklungsproblemen. Es bedinge ebenso
die Erscheinung der Architektur wie die
Erscheinung der darstellenden Kunst.
Eine römische Barockfassade hat nach
Wölfflin den gleichen optischen Nenner
wie eine Landschaft des van Goyen.
Bei dem Gegensatz des Linearen und
des Malerischen, wie er an einem Ver¬
gleich der Kunst Beminis oder Ter-
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O. Walzel, Wölfllins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe'
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borchs mit der Kunst der Hochrenais¬
sance sich ergibt, bleibt Wölfflin nicht
stehen. Er kennt noch vier andere Paare
von Gegensätzen allgemeinster Darstel¬
lungsformen; sie entsprechen abermals
der Entwicklung, die sich vom 16. zum
17. Jahrhundert in der bildenden Kunst
vollzieht. In knapper Zusammenfassung
will ich wiedergeben, wie Wölfflin die
fünf Begriffspaare „provisorisch formu¬
liert“; so nämlich drückt er selbst sich
aus.
1. Entwicklung vom Linearen zum
Malerischen, d. h. Ausbildung der Linie
als Blickbahn und Führerin des Auges
und — im Gegensatz dazu — allmäh¬
liche Entwertung der Linie. Einmal wer¬
den die Körper nach ihrem tastbaren
Charakter in Umriß und Flächen begrif¬
fen, das andere Mal überläßt man sich
dem bloßen optischen Schein und ver¬
zichtet auf greifbare Zeichnung. Das
konstruierende Sehen isoliert die Dinge,
das malerische schließt sie zusammen.
2. Entwicklung vom Flächenhaften
zum Tiefenhaften, von flächiger Schich¬
tung zum Hintereinander. Dabei ist Flä¬
chenstil nicht Folge einer geringeren
Fähigkeit, räumliche Tiefe darzustellen,
sondern nur möglich bei einer Beherr¬
schung des Verkürzens und des Raum¬
eindrucks, die den Primitiven fehlt
3. Entwicklung von der geschlosse¬
nen zur offenen Form. Die Lockerung
der Regel, die Entspannung der tekto¬
nischen Strenge bedeutet nicht eine
bloße Reizsteigerung, sondern ist eine
folgerichtig durchgeführte neue Dar¬
stellungsweise.
4. Entwicklung vom Vielheitlichen zum
Einheitlichen. Einmal hat der Betrachter
von Glied zu Glied fortzuschreiten, das
andere Mal im ganzen aufzufassen. Dort
ist Einheit eine Harmonie freier Teile,
hier ruht sie auf einem Zusammen¬
ziehen der Glieder zu einem einzigen
Motiv oder auf einer Unterordnung der
übrigen Elemente unter ein führendes.
5. Entwicklung von absoluter zu rela¬
tiver Klarheit des Gegenständlichen.
Klarheit des Motivs verliert den An¬
spruch, Selbstzweck der Darstellung zu
sein. Die Form wird nicht mehr in ihrer
Vollständigkeit vor dem Auge ausge¬
breitet, man gibt nur noch wesentliche
Anhaltspunkte. Komposition, Licht und
Farbe stehen nicht mehr unbedingt im
Dienste der Formaufklärung, sondern
führen ihr eigenes Leben.
Nur flüchtig andeuten kann ich, wie
Wölfflin an der Hemd einer überzeugen¬
den Reihe schlagender Belege, in dau¬
ernder Gegenüberstellung eines Paares
von zeichnerischen, malerischen, plasti¬
schen und architektonischen Werken die
lineare, auf Fläche, geschlossene Form,
Vielheit und Klarheit eingestellte Kunst
des 16. Jahrhunderts entgegenhält der
malerischen, auf Tiefe, offene Form,
Einheit und Unklarheit zielende Kunst
des 17. Jahrhunderts. Die Feinheit und
Schärfe von Wölfflins Darlegung kann
nur an seinem Buch selbst gewürdigt
werden, nicht durch irgendeine kür¬
zende Wiedergabe zur rechten Wirkung
gelangen. Unentbehrlich sind ferner die
Bilder, an denen die Scheidung dar¬
getan wird. Sie sind so glücklich ge¬
wählt und so trefflich angeordnet, daß
schon, wer nur Wölfflins Hauptgesichts¬
punkte kennt und die fünf Gruppen von
Gegensätzen erfaßt hat, an den Bildern
allein die Berechtigung seiner Typen
von Darstellungsformen erkennt Geht
man freilich vom Beschauen der Bilder
weiter zum Lesen von Wölfflins Aus¬
führungen, so staunt man immer wieder
von neuem über die zarte Sorgfalt, mit
der er die nicht ungefährliche Aufgabe
löst, das einzelne Kunstwerk einem Ty¬
pus einzuordnen und ihm doch gerecht
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O. Walzel, Wölfflins »Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“
706
zu werden, soweit es noch anderes will,
als der Typus zu wünschen scheint. Er
beherzigt, daß die Merkmale, um derent¬
willen er ein Kunstwerk für seine Ab¬
sichten verwertet, auch noch aus künst¬
lerischen Absichten stammen können,
die mit seinen fünf gegensätzlichen Be¬
griffspaaren nichts zu tun haben. Er er¬
innert etwa einmal ausdrücklich daran,
daß die durchgreifenden Veränderun¬
gen der Auffassung, die sich im Laufe
der Zeit an der Darstellung der alt¬
testamentarischen Susanna oder Sim-
sons ergeben, nie von einem einzelnen
Begriff aus dargelegt werden können.
Die ältere Gestalt der Geschichte von
Susanna sei nicht eigentlich das Be¬
drängen der Frau, sondern wie die
Alten ihr Opfer von weitem beobachten
oder darauf zulaufen. Erst allmählich,
mit der Schärfung des Gefühls für das
Dramatische, komme der Augenblick, wo
der Feind der Badenden an den Nacken
gesprungen ist und ihr die heiße Rede
ins Ohr raunt. Die spannende Szene der
Überwältigung Simsons habe sich ebenso
nur nach und nach aus dem Schema des
Schläfers herausgewickelt, der ruhig im
Schoß der Dalila liegt und von ihr der
Locken beraubt wird. Allein darum ver¬
zichtet Wölfflin nicht darauf, solche
Werke für seine Gesichtspunkte in An¬
spruch zu nehmen, wohl bewußt, daß
nur ein Teil des Phänomens, nicht aber
das ganze bezeichnet wird durch seine
Gesichtspunkte.
Wölfflin bleibt auch nicht bei den Be¬
legen stehen, die mit überwältigender
Schlagkraft für seine Ansicht zeugen,
fm Gegenteil beschäftigt er sich vorzüg¬
lich mit Fällen, die ihm zu wider¬
sprechen scheinen. Vielleicht verspürt
der eine oder der andere, daß in so
schwieriger Lage Wölfflin hier und da
nicht ganz ohne Sophismen auskommt.
Tatsächlich liegt ihm daran, bei die-
Internationale Monatsschrift
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sen Grenzfällen die eine entscheidende
Wendung nachzuweisen, die ein Werk
den Darstellungsformen des einen oder
des anderen Jahrhunderts zuweist.
Wölfflins Typen gelten für alle Län¬
der, die an der Kunst des 16. und 17.
Jahrhunderts beteiligt sind. Sein Aus¬
gangspunkt ist ja die enge Verwandt¬
schaft der Darstellungsformen des Ita¬
lieners Bemini und des Holländers Ter-
borch. Indes hebt er selbst hervor, daß
dem italienischen Süden die lineare, tek¬
tonische, klare Darstellung weit näher
liegt als dem deutschen Norden. Schon
sehr früh im Ablauf der Darlegungen
Wölfflins erscheint der Satz, daß dem
plastischen Gefühl der Italiener die Linie
immer mehr oder weniger das Element
war, in dem sich alle künstlerische Ge¬
stalt formte. Gleiches sei von der Hei¬
mat Dürers nicht zu sagen, wenngleich
wir gewöhnt sind, in der festen Zeich¬
nung die eigentümliche Kraft der alten
deutschen Kunst zu erkennen. Allein die
klassische deutsche Zeichnung, die sich
nur langsam und mühsam spätgoti¬
schem malerischen Knäuelwerk entwin¬
det, könne wohl auf Augenblicke am ita¬
lienischen Lineament ihr Muster suchen,
im Grunde aber sei sie der isolierten
reinen Linie abhold. „Die deutsche Phan¬
tasie läßt alsbald Linie mit Linie sich
verflechten, statt der klaren, einfachen
Bahn erscheint der Linienbündel, das
Liniengewebe; Hell und Dunkel treten
früh zu einem malerischen Eigenleben
zusammen, und die einzelne Form geht
unter im Wogenschlag derGesamtbewe-
gung.“
Nicht seien weitere Belege heran¬
geholt für die Fähigkeit Wölfflins, den
Gefahren zu entgehen, die sich einer
typisierenden Betrachtung geschicht¬
licher Erscheinungen entgegenstellen.
Allerdings mag hier wie sonst der Le¬
ser und Beurteiler sich bewußt bleiben,
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Original fro-m
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O. Walzel, Wölfllins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe'
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daß jeder Versuch, die einzelne Er¬
scheinung einem Typus zuzuweisen,
allen den Schwierigkeiten ausgesetzt
ist, die einer Umsetzung von Ideellem in
Anschauung drohen. Die Idee mag noch
so einleuchtend und förderlich sein,
gleichwohl kann ihre Anwendung Wi¬
derspruch erwecken. Immerhin sollte
niemals als berechtigter Einwand gegen
eine Idee gefaßt werden, was lediglich
vereinzelte unrichtige Anwendung oder
gar nur bestreitbare Exemplifikation ist.
Vollends sollte der Widerspruch, den
durch diese oder eine andere Zuteilung
Wölfflin erweckt, nicht ins Gewicht fal¬
len neben den beträchtlichen Gewinnen,
die sich für jeden Empfänglichen aus
seinen Erkenntnissen ergeben. Ich zweifle
nicht, daß die große Mehrzahl aus dem
Buch den Eindruck empfängt, jetzt erst
Bilder sehen und ihre künstlerischen
Wesenszüge erfassen zu können.
Neidenswert ist Wölfflins Befähi¬
gung, den künstlerischen Sinn einzelner
Züge der Darstellung zu erfassen, mag
er vom Standpunkt seiner fünf .Typen¬
paare oder von irgendeinem anderen
ein Werk bildender Kunst betrachten.
Mit unentwegter Energie und doch nie
aufdringlich oder gar pedantisch, immer
geschmackvoll sagt er von jedem ein¬
zelnen Werk, das er nennt, warum die
Gestalten, ihre Gewandung, ihre Stel¬
lung an sich und zu anderen, ihr Hin¬
tergrund, warum Farben und Belichtung
die Darstellung gefunden haben, die
dem Kunstwerk eigen ist. Er arbeitet
gern und stets erfolgreich mit dem Ver¬
gleich zweier oder mehrerer verwandter
Leistungen und kann darum eindring¬
lich versinnlichen, welche besonderen
Darstellungseigenheiten bei gleichem
Stoff und übereinstimmender künst¬
lerischer Aufgabe sich dem einzelnen
Künstler im Gegensatz zu seinem Mit¬
bewerber ergeben. Soll ich abermals
beklagen, wie weit von solcher Meister¬
schaft, künstlerische Züge mit Worten
festzuhalten, die wissenschaftliche Be¬
trachtung von Dichtung entfernt ist?
Wenige wissen an einem Dichtwerk
auch nur die selbstverständlichsten Züge
zu beobachten, die von Wölfflin an
Werken der bildenden Kunst schier
mühelos erschaut werden.
Doch ihm liegt diesmal augenschein¬
lich gar nicht viel an einer neuen Probe
seiner Fähigkeit, das Künstlerische zu
sehen und auszusprechen. Er möchte
auch über den bloßen Nachweis
gegensätzlicher Darstellungsmöglichkei¬
ten hinauskommen zu einer entwick¬
lungsgeschichtlichen Verwertung des
Nachweises. Ohne Zweifel hätte er sich
eine Menge Einwände erspart, wenn er
stehengeblieben wäre bei dem gesicher¬
ten Ergebnis, daß zwei gegensätzliche
Reihen der Darstellungsform bestehen,
die sich von selbst zu geschichtlicher
Verwertung anbieten, diese geschicht¬
liche Verwertung indes vorläufig in den
Hintergrund geschoben hätte.
Wölfflin nimmt für seine fünf Be¬
griffspaare den Namen „Kategorien der
Anschauung“ in Anspruch. Die Gefahr,
daß sie mit Kants Kategorien auf eine
und die gleiche Höhe gestellt würden,
besteht nach seiner Oberzeugung nicht.
Seien sie doch nicht aus einem Prinzip
abgeleitet. Mit leiser Ironie sagt er, für
eine kantische Denkart müßten diese
Kategorien der Anschauung als bloß
„aufgerafft“ erscheinen. Er gesteht die
Möglichkeit zu, daß noch andere Kate¬
gorien sich aufstellen lassen; erkenn¬
bar seien ihm keine anderen geworden.
Auch seien die fünf Kategorien nicht
so unter sich verwandt, daß sie in
teilweise anderer Verbindung undenk¬
bar wären. Aber er hält fest daß sie
sich bis zu einem gewissen Grade be-
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INDIANA UNIVERSITY
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O. Walzel, Wölfllins »Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“
710
dingen, ja als fünf verschiedene An¬
sichten einer und derselben Sache gel¬
ten dürfen.
Wölfflin verdeutlicht das: Das Li¬
near-Plastische hängt ebenso zusammen
mit den kompakten Raumschichten des
Flächenstils wie das Tektonisch-Ge¬
schlossene eine natürliche Verwandt¬
schaft mit der Selbständigkeit der Teil¬
glieder und mit der durchgeführten
Klarheit besitzt Anderseits verbindet
sich die unvollständige Formklarheit
und die Einheitswirkung bei entwerte¬
tem Einzelteil von selbst mit dem Atek-
tonisch-Fließenden und kommt im
Bereich einer impressionistisch-maleri¬
schen Auffassung am besten unter. Auch
der Tiefenstil gehört notwendig zu die¬
ser Gruppe, da seine Tiefenspannungen
ausschließlich auf optische Wirkungen
aufgebaut sind, die nur für das Auge,
nicht aber für das plastische Gefühl
eine Bedeutung haben.
Auch diese Steigerung mag man gern
zugeben. Die fünf Typenpaare wären
dann nicht nur jedes für sich wertvolle
Mittel zur Erfassung einer Darstellung,
vielmehr dürfte angenommen werden,
daß vielfach die sämtlichen Glieder der
einen Reihe sich an einem Kunstwerk zu¬
sammenfinden können, wenn auch nur
eines dieser Glieder an dem Kunstwerk
nachgewiesen ist. Alles das ist wie
selbstverständlich.
Ferner dürfte ein haltbares Ergebnis
von Wölfflins Buch sein, daß die eine
Reihe der Darstellungsmöglichkeiten,
nach ihrem ganzen Umfang, der Hoch¬
renaissance des 16. Jahrhunderts, die
andere ebenso dem Barock des 17. Jahr¬
hunderts zukomme. Da geht die Be¬
trachtung zwar schon aus der Welt
bloßer Feststellung von verschiedenen,
ja gegensätzlichen Möglichkeiten der
Darstellungsform weiter zu geschicht¬
licher Verwertung der Typen. Aber noch
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weckt das nicht Bedenken. Wer indes
stutzt nicht, wenn Wölfflin in der Reihe,
zu der das Lineare zählt, ein für alle¬
mal eine Vorstufe der Reihe des Male¬
rischen erkennen will? Er sagt: der
Fortgang von der handgreiflichen, pla¬
stischen Auffassung zu einer rein op¬
tisch-malerischen hat eine natürliche
Logik und könnte nicht umgekehrt wer¬
den, und ebensowenig der Fortgang
vom Tektonischen zum Atektonischen,
vom Streng-Gesetzlichen zum Frei-Ge¬
setzlichen, vom Vielheitlichen zum Ein¬
heitlichen. Wölfflin meint in diesem
Vorgang etwas Notwendiges zu er¬
blicken, ebenso notwendig wie das phy¬
siologische Wachstum.
Es ist etwas ganz anderes, wenn
Wölfflin sonst die Ansicht verficht, daß
lineare und tektonische Malerei nicht
in dem strengen Sinn Malerei sei, wie
malerische, atektonische, daß also auf
dem Weg von der Hochrenaissance zum
Barock die Malerei sich ihrer eigenen
und eigentümlichen Kraft bewußt wird.
Er hat durchaus recht, daß in der Ma¬
lerei der Übergang vom Tastbild der
linearen Art zum Sehbild der maleri¬
schen Art die „kapitalste Umorientie¬
rung“ sei, die in der Kunstgeschichte er¬
scheint
Aber gerät Wölfflin nicht schon durch
diese Wendung mit sich selbst in Wider¬
spruch und mit seiner Überzeugung,
daß die klassische Kunst des Cinque¬
cento und die barocke Kunst des Se-
oento dem Werte nach auf einer einzi¬
gen Linie stehen? Er versichert aus¬
drücklich: „Der Barock, oder sagen wir
die moderne Kunst, ist weder ein Nie¬
dergang noch eine Höherführung der
klassischen, sondern ist eine generell
andere Kunst.“ Im Gegensatz zu dieser
Äußerung, die am Eingang des Werkes
erscheint, gewinnen Raffael und Dürer
im Verlauf der Darstellung den An-
23*
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712
O. Walzel, WOlfflins „Kunstgeschichtliche Grandbegriffe*
schein, als seien sie nicht in dem hohen
und eigentlichen Sinn Maler wie Rühens
oder Rembrandt.
Ich schiebe keine fremde Meinung
unter, wenn ich für die zweite Reihe
der Gegensatzpaare, für das Malerische
oder Atektonische, den Begriff Im¬
pressionismus einsetze. Wölfflin selbst
meint, man müsse nicht gleich an die
letzten Formulierungen des Impressio¬
nismus denken; aber grundsätzlich sei
der Impressionismus im Zeitalter Rem-
brandts doch schon da.
Könnte nicht einer unserem Forscher
einwerfen, daß er letzten Endes die
Gleichwertigkeit geschichtlicher Höchst¬
entwicklungen verkennt und seiner eige¬
nen Zeit einen Tribut entrichtet, indem
er die eigentliche Malerei nicht auf der
Seite Raffaels sucht sondern im im¬
pressionistischen Lager?
Allein schon die Worte linear und
malerisch dürfen als Stütze für sein
Verhalten gelten. Wer lineare und ma¬
lerische Malerei scheidet sagt damit
schon, daß nicht die erste, sondern die
zweite die eigentliche Malerei sei. Ganz
so wäre der Gegensatz tektonisch und
atektonisch zu fassen. Wölfflin be¬
merkt einmal, Malerei könne, Architek¬
tur müsse tektonisch sein. Das heißt:
tektonische Malerei fügt sich den Wün¬
schen einer Schwesterkunst nur atek¬
tonische ist frei im Sinn ihrer eigenen
Gesetzlichkeit
Wölfflin indes nimmt überdies in den
oben angeführten Sätzen für alle Kunst
einen Fortschritt vom Linear-Tektoni¬
schen zum Malerisch-Atektonischen an.
Auch die Architektur also stiege nach
ihm empor, wenn sie zum Impressionis¬
mus übergeht. Da tut sich mir die
größte Schwierigkeit auf, die aus der
Verwertung von Wölfflins Kategorien
zu geschichtlichen Bauten sich ergibt
An dieser Schwierigkeit geht er ja ge¬
wiß nicht sorglos vorbei. In den Betrach¬
tungen, die am Ende des Buches ange¬
stellt werden, verweilt er auch bei der
„Periodizität der Entwicklung" und
nimmt sie mindestens für die Architek¬
tur in Anspruch. Die Teilung in lineare
und malerische Baukunst, die sich im
16. und 17. Jahrhundert beobachten läßt
der Übergang vom Linearen zum Male¬
rischen tut sich ihm genau so innerhalb
der Gotik auf. Auf klassische Gotik
folgt barocke Gotik. Wölfflin geht so¬
gar noch einen Schritt weiter. Er nennt
es eine unbestrittene Tatsache, daß sich
innerhalb der bildenden Kunst mit
engerer oder weiterer Wellenlänge, ge¬
wisse gleichlautende Entwicklungen vom
Linearen zum Malerischen, vom Stren¬
gen zum Freien schon mehrfach im
Abendland abgespielt haben. Die antike
Kunst arbeite mit den gleichen Begrif¬
fen wie die moderne. Die französische
Plastik vom 12. bis zum 15. Jahrhun¬
dert biete ein außerordentlich klares
Beispiel einer solchen Entwicklung; da
fehle auch nicht die Parallele der Male¬
rei. Nur darauf komme es — setzt
Wölfflin vorsichtig hinzu — nicht an,
daß die Entwicklungskurven der ver¬
schiedenen Weltperioden sich absolut
decken müssen.
Wölfflin selbst gelangt von der Be¬
trachtung der Periodizität zu der Frage
nach dem Aufhören und dem Neuanfan-
gen der Entwicklungen. Warum, sagt
er, springt eine Entwicklung je wieder
zurück?
Ich kann nicht zugestehen, daß Wölff¬
lin eine durchaus befriedigende Antwort
auf diese Frage zu geben hat Er selbst
verwirft die allgemeine Erklärung, daß
jede Erscheinung ihren Gegensatz er¬
zeugen müsse. Das Abbrechen bleibe
etwas Unnatürliches und komme immer
nur im Zusammenhang mit durchgrei¬
fenden Veränderungen der geistigen
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713
O. Walzel, WOUflins .Kunstgeschichtliche Grundbegriffe'
714
Welt vor. So sei das Wiedererwachen
des Linear-Tektonischen und die Ab¬
kehr vom Malerisch-Atektonischen um
1800 bedingt durch eine neue Wertung
des Seins auf allen Gebieten. Wölfflin
erkennt theoretische Verfechter der Um¬
kehr in Diderot und Friedrich Schlegel
und führt geradezu schlagende Äuße¬
rungen beider an.
Dann aber nennt er den Fall der
Kunsterneuerung um 1800 einzigartig
und nimmt ihm dadurch die Möglich¬
keit, über das Wesen des Neuanfan-
gens wirklich zu belehren. Innerhalb
einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne
habe die abendländische Menschheit da¬
mals einen durchgreifenden Regenera¬
tionsprozeß durchgemacht. Es war, als
ob man noch einmal von vorne habe
anfangen können. Freilich sei die Kunst
auch damals nicht auf einen Punkt zu¬
rückgekehrt, auf dem sie schon einmal
gestanden hat Nur das Bild einer Spi¬
ralbewegung komme den Tatsachen
nahe. Frage man aber nach den Anfän¬
gen der vorausgehenden Entwicklung,
so suche man umsonst nach einem
Augenblick, in dem sich der Wille zum
Linearen und Strengen allgemein und
rasch entschlossen einer maierisch-freien
Tradition in den Weg gestellt hat
Hier ist augenscheinlich noch man¬
ches zu klaren. Nicht aber sind die
großen Schwierigkeiten überwunden, in
die sich Wölfflin begab, als er von sei¬
ner glanzenden Antithese zu entwick¬
lungsgeschichtlichen Fragen fortging.
Noch auf eine weitere Schwierigkeit
mache ich aufmerksam. Die Worte
Fr. Schlegels, die für das Lineare ein-
treten, führt Wölfflin nach der Fassung
von Schlegels „Sämtlichen Werken“ an.
Schlegel sagt von linearer Malerei: „Das
ist der Stil der alten Malerei, der Stil,
welcher mir... ausschließend gefallt“
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Wölfflin las an gleicher Stelle noch die
Einschränkung: „wenn nicht irgendein
großes Motiv die Ausnahme rechtfer¬
tigt wie beim Correggio oder den andern
großen Meistern, welche den neuen Stil
zuerst begründet und veranlaßt haben.“
Wölfflin durfte diese Einschränkung
füglich weglassen. Er selbst erkennt ja
in Correggio eine Vorstufe zum Male¬
risch-Atektonischen, einen Übergang
mindestens. Die ursprüngliche Fassung
von Schlegels Worten (in der Zeit¬
schrift „Europa“ von 1803) drückt
sich jedoch anders aus. Da heißt es:
„wenn nicht irgendein großes Prinzip,
wie beim Correggio oder Raffael, die
Ausnahme rechtfertigt“ Ich wage nicht
zu sagen, warum Schlegel geändert hat
Jedenfalls aber ist für diesen Vorkämp¬
fer des Linear-Tektonischen zuerst Raf¬
fael, der — das ist selbstverständlich —
von Wölfflin zum Hauptvertreter des
Linear-Tektonischen erhoben wird, ein
Vertreter der gegenteiligen Richtung.
Ursache ist die ausgesprochene Nei¬
gung der deutschen Romantiker zur
Kunst der Vorgänger Raffaels.
Schlegel verurteilt Raffael so wenig
wie Correggio. Was ihm widersteht
kennzeichnet er überdies deutlich ge¬
nug: er bekämpft eine „Malerei aus
Helldunkel und Schmutz in Nacht und
Schlagschatten“. Das kehrt sich gegen
Rembrandt, aber auch gegen Rubens,
über den er ja immer wieder abspricht
Rubens aber wird von dem Roman¬
tiker Fr. Schlegel verworfen, obwohl
kurz vorher Wilhelm Heinse schon vol¬
les Verständnis für Rubens bezeugt
hatte. Heinse greift da seinerzeit mäch¬
tig vor. Er tritt für Rubens ein, weil
er sich von Winckelmann die Hände
nicht will binden lassen. Schlegel aber
steht trotz allem Gegensatz zu Winckel¬
mann, gesehen von Wölfflins Stand¬
punkt ganz auf Winckelmanns Seite.
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O. Walzel, Wölfflins „Kunstgeschiditliche Grundbegriffe“
716
Denn wer ist der eigentliche Überwin¬
der der Barockkunst und siegreiche Ver¬
fechter des Linear-Tektonischen auf dem
Gesamtgebiet der bildenden Künste,
also auch auf dem Felde der Malerei,
wer ist der eigentliche Veranlasser des
Neuanfangens um 1800, wenn nicht
Winckelmann?
Die weimarischen Kunstfreunde be¬
wegen sich um 1800 noch unverkenn¬
bar im Fahrwasser Winckelmanns. Sie
schreiben der Malerei die Gesetze einer
linear geschauten Plastik vor. So weit
gehen die Romantiker nicht ja sie be¬
kämpfen die plastische Malerei und
deren Anwalt Goethe. Daß sie aber
trotzdem mit Goethe innerhalb der
Wünsche linear-tektonischer Malerei
bleiben, daß die Nazarener ihrem Geg¬
ner Goethe dennoch recht nahestehen,
ergibt sich aus Wölfflins Gesichtspunk¬
ten. Goethe, die romantischen Theore¬
tiker und der Kreis der nazarenischen
Maler arbeiten gemeinsam an der Kunst-
emeuerung von 1800, an der Wendung
zum Linear-Tektonischen. Um so bemer¬
kenswerter wird die gegenteilige Hal¬
tung Heinses. Sie bezeugt daß unmit¬
telbar vor 1800 schon Vorankündiger
des Kunstgefühls erstanden, zu dem
nach der Überwindung der linear-tek¬
tonischen Kunst des beginnenden 19.
Jahrhunderts sich eine neue malerisch-
atektonische Kunst bekennen sollte. Eine
ähnliche Stellung wie Heinse nimmt
Herder ein.
Die Reinlichkeit der Zeichnung Wölff¬
lins leidet unter dieser Beobachtung.
Aber vielleicht hilft ein Hinweis auf
Heinse doch den tatsächlichen Vorgang
der Kunsterneuerung von 1800 genauer
erfassen. Sicher dürfte sein, daß mit
gleicher Sauberkeit wie der Gegensatz
des 16. und 17. Jahrhunderts in ande¬
ren Zeiten der Widerstreit linearer und
malerischer Perioden nicht aufzuzeigen
ist. Nicht einmal von einem regelmäßi¬
gen Übergang aus dem Linearen ins
Malerische und von da ins Lineare
dürfte gesprochen werden können.
Vielleicht bestehen beide Richtungen ge¬
legentlich auch nebeneinander.
Mir ist es wirklich nicht darum zu tun,
irgendwelche Einwände gegen Wölfflin
vorzubringen. Wahrscheinlich hat er
selbst sich ähnliche Einwürfe längst
gemacht. Ich denke vielmehr nur an
die Weiterbildung, die den Ergebnissen
Wölfflins auf dem Gebiet anderer
Künste, vor allem der Dichtkunst, er¬
stehen, und an die Gefahren, denen
diese Weiterbildungen ausgesetzt sind,
wenn sie zu rasch mit Wölfflin von
systematischen Scheidungen zu ge¬
schichtlichen Bauten weiterschreiten.
Um keinen Preis möchte ich die Ge¬
winne entbehren, die für die Form¬
bestimmung der Dichtkunst aus Wölff¬
lins meisterlicher Formbestimmung der
bildenden Künste .sich ergeben können.
Um so wichtiger ist mir, diese Gewinne
vor Schädigung zu bewahren.
In einem Aufsatz des Jahrbuchs der
Shakespeare-Gesellschaft für 1916 griff
ich mutig hinein in Wölfflins Gedan¬
kenwelt und entnahm ihr das Recht,
Shakespeare zum Vertreter der Typen¬
reihe zu stempeln, der das Atekto-
nische angehört. Ich nannte ihn dem¬
gemäß einen Barockkünstler. Aber nicht
die Tatsache, daß er Zeitgenosse der
Rembrandt und Velasquez ist, fiel für
mich besonders ins Gewicht, sondern
der Gegensatz seiner Darstellungsform
zur Darstellungsform der Renaissance.
Jetzt möchte ich nur noch kräftiger be¬
tonen, daß die Ergründung dichterischer
Form vorläufig bei der Frage stehen
bleiben soll, wie weit die Darstellungs¬
gegensätze, die Kategorien, die von
Wölfflin an der bildenden Kunst auf-
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0. Walze], Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe'
718
gezeigt wurden, auch für die Dicht¬
kunst verwertbar sind, daß dagegen die
entwicklungsgeschichtliche Anwendung
dieser Kategorien auf dem Feld der
Dichtung vorläufig noch zu vertagen
sei.
An Schwierigkeiten und Gefahren ist
überhaupt kein Mangel, wenn man sich
entschließt, Wölfflins Kategorien auf
die Dichtkunst anzuwenden. Doch diese
Hemmnisse sollten keinen abhalten, den
notwendigen und gewinnbringenden
Weg zu gehen. Es ist unbedingt nötig,
schärfere und genauere Begriffe für die
Bestimmung der Darstellungsmöglich'
keiten dichterischen Schaffens zu ge¬
winnen. Ich möchte hier nicht die
Gründe wiederholen, die für eine Er¬
weiterung und Vertiefung der begriff¬
lichen Forschung innerhalb des Um¬
kreises der Dichtung sprechen. Gründe,
die ich schon mehrfach darzulegen ver¬
sucht habe.
Selbstverständlich lassen sich alle
fünf Begriffspaare Wölfflins nicht ohne
weiteres auf die Dichtkunst übertragen.
In dem Aufsatze des Shakespearejahr¬
buchs beschränkte ich mich überhaupt
auf den Gegensatz des Tektonischen
und des Atektonischen, also der ge¬
schlossenen und der offenen Form. Ihn
zu nutzen, liegt nahe genug. Denn
längst ist es geläufig, von Architektur
der Dichtung zu reden. Daher bietet
sich eine genaue Scheidung zweier Mög¬
lichkeiten der Baukunst von selbst an,
wenn verschiedene Darstellungsarten
dichterischer Baukunst bestimmt wer¬
den sollen. Die Gegensätze von Viel¬
beit und Einheit, von Klarheit und Un¬
klarheit sind auch in Wölfflins eigen¬
artiger Fassung immer noch unschwer
iu der Welt der Dichtung erkennbar.
Zugegen sträubt sich das Paar Fläche
un d Tiefe gegen gleiche Anwendung.
Auch der Gegensatz des Linearen und
Malerischen ist nicht so glatt auf die
Dichtkunst zu übertragen, wie es auf
den ersten Blick scheinen mag. Gewiß
zeichnet ein Dichter seine Gestalten in
scharfumrissenen Linien, ein anderer
läßt sie nur durch ihre malerischen
Züge wirken. Aber beiden stehen in
großer Anzahl Dichter gegenüber, die
weder das eine noch das andere tun. So
gefaßt, läßt das gegensätzliche Begriffs-
paar nicht die zwei polaren Möglich¬
keiten dichterischer Darstellung erken¬
nen, sondern nur zwei Möglichkeiten,
neben denen andere bestehen.
Überhaupt heißt es sich wohl hüten,
auf Werke der Dichtkunst Begriffe bil¬
dender Kunst in einer Weise anzuwen¬
den, die — wie man gesagt hat — nur
Stimmungsvergleichen entstammt. Be¬
kanntlich sprach sich Meumann gegen
die Aufstellung eines Begriffs „Rhyth¬
mus der Baukunst“ aus; er meinte in
ihm nur eine Vermengung ästhetischer
Kategorien zu erblicken. Schmarsow
und seine Schüler hatten genug Mühe,
den Begriff des Rhythmus der Bau¬
kunst gegen Meumanns Einwürfe zu
halten. Sie suchten zu beweisen, daß
er im eigentlichen und nicht im über¬
tragenen Sinn gebraucht werden dürfe.
Ich drücke den Sachverhalt möglichst
schlicht aus. Zu prüfen ist, wieweit
Begriffe der bildenden Kunst in der
Dichtkunst, wieweit Begriffe der Dicht¬
kunst in der bildenden Kunst tatsäch¬
lich Darstellungsgegensätze ausdrücken,
wieweit eine gewisse Ähnlichkeit be¬
steht, die Verwandtschaft etwa eines
Gegenstandes mit seinem Bilde, eine
Beziehung von gleichnishafter Art.
Kann in solchem strengeren Sinn von
Linearem und Malerischem, ja von Tek¬
tonischem und Atektonischem in der
Dichtkunst geredet werden? Die Gegen¬
überstellung, auf der sich Wölfflins
Kategorien aufbauen, ist der Gegensatz
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O. Walzel, Wölfflins „Kunstgescbichtliche Grundbegriffe
720
von Tastbild und Sehbild. Das Sehbild
fordert das Malerische, das Atektoni-
sche, es kann die Tiefe erkennen lassen,
drängt zur Vereinheitlichung und dul¬
det Unklarheit. Umgekehrt verhält sich
das Tastbild. Weder Tast- noch Seh¬
bilder werden von der Dichtkunst ge¬
boten. Allein für die Gegensatzpaare
linear und malerisch, dann tektonisch
und atektonisch kommt noch anderes
in Betracht. Sie wurzeln in den drei
verschiedenen Arten bildender Kunst,
sie stellen einer Malerei, die vorzüglich
mit malerischen Mitteln arbeitet, eine
Malerei gegenüber, die sich Wirkungen
^ ler Plastik oder der Baukunst zueignet.
Ebenso tritt neben eine Plastik, die nur
Plastik sein will, eine Plastik, die noch
•ins Malerische übergreift, neben reine
Baukunst eine Baukunst, die gleichfalls
malerische Wirkungen sucht Noch fei¬
ner ließe sich das verästeln. Das Li¬
neare in der Malerei geht auf eine Ma¬
lerei, die etwas von Zeichnung der Um¬
risse plastischer Gestalten an sich hat.
Zeichnung kann aber auch auf Linea¬
res verzichten und malerische Mittel
anwenden.
Wollte man in gleicher Weise die
Darstellungsmöglichkeiten der Dicht¬
kunst sondern, so könnte wie dort die
Dreiteilung Malerei, Plastik und Bau¬
kunst hier die Dreiteilung Epos, Lyrik
und Drama verwendet werden. Es liefe
dann hinaus auf eine Unterscheidung
reiner Epik von lyrischer oder dramati¬
scher Epik, reiner Lyrik von epischer
und dramatischer und so fort Das sind
Begriffe, mit denen längst gearbeitet
wird. Gefördert würde die Erforschung
der Begriffe durch diese Methode nur
wenig. Und zwar um so weniger, als
die Gegensätze Epos, Lyrik und Drama
sich durchaus nicht so leicht und ein¬
deutig voneinander lösen wie die Gegen¬
sätze Malerei, Plastik und Architektur.
Gibt es doch viele, die der ganzen Ein¬
teilung der Poesie in Epos, Lyrik und
Drama den Krieg ansagen. Übergänge
finden natürlich auch zwischen den drei
Arten der bildenden Kunst statt. Aber
keiner wird in einem Gemälde wohnen
wollen. Und Plastik ist nicht bloß mit
Farben auf einer Fläche zu erzielen.
Die Dichtkunst gestattet indes noch
andere Unterteilungen. Tastbild und Seh¬
bild. Haptisches und Optisches treffen
innerhalb der bildenden Kunst aufein¬
ander. Ebenso begegnen sich innerhalb
der Dichtung Akustisch-Musikalisches
und Wortinhalt. Etwas, das auf unsere
Sinne wirkt, und etwas, das uns den
Sinn der Worte vermittelt, vereinigt
sich in der Wortkunst. Die eine Rich¬
tung der Poesie arbeitet stärker mit der
sinnlichen, die andere mit der Sinnes¬
wirkung. Die eine greift hinüber ins
Feld der Musik, die andere dämpft die
akustische Macht des Wortes.
Wiederum liegt eine Scheidung vor,
deren wir uns längst bedienen. Sie ist
manchem Bedenken nicht ausgesetzt,
das sich bei einer Scheidung in Epi¬
sches, Lyrisches und Dramatisches rasch
einstellt Dafür leidet die eine wie die
andere Scheidung an einem ähnlichen
Übelstand wie Wölfflins Kategorien.
Auch hier, und zwar beidemal, ersteht
eine Gruppe eigentlicher und eine
Gruppe uneigentlicher Leistung. Einmal
erscheint neben reiner Epik, reiner Ly¬
rik, reinem Drama lyrische und drama¬
tische Epik, epische und dramatische
Lyrik, episches und lyrisches Drama.
Das andere Mal steht neben reiner Dich¬
tung die musikalische Poesie. Genau so
bieten Wölfflins Kategorien neben rei¬
ner, d.h. malerischer Malerei, und neben
reiner, d. h. tektonischer Baukunst noch
tektonische Malerei und malerische Bau¬
kunst Das Gefährliche solcher Begriffs¬
bildung kam oben zur Geltung. Es
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O. Walzel, Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
722
erschwert, gleichwertige, künstlerisch
ebenbürtige Gegensätze zu bezeichnen.
Der Gefahr entgeht, wer die Eintei¬
lungsgründe aus einer anderen Kunst
holt. Die Scheidung musikalischer und
plastischer oder plastischer und pitto¬
reske!* Poesie führt zu durchaus gleich¬
wertigen Begriffen. Allerdings sind
auch diese Gegenüberstellungen längst
im Brauch.
Schiller gab seiner Gegenüberstellung
musikalischer und plastischer Dichtung
die volle Schärfe genauer Begriffsbil¬
dung. Bildend oder plastisch nennt er
eine Dichtkunst, die einen bestimmten
Gegenstand nachahmt (man stoße sich
nicht an dem Wort und ersetze es un¬
bedenklich durch: darstellt); musika¬
lisch war für ihn die Dichtkunst, die
bloß einen bestimmten Zustand des Ge¬
müts hervorbringt, ohne dazu eines be¬
stimmten Gegenstandes nötig zu haben.
Nicht bloß, was in der Poesie wirklich
und dem Stoffe nach Musik ist, sondern
alle Wirkungen, die von der Poesie
wachgerufen werden, ohne daß die Ein¬
bildungskraft unter der Herrschaft eines
bestimmten Gegenstandes wäre, nannte
Schiller musikalisch. Wesentlich anders
ist das gedacht als die oben durch¬
geführte bloße Trennung des Musikali¬
schen und Nichtmusikalischen innerhalb
der Dichtkunst.
Wilhelm Schlegel stützte seine Ent-
gegenstellung von Plastisch und Pitto¬
resk ausdrücklich auf die Beobachtung
des Lieblings der Romantiker, des Hol¬
länders Franz Hemsterhuis: die neue¬
ren Bildhauer seien zu sehr Maler, die
alten Maler zu sehr Bi Idhauer. Antike und
moderne bildende Kunst treten da zu¬
einander in Gegensatz. Wilhelm Schle¬
gel führt den Gedanken weiter. Den
Alten ist in allen ihren Kunstwerken die
Reinheit und Strenge der Absonderung,
die Einfachheit, die Beschränkung auf
das Wesentliche, die Isolierung, das Ver¬
zichtleisten auf materielle Reize eigen,
durchaus Züge, die im Wesen der Pla¬
stik liegen. Die Neueren suchen wie die
Malerei den Schein, die lebendige Ge¬
genwart und begleiten den Hauptgegen¬
stand ihrer Darstellung mit Ausblicken
ins Unendliche. Schon diese Ausführun¬
gen der Berliner Vorlesungen Schlegels
vom Winter 1801/02 tragen die Anti¬
these des Hemsterhuis aus der Welt der
bildenden Künste hinaus in die gesamte
Weite aller Kunstbetrachtung, wenden
sie mithin auch auf Dichtkunst an. Noch
unzweideutiger bekunden das die Wie¬
ner Vorlesungen von 1808. Sie erklären
bündig: der Geist der gesamten antiken
Kunst und Poesie ist plastisch, der
Geist der modernen pittoresk.
Beidemal deutet Schlegel auch an,
Rhythmus und Melodie seien der herr¬
schende Grundsatz der antiken, Harmo¬
nie der Grundsatz der modernen Musik,
Aber er macht nicht Ernst mit dem Ver¬
such, die alte Kunst und Poesie als
rhythmisch-melodisch, die neuere als
harmonisch zu bezeichnen. Immerhin
eröffnet sich da eine Möglichkeit, neben
die Gegensatzpaare von Schiller und
von Hemsterhuis-Schlegel noch ein drit¬
tes zu setzen und es im Sinn Wölfflins*
für die Darstellungsmöglichkeiten der
Dichtkunst zu verwerten. Auch dieses
dritte Paar, das aus der Musik stammt,
erlaubt gleichwertige Begriffe zu bil¬
den. Rhythmisch-melodische Dichtung
stellt sich ebenbürtig neben harmonische.
Wichtiger ist mir, daß zwar nicht
Schillers Begriffspaar, wohl aber das
von Schlegel überhaupt genau zusam¬
mentrifft mit Wölfflins Paar des Li¬
near-Tektonischen und Malerisch-Atek-
tonischen. Schlegels und Wölfflins Be¬
griffe stammen aus der Betrachtung:
und aus der Fachsprache der bildenden
Kunst. Wölfflin wendet sein Paar nur
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0. Walzei, Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
724
auf bildende Kunst an, Schlegel auch
auf Dichtkunst. Der Romantiker ist mit¬
hin Gewährsmann für jeden, der heute
wagt, Wölfflins Begriffe aus der bilden¬
den Kunst in die Dichtkunst zu über¬
tragen. Welche Vorteile sich ergeben,
wenn an eine Kunst Begriffe gewendet
werden, die aus einer anderen stam¬
men dürfte nachgerade klargestellt sein.
Brauche ich noch hinzuzufügen, daß
Wölfflin die Scheidung des Pittoresken
und Plastischen ganz ungemein verfei¬
nert und verschärft? Daß er an die
Stelle einer gelegentlichen, aber nichts
-weniger als folgerichtig durchgeführten
Beobachtung strenge Systematik und
umfassende Anwendung des Systems
setzt?
Schillers Zweiteilung ergänzt indes
nicht nur Schlegels, auch Wölfflins Ka¬
tegorien, und zwar gerade an der Stelle,
die sich oben als ergänzungsbedürftig
erwies. Klopstock ist nach Schiller der
ausgesprochenste Vertreter der musika¬
lischen Poesie. Klopstock ist — mit
Wölfflin zu sprechen — atektonisch,
nimmt Unklarheit für sich in Anspruch
wie ein gutes Recht und verzichtet von
Grund aus auf die Fülle der Einzelhei¬
ten des antiken Epos, um alles zu einer
Einheit im Sinn Wölfflins zusammen¬
zudrängen. Von entscheidender Wich¬
tigkeit ist, wie sich in ihm die bezeich¬
nenden Züge fast der ganzen einen Ty¬
penreihe Wölfflins zusammenfinden.
Aber er ist weder linear noch malerisch
in einem strengeren Sinn des Worts.
Ihm liegt Vergegenwärtigung des Ge¬
genständlichen überhaupt nicht Ganz
anders verhält sich Shakespeare, der ja
meines Erachtens gleichfalls der atek-
tonischen Richtung angehört. Da hilft
Schiller weiter. Klopstock und Shake¬
speare stehen sich wie musikalische
und plastische Poesie gegenüber. Und
zwar in eigentlicher Bedeutung des
Worts. Schlegels Antithese des Plasti¬
schen und Pittoresken könnte auf den
Gegensatz von Shakespeare und Klop¬
stock kaum anders als im Sinn eines
Stimmungsvergleichs angewendet wer¬
den. An die tatsächlichen Darstellungs-
gegensätze beider Dichter reicht das
Begriffspaar Schlegels nicht heran.
Ich möchte nicht weitergehen und
aus dieser raschen Musterung ästheti¬
scher Begriffe gleich eine Ergänzung
Wölfflins ableiten. Mir genügt es vor¬
läufig. den Weg anzudeuten, der auf
dem Feld der Dichtung mit Wölfflins
Fingerzeigen über Wölfflin hinausführt
Durchaus sei die Möglichkeit zugege¬
ben, daß die Dichtkunst noch andere
Typen umfaßt die mit Wölfflins Typen
verwandt sind, aber für die bildende
Kunst nicht in Betracht kommen. Fritz
Strichs Beitrag zu der Festschrift für
Franz Muncker, die vor kurzem unter
der Überschrift „Abhandlungen zur deut¬
schen Literaturgeschichte“ hervortrat,
arbeitet mit Schlegels Typenpaaren und
bewegt sich dabei gleichfalls auf der
Bahn weiter, die von Wölfflin eröffnet
wird. Ob Wölfflin selbst durch diese
Weiterführungen sich gefördert fühlt,
mag dahinstehen. Niemand wird ihm
zumuten, daß er seine Typenpaare er¬
gänzen soll aus den Weiterbildungen,
die sich innerhalb der Dichtkunst seinen
Nachfolgern ergeben. Wir können nicht
besser ihm nachstreben, als wenn wir
gleich ihm die wahren Darstellungsmit¬
tel einer Kunst zu finden suchen. Glückt
es indes wirklich, die Darstellungsmit¬
tel der Dichtkunst näher zu bestimmen,
als es bisher der Fall war, so ist damit
noch gar nichts geleistet für die Erwei¬
terung unserer Kenntnis der Darstel¬
lungsmittel bildender Kunst; sie sind
von Wölfflin in unvergleichlich er¬
schöpfender Weise erforscht worden.
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725
J. Benrubi, Gibt es eine nationale Philosophie?
726
Der Wunsch, den bei der ersten und
vorläufigen Auseinandersetzung seiner
Typenlehre in einem Vortrag vom 7. De¬
zember 1911 Wölfflin der Berliner Aka¬
demie vorlegte, wird freilich zunächst
sich noch nicht erfüllen lassen. Die pe¬
riodische Wiederholung der Entwick¬
lung, die er an der bildenden Kunst
aufgezeigt hatte, wollte er damals auch
an der Musik und an der literarischen
Auffassung der Welt dargetan sehen.
Ich glaube, so weit sind wir noch lange
nicht. Um so nötiger scheint mir, nicht
bloß seine Typensystematik auf die
Dichtkunst anzuwenden, sondern vor
allem von ihm zu lernen, wie Typen bei
der Betrachtung einer längeren Reihe
von Kunstwerken zu nutzen sind. Schil¬
lers und Schlegels Gegensatzpaare sind
schon recht alt. Doch noch hat keiner
versucht, die Darstellungsmöglichkei¬
ten, die sich aus diesen Gegensätzen
für den Dichter ergeben, festzulegen
und ihre Bedeutung an einer Gruppe
oder an mehreren Gruppen von Dich¬
tungen zu prüfen. Auf dem Gebiet der
bildenden Kunst ist nach dieser Rich¬
tung Wölfflin zuerst über Schlegels
Antithese hinausgegangen. Jetzt stellt
sich die Aufgabe, nach Wölfflins Vor¬
bild Gleiches und Verwandtes für die
Dichtkunst zu leisten. Und wenn mei¬
nes Erachtens weitergreifende entwick¬
lungsgeschichtliche Erwägungen dabei
vorläufig noch unterlassen werden sol¬
len, so wäre desto dringender zu wün¬
schen, daß der künftige Darsteller dich¬
tungsgeschichtlicher Grundbegriffe eine
ebenso geschlossene Reihe von Beispie¬
len, einen ebenso entscheidenden und
erhellenden Fall zur Voraussetzung und
zum Gebiet seiner Erkundungen mache,
wie es auf dem Feld der bildenden
Kunst durch den Gegensatz von Hoch¬
renaissance und Barock ermöglicht wird.
Gibt es eine nationale Philosophie?
Von J. Benrubi.
Fast gleichzeitig sind während des
Krieges zwei Schriften erschienen, die
für das gegenwärtige Zeitalter in hohem
Grade charakteristisch sind, und zwar
namentlich deshalb, weil sie aus der
Feder von hervorragenden Vertretern
des Geisteslebens der Kriegführenden
herrühren; ich meine W. Wu n d t s „Die
Nationen und ihre Philosophie“ (Leip¬
zig 1915, Kröner) und H. Bergsons
„La Philosophie frangaise“ (Paris 1915,
Larousse). Obgleich beide Schriften ein
patriotisches Ziel verfolgen, so kämpfen
die Verfasser darin für Überzeugungen,
die sie auch vor dem Kriege vertreten
haben, so daß wir etwas mehr als bloß
vorübergehende Dokumente des „Burg¬
friedens“ oder der „union sacrfee“ er¬
blicken dürfen. Es sei uns zunächst ge¬
stattet, die Grundtendenzen und -thesen
beider Schriften kurz zu charakteri¬
sieren.
I.
Wundt geht von der Annahme aus,
daß allerdings in den Einzelwissen¬
schaften der rege Verkehr zwischen den
Nationen die Unterschiede in den Hin¬
tergrund dränge, neben der Dichtung
aber als Ausdruck des geistigen Cha¬
rakters der Nationen in erster Linie die
Philosophie stehe, ja daß auf dem Ge¬
biete der Philosophie zwischen den Kul¬
turvölkern ein Kampf der Geister ge¬
führt werde, im stillen zwar, aber des¬
halb doch zuweilen mit nicht geringe¬
rer Erbitterung wie der Kampf derWaf-
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727
J. Benrubi, Gibt es eine nationale,Philosophie?
728
fen, so daß Fichtes Wort: „Die Philo¬
sophie, die man hat, zeigt, was für ein
Mensch man ist,“ sich vor allem auch
auf die Nationen anwenden lasse. Um
diese Überzeugung durchzuführen, cha¬
rakterisiert Wundt vier nationale Typen
der Philosophie der Neuzeit: den italie¬
nischen, den französischen, den engli¬
schen und den deutschen. Beschranken
wir uns auf die Betrachtung der drei
letzten Typen.
Descartes, sofern er Dogmatiker
und Skeptiker zugleich ist, ist nach
Wundt der vollendete Typus des fran¬
zösischen Geistes. Descartes’ Philo¬
sophie ist eine merkwürdige Mischung
kühner, von dem Geiste der neuen Na¬
turwissenschaft getragener Hypothesen
mit Entlehnungen aus der älteren, kirch¬
lichen Philosophie. Als Klassiker der
Philosophie kann Descartes uns heute
nur noch insofern gelten, als er die Pro¬
bleme, die die folgende Zeit bewegen,
gestellt, nicht weil er sie gelöst hat
Als andere sprechende Beispiele für das
Schwanken zwischen Dogma und Skep¬
sis führt Wundt an: Bayle, Voltaire und
Diderot Männer wie Pascal und Male¬
branche übergeht er mit völligem Still¬
schweigen. Dagegen behandelt Wundt
in diesem Abschnitte einen Denker wie
Spinoza, obgleich er zugibt, daß der
portugiesische Jude von Amsterdam
keiner Nation und allen zugleich ange¬
hört und daß das spinozistische System
keine bloße Weiterbildung der cartesia-
nischen Philosophie ist sondern ein
Werk aus einem Gusse, ganz aus der
schöpferischen Genialität seines Urhe¬
bers hervorgegangen, denn es ist zu¬
gleich die zu einem Ganzen verschmol¬
zene Synthese der großen Gedanken¬
strömungen der Zeit an der die Völker,
die an dem Geistesleben dieser Zeit teil¬
nehmen, ihre Spuren erkennen lassen.
Als die einzige nennenswerte Weiter¬
führung des Cartesianismus in Frank¬
reich erwähnt Wundt den französischen
Materialismus des 18. Jahrhunderts, der
außerdem zum Teil in dem englischen
Freidenkertum wurzelt Ist Descartes
also der erste der führenden Philoso¬
phen Frankreichs gewesen, so ist er
aber im Grunde auch der letzte geblie¬
ben, meint Wundt Was Comte anlangt
so kann er nicht in Betracht kommen.
Seine Hauptgedanken hat er älteren so¬
ziologischen Schriftstellern, einem Tur-
got d’Alembert, Saint-Simon entnom¬
men. Wo schließlich in neuerer Zeit
in Frankreich Versuche philosophischer
Gedankenbildung hervorgetreten sind,
da stützen sie sich entweder auf aus¬
wärtige Systeme, oder sie sind, beim
Lichte besehen, moderne Umformungen
des cartesianischen Dualismus. So z. B.
Bergson, bei dem Entlehnungen aus der
deutschen Philosophie nachweisbar sind.
Was die Moral von Männern wie Fouil-
16e und Guyau anlangt die Wundt als
die beiden bedeutendsten Philosophen
Frankreichs aus der jüngsten Zeit be¬
zeichnet, so kann auch hier von einem
echten Idealismus nicht die Rede sein,
da namentlich für Guyau die mensch¬
liche Gemeinschaft nur aus der Summe
der einzelnen besteht
Ein viel einheitlicheres Bild entwirft
Wundt von der englischen Philoso¬
phie. Locke ist nach ihm einer der grö߬
ten philosophischen Klassiker Englands.
Bacon und Hobbes, Berkeley und Hume
überragen ihn weit an genialer Intuition
und eindringendem Scharfsinn, keiner
ist wie er der vollendete Typus des
englischen Geistes in der Eigenart wie
sie zum Teil erst in dem Zeitalter, dem
er angehört sich gestaltet hat und
keiner hat wie er auf das englische
Denken der kommenden Zeit gewirkt
Theoretisch ein auf die sinnliche Erfah¬
rung gegründeter Realismus, praktisch
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729
J. Benrubi, Gibt es eine nationale Philosophie?
730
ein durch den Egoismus geleiteter Utili¬
tarismus, daneben, außerhalb der Philo¬
sophie liegend, aber zur Befriedigung
der Glaubensbedürfnisse unentbehrlich,
die durch die Heilige Schrift vermittelte
Offenbarung — darin ist vor andern
John Locke ein treuer Ausdruck des
englischen Geistes. Andererseits kann
aber Wundt nicht umhin, Männern wie
Berkeley, Hume, Shaftesbury und J. St.
Mill eine gewisse Ausnahmestellung
innerhalb des englischen Denkens zuzu¬
weisen. So gilt Berkeley die psychische,
die innere Erfahrung als die allein wirk¬
liche, und seine Philosophie widerstrebte
durch den Idealismus, in den sie einmün¬
det, und durch den Versuch, Philosophie
und Religion zu verbinden, der allgemei¬
nen Richtung des englischen Denkens.
Ferner ist Hume unabhängig sowohl von
der Tradition des englischen dogmati¬
schen Empirismus als auch von dem
konventionell gewordenen Verhältnis
zur Religion. Dieser Abweichung von
der allgemeinen englischen Art ist vor
allem der Einfluß zu verdanken, den
Hume auf die anderen Nationen, na¬
mentlich auf die deutsche, ausgeübt hat
Shaftesbury, bemerkt Wundt, ist der
erste gewesen, der sich aus den Banden
der Reflexionsmoral und des mit dieser
eng verbundenen äußerlichen Utilitaris¬
mus befreite, um auf das harmonische
Gleichgewicht egoistischer und sozialer
Gefühle im Gemüt des sittlichen Men¬
schen seine Ethik zu gründen. John
Stuart Mill, der weitherzigste unter den
Schülern Benthams, nimmt nach Wundt
insofern eine Ausnahmestellung inner¬
halb der englischen Philosophie ein, als
er das Utilitätsprinzip durch den Altru¬
ismus Comtes und dessen Ableitung aus
dem Sympathiegefühl nach dem Vor-
bilde Humes zu ergänzen gesucht hat.
Aber trotz dieser Ausnahmen kann die
englische Philosophie namentlich mit
Rücksicht auf die Moral im großen und
ganzen als die Philosophie derGesättig-
ten bezeichnet werden. Als die letzte
Entwicklungsphase der englischen Mo¬
ral bezeichnet Wundt den utilitarischen
Egoismus, wie er vornehmlich in der
Ethik H. Spencers zum Ausdruck
kommt.
Die deutsche Philosophie unter¬
scheidet sich nach Wundt von Grund
aus sowohl von der französischen als
auch von der englischen Philosophie.
Oberhaupt ist ihm der Begriff deutsche
Philosophie identisch mit „deutschem
Idealismus". Da nämlich die Entwick¬
lung der deutschen Philosophie in
engem Anschluß an die deutsche Refor¬
mation erfolgt so ist es begreiflich, daß
in ihr von frühe an die religiösen und
die mit ihnen eng verbundenen meta¬
physischen Probleme im Vordergrund
stehen, und daß von da aus ein uni¬
versalistischer Zug der deutschen
Philosophie eigen geblieben ist Der
vollendetste Repräsentant dieser typi¬
schen Richtung des deutschen Geistes
ist Leibniz. Die Tatsache, daß Leibniz
vom deutschen und englischen Geistes¬
leben stark beeinflußt worden ist daß
er seine wichtigsten Werke französisch
geschrieben hat und daß seine Inter¬
essen, trotz seinem Patriotismus, über
die Nation hinausgingen, darf uns nicht
verführen, ihn auch dem Geiste nach
für einen internationalen Philosophen
zu halten. Die „Monadologie", fügt
Wundt hinzu, ist eine echt deutsche
Schöpfung, in der sich die strenge Lo¬
gik des Gedankenaufbaus mit einem Zug
alter deutscher Mystik zu einem harmo-
schen System verbindet; und die in den
„Nouveaux Essais" geführte Polemik
mit Locke bildet in ihrer dialogischen
Form ein so lebendiges Bild der natio¬
nalen Gegensätze des Denkens, wie es
die Folgezeit nicht wieder hervorge-
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731
J. Benrubi, Gibt es eine nationale Philosophie?
732
bracht hat Obgleich Leibniz franzö¬
sisch geschrieben hat ist daher gerade
der Gedankeninhalt seiner Philosophie
den Franzosen fremd geblieben. In¬
dessen muß Wundt zugeben, daß auch
in Deutschland die Wirkung Leibnizens
auf die Folgezeit zunächst eine be¬
schränkte und einseitige war, und daß
die deutsche Aufklärung, die wesentlich
vom Cartesianismus und von dem eng¬
lischen Empirismus beeinflußt wurde,
kein Verständnis für die Leibnizische
Philosophie besaß. Die eigentlich natio¬
nale Entwicklung der Philosophie be¬
ginnt erst mit Kant Gewiß leugnet
Wundt nicht den Einfluß, den Männer
wie Rousseau und Hume auf Kant aus-
geübt haben. Aber hier tritt nun die be¬
deutsame Wendung ein, daß die Kritik,
die Hume gegen die alte dogmatische
Philosophie gerichtet, bei Kant zugleich
eine Gegenkritik herausfordert welche
die empirisch-psychologische Stellung,
die Hume den Problemen der Erkennt¬
nis wie der Moral gegenüber einnimmt,
als unzulänglich nachweist Am kräftig¬
sten kommt der nationale Charakter der
deutschen Philosophie in der Ethik zum
Ausdruck, da hier die Idee der Pflicht
im Vordergrund steht. So liegt die Be¬
deutung der Kantischen Ethik in der
Loslösung der Moral von der Reflexion
über nützlich und schädlich und damit
von jeder Art von Eudämonismus. Den
Gedanken einer die einzelne Persönlich¬
keit als letztes Glied umfassenden sitt¬
lichen Welt zur Geltung gebracht und
damit die von Kant geforderte, aber bei
ihm subjektiv beschränkte Autonomie
des Sittlichen durchgeführt zu haben,
ist das Verdienst des nachkantischen
deutschen Idealismus. Indem anderer¬
seits dieser Idealismus den Allgemein¬
willen Kants in seiner wahren Bedeu¬
tung und in seinem Unterschied von
dem Einzelwillen erkannt hat, hat er
der Gemeinschaftsethik, die für Wundt
die wahre Ethik ist, eine unerschütter¬
liche Grundlage gegeben. Einen Mann
wie Fichte würdigt Wundt vor allem
als den Vertreter nationaler Denkart.
Die „Wissenschaftslehre“, meint er, wird
längst vergessen sein oder doch nur als
eine überlebte Gedankenkonstruktion
von der Geschichte der Philosophie
weitergeführt werden. „Die Bestimmung
des Menschen“, die „Grundzüge des
gegenwärtigen Zeitalters“ und die „Re¬
den an die deutsche Nation“ aber wer¬
den fortbestehen, solange es ein deut¬
sches Volk gibt. Als den grundlegen¬
den Gedanken der Hegelschen Philoso¬
phie betrachtet Wundt, neben der Vor¬
aussetzung einer strengen, den Tat¬
sachen selbst immanenten Gesetzmäßig¬
keit der geistigen Welt, die Erkenntnis,
daß der Wille der Knotenpunkt ist, der
das geistige Leben der individuellen
Persönlichkeit mit dem des geistigen
Universums verbindet Was den von
Hegel ausgegangenen deutschen „Mate¬
rialismus“ anlangt wie er von L. Feuer¬
bach, Büchner und Moleschott vertreten
wurde, so läßt sich allerdings nicht
leugnen, daß er das Seine tat, um dem
deutschen Idealismus den Untergang zu
bereiten; aber im Grunde, meint Wundt,
sind auch die deutschen Materialisten
in hohem Grade praktische Idealisten,
namentlich die Monisten mit Hackel an
der Spitze. Auch Schopenhauer ist für
Wundt insofern ein Vertreter des deut¬
schen Idealismus, als er im Leben wie
in der Moral energisch den landläufigen
Eudämonismus und Utilitarismus be¬
kämpft hat Ungefähr dasselbe gilt von
Nietzsche, der dadurch, daß er den vul¬
gären Eudämonismus energisch be¬
kämpfte, vielleicht ohne es selbst za
wissen, den deutschen Idealismus seiner
Wiedergeburt entgegengeführt hat In
Wirklichkeit sei dann mit dem Ausbruch
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733
J. Benrubi, Gibt es eine nationale Philosophie?
734
des Krieges der deutsche Idealismus
wiedererstanden, auch bei solchen, denen
er in einer langen Friedenszeit verloren¬
gegangen war. Er regt sich als der
Idealismus der Tat in der Seele des ge¬
meinen Mannes, der nichts von Philoso¬
phie weiß, wie in der des Gebildeten,
der sich vielleicht in allen Systemen
umgesehen und von keinem befriedigt
gefunden hat.
II.
Die patriotische Tendenz kommt auch
in der Abhandlung Bergsons mit
großer Deutlichkeit zum Ausdruck. Berg¬
sons Absicht ist nicht etwa, die Über¬
legenheit der von ihm bevorzugten phi¬
losophischen Anschauungen hervortre¬
ten zu lassen. Vielmehr will er nach-
weisen, daß es eine französische Philo¬
sophie gibt, die sich von derjenigen
aller anderen Völker wesentlich unter¬
scheidet. Die Rolle Frankreichs in der
Entwicklung der modernen Philosophie
ist nach Bergson völlig klar: Frank¬
reich ist der große Bahnbrecher gewe¬
sen. Allerdings sind auch anderswo ge¬
niale Philosophen aufgetaucht, nirgends
aber hat es, wie in Frankreich, ununter¬
brochene Kontinuität ursprünglicher
philosophischerSchöpfung gegeben. Die
ganze moderne Philosophie rührt nach
Bergson von Descartes her, der Carte¬
sianismus aber verdankt nichts Wesent¬
liches dem Altertum und dem Mittel-
alter. Bergson zögert daher nicht, von
der Philosophie des Descartes dasselbe
zu sagen, was der Mathematiker und
Naturforscher Biot von dessen Geome¬
trie gesagt hat: „Prolos sine matre cre-
ata.“ Was die beiden großen metaphy¬
sischen Lehren anlangt, die im 17. Jahr¬
hundert außerhalb Frankreichs entstan¬
den sind, der Spinozismus und der
Leibnizianismus, so bezeichnet sie Berg¬
son, ohne Spinoza und Leibniz jede Ori¬
ginalität abzusprechen, als Kombinatio¬
nen des Cartesianismus mit der griechi¬
schen Philosophie. Aber nicht nur der
Rationalismus, sondern auch der Intui¬
tionismus hat in Frankreich seinen Ur¬
sprung: Pascal und Rousseau sind die
Bahnbrecher dieser zweiten großen Fun¬
damentaltendenz der Neuzeit. Nament¬
lich ist die Reform, die Rousseau auf
dem Gebiete des praktischen Denkens,
bewirkt hat, mit der Reform des Descar¬
tes auf dem Gebiete der reinen Speku¬
lation vergleichbar. Ferner ist Lamarck
der eigentliche Schöpfer des modernen
biologischen Evolutionismus, genau so,,
wie La Mettrie, Condillac usw. die
Bahnbrecher der heutigen physiologi¬
schen Psychologie sind. Namentlich
ist die „klinische“ Psychologie, sowohl
ihrem Ursprünge als auch ihrer Ent¬
wicklung nach, eine durch und durch
französische Wissenschaft. Vorbereitet
wurde sie durch die französischen Psy¬
chiater der ersten Hälfte des 19. Jahr¬
hunderts und endgültig begründet
durch Moreau de Tours. Comte und
Claude Bemard sind nach Bergson in¬
sofern die großen Bahnbrecher der Phi¬
losophie des 19. Jahrhunderts, als der
erste die Soziologie geschaffen hat,
während die „Introduction ä la möde-
dne expörimentale“ des zweiten für die-
konkreten Wissenschaften des Labora¬
toriums dieselbe Bedeutung gehabt hat,
wie der „Discours de la möthode“ von
Descartes für die abstrakten Wissen¬
schaften. Einer der größten Nachfolger
Comtes, H. Tajne, war der erste, der die
Methode der Naturwissenschaften auf
die verschiedenen Formen der geistigen
menschlichen Tätigkeit, also auf Litera¬
tur, Kunst und Geschichte, angewandt
hat. Anfang des 19. Jahrhunderts hat
ferner Frankreich den größten Metaphy¬
siker seit Descartes und Malebranche
hervorgebracht: Maine de Biran. Im
Gegensatz zu Kant, meint Bergson, hat
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735
J. Benrubi, Gibt es eine nationale Philosophie?
736
Biran gezeigt, daß die Erkenntnis, die
wir von uns selbst namentlich in dem
Geffihl der Anstrengung haben, eine Er¬
kenntnis höherer Art ist, die über die
bloße Erscheinung hinausgeht und die
Wirklichkeit „an sich" erfaßt. Auch
Lachelier, der sich selbst als Schüler
der deutschen Philosophie betrachtet,
geht in Wirklichkeit, meint Bergson,
über den Idealismus Kants hinaus, da
er einen Idealismus eigentümlicher Art
begründet, den man als die Fortsetzung
des Biranschen bezeichnen könnte. Sei¬
nen Lehrer Ravaisson bezeichnet Berg¬
son als einen gemeinsamen Schüler Pas-
cals und Birans und nebst Lachelier als
den hervorragendsten Vertreter der me¬
taphysischen Richtung der französischen
Philosophie des 19. Jahrhunderts. Audi
bei Renouvier kann nach Bergson von
einem entscheidenden Einflüsse der
deutschen Philosophie nicht die Rede
sein; denn obgleich er vom Kantischen
Kritizismus ausgegangen ist, hat er sich
immer mehr davon befreit und kam
schließlich zu Resultaten, die nicht sehr
entfeint vom metaphysischen Dogmatis¬
mus sind. Als einen anderen wichtigen
Aspekt der französischen Philosophie
des 19. Jahrhunderts charakterisiert
Bergson die Lehre der Kontingenz von
Boutroux. Endlich bezeichnet Bergson
sein eigenes Schaffen als einen Versuch,
die Metaphysik auf den Boden der Er¬
fahrung zu stellen, also mit Hilfe der
Wissenschaft und des Bewußtseins und
durch die Entwicklung des Intuitions¬
vermögens eine Philosophie zu begrün¬
den, die sich nicht damit begnügt, bloße
allgemeine Theorien zu konstruieren,
sondern vielmehr konkrete Erklärungen
der einzelnen Tatsachen zu liefern. Zum
Schlüsse geht Bergson einen Schritt wei¬
ter und versucht, die Überlegenheit der
französischen Philosophie hervortreten
zu lassen. Da sie nämlich stets bestrebt
war, in der Sprache aller Welt zu reden,
so ist sie nie das Privilegium einer Kaste
gewesen. Sie hat nie den Kontakt mit
dem gesunden Menschenverstand ver¬
loren. Die streng systematische Form
ist ihr im Prinzip fremd. Ferner ist sie
stets in Berührung sowohl mit der posi¬
tiven Wissenschaft als auch mit dem
Leben geblieben. Sie ist kein Produkt
künstlicher Abstraktionen. Das philoso¬
phische Bedürfnis ist in Frankreich all¬
gemein, es sucht alle Diskussion auf das
Gebiet der Ideen und Prinzipien zu brin¬
gen. Kurz, der französische Geist ist iden¬
tisch mit dem philosophischen Geiste.
III.
Überblicken wir unvoreingenommen
die obigen Charakteristiken, so werden
wir konstatieren müssen, daß sowohl
Wundt als auch Bergson das nationale
Moment zum höchsten Moment der Klas¬
sifizierung erheben und mithin zwischen
den Philosophen verschiedener Nationa¬
lität wirkliche chinesische Mauern kon¬
struieren. Die Tatsache, daß das, was
für Wundt weiß ist, Bergson als schwarz
bezeichnet, und umgekehrt, berechtigt
uns, glaube ich, in der Nationalisierung
der Philosophie eine Vergewaltigung
der Wirklichkeit zu erblicken. Gewiß,
niemand wird leugnen können, daß das
nationale Moment auch auf dem Gebiete
der Philosophie eine wichtige Rolle ge¬
spielt hat. Das Schaffen eines Denkers
wurzelt tief im Bewußtsein seines Vol¬
kes und seiner Zeit. Ein Descartes ist
undenkbar im Deutschland des 18. Jahr¬
hunderts, ebenso wie ein Kant im Frank¬
reich des 17. Jahrhunderts. Aber das
Nationale ist eben nur ein Merkmal,
unmöglich kann es uns den Schlüssel
des philosophischen Schaffens geben.
Die Wahrheit ist weder deutsch, noch
englisch, noch französisch usw., son¬
dern übernational, Gott ist ihre Heimat.
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Original from
INDIANA UNfVERSITY
737
J. Benrubi, Gibt es eine nationale Philosophie?
738
Höchstens kann man im griechischen
Altertum von einer nationalen Philoso¬
phie sprechen* und selbst das würde
nur mit vielen Einschränkungen gelten:
niemand wird z.B. leugnen können* daß
bei dem Entwicklungsgang eines Plato
nichtgriechische Einflüsse mitbestim¬
mend gewesen sind. Völlig falsch wäre
os dagegen» im Mittelalter von einer na¬
tionalen Philosophie zu reden: nicht
umsonst bezeichnet man eine Periode
von so vielen Jahrhunderten mit dem
Namen „Philosophie des Mittelalters",
indem man sich nur mit religiösen Ein¬
teilungen begnügt Was die Neuzeit an¬
langt so wird man allerdings zugeben
müssen, daß die nationalen Unterschiede
auf sämtlichen Gebieten der Kultur stär¬
ker als im Mittelalter zum Ausdruck
kommen. Aber das berechtigt uns nicht
im mindesten, die großen Denker der
Neuzeit lediglich mit Rücksicht auf ihre
Volks- und Staatsangehörigkeit durch
eine unüberbrückbare Kluft voneinander
zu trennen. Was Wundt von Spinoza
sagt l&ßt sich auf alle großen Denker
der Neuzeit anwenden: ihr Schaffen ge¬
hört keiner Nation und allen zugleich
an. Mehr oder weniger sind sie alle
von geistigen Strömungen verschiede¬
ner Zeiten und Völker beeinflußt so
daß manchmal zwischen zwei Denkern
verschiedener Nationalität eine viel grö¬
ßere innere Verwandtschaft besteht als
zwischen zwei Denkern derselben Na¬
tion. Es sei uns gestattet diese Bemer¬
kungen im folgenden durch einige kon¬
krete Beispiele zu veranschaulichen.
So ist zunächst Tatsache, daß die drei
Deutschen, die Wundt als die Träger
der Ideen bezeichnet die der neuen
Weltanschauung in allen Wendungen,
die sie erfuhr, ihr bleibendes Gepräge
gegeben haben: Nikolaus von Cues,
Nik. Kopernicusund Paracelsus,
in ihrer geistigen Entwicklung in hohem
Internationale Monatsschrift
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Grade von der Kultur des Auslandes
beeinflußt worden sind. Nikolaus von
Cues hat in Padua studiert und er
knüpft bewußt, außer an die deutsche
Mystik, an den Platonismus, den Pytha-
goreismus und den Neoplatonismus an.
Auch Paracelsus ist eine durch und
durch europäische Gestalt Im Kanton
Schwyz geboren, durchreiste er einen
großen Teil von Europa, studierte nicht
nur an deutschen Universitäten, sondern
auch in Frankreich, Italien, England,
Spanien usw„ so daß sein ganzes Den¬
ken von nichtdeutschen Elementen
durchtränkt ist. Endlich Kopernicus ist
polnischer Abstammung, er hat aus¬
schließlich an nichtdeutschen Universi¬
täten studiert (Krakau, Bologna, Padua
und Ferrara), namentlich stark ist er
von der italienischen Kultur beeinflußt.
Und wie steht es mit der späteren
Entwicklung der Philosophie in Deutsch¬
land? In bezug auf Leibniz wird gewiß
niemand den wohltuenden Einfluß der
deutschen Mystik und der deutschen
Reformation leugnen können. Ebenso¬
wenig läßt sich der Patriotismus und
die große Originalität Leibnizens in Ab¬
rede stellen. Aber andererseits wird
man bemerken müssen, daß die Leib-
nizsche Philosophie geradezu unver¬
ständlich ist ohne die Berücksichtigung
des Einflusses von Plato, Aristoteles,
dem Neoplatonismus und dem Carte¬
sianismus. Nicht minder sicher ist, daß
Leibniz dem Verkehr mit den hervor¬
ragendsten Gelehrten in Paris und in
London viel verdankt Wer weiß, ob er
zur Entdeckung der Unendlichkeitsrech¬
nung nicht erst durch die Vervollkomm¬
nung der Analyse des Descartes, durch
die Benutzung der Untersuchungen Pas-
cals und der Anregungen von Männern
wie Huyghens, Newton, Arnaud u. a.
gekommen ist? Auch bei Kant ist der
Einfluß des Geisteslebens des Auslands
24
OrigiGBl from
INDIANA UNIVERSITY
730
J. Benrubi, Gibt es eine nationale Philosophie?
740
in hohem Grade befruchtend gewesen.
Wundt selber gibt das in bezug auf
Hume und Rousseau zu. Nicht gering
zu schätzen aber ist auch der Einfluß
von Descartes, und man würde kaum
fehlgehen, wenn man behaupten wollte,
daß Kants Bestreben, in der Denktätig¬
keit die Grundbedingung aller Erkennt¬
nis zu suchen, direkt auf Descartes zu¬
rückzuführen ist Ebensowenig würde
man in Abrede stellen können, was die
anderen Vertreter des deutschen Idea¬
lismus nichtdeutscher Denkart sowohl
des Altertums und des Mittelalters als
auch der Neuzeit verdanken. Sind z. B.
nicht die großen Gedankensysteme des
nachkantischen Idealismus in Deutsch¬
land in hohem Grade bedingt durch den
Einfluß des griechischen Altertums
einerseits und des französischen Gei¬
steslebens des 18. Jahrhunderts anderer¬
seits? Ja; in gewissem Sinne ist die
Fortbildung des Kantischen Idealismus
vor allem diesem Einfluß zu verdanken.
Ist z. B. nicht Hegel gleichsam der
deutsche Aristoteles des 19. Jahrhun¬
derts? Und hat nicht Novalis den Ver¬
fasser der „Reden an die deutsche Na¬
tion" den deutschen Plotin genannt?
Nicht mit Unrecht hat ein deutscher Phi¬
losophiehistoriker von anderem Gesichts¬
punkte aus Fichte als den deutschen
Rousseau charakterisiert Es braucht
ferner kaum hervorgehoben zu werden,
daß Schopenhauer und Nietzsche nicht¬
deutschen geistigen Strömungen und
namentlich der „lateinischen" Kultur der
Neuzeit ungeheuer viel verdanken. Be¬
steht endlich nicht zwischen dem franzö¬
sischen Materialismus des 18. Jahrhun¬
derts und dem deutschen des 19. Jahr¬
hunderts eine viel größere innere Ver¬
wandtschaft, als etwa zwischen Kant
und Häckel, oder zwischen Leibniz und
Schopenhauer?
Noch viel weniger berechtigt ist das
Unternehmen, die sog. „f r a n z ö s i sehe“
Philosophie gleichsam unter eine
Glasglocke zu stellen und sie von der
Philosophie des Auslandes völlig abzu-
schließen. Was zunächst Descartes an-
belangt so wird man, ohne seine Ori¬
ginalität herabzusetzen und ohne den
großen Einfluß zu leugnen, den er auf
die ganze Philosophie der Neuzeit aus-
geübt hat, bemerken müssen, daß er
durch Vergleichung der verschiedenen
Anschauungen und Sitten unter ver¬
schiedenen Nationen und Parteien kam
und, außer von der Naturwissenschaft
seiner Zeit, stark von der Philosophie
des Altertums und des Mittelalters be¬
einflußt worden ist. Neuerdings hat
dies ein Franzose gründlich und un¬
widerleglich nachgewiesen 1 ). Wir hal¬
ten es daher für überflüssig, darauf hier
des näheren einzugehen. Ebensowenig
brauchen wir zu erörtern, inwiefern der
Entwicklungsgang des Cartesianismus
in Frankreich bis zum Ende des 18. Jahr¬
hunderts durch fremde, namentlich eng¬
lische Einflüsse mitbestimmt worden ist
Daß ein Mann wie Rousseau, den Berg-
son als den einflußreichsten französi¬
schen Denker seit Descartes bezeichnet,
kein Franzose, sondern Genfer ist und
mithin befruchtende Anregungen vom
germanischen, d. h. deutsch-schweize¬
rischen, englischen, ja deutschen Geiste
empfangen hat, das sei hier nur er*
wähnt Wir hoffen dies bei anderer
Gelegenheit ausführlich nachzuweisen.
Wohl aber können wir nicht umhin,
hier noch den entscheidenden Einfluß,
den die deutsche Philosophie auf d* e
französische im 19. Jahrhundert ans¬
geübt hat kurz anzudeuten.
Vor allem steht es fest daß Maine
de Biran, also der Mann, den Bergson
1) Gilson .La doctrine cartösienne de
la libertö et la thöologie“ (1913) und .Index
scolastico cartösien* (1912).
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Go», igle
Original from
INDIANA UNIVERSITY
741
J. Benrubi, Gibt es eine nationale Philosophie?
742
nicht mit Unrecht als den größten Me-
taphysiker bezeichnet, den Frankreich
seit Malebranche hervorgebracht hat,
in dem Kampfe gegen den Cartesianis¬
mus und namentlich gegen den Sensua¬
lismus seines Landsmanns Condillac,
die größte Förderung nicht so sehr
vom französischen als vom deutschen
Denken erhielt. Leibniz ist es, der ihm in
dieser Hinsicht die besten Waffen gelie¬
fert hat Birans Werk ist in seinem inner¬
sten Kern nicht, wie Bergson bedauer¬
licherweise im Namen des Patriotismus
behauptet, ein Antikantianismus, son¬
dern ein Antioondillacismus. Während
Biran in seinen Hauptschriften in der
schärfsten Weise gegen Condillac und
Genossen polemisiert, spricht er über¬
all, von einigen kritischen Bemerkungen
abgesehen, mit der größten Bewunde¬
rung von Leibniz. Es ist kennzeichnend,
daß Biran über keinen Franzosen eine
so enthusiastische WOrdigung veröffent¬
licht hat wie über Leibniz. Nicht minder
bemerkenswert ist es, daß Biran von
keinem Deutschen so energisch be¬
kämpft worden ist wie von Taine. Aber
nicht nur von Leibniz ist Biran beein¬
flußt worden, sondern auch von Kant
und Fichte, die er durch Frau v. Staöls
Weih „De l’Allemagne“ kennen lernte.
Namentlich ist er in seinem Unterneh¬
men, zwischen Moral und Metaphysik
einen engen Zusammenhang herzustel¬
len, in hohem Grade durch die deutsche
Philosophie ermutigt worden. Und nicht
mit Unrecht hat Cousin später Biran als
den französischen Fichte bezeichnet.
Mit noch größerem Rechte wird man
bezüglich der späteren Entwicklung der
Philosophie in Frankreich von einem
deutschen Einfluß sprechen dürfen, wo¬
neben natürlich der Einfluß der schot¬
tischen Philosophen nicht gering ge¬
schätzt zu werden braucht. So kann
man bei A. M. Ampöre von einem Ein-
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flusse der deutschen Philosophie inso¬
fern sprechen, als dieser hervorragende
Gelehrte meint, daß es hinter den Er¬
scheinungen wirkliche Realitäten gibt,
die er mit Kant als Noumenen bezeich¬
net. Sicher hat Ampöre, dank dem deut¬
schen Einfluss, viel zur Überwindung
des Sensualismus beigetragen. Sehr viel
verdankt namentlich der deutschen Phi¬
losophie der einflußreichste franzö¬
sische Philosoph des 19. Jahrhunderts,
V. Cousin. Er hielt Vorlesungen über
die deutsche Philosophie an der Sor¬
bonne, reiste viermal nach Deutschland
und lernte hier die namhaftesten Philo¬
sophen persönlich kennen. Durch seine
Vorlesungen über „Das Wahre, das
Schöne und das Gute“, die von deut¬
scher Philosophie durchtränkt sind, hat
er viel zur Wiedergeburt des Idealismus
in Frankreich beigetragen. Jedenfalls
hat seit Cousin die deutsche Philoso¬
phie in Frankreich Bürgerrecht erlangt.
Von dem besonderen Einflüsse von He¬
gels Philosophie der Geschichte hat ein
Franzose gesagt, daß seit 1829 in Frank¬
reich kein bedeutenderes Werk erschie¬
nen sei, das nicht die Spuren von
dessen Ideen in sich trägt Man wird in
der Tat wohl kaum einen namhaften
Vertreter der französischen Philosophie
des 19. Jahrhunderts anführen können,
der nicht direkt oder indirekt durch die
deutsche Philosophie beeinflußt wor¬
den wäre. Das ganze Schaffen des her¬
vorragendsten Vertreters des französi¬
schen Neokritizismus, Charles Renou-
vier, ist direkt auf Kant zurückzufüh¬
ren. Auf Kant gestützt, hat Renouvier
nicht nur den realistischen Materialis¬
mus energisch bekämpft, sondern auch
der Lehre der Willensfreiheit eine uner¬
schütterliche Grundlage gegeben. Eben¬
so ist der einflußreichste Lehrer der
Philosophie an der Ecole normale su-
pörieure, Jules Lachelier, ein begeister-
24*
Original fro-m
[ND1ANA UNIVERSITY
743
J. Benrubi, Gibt es eine nationale Philosophie?
744
ter Schüler Kants, obgleich er auch
von Aristoteles und von der franzö¬
sisch-schottischen Philosophie beein¬
flußt worden ist Mit Kant nimmt er an,
daß die Gesetze der Welt eigentlich nur
Forderungen des Denkens sind, und daß
das Gesetz der Körperwelt die geome¬
trische Kausalität ist Lachelier bekennt
sich offen zum Kritizismus, den er aller¬
dings unter dem Einflüsse Ravaissons
xu einem spiritualistischen Realismus
erweitert Felix Ravaisson selber geht
allerdings nicht unmittelbar von der
deutschen Philosophie aus. Aristoteles,
Plotin, Pascal und namentlich Biran
sind seine Hauptstützen. Aber abgesehen
davon, daß sein unmittelbarer Meister,
Biran, wie wir gesehen haben, stark vom
deutschen Geiste beeinflußt ist hat auch
er mächtige Anregungen von der deut¬
schen Philosophie empfangen, nament¬
lich vom „tiefen Leibniz" und vom „un¬
sterblichen Kant“, wie er diese Philoso¬
phie nennt und vonSchelling, den er in
München persönlich kennen lernte. Be¬
sonders sein spiritualistischer Realismus
erinnert stark an Schelling. Wieviel fer¬
ner Männer wie Taine und Renan deut¬
scher Wissenschaft und Philosophie ver¬
danken, ist ja allgemein bekannt Nach
Taines eigenem Geständnis gewährte
ihm die Lektüre der Hegelschen Schrif¬
ten die tiefsten Genüsse seines Lebens.
Audi Renan war sich des wohltuenden
Einflusses bewußt den das deutsche
Geistesleben auf sein Denken aus¬
geübt hat.
Aber auch auf sämtliche Vertreter
der heutigen philosophischen Bewegung
in Frankreich hat die deutsche Philoso¬
phie befruditend eingewirkt So ist Th.
Ribot nicht nur selber von der deut¬
schen Philosophie und Psychologie be¬
einflußt sondern er hat durch seine
Werke „La Philosophie de Schopen¬
hauer“, „La Psychologie allemande con-
temporaine" und durch die Zeitschrift
„Revue Philosophique“ viel für die Ver¬
breitung und Würdigung der deutschen
Philosophie in Frankreich beigetragen.
Ungefähr dasselbe gilt auch von Fouil-
16e und seinem Einflüsse. Was endlich
die höchsten Spitzen der Philosophie
der Gegenwart in Frankreich anlangt,
Boutroux und Bergson, so sind sie
nicht nur indirekt durch ihre gemein¬
samen Lehrer Biran, Lachelier und Ra¬
vaisson von der deutschen Philosophie
beeinflußt sondern sie haben selber mit
vollen Händen aus dem deutschen Gei¬
stesleben geschöpft. Namentlich gehtaus
der enthusiastischen Würdigung,, die
Boutroux von Männern wie J. Böhme,
Leibniz, Kant, Fichte, Zeller usw. gelie¬
fert hat, hervor, wie er sich des großen
Einflusses, den diese typischen Vertre¬
ter des deutschen Denkens auf ihn aus¬
geübt haben, bewußt ist. Und welcher
Kenner der Bergsonschen Philosophie
würde den reichen Gewinn bestreiten,
den dieser Denker aus dem Studium der
deutschen Philosophie und Wissen¬
schaft gezogen hat? Tatsächlich besteht
zwischen der Bergsonschen Philosophie
und der Gedankenwelt Schellings, Scho¬
penhauers i), auch Euchens, eine große
innere Verwandtschaft, während Berg¬
son selber sich im bewußten Gegensatz
fühlt zu den Lehren eines Descartes,
eines Condillac, eines Taine oder eines
Le Dantec.
Verhält sich das alles nun so, dann
werden wir auch bei aller Anerkennung
der nationalen Eigentümlichkeiten auf
allen Gebieten des geistigen Schaffens
sagen müssen, daß es ein Anachro¬
nismus ist, mitten im 20. Jahrhundert
von einer nationalen Philosophie zu
sprechen. Pascals Klage „Väritä en degä
X) Siehe den Aufsatz von G. Jacobi,
„H. Bergson und A. Schopenhauer* im Ja¬
nuarheft 1916. Die Red.
Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
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745 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 746
des Pyr 6 n 6 es, erreur au delä“ ist nir¬
gends so berechtigt wie auf dem Ge¬
biete der Philosophie. Männer von so
grundverschiedener Geistesart wie Des-
cartes, Pascal, Voltaire, La Mettrie,
Rousseau, Condillac, Biran, Comte, Cou¬
sin, Taine, Lachelier, Dürkheim und
Boutroux in einen Topf werfen und
dieses Ragout als „Philosophie fran-
gaise“ auf Kosten der ungeheuren Man¬
nigfaltigkeit des deutschen Denkens
verherrlichen, ist eine große Gefahr
nicht nur fflr die Philosophie, sondern
Oberhaupt fOr das Ganze des Völker-
iebens. Früher oder später muß das zur
Zerreißung der inneren Bande der
Menschheit führen. Und wer würde in
der Tat leugnen können, daß in diesem
Verfahren und mithin in der Sprengung
der Brücken zwischen den Völkern, Län¬
dern und Zeiten eine der tiefsten Wur¬
zeln des gegenwärtigen Krieges liegt?
Will man daher in Zukunft Katastro¬
phen, wie wir sie jetzt erleben, vermei¬
den und das Obel gründlich heilen, so
muß man u. a. auch diese Wurzel aus¬
rotten. Man muß also jene Brücken
wieder schlagen; man muß bei den Völ¬
kern das Bewußtsein der Solidarität,
die zwischen ihnen besteht, wecken oder
stärken; man muß ihnen zeigen, daß sie
auf keinem Lebensgebiet einander ent¬
behren können, daß die nationalen Un¬
terschiede in hohem Grade relativ und
dem fortwährenden Wechsel unterwor¬
fen sind, daß die Völkerharmonie, der
Humanismus im Sinne eines Leibniz,
eines Schiller, eines Beethoven oder
eines Herder der ideale, d. h. normale
Zustand des Menschengeschlechts ist,
kurz, daß die Menschheit keine bloße
Abstraktion, sondern vielmehr eine
höchst konkrete Realität ist und eine
gemeinsame Aufgabe zu erfüllen hat:
die volle Entfaltung des Menschen¬
wesens, die Verinnerlichung des Da¬
seins, das bewußte Mitarbeiten an der
Selbstverwirklichung der Gottheit, die
Weltkultur.
Zur Geschichte der deutschen Kolonie
in Konstantinopel.
Von Fritz Braun.
Seit jeher besteht ein wirtschaftlicher
und politischer Zusammenhang zwi¬
schen meiner norddeutschen Heimat und
der Wunderstadt am Goldenen Horn.
Aus den Tiefen des Baltischen Meeres
stammt der Bernstein, dessen duftiger
Rauch die Kuppeln der türkischen Mo¬
scheen erfüllt, und schon zu den Zeiten
des Großen Kurfürsten war der bran-
denburgische Gesandte an der Hohen
Pforte wohlgelitten, da man sich von
dem aufstrebenden Kurfürstentum wirk¬
same Hilfe im Kampfe gegen die slawi¬
schen Staaten Osteuropas versprechen
durfte.
Auch im lßi Jahrhundert blieben
unsere Landsleute in Stambul willkom¬
mene Gastfreunde. Auf den sonnigen
Hügeln bei Böjükdere grübelte unser
Moltke darüber nach, wie er dem osma-
nischen Reiche ein schlagfertiges Heer
verschaffen könnte, und in den blüten¬
reichen Gärten von Bebek verlebte Ernst
von Wildenbruch fröhliche Jugendtage,
für welche die gewaltigen Ereignisse des
Krimkrieges einen ernsten Hintergrund
lieferten.
Gerade damals vollzogen sich in der
Kalifenstadt wichtige Änderungen. So
lange spielten dort unter den Franken,
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Original frorn
INDIANA UNIVERSITY
747 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 743
wie man die Angehörigen der abendlän¬
dischen Nationen zu nennen pflegte, die
Italiener nach Zahl und Einfluß unstrei¬
tig die Hauptrolle. Dieser Einfluß ließ sich
noch bis in jene Zeiten zurüdtverfolgen,
da die Genuesen und Venetianer das
Ägäische Meer beherrschten und flberall
wuchtige Festungswerke von der Macht
der stolzen Städterepubliken Zeugnis
ablegten. Den wagemutigen Kaufleuten
waren auch zahlreiche Handwerker und
Kleinbürger gefolgt, die sich in diesem
Erdstrich, dessen Klima und natürliche
Lebensbedingungen von denen der Apen-
ninenhalbinsel nur wenig abweichen,
bald zu Hause fühlten.
Durch die großen Erfolge im Krim-
hriege gelang es den Franzosen, den
Einfluß der Italiener, denen damals ihre
Heimat in politischen Dingen keinen
rechten Rückhalt zu bieten vermochte,
entschieden zurückzudrängen und in
den weiten Ländern des osmanischen
Reiches hinsichtlich aller zivilisatori¬
schen Fragen maßgebliche Geltung zu
gewinnen. Man kann dem Opfermut und
der Folgerichtigkeit welche die Fran¬
zosen bei ihren Maßnahmen bewiesen,
seine Anerkennung nicht versagen, und
zwar erwiesen sich ihre zahlreichen
geistlichen Orden, denen man daheim
sehr wenig Wohlwollen entgegen¬
brachte, in dem näheren Orient als treff¬
liche Vorkämpfer des französischen
Volkstums. Wo zuerst zwei oder drei
Brüder bescheidene Kinderschule hiel¬
ten und ihren Zöglingen außer dem
unentgeltlichen Unterricht noch eine
Schüssel Suppe zukommen ließen, er¬
hob sich nach einem Jahrzehnt viel¬
leicht schon ein stattliches Lyzeum,
und an der Stelle, wo anfangs nur ein
praktischer Arzt unbemittelte Kranke
mit Rat und Heilmitteln unterstützt
hatte* flatterte bald die Trikolore von
dem schmucken Türmchen eines ge¬
räumigen Krankenhauses. So bewiesen
die Franzosen zu ihrem Teile die Wahr¬
heit des Spruchs, daß Wohltun Zinsen
trägt. Wenn man später in einer solchen
Provinzialstadt als geselligen Mittel¬
punkt der Honoratioren ein Klubhaus
erbaute, verstand sich als Umgangs¬
sprache all der Levantiner, Griechen und
Armenier, die sich dort zusammenfan¬
den, das Französische ganz von selber.
Solche Erfolge machen es begreiflich,
daß die französische Regierung densel¬
ben Orden, die im Mutterlande erbittert
befehdet wurden, in der Fremde alle
mögliche Unterstützung zuteil werden
ließ, denn die mehr als hunderttausend
Schüler, welche allein im türkischen
Reich auf französischen Anstalten un¬
terrichtet wurden, erwiesen sich als die
besten Bundesgenossen der französi¬
schen Politiker. Daß für diese Bestre¬
bungen heutzutage eine schlimme Krisis
gekommen ist, bedarf keines Beweises;
doch wäre es töricht, annehmen zu
wollen, das Ergebnis jahrzehntelanger
Arbeit sei mit einem Male verschwun¬
den, so wie man die Schrift von einer
Schiefertafel hinwegwischt
Bei dieser Entwicklung der Dinge
machte die deutsche Kolonie in Konstan¬
tinopel anfänglich nur einen recht be¬
scheidenen Eindruck. Ihre Mitglieder ge¬
hörten fast ausschließlich dem Mittel¬
stände an. Zumeist waren es Leute, die
durch Anspruchslosigkeit und Fleiß
einiges Vermögen erworben hatten, Han¬
delsgehilfen, die mit einem ersparten
Sümmchen ein eigenes Kommissions¬
geschäft gegründet hatten, Handwerker,
die mit den in ihr Fach schlagenden
Waren bescheidenen Handel trieben,
Gärtner, welche die fränkische Bevölke¬
rung Peras mit Gemüse und Blumen ver¬
sorgten, böhmische Musikanten, die sich
auf den Handel mit Musikinstrumenten
und Noten geworfen hatten, Gastwirte,
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Original frorn
INDIANA UNIVERSITY
749 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 750
Uhimacher, Apotheker und andere mehr,
d. h. Leute von der Art, wie sie noch
heute dem deutschen Handwerkerver¬
ein in Pera die Mehrzahl seiner Mitglie¬
der stellen. Alles in allem eine Gesell¬
schaft, die nach außen hin nicht gerade
blendete, von deren schlichter Tüchtigkeit
man aber viel Rühmens machen könnte.
Da diese Deutschen zumeist in der Fran¬
kenstadt Pera wohnten und dort ihren
Geschäften nachgingen, kamen sie natur¬
gemäß mit Griechen und Levantinern in
viel engere Beziehung als mit den eigent¬
lichen Türken, ein Verhältnis, das sich
eist zu den Zeiten des deutschfreund¬
lichen Sultans Abdul Hamid, der unsere
Landsleute als Hoflieferanten und Hof¬
bedienstete sehr bevorzugte, wesentlich
ändern sollte.
Die Gefahr, daß die in der Fremde ge¬
borenen Kinder ihr Volkstum verleug-
neten, eine Gefahr, die man leider ge¬
rade bei unseren Stammesgenossen be¬
sonders hoch einschätzen muß, war am
Bosporus deshalb recht gering, weil die
Kluft zwischen dem deutschen Wesen
und der Art der Türken und Griechen
doch allzubreit ist Um so größer war
darum in Konstantinopel die Sehnsucht
der Deutschen nach einer eigenen
Schule, die bereits im Jahre 1868 als
deutsche Bürgerschule eröffnet wurde.
Der Zeitpunkt ihrer Gründung beweist
uns, daß hier wie anderswo der wirt¬
schaftliche Aufschwung der Deutschen
nidrt ausschließlich als Folge der natio¬
nalen Einigung aufgefaßt werden darf,
sondern teilweise schon früher eintrat
wahrend der Name Bürgerschule für die
gesellschaftliche Selbsteinschätzung der
Gründer bezeichnend ist Daneben ist
noch erwähnenswert daß die Schweizer
schon bei dieser Gelegenheit wie das
späterhin die Regel blieb, viel mehr zu
den Deutschen als zu den Österreichern
gehalten haben.
Selbstverständlich waren auch für
die deutsche Kolonie in Konstantino¬
pel der Deutsch - Französische Krieg
und das Wiedererstehen des Deutschen
Reiches Ereignisse von allergrößter Be¬
deutung. Mehr noch als andere Völker
neigen die Türken dazu, die Machtmittel
eines Staates nach seinen jüngsten mili¬
tärischen Erfolgen abzuschätzen. Dar¬
um blieben die deutschen Siege in
Frankreich nicht ohne Einfluß auf den
Absatz deutscher Waren im Orient Mit
der Leistungsfähigkeit unserer Industrie
wuchs auch die Bedeutung der deut¬
schen Kommissionäre in KonstantinopeL
Infolge der großen Bahnbauten im tür¬
kischen Reich kam eine Menge deutscher
Bahnbeamter nach StambuL Die Ein¬
richtung deutscher Darapferlinien nach
dem Orient zwang deren Reedereien,
gutbezahlte Vertreter nach Pera zu
schicken. Mit dem Wachstum der deut¬
schen Schule stieg auch die Zahl ihrer
Lehrer. Deutsche Ärzte wirkten durch
öffentliche Praxis und durch ihren Un¬
terricht an türkischen Militärmedizinal¬
schulen. Darüber hinaus sorgte auch der
Sultan Abdul Hamid für die Vermehrung
der deutschen Kolonie, indem er nicht
nur deutsche Reformer in das türkische
Heer einstellte, sondern auch bei allen
wirtschaftlichen Bedürfnissen seines
verschwenderischen Hofhaltes unsere
Landsleute in erster Linie zu berücksich¬
tigen pflegte.
So kann es uns denn nicht wunder¬
nehmen, daß sich die deutsche Kolonie
Konstantinopels etwa in dem Zeitraum
zwischen 1875 und 1895 nicht weniger
veränderte als manche stille Provinzial¬
stadt in der Heimat, die mittlerweile zu
einem lebhaften Industrieort geworden
war. Von dem alten Geschlechte, das
dereinst die Bürgerschule gegründet
hatte, waren schließlich nur noch wenige
übrig, die beim Dämmerschoppen int
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Original frorn
INDIANA UNIVERSITY
751 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 752
„Felsenkeller*' die guten alten Zeiten
priesen. Zu ihnen gehörte manch präch¬
tiger Charakterkopf, wie der „alte Wen¬
zel", der es vom Handlanger eines Blu¬
menhändlers bis zum königlich preußi¬
schen Gartenbaudirektor gebracht hatte,
und die jedem älteren Mitgliede der Ko¬
lonie wohlbekannte Frau Schlerf, eine
resolute, schlagfertige Bajuvaiin, die
sich in Zeiten von Not und Pestilenz
als selbstlose Helferin vieler Bedräng¬
ten bewährt hatte. An die Stelle der
schlichteren Handwerker, die teilweise
von der Hand in den Mund gelebt hatten,
waren mittlerweile wohlhabende Män¬
ner getreten, die sich nicht darauf be¬
schränkten, ihr Gewerbe handwerks¬
mäßig auszuüben, sondern daneben leb¬
hafte Handelsgeschäfte unterhielten und
auf die Mitgliedschaft des deutschen Ge¬
sellschaftsvereins „Teutonia" mehr Wert
legten als auf die Zugehörigkeit zu dem
alten Handwerkerverein, in dem nach
wie vor die kleinen Leute zusammen¬
kamen. Gar mancher dieser Gewerbe¬
treibenden verdankte sein Betriebskapi¬
tal allerlei Lieferungen für den Jildis,
den Hofhalt des Sultans, bei denen an¬
standslos mit doppelter Kreide gerech¬
net werden durfte. Der rasche Ausbau
der anatolischen Eisenbahn führte wie¬
derum viele deutsche Beamte nach Kon¬
stantinopel, die aber an dem geselligen
Verkehr ihrer Landsleute nur wenig teil¬
nehmen konnten, weil zwischen Pera
und ihrem Amtssitz Haidar Pascha nach
Sonnenuntergang keine Fahrzeuge mehr
verkehrten.
Das war um so bedauerlicher, als das
gesellige Leben der Kolonie in diesem
Zeitabschnitt geistig recht rege wurde.
Immer wieder versammelte man sich in
dem schmucken Festsaal der „Teutonia“,
um dort Vorträgen zu lauschen, in denen
die Gelehrten der Kolonie die Lands¬
leute mit dem Ergebnis ihrer Arbeit be¬
kanntmachten. Um dem Leser zu zei¬
gen, daß an gelehrten Deutschen am
Bosporus damals kein Mangel war,
braucht man nur die Namen Auler,
Giese. v. d. Goltz, Mordtmann, v. d. Nah-
mer, Rieder und Wiegand aufzuzählen.
Auch die Beamten des Konsulats und
die Lehrer der deutschen Schule hatten
oft genug Interessantes zu berichten,
wenn ihr Weg sie wieder einmal nach
entlegenen Teilen Kleinasiens und Sy¬
riens geführt hatte.
Eine überaus erfreuliche Tätigkeit
entfaltete damals der deutsche Aus¬
flugsverein. Seine wichtigsten Förderer
waren der Lehrer Gottfried Albert und
der deutsche Arzt Dr. M. Mordtmann,
der sich durch seine archäologischen
Forschungen auch in der alten Heimat
wohlverdienten Ruhm erworben hat.
Mochten die „Teutonia“ und der deut¬
sche Handwerkerverein noch so segens¬
reich wirken, ihr Wesen bedingte von
vornherein eine gewisse Selbstbeschrün-
kung, indem jener Verein die „Gesell¬
schaft“ im engeren Sinne, dieser da¬
gegen die Angehörigen des Kleinbürger¬
standes vereinigen sollte. Bei dem „Aus¬
flugsverein“ fielen solche Rücksichten
von vornherein fort Da war jeder will¬
kommen, der des Deutschen so weit
mächtig war, daß er sich unter unseren
Landsleuten frei und zwanglos bewegen
konnte. Hier bot sich auch Gelegenheit,
die Deutsch-Österreicher der Sultans¬
stadt kennen zu lernen, welche sonst
vielfach getrennte Wege gingen, weil
ihre Behörden sie von allen reichsdeut-
schen Vereinen fernzuhalten suchten, bei
denen man nur im entferntesten irgend¬
eine politische Stellungnahme vermuten
durfte. Außerdem sorgte dieser Verein
noch dafür, daß ein großer Teil der
fremden Schüler, welche die deutsche
Schule besucht hatten, auch nach ihrem
Abgänge die Beziehungen zu unseren
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Original frum
INDIANA UNIVERSITY
753 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 754
Landsleuten nicht verloren. Well auch
in ihnen durch ihre deutschen Lehrer der
Wandertrieb geweckt und gefördert
worden war und der Ausflugsverein die
beste Gelegenheit bot, sich mit den
alten Mitschülern zu treffen, ließen sie
mit ihrem Beitritt zumeist nicht lange
anf sich warten. So kanh es denn nicht
wundemehmen, daß gerade der deutsche
Ausflugsverein sich allgemeiner Beliebt¬
heit und Unterstützung erfreute. Ihm
ließ selbst der Sultan Abdul Hamid
reiche Geldspenden zukommen; an
seinen Wanderungen beteiligte sich der
deutsche Großkaufmann ebensogut wie
der Kleinhändler von der Jüksek Kaldi-
rim; hier begegnete der Kärntner dem
Friesen, der Siebenbürger Sachse dem
Schweizer, und alle die Kinder der Le¬
vante, die dereinst auf deutscher Schul¬
bank gesessen hatten, lernten auf den
Ausflügen dieses Vereins deutsche Wan¬
derlust Sangesfreude und harmlose Ge¬
selligkeit kennen. Darf es da wunder¬
nehmen, daß Gottfried Albert der Füh¬
rer auf mancher Wanderfahrt eine der
volkstümlichsten Persönlichkeiten der
Kolonie wurde? Als ein allzu früher Tod
der Erdenpilgerschaft des naturfrohen
Alpensohnes ein Ziel setzte, floß ihm
manche Träne, und das stattliche Denk¬
mal, das seinen Hügel in Ferikiöi
schmückt ist vor anderen wohlverdient
zu nennen.
So recht im Mittelpunkt des geselligen
Lebens stand damals, und zwar durch¬
aus nicht nur dem Namen nach, unser
Botschafter Freiherr Marschall v. Bieber¬
stein und seine Gemahlin. Ihrem jovia¬
len Wesen glückte es, trotz aller durch
ihre Stellung gebotenen Rüdesichten
jene gemütlichen Beziehungen zu schaf¬
fen, welche dem Zusammenleben der
Menschen erst den rechten Wert ver¬
leihen und seine äußeren, an sich leeren
Formen mit wesentlichem Inhalt erfüllen.
Die gewaltige Entwicklung, welche
die deutsche Kolonie in dem Menschen-
alter seit der Reichsgründung genom¬
men hatte, spiegelte sich auch in der Ge¬
schichte ihrer wichtigsten Anstalten, des
Hospitals und der deutschen Schule,
wider. Das deutsche Krankenhaus mußte
immer wieder durch neue Anlagen er¬
weitert werden, und die bescheidene
Bürgerschule hatte sich schon längst zur
Realschule entwickelt. Aus dem schlich¬
ten Gebäude neben dem Galataturm war
sie in einen schmucken Schulpalast an
der Jeni Jol übergesiedelt, in jenen gar¬
tenreichen Stadtteil, wo die Gesandt¬
schafts- und Botschaftsgebäude Schwe¬
dens, Rußlands, Hollands und Frank¬
reichs von ragender Höhe zum Bospo¬
rus hinabschauen. Um den kleinen
Stamm reichsdeutscher und Schweizer
Schüler hatte sich allmählich der Nach¬
wuchs aller möglichen Völker geschart,
so daß die kleine Gemeindeschule zu
einem Werkzeug nationaler Propa¬
ganda geworden war. Für die Wert¬
schätzung der Schule war das ein um
so günstigeres Zeugnis, als sie bei die¬
sem Vorgänge eine recht passive Rolle
gespielt und niemals die Werbetrommel
gerührt hatte. Um die Wende des Jahr¬
hunderts finden wir unter ihren Schü¬
lern neben 25 s / i 0/0 Deutschen und 3 1 /» *yo
Schweizern 20 °/o Österreicher, 30 % Tür¬
ken, 47 4 0/0 Hellenen, 4 <yo Engländer, 4 «/o
Italiener und 3 0/0 Rumänen, während
sich die übrigen 57* % auf viele andere
Völker verteilen. Dabei muß allerdings
betont werden, daß Staatsangehörigkeit
und Volkstum hier durchaus nicht immer
zusammenfallen. Fälle wie der eines
Schülers Antoine, der sich als persischer
Untertan zum protestantischen Glauben
bekannte und von Eltern stammte, die
nach ihrer Bildung und Lebensführung
durchaus als gute Deutsche bezeichnet
werden mußten, gehören in der Levante
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755 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel' 756
nicht zu den Seltenheiten. Unter den tür¬
kischen Staatsangehörigen finden wir
ganz überwiegend Griechen und Levan¬
tiner, wie sich das schon daraus ergibt,
daß nur 3 o/o der Schüler Mohammeda¬
ner waren. Auffällig ist es, daß man
unter den 512 Zöglingen der Anstalt nur
7 Franzosen entdecken konnte. Neben
der schon erwähnten Tatsache, daß ge¬
rade die Franzosen im näheren Orient
über eine große Zahl trefflich geleiteter
Lehranstalten verfügen, spielten dabei
doch wohl auch die nationale Abnei¬
gung und der unausrottbare Revanche»
gedanke keine geringe Rolle. Unsere
Volksgenossen vergalten leider in die¬
ser Hinsicht durchaus nicht immer Glei¬
ches mit Gleichem, so daß unter den
Schülern von St Bönoit fast immer eine
größere Anzahl von Kindern zu finden
war, die sich der deutschen Mutter¬
sprache rühmen durften.
Nicht alle Landsleute waren aber mit
der Entwicklung der deutschen Schule
und der Steigerung ihrer Lehrziele ein¬
verstanden. Viele Kleinbürger verlang¬
ten von ihr weiter nichts, als daß sie
ihren Kindern eine tüchtige Volksschul-
bildung vermittele, und gaben ihrem
Groll namentlich dann recht entschiede¬
nen Ausdruck, wenn die Gaben ihrer
Sprößlinge den Anforderungen nicht ge¬
wachsen waren. Diese Vorwürfe hatten
sicherlich eine gewisse Berechtigung.
Auch in Konstantinopel hatte das Hand¬
werk einen goldenen Boden, und in den
großen Werkstätten der Eisenhahnver¬
waltungen vermochte sich der Schmied,
der Schlosser eine auskömmliche und
sichere Lebensstellung zu verschaffen,
in der er seinem Volkstum keine
Schande machte; Hoffentlich wird man in
Zukunft diesen Wünschen entsprechen
können, indem unserer Schule solche
Klassen angegliedert werden, welche
in der Hauptsache nach dem Lehr¬
plan der deutschen Volksschule arbeiten
sollen.
Törichter waren die Einwände jener
Mißmutigen, welche der Realschule
vorwarfen, sie erziehe den alteingesesse¬
nen Gemeindemitgliedern durch die Ver¬
breitung deutscher Sprachkenntnisse nur
einen unerwünschten, oft genug unlau¬
teren Wettbewerb. Eine solche Monopo¬
lisierung, wie sie diesen Leuten vor¬
schwebte, ist in unserer Zeit schlechter¬
dings undurchführbar, während im Ge¬
gensatz dazu die Regel aufgestellt wer¬
den darf, daß jede weitere Verbreitung
einer Kultursprache über kurz oder lang
auch wirtschaftliche Vorteile für das be¬
treffende Volk nach sich ziehen muß.
Darum waren die Leiter der Schulge¬
meinde auch durchaus im Recht, wenn
sie unbeirrt ihren Weg verfolgten und
nicht eher ruhten, als bis aus der alten
Bürgerschule eine vollberechtigte neun-
klassige Oberrealschule geworden war.
Alles in allem hatten die Deutschen
zur Zeit Abdul Hamids guten Grund, mit
ihrer Lage zufrieden zu sein. Die deut¬
sche „Gesellschaft" erinnerte hinsicht¬
lich der Zahl ihrer Angehörigen etwa
an die Zustände in einer deutschen Mit¬
telstadt, von denen sie sich aber durch
den frischeren Lebenshauch, der alle
Hauptstätten des völkerverbindenden
Handels auszeichnet, sehr zu ihrem Vor¬
teil unterschied. Die wirtschaftliche
Lage unserer Landsleute hatte sich recht
günstig gestaltet, und an dem Wohl¬
stand der Gewerbetreibenden hatten
auch andere Kreise ihren Anteil, selbst
das ältliche Fräulein, das sich mit Nach¬
hilfestunden ihr Brot verdiente^ und der
Privatlehrer, welcher die Knaben und
Mägdlein der Kolonie in die Geheim¬
nisse des Klavierspiels einweihte. Es
wäre ein völlig verfehltes Unternehmen,
die Einkünfte der deutschen Kolonisten
aus dem Warenumsätze Konstantinopels
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757 Fritz Braun, Zur Geschidite der deutsdien Kolonie in Konstantinopel 758
mit dem Reiche auch nur annähernd be¬
rechnen zu wollen. Der dabei erzielte
Verdienst der deutschen Kaufleute bil¬
det einen recht geringen Bruchteil dieser
Einkünfte, der hinter der Geldsumme,
welche durch die Gehälter der Beamten
und den Erwerb der im inneren Wirt¬
schaftsleben der Hauptstadt tätigen
Handwerker, Ärzte, Lehrer usw. zusam¬
menkam, ganz unverhältnismäßig zu¬
rückblieb. Alles in allem waren damals
sonnige Tage, und niemand dachte an
Sturm und Schlackenwetter.
Da setzte im Juli 1908 die jung-
türkische Revolution ein, welche die
Hauptstadt auf lange hinaus nicht zur
Ruhe kommen ließ, da die Reaktions¬
bestrebungen des Sultans dessen Ent¬
thronung zur Folge hatten und es Jahre
währte, bis sich die Verhältnisse am
Bosporus wieder einigermaßen gefestigt
hatten. Während sich so lange unsere
Landsleute der besonderen Gunst Abdul
Hamids erfreut hatten, kam die große
Umwälzung nur den Engländern und
Franzosen zustatten. Daß dm so war,
lag nur zum Teil daran, daß die Jung-
tfirken, von denen man in Deutschland
aus Loyalität gegen den Sultan nichts
wissen wollte, in Paris und London Ob¬
dach und Unterstützung gefunden hat¬
ten. Mindestens ebensosehr erklären
sich die politischen Erfolge, deren sich
die Briten und Franzosen damals erfreu¬
ten, aus der schamlosen, jeder Würde
und Selbstachtung hohnsprechenden Art,
in der sie um die Gunst der Machthaber
buhlten. Es mochte politisch nicht rich¬
tig sein, daß unsere Vertreter den neuen
Männern und dem neuen Kurs gegen¬
über eine so ablehnende Haltung einnah-
men, aber es war doch immerhin eines
jener Versehen, die das Herz preist, wenn
der Verstand sie verurteilt. Jenes Be¬
nehmen war ja auch durch die Anhäng¬
lichkeit an die Person des entthronten
Kalifen bedingt, welche man nicht so
plötzlich auf ein knappes Kommando
hin zu unterdrücken vermochte. Da¬
gegen brauche ich, wenn ich jemals Ge¬
fahr laufe, von der englischen und fran¬
zösischen Politik zu gut zu denken, nur
die französischen und englischen Zeitun¬
gen zur Hand zu nehmen, welche da¬
mals in Stambul erschienen. Das ganze
Gepräge ihres Beifalls, die kaltblütige
Art, die erfolgreichen Parteiführer des
Tages den größten Männern der heimi¬
schen Geschichte an die Seite zu stellen,
das Obermaß von Schmeichelei und
Freundschaftsbeteuerungen, das alles ist
in parlamentarischen Ausdrücken nicht
genügend zu kennzeichnen. Leider dau¬
erte es lange genug, bis die Osmanen
merkten, daß in den vermeintlichen Läm¬
mern reißende Wölfe steckten, die rieh
bereits anschickten, über den türki¬
schen Freund und Bruder herzufallen,
um ihn mit Haut und Haaren aufzu¬
fressen. Und als dann die Erkenntnis
kam, ließ sich manches, wie das Wir¬
ken der köstlichen englischen Flotten¬
kommission, überhaupt nicht mehr recht¬
zeitig gutmachen.
Jedenfalls kam die deutsche Kolonie
in der Obergangszeit zu keinem rech¬
ten Behagen. Die Diplomaten, welche es
zur Zeit Abdul Hamids nicht allzuschwer
gehabt hatten, fühlten den Boden unter
ihren Füßen wanken, die Militärrefor¬
mer mußten mißmutig feststellen, daß
die phrasenhafte Agitation der Franzo¬
sen nicht erfolglos blieb, und den deut¬
schen Beamten der anatolischen Bahn
fehlte das rechte Vertrauen zu Vorge¬
setzten, die aus ihrer Vorliebe für fran¬
zösisches Wesen teilweise gar kein Hehl
machten. Auch in wirtschaftlicher Hin¬
sicht folgten dem Sturze Abdul Hamids
in Stambul schwere Jahre. Immer wie¬
der hörte man am hellen Tage das eigen¬
tümliche Geräusch, welches die eisernen
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759 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 759
Rollwände der Schaufenster verur¬
sachen, wenn sie gleichzeitig in fliegen¬
der Hast heruntergelassen werden. Deut¬
licher als alles andere verkündet dieser
Mark und Bein erschütternde Ton den
Peroten den Eintritt schlimmer Zeiten,
ln denen das Vertrauen auf die öffent¬
liche Sicherheit geschwunden ist In¬
folge von Krieg und Pestilenz wuchs die
Teuerung aller Lebensmittel, die auf der
ärmeren Bevölkerung der türkischen
Hauptstadt um so schlimmer lastet weil
der Ausgleich durch Steigerung der Ar¬
beitslöhne sich hier in solchen Fällen
noch viel langsamer zu vollziehen pflegt
als in Mitteleuropa. Besser als durch
lange Ausführungen wird diese Lage
durch die inhaltsschweren Worte ge¬
kennzeichnet welche der Leiter der
deutschen Schule seinem Jahresbericht
vom Jahre 1912/13 vorausschickt: „Das
Schuljahr 1912—13 begann und verlief
unter recht ungünstigen äußeren Um¬
ständen. Den Tripoliskrieg, der durch
die im vorigen Bericht schon erwähnten
Italienerausweisungen der Schule den
Verlust einer ganzen Anzahl Schüler ge¬
rade der obersten Klassen gebracht hatte,
löste der Balkankrieg ab. Eine allge¬
meine wirtschaftliche Depression, eine
immer unerträglicher werdende Teue¬
rung waren die Folge. Und auch die all¬
mählich zum ständigen Gast gewordene
Cholera stellte sich wieder ein. Daß
unter solchen Umständen sowohl die Fi¬
nanzgebarung der Schulgemeinde als
auch der innere Schulbetrieb zu leiden
hatten, leuchtet ein. Zeitweise war in
der Prima nur ein Schüler anwesend,
und am 5. November, als das Gespenst
der Massakerfurcht umging, fehlten
z. B. im Durchschnitt der Gesamtschüler¬
zahl nahezu 30<>/o der Schüler, in ein¬
zelnen Mädchenklassen bis zu 60 tyo der
Schülerinnen.“
Heutzutage gehören diese Jahre, in
denen der Deutsche besorgen mußte,
allen Einfluß am Goldenen Hom einzu¬
büßen und im osmanischen Reich dem
wirtschaftlichen Wettbewerb der west¬
europäischen Nationen zu erliegen,
Oott sei Dank der Vergangenheit an.
Noch im letzten Augenblick haben sich
die Türken von ihren gleisnerischen
Freunden losgesagt, weil diese sich an¬
schickten, ihr ganzes Reich aus reiner
Liebe unter sich aufzuteilen, und als
treue Waffenbrüder der anatolischen
Soldaten tränkten unsere Landsleute die
starren Felsgestade der Dardanellen mit
deutschem Blute. Fleißige Hände und
nachdenkliche Köpfe sind geschäftig, um
das Bündnis der beiden Völker noch
enger zu gestalten und in der ersehnten
Friedenszeit zwischen unserem Vater¬
lande und dem Kalifenreich einen Aus¬
tausch von Rohstoffen und Handels¬
waren herbeizuführen, wie er bisher
kaum geahnt wurde. In solcher Zeit
dürfte es doppelt angebracht sein, mit
kurzen Worten zu kennzeichnen, was die
deutsche Arbeit im näheren Orient er¬
streben muß! Dabei handelt es sich
sicherlich vor allem um dreierlei:
Erstens gilt es, den türkischen Bau¬
ernstand geistig und wirtschaftlich so
weit zu heben, daß er imstande ist, auf
dem heimatlichen Boden die Getreide¬
mengen zu erzeugen, welche das Land
bei sachgemäßer Behandlung zu liefern
vermag. Da die Türkei in erster Linie ein
Agrarstaat ist und den Aufwand des
eigenen Staatshaushalts ebensogut wie
die fremde Wareneinfuhr aus dem Er¬
trage der Ernten bezahlen muß, ist die
erfolgreiche Arbeit der bäuerlichen Be¬
völkerung die unerläßliche Vorbedin¬
gung jeglichen Fortschritts.
Dann muß es unsere Aufgabe sein,
dem Lande einen hinreichend unterrich¬
teten und genügend besoldeten Beam¬
tenstand heranzuziehen, der nicht nach
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761 Fritz Braun, Zur Geschichte der deutschen Kolonie in Konstantinopel 762
Art des russischen Tschinownik zum
schädlichen Parasiten seiner Pflegebe¬
fohlenen wird, sondern sich die sach¬
liche Durchführung aller Regierungs-
maßregeln in pflichtgemäßer Weise zur
Aufgabe macht, denn der Bauer wird
nur dann mit Lust und Liebe an die Ar¬
beit gehen, wenn er sicher ist, nicht
durch allerlei Willkür um die Früchte
seines Fleißes betrogen zu werden.
Drittens müssen wir alles daransetzen,
die Wehrmacht der Türkei derartig zu
verstärken, daß sie künftighin imstande
ist, ihre Selbständigkeit aus eigener
Macht zu verteidigen. Ohnedem würden
wir Gefahr laufen, bei aller wirtschaft¬
lichen Arbeit im osmanischen Reiche
Saaten zu streuen, deren Früchte schlie߬
lich! unseren Feinden zugute kämen.
Gott sei Dank liegt die Sache so, daß
es uns nicht schwerfallen kenn, den
Türken zu zeigen, ihr Nutzen sei auch
der unsere, und unser Nutzen der ihre;
wäre es doch die kurzsichtigste Verblen¬
dung, irgendeinen Teil dieses Reiches zu
eigenem Besitz an uns zu bringen, das
uns am meisten zu nutzen vermag, wenn
es gelingt seinen ganzen Organismus
mit neuem Leben zu erfüllen.
Es ist selbstverständlich, daß ein
großer, vielleicht der größte Teil der Ar¬
beit welche in der Türkei zu leisten ist
der Schule zufällt Hoffentlich wird bei
unseren Bemühungen, den Osmanen
bei der Reform ihres Schulwesens mit
Rat und Tat beizustehen, der schlimme
Fehler vermieden, daß man von oben
nach unten bauen will und die Arbeit
nicht im Dorf, sondern in der Hauptstadt
beginnt und endet Wie verkehrt das
wäre, könnten uns schon die Erfahrun¬
gen der Franzosen lehren, die von Per-
uot kurz vor dem Weltkriege in einem
inhaltsreichen Buche (Rapport sur un
voyage d’frtude ä Constantinople, en
figypte et en Turquie d’Asie. Paris 1914.
Didot et Cie.) zusammengefaßt wurden,
das auf dem Schreibtische keines Lands¬
mannes fehlen sollte, der sich mit diesen
Fragen beschäftigen muß. Es entspricht
durchaus den Tatsachen, wenn Pemot in
diesem Buche seinen Landsleuten zu¬
ruft: „Nicht dadurch, daß wir Lyzeen
und Kollegs vervielfachen, werden wir
unseren Einfluß vermehren, sondern viel
eher dadurch, daß wir die Schöpfung
technischer Institute und Lehranstalten
für Handel und Ackerbau begünstigen,
und auf dem Wege, daß wir die Volks¬
schulen vervollkommnen, welche die
Schüler auf jene Lehranstalten voibe-
reiten.“ Sicherlich ist eine der wichtig¬
sten Aufgaben die Bildung eines an¬
spruchslosen eingeborenen Lehrerstan¬
des, der genaue Kenntnis der Volksnatur
und unbedingte Treue gegen den Glau¬
ben und die Sitte der Väter mit ehrlicher
Parteinahme für die abendländischen
Verbündeten vereinigt
Wenn der Weltkrieg sein Ende er¬
reicht hat werden deutsche Lehrer zahl¬
reicher als je in den Orient strömen.
Möchte man bei ihrer Auswahl nicht ver¬
gessen, daß ihre Tätigkeit nur dann von
Erfolg gekrönt sein wird, wenn es sich
um Männer handelt welche die Gabe
besitzen, sich durch ihre ganze Art die
Liebe ihrer Schüler zu erwerben. Der
große Arzt und Organisator Rieder-
Pascha, einer unserer Besten, die im
Orient gewirkt haben, ruft seinen Lands¬
leuten mit vollem Rechte zu: .Alle Er¬
folge hängen hier viel mehr denn bei
uns von der Persönlichkeit des Lehrers
ab. Ohne Frage sind die Schüler per¬
sönlicher, suggestiver Beeinflussung un-
gemein zugänglich, und zwar ganz
gleich im guten wie im schlechten Sinne;
viele von ihnen sind Wachs in den Hän¬
den des Lehrers; er kann sie zu Faulen
und zu Fleißigen machen. Dazu gehört
aber, daß der Lehrer vor allem eine In-
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763
Nachrichten und Mitteilungen
dividualitftt ist, daß er an sich selbst
glaubt und sich seines Wollens, Kön¬
nens und auch — Nichtkönnens voll be¬
wußt ist" (Dr. Robert Rieder-Pascha:
Für die Türkei. Jena 1904. II, S. 9).
Weither Art auch die Reformen im
türkischen Reiche sein mögen, es darf
sich dabei nur um solche Maßnahmen
handeln, welche die Grundlagen des os-
manischen Volkslebens, vor allem seine
Religion, nicht im geringsten antasten,
da in demselben Augenblick das Ver¬
trauen des Volkes, die unentbehrliche
Vorbedingung seiner aufrichtigen Mit¬
arbeit, ohne die in letzter Linie doch
nichts zu erreichen ist, unrettbar ver-
lorenginge. Auch hier möchte ich wie¬
der Rieder-Pascha sprechen lassen:
„Daß ein Fremder jemals imstande
sein würde, eine tiefgreifendere, allge¬
meinere oder gar dauernde Reform der
türkischen Zustande und islamischen
Gepflogenheiten zu bewerkstelligen,
halte ich für absolut ausgeschlossen, für
einfach unmöglich. Der Fremde kann
durch ehrliche Detailarbeit sich selbst
und seinem Volke Ehre machen; er kann
auch der Türkei ungemein viel nützen
dadurch, daß er durch selbstlose Hin¬
gabe an die Sache, durch sein Beispiel
anspomt zu fleißiger, tätiger Arbeit, daß
764
er günstige Vorbedingungen schafft für
schnelle und sichere Erreichung eines
bestimmten Ziels. Den Islam reformie¬
ren, d. h. ihn unseren ideellen und kul¬
turellen Begriffen naherbringen, könnte
höchstens der Mohammedaner selbst,
und auch der würde gut tun, recht vor¬
sichtig und wühlerisch zu Werke zu
gehen. Sint, ut sunt, aut non sint!“ Der
das schrieb, war kein schwarzseheri¬
scher Pessimist, sondern ein Mann der
glaubensstarken Tat, wie sich jeder
überzeugen kann, welcher der türki¬
schen Militarmedizinschule oder dem
wogenbespülten Krankenhaus von Gül-
hane einen Besuch abstattet
Als ich zum letzten Male vor Meh-
meds Moschee Rast hielt herrschte in
Konstantinopel das unruhige Treiben
einer garenden Zeit und die wohl¬
begründeten Sorgen unserer Landsleute
ließen niemand des Tages recht froh
werden. Wer weiß, wann es mir wieder
vergönnt ist, von Peras Höhen zu den
glücklichen Eilanden der Prinzeninaeln
hinabzuschauen? — Hoffentlich darf ich
dann die Überzeugung mit mir heim¬
nehmen, daß jenes Land, dem ich selbst
ein gut Teil meiner Lebensarbeit gewid¬
met habe, noch eine sonnige Zukunft er¬
hoffen kann.
Nachrichten und Mitteilungen
Neutrale Stimmen. Amerika — Holland —
Norwegen — Schweden — Schweiz. Einge¬
leitet von Rudolf Eucken. Leipzig 1916.
S. Hirzel.
Die Leipzigerverlagsbuchhandlung S. Hir-
zel hat Vertreter der wichtigsten neutralen
Lander aufgefordert, Ober die Ursachen und
den Charakter des Krieges und Ober die
Stimmung ihrer Völker möglichst objektiv
zu berichten. Wenn man die große Vor¬
eingenommenheit berücksichtigt, die das
Meiste charakterisiert, was über die gegen¬
wärtige Lage geschrieben worden ist, so
wird man das vorliegende Unternehmen
mit Freude begrüßen dürfen. Denn trotz
der persönlichen Stellungnahme der Ver¬
fasser zum Kriege sind ihre Berichte in
hohem Grade repräsentativ und daher ge¬
eignet, aufklarend zu wirken. Mit Recht sagt
Eucken in seiner gehaltreichen und von
jeder Intoleranz freien Einleitung, niemand
werde das Ganze auf sich wirken lassen,
ohne eine Bereicherung seines Wissens und
eine Erweiterung seines Gesichtskreises an
erfahren, und die hier vollzogene Aufdeckung
der großen Zusammenhänge und der trei¬
benden Kräfte der Zeit werde dazu beitra¬
gen, daß die europäischen Völker ihr Ver¬
hältnis zueinander künftig nicht auf die
Stimmung des Augenblicks allein stellen.
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765
Nachrichten und Mitteilungen
766
sondern einen soliden Boden dafür suchen.
Unter den Eindrücken, die die Lektüre des
vorliegenden Werkes hinterlaßt, bleibt dem
Leser besonders der, daß der Einmarsch
der deutschen Heere in Belgien in hohem
Grade in allen neutralen Landern zur Ent¬
stehung der deutschfeindlichen Strömungen
beigetragen hat, wobei natürlich die Fäl¬
schung der Öffentlichen Meinung durch die
Presse der Gegner Deutschlands und na¬
mentlich durch den englischen Lügenfeld-
zug die Hauptrolle spielte. Bei allem Be¬
streben, der deutschen Sache gerecht zu
werden, herrscht zwischen den Verfassern
keine Obereinstimmung bezüglich der Ur¬
sachen des Krieges. Beachtenswert ist
jedenfalls die Ansicht des Anglo-Ameri¬
kaners Prof. Clapp, daß man in Amerika
diesen Krieg als einen Wirtschaftskrieg
zwischen England und Deutschland be¬
trachtet, ebenso die Klage des holländischen
Philosophen Prof, van der Wyck, daß
einige Staatsmänner und Geldmagnaten mit
Hilfe der Zeitungsschreiber die Geschicke
der Nationen bestimmen. Der Verfasser des
Berichtes über Norwegen, Schuldirektor
Karl Aas, zieht aus der gegenwärtigen
Lage vor allem die Folgerung, daß der
Krieg, ob er ein Volk zur Niederlage oder
zum Sieg führt, zu den höchsten Obeln des
Menschengeschlechts gehört. Am meisten
mit der deutschen Sache sympathisieren der
Deutsch-Amerikaner Prof. Carus und der
hervorragende Historiker Schwedens Ha¬
rald H j ä rn e. Der Berner Theologe Prof. D.
Karl Marti ist in seinem Berichte über die
Schweiz wesentlich bestrebt, im eigenen
Lande versöhnend zu wirken. Daher mag
es wohl kommen, daß er das stark entente-
freundliche Verhalten der westschweizeri¬
schen Presse während des Krieges mit wohl¬
wollender Nachsicht beurteilt. Andererseits
lehnt er rückhaltlos gewisse Symptome einer
gefährlichen Verquickung von Wissenschaft
und Politik, wie die Gründung der Ver¬
einigung der schweizerischen Professoren
und Dozenten ab. Die wichtigste Mission
der Schweiz erblickt er darin, der Welt zu
zeigen, daß Rassenverschiedenheit Einheit
und Einigkeit des Staates nicht ausschließt,
daß geistige Obereinstimmung ein festeres
Band ist als Blutsverwandtschaft. J. B.
Zwei Brüder. Feldpostbriefe und
Tagebuchblätter. Erstes Bändchen
Gotthold von Rohden. ZweitesBänd¬
chen Heinz von Rohden. Tübingen 1916
bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
Wie Gotthold v. Rohden 1 ) ist auch sein
wenig älterer Bruder Heinz den Heldentod
für das Vaterland gestorben; auch seine
Feldpostbriefe und Tagebuchblätter sind von
dem Vater, Konsistorialrat v. Rohden, als
zweites Bändchen der dem jüngeren Sohn
gewidmeten Veröffentlichung herausgege¬
ben worden. Sie verdienen durchaus als
eine wertvolle Ergänzung und Vertiefung
der Eindrücke hervorgehoben zu werden,
die aus den Aufzeichnungen des jüngeren
Bruders sich ergeben. Heinz v. Rohden,
Theolog wie Gotthold, stand bei Ausbruch
des Krieges bereits am Schluß des akade¬
mischen Studiums; er eilte, trotz zarter Ge¬
sundheit, zu den Waffen und wirkte, da er
als Kriegsfreiwilliger nicht ankam, als Sani¬
täter und Begleiter von Lazarettzügen, bis
ihm vergönnt wurde als Soldat einzutreten.
Als Offizier hat ihn im Juli 1916 in siegreichem
Kampf an der Ostfront die Todeskugel getrof¬
fen. An Reinheit und Adel der Gesinnung dem
Bruder ebenbürtig, an Gaben und geistiger
Entwicklung, namentlich an der Fähigkeit,
sich mitzuteilen, ihm überlegen, hat er es
schwerer gehabt als der Jüngere, sich in
die Anforderungen der neuen Lage, in die
Umgebung und die rauhe Wirklichkeit hin¬
einzufinden. Aber gerade deshalb sind seine
Äußerungen ein um so eindrucksvolleres
Zeugnis von der Stärke des Pflichtgefühls
und des weltüberwindenden Idealismus, der,
wie diese beiden, Tausende unserer deut¬
schen Jugend aus den HOrsälen der Universi¬
täten in den Weltbrand des furchtbaren
Krieges geführt und in seinen Stürmen be¬
währt und geläutert hat. MOge das kleine
Buch, das nun die Aufzeichnungen der bei¬
den Frühvollendeten vereinigt, weiten Krei¬
sen der Mitlebenden ein kräftiger Ansporn
zu gleich hoher Erfassung ihrer Ziele, der
Nachwelt aber ein Kranz treuen Gedenkens
werden! P. D. Fischer,
Wilhelm Merton. Reden von Oberbürger¬
meister Voigt und Stadtrat Prof. Dr.Stein,
gehalten bei der Gedächtnisfeier der Stadt
Frankfurt a. M. 2. Jan. 1917. Englert & Schlos¬
ser, Frankfurt a. M. 1917.
Diese von einem großzügigen Ingenium
geschaffene Monatsschrift mOge eines Gleich-
1) Siehe den Aufsatz .Aus den Schüt¬
zengräben" im Januarheft. Die Red.
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Nachrichten und Mitteilungen
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gerichteten gedenken, der die deutsche
Sozialpolitik organisatorisch und wissen'
schädlich zu befruchten vermochte, und des-
sen Wirken und Werke — vielen unbe¬
kannt — dauernder als Erz sind.
Wilhelm Merton, im Sturmjahr 1848 ge-
boren, lernte das väterliche Geschäft, den Me*
tall'Großhandel; die ReichsgrQndung erwei¬
terte die Ziele des Frflhgereiften, sein Blick
umfaßte bald Erzeugung, Anfuhr und Vertei'
lung der Metalle. Allmählich in vier Jahr-
zehnte währender Arbeit verdrängte das
Haus Merton den englischen Wettbewerb;
wägen, wagen, erobern, ordnen, erhalten
bildeten die Leitmotive dieses wahrhaft
schöpferischen, weitausschauenden Kauf«
raanns.
Häufige Bleierkrankungen in den austra¬
lischen Minen seines Hauses führten ihn
zur sozialen Hygiene, starkes Verantwort-
lichkeitsgefOhl zur Erkenntnis, daß dieses
einstige Neuland grOndlichst und nur mit
großen Werkzeugen und Mitteln beadkert
werden müßte. Soziale Berufsbeamte —
nationalökonomisch und kaufmännisch ge¬
bildet — wurden die Pioniere Mertonscfaer
Ideen. Von der Armenpflege aus entstanden
das Frankfurter Institut für Gemeinwohl, die
Gesellschaft für Wohlfahrtseinrichtungen,
d. h. Mustereinrichtungen für Städte und
Zentralverwaltungen. Das .Gewerbehygie¬
nische Institut“, die .Soziale Praxis“ als
führendes Organ, das Berliner .Büro für
Sozialpolitik* folgten. Titel, Konfession, Par¬
tei blieben bei der Wahl der Mitarbeiter
unbeachtet.
Zusammen mit Franz Adickes wurden
von Wilhelm Merton die Grundlagen der
neuen Universität Frankfurt geschaffen. Zum
Gedächtnis eines im Westen ‘gefallenen
Sohnes entstand hier der erste ordentliche
Lehrstuhl für Pädagogik; vor dem Kriege
mit andern gemeinsam ein Berliner For¬
schungsinstitut zur Psychophysik der mensch¬
lichen Arbeit Der Kriegswohlfahrtspflege
kamen die jahrzehntelangen Erfahrungen zu¬
gute; der Tod traf ihn in den Sielen — auf
dem Wege zur Arbeit.
Wilhelm Merton war ein ewig Lernen¬
der, an sich und andern Arbeitender, sich
stets Wandelnder; auch er .ein Pilgersmann
in das gelobte Land!“ Seine Schöpfungen
werden ihn überleben; das ist das Testa¬
ment an seine Mitarbeiter. Der Beste und
Nächste von ihnen hat dies alles in der
zweiten Rede feinfühlig und warmherzig
geschildert
B. Laquer-Wiesbaden.
Fdr dfe Srhrtttleltuns; verantwortlich: Professor Dr. Max Corntceliue, Berlin W30, Luttpoktnrotte 4.
Druck von B. Q.Teubner ln Leipzig.
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INDIANA UNIVERSITY
INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
11. JAHRGANG HEFT 7 1. APRIL 1917
Die Auslandsstudien im preufsischen Landtag.
Der Inhalt der im letzten Februarheft abgedruckten Denkschrift des preußischen Kul¬
tusministeriums über die Förderung der Auslandsstudien ist in der 69. Sitzung des Ab¬
geordnetenhauses am 28. Februar das Hauptthema aller auftretenden Redner gewesen.
Unsem Lesern wird es ohne Zweifel erwünscht sein, auch diese Darlegungen sich be¬
quem zugänglich gemacht zu sehen. Nachstehend sind die einleitende Rede des Ministers
und aus den Reden der Abgeordneten die bezüglichen Teile nach dem stenographischen
Bericht zu wesentlich vollständigem Abdruck gebracht. Auch weiterhin wird die Inter¬
nationale Monatsschrift diesem großen und ganz in dem Rahmen ihrer eigenen Be¬
strebungen stehenden Unternehmen eingehende Behandlung noch zuwenden. M. C.
D. v. Trott zu Solz, Minister der geist¬
lichen und Unterrichtsangelegenhei¬
ten: Wie von verschiedenen Seiten
bereits hervorgehoben worden ist, und
wie Sie wohl nicht anders erwartet ha¬
ben, sind in dem Voranschlag des
Staatshaushalts auch im dritten
Kriegsjahr die erforderlichen Mittel wie¬
der vorgesehen, um auf dem weiten
Gebiete der Kulturpflege die von dem
Staate übernommenen Aufgaben wie
bisher zu erfüllen. Das gilt auch von den
Universitäten und technischen Hoch¬
schulen. Wenn hier gegen die Friedens¬
zeit im ganzen sich eine geringere Au§-
gabesumme ergibt, so hängt das mit der
Unmöglichkeit zusammen, in dieser Zeit
größere Bauten in Angriff zu nehmen,
deren Ausführung sonst hier besonders
in das Gewicht fiel. Wenn man das be¬
rücksichtigt, ergibt sich, daß nicht nur
die bisherigen Mittel wieder angefordert
werden, sondern daß sie sogar an man¬
chen Stellen eine Erhöhung erfahren ha¬
ben, und daß selbst für neue Zwecke
neue Mittel erbeten werden.
Ich bin dem Herrn Finanzminister
ganz besonders dankbar dafür, daß
dies auch für die Förderung der
Auslandsstudien geschehen konnte,
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über die ich mir erlaubt habe, Ihnen
eine Denkschrift vorzulegen. Ich möchte
dieser Denkschrift einige begleitende
Worte hinzufügen, und deshalb habe ich
schon zu Beginn der Debatte das Wort
erbeten.
Ich darf meiner Freude darüber Aus¬
druck verleihen, daß diese Denkschrift
vielseitige Zustimmung gefunden hat,
und daß ihr auch sonst in der Öffentlich¬
keit viel Interesse ■ entgegengebracht
worden ist. Die in ihr entwickelten
Ziele gehen über das hinaus, was den er¬
sten Anstoß zur Erörterung dieser Aus¬
landsfragen in den Parlamenten und in
der Öffentlichkeit gegeben hat. Wäh¬
rend diese Erörterung sich zunächst an
die Vorbildung unserer Auslandsbeam-
ten und Auslandsinteressenten anschloß,
habe ich im Frühjahr 1914, als diese Fra¬
gen zum erstenmal hier im Landtag er¬
örtert wurden, die Aufgabe weiter ge¬
stellt und eine allgemeine Förderung
der Auslandskenntnisse gefordert, die
nicht auf einer noch so glänzend ausge¬
statteten, aber immer doch von einer
verhältnismäßig kleinen Zahl besuchten
Auslandsfachschule, sondern nur da er¬
reicht werden können, wo unsere aka¬
demische Jugend ihre Bildung erwirbt:
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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
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auf unseren Universitftten und sonstigen
Hochschulen.
Meine Herren, ich habe damals zu die¬
sem leitenden Gedanken vielseitige Zu¬
stimmung gefunden und habe zugesagt,
ihn weiter zu prüfen und zu klaren, um
Ihnen dann ein Programm vorzulegen,
das grundsätzlich zu der Frage Stel¬
lung nimmt und Richtlinien für ihre Lö¬
sung gibt, die aber nicht im einzelnen
bindend sein sollen, vielmehr elastisch
genug, um spateren Erfahrungen und
hervortretenden Bedürfnissen noch
überall Rechnung tragen zu können. In
diesem Sinne habe ich mich mit der An¬
gelegenheit weiter befaßt und habe sie
unter Zuziehung sachverständiger Kräf¬
te, auch unter Eingliederung einer sol¬
chen in mein Ministerium, nach allen
Seiten hin geprüft und erwogen. Das Er¬
gebnis ist in knappen Zügen in der
Denkschrift niedergelegt, die Ihnen zu¬
gegangen ist, und in der ich Sie bitte,
das von mir zugesagte Programm
erblicken zu wollen.
Meine Herren, dies mein Programm
steht auf der Überzeugung, daß ein
Weltvolk, wie wir es geworden sind,
und wie wir es bleiben müssen, wenn
wir nicht verkümmern sollen — darum
geht ja der gewaltige Kampf, in dem
wir stehen —, daß ein Weltvolk, sage
ich, als Rüstzeug der Auslandskenntnis
bedarf, nicht nur für seine Auslandsbe¬
amten und seine Auslandsinteressenten,
sondern als ein Bestandteil seiner nati¬
onalen Bildung überhaupt. Hier brau¬
chen wir in der Tat eine gewisse
Neuorientierung. Wir müssen unserer
Bildung eine neue Note hinzufügen, das
Verständnis für die Weltzusammenhän¬
ge, für die großen Fragen der Weltpoli¬
tik und der Weltwirtschaft, für die Welt¬
aufgaben Deutschlands und seine Welt¬
stellung. Das aber, meine Herren, kann
nur erreicht werden durch eine mög¬
lichst weite Verbreitung gediegener
staats wissenschaftlicher Kenntnisse nach
dem Auslande hin, und deshalb müssen
in den Dienst dieser Aufgabe unsere Uni¬
versitäten und sonstigen Hochschulen
gestellt werden; diese müssen, soweit es
noch daran fehlt, im fortschreitenden
Maße mit den erforderlichen Einrichtun¬
gen versehen werden. Hierbei kommen
in erster Linie allerdings unsere Univer¬
sitäten in Betracht; aber sie nicht allein,
sondern auch unsere sonstigen Hoch¬
schulen, die Handelshochschulen und
ganz besonders auch die technischen
Hochschulen werden dazu herangezo-
gen werden müssen. Das versteht sich
ganz von selbst bei der Bedeutung, wel¬
che die Technik in unserm modernen
Leben hat.
Meine Herren, unsere Universitäten
sind Pflegstätten der Wissenschaft, und
wir pflegen auch dort die Wissenschaft
um ihrer selbst willen. Aber sie sind auch,
und zwar in erster Linie, Lehranstalten,
um die herangereifte Jugend für man¬
nigfache Berufe und Lebensstellungen
wissenschaftlich vorzubereiten und tüch¬
tig zu machen. Lehre und Forschung
sind an unsern Universitäten vereint,
und darin erblicken wir die Wurzel ihrer
Blüte. Daran werden wir unbedingt fest-
halten müssen. Aber innerhalb der Uni¬
versität dient doch die wissenschaftliche
Forschung vor allem als Quelle, aus der
die Kraft geschöpft wird, die den Unter¬
richt auf die höchste Stufe hebt und die
Lernenden wirkungsvoll dazu führt, daß
sie, wo immer das Leben sie hinstellt,
ihren Platz ausfüllen und zu wertvollen
Staatsbürgern und wertvollen Gliedern
der menschlichen Gesellschaft werden.
Schon das, meine Herren, weist darauf
hin, daß unsere Universitäten sich nicht
mit wissenschaftlicher Einzelarbeit, mag
sie auch noch so tief, in ihrer Art noch
so bedeutungsvoll sein, begnügen, sich
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Die Auslandsstudien Im preußischen Landtag
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darin nicht erschöpfen, nicht zersplittern
dürfen. Unsere Universitäten müssen auf¬
nehmend und befruchtend auch mitten
in unserm nationalen Leben stehen, des¬
sen nimmer rastende Bewegung auf¬
merksamen Auges verfolgen und daraus
die Bildungsbedürfnisse der Nation
scharfen Blicks erkennen, um sie wissen¬
schaftlich zu erfassen und in Verbin¬
dung zu setzen mit den großen alten
Wissenschaftsgebieten, damit auf die¬
sem Wege das wohl farbenreiche, aber
harmonisch abgestimmte Bild einer ein¬
heitlichen nationalen Kultur erworben
wird. Wenn die Universitäten auch dar¬
in ihre Aufgabe erblicken, dann werden
sie ihren großen Überlieferungen getreu
bleiben und selbst unter so komplizier¬
ten Lebensverhältnissen, wie sie die
Neuzeit bringt und bringen wird, die
Stellung, die ihnen gebührt, behaupten:
im Mittelpunkte, im Brennpunkte unse¬
rer Bildung, unseres Volkes zu stehen.
Mit vollem Recht und mit gutem
Grunde wenden wir uns deswegen an
die Universitäten und an die sonstigen
Hochschulen mit dem Verlangen der
Durchdringung unserer Bildung mit
staatswissenschaftlichen Kenntnissen,
mit Auslandskenntnissen, wie sie die
Denkschrift versteht und kennzeichnet
Freilich, der Weg ist lang und das Ziel
hochgestellt; das läßt sich nicht verken¬
nen, und daraus ist ja auch gegep meine
Auffassung und gegen meinen Plan von
einer Seite aus Einwand erhoben wor¬
den. Es ist gesagt worden, das Tempo
sei zu langsam. Lassen Sie mich hierauf
mit einigen Worten eingehen, ebenso wie
auf den weiteren Vorwurf, daß der Rah¬
men meines Planes zu eng gespannt sei.
Ich beginne mit dem letzteren: der
Rahmen sei zu eng. Die Aufgabe, wie
ich sie fasse, ist mit vollem Bewußtsein,
mit voller Absicht begrenzt worden. Die
Vertreter des Gedankens einer großen
zentralen Auslandshochschule gingen
sehr viel weiter. Sie wollten eine Anstalt
begründen, in der alle auf das Ausland
bezüglichen Aufgaben und Fragen be¬
handelt und gelöst werden sollten. Auf
manchen Gebieten, auf dem Gebiete des
Nachrichtenwesens, der Propaganda im
Auslande, der Beziehungen zu unseren
Ausländsdeutschen, der Ausbildung der
Auslandsbeamten und auch sonst emp¬
fand man lebhaft bestehende Mängel
und glaubte, sie mit einem Schlage be¬
seitigen zu können, wenn man eine Zen¬
trale schüfe, von der alle diese Aufga¬
ben mit großen Mitteln gelöst werden
sollten. Dabei schien die einheitliche
Leitung unserer Auslandspolitik auch
auf ein Einheitsinstitut hinzuweisen.
Aber, meine Herren, wenn man die Fra¬
ge näher prüfte, dann ergab sich doch,
daß, wenn man wirklich dauernde wert¬
volle Arbeit leisten und nicht schnell nur
eine Organisation schaffen wollte, man
dann nicht an die einheitliche Leitung
unserer ausländischen Politik, sondern
an die Vielgestaltigkeit unseres staatli¬
chen Daseins, unserer kulturellen Be¬
tätigung und unserer wirtschaftlichen
Interessen anknüpfen mußte. Es wird
vielleicht nicht unangebracht sein, wenn
ich einmal im einzelnen die verschiede¬
nen Auslandsaufgaben, die oft mehr
warm empfunden als klar durchdacht
sind, zusammenstelle; das läßt sich nach
den Wirkungszielen etwa in folgender
Weise tun. Zunächst in der Wirkung
auf die Heimat: 1. Weckung des Ver¬
ständnisses für die weltpolitische Betä¬
tigung Deutschlands in allen Kreisen des
Volkes, beginnend mit der Bildungs¬
schicht, 2. Fachbildung für Reichsbeam¬
te und Auslandsinteressenten. Zur Er¬
reichung dieses Zieles werden unent¬
behrlich, 3. wissenschaftliche Vertiefung
unsrer Auslandskenntnisse, 4. Schaffung
eines Nachrichtenwesens. Sodann mit
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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
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der Wirkung auf das Ausland, 5. Ein¬
flußnahme auf die öffentliche Meinung
des Auslands, besonders die ausländi¬
sche Presse, Zerstörung des engli¬
schen Nachrichtenmonopols, Kabelpo-
litik, drahtlose Telegraphie und anderes
mehr, 6. wirtschaftliche Propaganda
durch Ausstellungen, Kinos und derglei¬
chen, 7. Kulturpolitik auf dem Gebiete
der Literatur, der Musik, der Kunst und
Wissenschaft, Ausbau unseres Ausland¬
schulwesens. Eine Sonderstellung ge¬
bührt endlich den Beziehungen des
Deutschtums im Ausland, also 8. die
Pflege des Deutschtums im Ausland.
Alle diese Aufgaben können unmög¬
lich von einer Stelle aus gelöst werden;
es ist dazu auch gar nicht nur eine
Stelle berufen; hier liegen vielmehr, sich
gegenseitig berührend, Aufgaben des
Reiches, der Bundesstaaten und der pri¬
vaten Initiative. Wenn immer wieder
Meinungsverschiedenheiten darüber her¬
vorgetreten sind, um wessen Aufgabe
es sich hier handle, ob das Reich oder
ob die Bundesstaaten hier in Tätigkeit
zu treten hätten, so hat das vielleicht
auch seinen Grund darin, daß es sich
eben nicht um eine Aufgabe, sondern
um verschiedene Aufgaben handelt, von
denen die einen unzweifelhaft Sache des
Reiches sind, die anderen aber ebenso
unzweifelhaft nur von den Bundes¬
staaten oder durch private Initia¬
tive gelöst werden können. Das
wird man auseinanderhalten müssen,
wenn es auch gewiß falsch wäre, diese
verschiedenen Faktoren und Gebiete
nun schematisch voneinander zu tren¬
nen; die einen werden auf die anderen
übergreifen.. Ist es doch auch für das
Reich gar nicht möglich, seine Propa¬
ganda im Auslande zu treiben, ohne den
Unterbau der Bundesstaaten; anderer¬
seits wird die Ausbildung der Auslands¬
beamten nur nach den Richtlinien, die
das Reich'aufstellt, erfolgen können,
während das Nachrichtenwesen alle
drei FaktQren berührt. So findet eine
vielfache Überschneidung statt Was
aber die staatlichen Aufgaben anlangt,
so wird man sagen müssen, daß die
Propaganda im Ausland wesentlich
Sache des Reichs ist, während die Bil¬
dungspolitik im Inlande den Bundes¬
staaten zuzuweisen sein wird. Auf die¬
ser Grundlage ruhen die Ausführungen
der Denkschrift.
Wer alle diese auf das Ausland
bezüglichen Aufgaben einer großen
Organisation unterstellen und in einem
Institut zusammenfassen wollte, der be¬
ginge, glaube ich, einen doppelten Feh¬
ler. Er begönne den Hausbau mit dem
Dache und baute von oben nach unten,
anstatt von unten nach oben, und er ver¬
einigte unter einem Dach eine Fülle der
verschiedenartigsten Konstruktionen, so
daß die eine der anderen Licht und
Luft wegnehmen würde. Diesen doppel¬
ten Fehler möchte ich vermieden sehen,
und danach ist mein Plan gerichtet. Die
Unterrichtsverwaltung beschränkt sich
auf das Unterrichtsproblem, sucht dies
aber in viel weiterer und umfassenderer
Weise zu lösen, als es in einem Einzelin¬
stitut möglich wäre. Aber auch die ein¬
zelnen der Anregung und der Fachbil¬
dung dienenden Institute sollen vorläu¬
fig nict)t organisatorisch zusammenge¬
preßt werden; sie sollen sich frei entwik-
keln. Nicht das Ausland schlechthin,
sondern die einzelnen Kulturkreise des
Auslandes sollen Maß und Richtung für
die organisatorische Zusammenfassung
abgeben. Ob und inwieweit die Ent¬
wicklung dazu führen wird, alle diese
Zentren der Arbeit in den einzelnen
Hochschulen im Interesse des Stunden¬
plans oder auch von Prüfungen später
in nähere Verbindung zu bringen, wird
man abwarten müssen.
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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
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Zusammenfassend kann ich deshalb
wohl sagen: der Rahmen ist nicht
eng, sondern er ist weit gezogen; nur die
Aufgabe ist begrenzt. Aber gerade durch
die Begrenzung der Aufgabe und durch
ihre Zuweisung an die sachverständigen
Stellen wird auf eine gesunde Entwick¬
lung der Sache gerechnet werden kön¬
nen. Wenn gesagt worden ist, man
könne das eine tun und das andere nicht
lassen, man solle nur die staatswissen¬
schaftliche Durchdringung unserer Bil¬
dung in das Werk setzen und doch dane¬
ben ein großes Auslandsinstitut stellen,
so liegt da doch die Gefahr einer Über¬
organisation vor, für die ich, ganz abge¬
sehen von der finanziellen Seite, doch
die Verantwortung nicht übernehmen
möchte.
Damit, meine Herren, gelange ich zu
dem zweiten Einwande, den ich vor¬
hin erwähnte, daß ich einen zu langsa¬
men Ausbau empfehle. Es ist gesagt
worden, daß Gefahr im Verzüge sei.
Auch hier sind, wie es scheint, die ver¬
schiedenen Aufgaben nicht gehörig aus¬
einandergehalten. Gewiß, meine Her¬
ren, dringlich sind alle Aufgaben, aber
Unterrichtsfragen bedürfen der Ausrei¬
fung, Organisationen lassen sich schnell
ins Leben rufen. Was an letzteren wäh¬
rend des Krieges zum Teil in großarti¬
ger Weise von Reich und privater Seite
geschaffen worden ist, ist Ihnen bekannt.
Man darf annehmen, daß nicht wenige
von diesen Organisationen auch über
den Krieg hinaus bestehen bleiben wer¬
den, und dann wird es sich fragen, ob
nicht auch diese Organisationen für den
Unterricht verwendet werden können.
Ich möchte annehmen, daß man diese
Frage wird beantworten müssen. Aber
das läßt sich zur Zeit noch nicht regeln,
dazu bedarf es friedlicher Verhältnisse.
Auf dem Gebiete des Bildungswesens
können wir, wie gesagt, nur langsam
und systematisch vorwärtsgehen. Hier
werden auch noch manche Widerstände
zu überwinden sein, und es müssen auch
erst die rechten Formen gefunden, neue
Formen erprobt werden. Es fehlt zum
Teil auch an ausreichenden Lehrkräften.
Wenn hier auch der Kreis weiter gezo¬
gen werden soll, als es sonst üblich ist,
so kann doch nicht jeder, der sich als
Sachverständiger fühlt, als solcher an¬
genommen werden. Vielleicht auf kei¬
nem anderen Gebiet ist die Gefahr des
Dilettantismus so groß wie auf dem der
Auslandswissenschaft. Deshalb ist hier
Vorsicht am Platze. Liegt unter diesen
Umständen meiner Ansicht nach ein all¬
mähliches und vorsichtiges Entwickeln
im Wesen und der Natur der Sache, so
wird ja auch der finanzielle Gesichts¬
punkt — das bedarf wohl keiner weite¬
ren Ausführung — immerhin mit ins Ge¬
wicht fallen müssen. Aber ich freue mich
doch, aus den Verhandlungöl in der
Kommission den Eindruck gewonnen zu
haben, daß die Herren der Auffassung
sind, daß die Aufgabe von solcher Be¬
deutung ist, daß finanzielle Gesichts¬
punkte doch nur in zweiter Linie für sie
bestimmend sein können.
Meine Herren, der Weg, den ich auf
dem Höhepunkt .des Weltkrieges im
sicheren Vertrauen auf eine glückliche
und große Zukunft unseres Vaterlandes
einzuschlagen Ihnen empfehle, eröffnet
dem, der etwas näher zusieht und die
angedeuteten Linien vertiefend und ver¬
breiternd verfolgt, weite Perspektiven
für unser Volksleben und für unser ge¬
samtes Bildungswesen. Wie gesagt, das
Ziel ist hochgestellt, und der Weg dahin
ist lang. Es wird dauernder, zielbewu߬
ter Artieit bedürfen; die begehrte Frucht
wird nur langsam reifen. Aber um so
mehr ist es Zeit, die Hand ans Werk zu
legen und mit der Arbeit zu beginnen.
Wir sind dazu bereit und wollen uns,
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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
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wie wir es von der Vorbereitung nicht
getan haben, auch von der Ausführung
des Planes durch den Krieg nicht ab¬
halten lassen, erblicken vielmehr in ihm
und seinen Erscheinungen einen neuen
und dringenden Anstoß, nicht zu zö¬
gern und alsbald den ersten Schritt zu
tun. Geben Sie, meine Herren, dazu
Ihre Zustimmung, indem Sie die er¬
forderlichen Mittel bewilligen.
Dr. Heß (Zentr.): ... nun möchte ich
mir erlauben, auf das zu kommen, was
nicht nur in diesem Jahre zweifellos das
Rückgrat der ganzen Verhandlungen in
der Kommission über den Haushalt der
Universitäten gebildet hat, sondern was
wahrscheinlich und hoffentlich auf lan¬
ge Jahre hinaus dieses Haus gemeinsam
mit der Königlichen Staatsregierung auf
das eingehendste und lebhafteste be¬
schäftigen wird. Das ist das, was in der in
der letzten Zeit so viel erörterten Denk¬
schrift Über die Förderung der
Auslandsstudien enthalten ist. Es
war ein sehr glücklicher Gedanke des
Herrn Ministers, daß er bereits vor Ein¬
tritt in diese Verhandlungen Erklärun¬
gen zu seiner Denkschrift gegeben hat.
Er hat dabei eine ganze Reihe von Ge¬
sichtspunkten gegeben, die die knapp¬
gefaßte Denkschrift nicht hat entwickeln
können, und die auch in der Kommission
nicht zum Ausdruck gebracht worden
sind. Ich habe mir gestattet, über diese
Denkschrift bereits im gedruckten Wort
(Köln. Volkszeitung) mich des näheren
auszulassen und meine Darlegungen
dem Herrn Minister zur Kenntnis zu
bringen; hier möchte ich einige weitere
Gedanken zum Vortrag bringen.
Ich begrüße an der Denkschrift vor
allen Dingen zweierlei. Zunächst die
Art der Organisation, das Fundament,
auf dem dieser ganze Neubau wissen¬
schaftlicher Betätigung errichtet werden
soll.
Eins wird man freilich nicht übersehen
dürfen. Der Herr Kollege Friedberg
hat durchaus recht gehabt, wenn er sich
in der Kommission dahin äußerte, daß
die Denkschrift eigentlich gar nicht die
Ausführung der Ideen dieser Versamm¬
lung ist. Das war ganz richtig, und ich
habe mich bei der Durchsicht des Kom¬
missionsberichtes darüber gewundert,
daß er mit dieser Ansicht ganz allein¬
gestanden hat. Wir hatten tatsächlich
von vornherein uns die Lösung dieser
wichtigen Frage anders gedacht. Inso¬
fern bietet allerdings die Denkschrift,
wie sie uns nun vorgelegt worden ist,
eine gewisse Überraschung. Aber ich
will alsbald hinzufügen: eine ebenso an¬
genehme wie geistreiche Überraschung.
Wenn ich mir das Kompliment gestatten
darf, so möchte ich sagen: Derjenige,
der dieser Denkschrift nahesteht, scheint
mir ein ebenso kluger wie logischer
Kopf zu sein. Ich gebe das ganz neidlos
zu, weil ich meine, man soll das Gute
loben da, wo man es findet. Deshalb
wird auch der Herr Minister, wenn ich
Ihn darauf aufmerksam mache, daß sich
weite Kreise dieses Hauses etwas be¬
kümmert fühlen, weil man die Initia¬
tive, die in dieser Frage vom Abgeord¬
netenhause entwickelt worden ist, in
der Denkschrift nicht genügend aner¬
kannt hat, keinen Anstand nehmen, bei
einer anderen Gelegenheit diese Initia¬
tive wohlwollend anzuerkennen. Ich für
meine Person gestehe ganz neidlos, daß
die Denkschrift die Initiative des Hau¬
ses im Kern durchaus getroffen und
über diese Initiative hinaus die Absich¬
ten des Hauses im höchsten Maße ge¬
fördert hat. Ich meine, daß die Denk¬
schrift auf dem richtigen Wege ist,
und das, was der Herr Minister eben
ausgeführt hat, hat mich in dieser Auf¬
fassung nur bestärkt. Der Weg der De¬
zentralisation ist der einzig richtige.
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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
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Wir können nicht zentralisieren, bzw.
wenn wir es so tun, wie es das Haus
in seiner Initiative gedacht hat, da kom¬
men wir nicht zu dem großen Ziele, das
wir uns gesetzt hatten.
Dabei will ich allerdings keinen
Zweifel lassen, daß auch nach den Aus-
fflhrungen, die der Herr Minister soeben
gemacht hat, immerhin von seiten mei¬
ner Freunde noch einige große Wünsche
bestehen bleiben. Wir können dem
Herrn Minister nicht in jeder Beziehung
in dem folgen, was er gesagt hat, weil
dabei nicht alle Kräfte ausgenutzt wer¬
den, die in unserem deutschen Volke
stecken. Ich gebe zu, Dezentralisation ist
das Richtige, aber wir sind der Meinung,
es gehört trotzdem zu dieser Dezentrali¬
sation ein gewisser — ich möchte sagen
— Oberbau. Wenn ich den Herrn Mini¬
ster recht verstanden habe — er sprach
bei dieser Gelegenheit etwas leise —,
so hat er ja selbst diesen Ausdruck ge¬
braucht. Ein gewisser Oberbau zur Krö¬
nung des ganzen Gebäudes, in dem wir
die ganze wissenschaftliche Tätigkeit in
vollendeter wissenschaftlicher Weise
zusammenfassen, gehört unseres Erach¬
tens dazu. Ich würde hier auch zum
Ausdruck gebracht haben, daß wir die
technischen Hochschulen wesentlich
stärker für diesen Zweck ausgenutzt
wünschen, als die Denkschrift es tut. In¬
dessen hat der Herr Minister ja soeben
mit großer Wärme ausgesprochen, er
halte die Benutzung der technischen
Hochschulen ebenso wie die Heranzie¬
hung der Handelshochschulen für etwas
ganz Selbstverständliches. Auf dem
Standpunkt stehen wir allerdings auch.
Also nur auf dem Wege der Dezentra¬
lisation lassen sich die breiten Schichten
unserer Intellektuellen und unsere ge¬
samte Volksintelligenz so erfassen, wie
das nötig ist, um den Gedanken zur vol¬
len Auswirkung kommen zu lassen. Wie
nun die daneben von uns gewünschten
Zentralinstitute beschaffen sein sollen,
kann man prima vista nicht gut sagen;
das ist nicht leicht zu übersehen. Der
Herr Minister hat recht, wenn er von
großen Schwierigkeiten spricht Ob man
z. B. zu einem weiteren Ausbau unseres
Orientalischen Seminars in Berlin kom¬
men oder des Instituts für Weltwirtschaft
und Seeverkehr in Kiel oder des Kolo-
nialinstituts in Hamburg schreiten soll,
das muß eben genau überlegt werden.
Nur meinen wir: es muß etwas geschaf¬
fen werden, was das schöne, stolze
Werk krönt, und es wird sich schon ein
Weg finden lassen, der uns das Richtige
treffen läßt
Nun habe ich mich darüber gewun¬
dert daß in der Kommission eine Seite
der Frage überhaupt nicht berührt
worden ist, auf die ich für meine Per¬
son einen ganz besonderen Nachdrude
lege und meine Freunde mit mir. Daß
der Herr Minister diesen Weg gewählt
hat, ist nämlich nicht zuletzt aus ver¬
fassungsrechtlichen Gründen zu begrü¬
ßen. Meine Herren, gerade in einer Zeit,
die dem genialsten Gedanken Otto
v. Bismarcks, seinem Meisterwerke
des bundesstaatlichen Föderativsystems
manchmal so gefährlich zu werden
droht wie die unserige, gerade in der
Jetztzeit, die unsere angespannte Auf¬
merksamkeit verlangt, damit dieses
stolze Bauwerk nicht auf diesem oder
jenem Wege unterwühlt wird, ist es gar
nicht hoch genug zu werten, daß der
Herr Kultusminister allen Versuchen
von vornherein ein festes Nein entge¬
gensetzt, die seine Kompetenz in einem
der vornehmsten bundesstaatlichen
Reservate irgendwie anzutasten suchen.
Das ist eben das Gebiet des Unter¬
richtswesens. Dafür kann man dem Kul¬
tusminister gar nicht genug dankbar
sein; das wird jeder zugeben, der von
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der Idee beherrscht ist — und ich bin das
allerdings und meine Freunde mit mir
—, daß das Bismarcksche System des Fö¬
derativstaates auch heute noch gut und
richtig ist.
Nun hat der Herr Kultusminister eben
gesagt, es wäre ihm der Vorwurf ge¬
macht worden, er schlüge ein zu langsa¬
mes Tempo ein. Ja, ich für meine Per¬
son kann schlechterdings nicht wohl
verstehen, wie man einen solchen Vor¬
wurf erheben kann. Daß ein sehr großer
Zeitraum dazu gehört, um eine so feine
und komplizierte Maschinerie überhaupt
in Gang zu setzen, wie sie hier geplant
ist, ist doch ganz selbstverständlich. Im
übrigen meine ich, der Herr Minister
spart schon dadurch eine ganze Menge
Zeit ein, daß er, wie in seiner Denk¬
schrift steht, beabsichtigt, „für be¬
stimmte Fragen Männer der Praxis her¬
anzuziehen, sei es aus dem Wirtschafts¬
leben, sei es aus dem Außendienst
des Reiches“. Meine Herren, das ist
ein grundgesunder Zug, und wenn
dem nachte^an^en wird, machen wir von
vornherein eine ganze Reihe Kräfte ver¬
wendbar, durch die wir eine ganze
Menge von Zeit von vornherein einspa¬
ren, und ich möchte wünschen, daß der
Herr Minister hier alsbald beherzt zu¬
greift. Es sind nämlich gerade auf die¬
sem Gebiete eine ganze Menge Kräfte
da, die mitarbeiten können, eine Menge
Kräfte, die auch durchaus die akademi¬
schen Anforderungen erfüllen, die man
naturgemäß für die Beteiligung an
einem solchen Erziehungswerk stellen
muß.
Daß zweitens neben der Zeit Geld nö-
« tig ist, das ist ebenso selbstverständ¬
lich. Man fragt: Woher sollen wir das
Geld nehmen? Im Augenblick haben wir
es freilich nicht. Ich habe in der vorigen
Woche in einer Rede zum Etat des
Finanzministers zum Ausdruck gebracht,
daß ich darin durchaus Optimist bin, der
Krieg wird von uns gewonnen, dann
wissen wir auch, wo wir das Geld her¬
nehmen sollen. Und ich begrüße auch
bei dieser Frage noch einmal ganz be¬
sonders, daß nicht nur Graf v. Roedern
im Reichstage, sondern gestern auch der
Herr Reichskanzler erklärt hat, daß
wir auf einer ausreichenden Kriegsent¬
schädigung bestehen. Es ist ganz klar,
daß diejenigen dafür herhalten und da¬
für büßen müssen, die uns diesen furcht¬
baren Krieg auf den Hals gejagt haben.
Wenn der Herr Minister dann mit gro¬
ßen Anforderungen an uns herantreten
wird, so werden wir dafür durchaus zu
haben sein; denn das ist ein Kapital,
das sich zweifellos ausgezeichnet ver¬
zinsen wird.
Was nun den Inhalt und die leitenden
Gedanken der Denkschrift angeht, so ist
sie getragen von der uns allen gerade
während dieses Krieges und durch den¬
selben so elementar zum Bewußtsein ge¬
kommenen Erkenntnis, daß in unserer
intellektuellen deutschen Ausbildung
ein Fehler steckt. Dieser Fehler hat sich
begreiflicherweise dann auch in unserer
gesamten Auffassung von deutscher Po¬
litik, von deutscher Kulturmission und
deutscher Weltmission widergespie¬
gelt. Unser deutsches Volk ist ein so
großes und herrliches Volk, von so
außerordentlichem Reichtum an Geistes¬
und Gemütsgaben. Paul de Lagarde hat
ja das schöne Wort geprägt: Das
Deutschtum liegt nicht im Geblüte, son¬
dern im Gemüte. Ein Volk von solchen
Gaben hat im Interesse der gesamten
Kultur der Menschheit geradezu die
Pflicht, diese Gaben stärker und energi¬
scher zum Ausdruck zu bringen, als das
bisher der Fall gewesen ist. Gerade die¬
se Gemütstiefe des deutschen Volkes
läßt es meines Erachtens für Kulturauf¬
gaben, die jenseits der Grenze seines
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Original frorn
INDIANA UNIVERSITY
785
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
786
Reiches liegen, viel geeigneter und be¬
rufener erscheinen, als das brutale und
gemfltlose England, über das Oskar A.
H. Schmitz eines seiner trefflichsten Bü¬
cher geschrieben hat unter dem treffen¬
den Titel „Das Land ohne Musik.“
Meine Herren, hier müssen wir ein-
setzen, und in diesem Sinne begrüßen
wir, was die Denkschrift die „Politisie¬
rung der Jugend“ nennt. Bei diesem
Punkte weist die Denkschrift mit vollem
Recht über den Rahmen der Parteipoli¬
tik hinaus, und ich tue das mit ihr, wenn
ich auch gleichzeitig eine kleine Ein¬
schränkung zu machen mir erlauben
möchte. Man darf nicht verkennen —
das ist keine Kritik an der Denkschrift,
sondern es ist ein Gedanke, den ich
nebenher äußern möchte —, daß auch die
parteipolitische Erziehung ohne jeden
Zweifel tiefe erzieherische Werte in sich
birgt. Die parteipolitische Erziehung ist
es, die den einzelnen überhaupt erst in
lebendige, wenn auch manchmal recht
kritische Beziehung zum Staate setzt.
Die Parteipolitik ist es, die ein Volk im¬
mer wieder aufrüttelt und jede Sta¬
gnationverhütet, ohne die auf die Dauer
jedes Volk zur trostlosen Versumpfung
seines ganzen Staatswesens kommen
würde. Die Parteipolitik ist es erst, die
das lebendige Spiel der Kräfte, die im
Volke drinstecken, in Belegung setzt.
Die parteipolitische Bewegung darf man
also in ihrem tiefen ethischen Wert nicht
unterschätzen Aber es ist durchaus rich¬
tig, daß es darüber hinaus etwas gibt,
was die Gegensätze zum guten Teil ver¬
gessen machen kann, was uns sozusagen
aus dem ewigen, aufreibenden Parteige¬
triebe — wer merkt es deutlicher am
eigenen Leibe als wir? — herausheben
kann auf freiere Höhen. Das ist eben der
Gedanke an die deutsche Weltmission,
die das deutsche Volk auch über die
Grenze des Reiches hinaus betätigen
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soll, und dahin verstehen wir das, was
die Denkschrift die „Politisierung der
Jugend“ nennt. In diesem Sinne möchten
wir den Begriff der Politisierung der
Jugend erweitern in den Begriff einer
Politisierung unseres ganzen deutschen
Volkes. Meine Herren, hier an diesem
Punkte hat es bei uns gefehlt, an diesem
Punkte werden wir einzusetzen haben,
wenn es anders, wenn es besser wer¬
den soll.
Mir ist da in den letzten Tagen bei
meinen literarischen Privatliebhabereien
wieder einmal ein Beispiel aufgesto¬
ßen, das mir so recht klarzulegen
scheint, daß es gerade an diesem Punkte
gefehlt hat. Ist es zu verstehen, daß ein
so bedeutendes Werk wie Friedrich Rat¬
zels „Politische Geographie“ im gan¬
zen zwei Auflagen erlebt hat? Die er¬
ste Auflage erschien vor 20 Jahren, die
letzte vor 10 Jahren. Das ist einfach gar
nicht zu begreifen bei einem Buche, wie
es gerade dieses ist, bei einem Buche,
das nicht nur nach den Intentionen des
Verfassers dazu bestimmt, sondern auch
nach seinem Inhalte durchaus dazu be¬
rufen ist, zur „Annäherung der Staats¬
wissenschaft und Geschichtswissen¬
schaften an die Geographie" zu dienen.
Meine Herren, auf derartige Bücher wer¬
den wir zurückgreifen müssen, um so
mehr als doch auch die Denkschrift un¬
ter den vorgesehenen Lehraufträgen mit
vollem Recht an allererster Stelle einen
solchen „für spezielle Geographie und
Landeskunde einzelner Länder mit be¬
sonderer Berücksichtigung der Wirt¬
schaftsgeographie“ nennt.
Darüber hinaus habe ich allerdings
auch noch die Überzeugung, daß eine
Schulung, eine Entwicklung des deut¬
schen Volkslebens in diesem großzügi¬
gen Sinne auch noch die sehr erwünsch¬
te Nebenwirkung haben wird, daß sie
uns edle etwas weniger voreingenom-
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INDIANA UNIVERSITY
787
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
788
men gegeneinander machen wird. Mein
Freund Dr. Kaufmann hat gestern mit
tiefernsten Worten darauf hingewiesen,
daß selbstverständlich die Weltanschau¬
ungsgegensätze in Deutschland bestehen
bleiben werden. Damit hat er recht. Kei¬
ner von uns wird sich darüber Utopien
hingeben und wird etwas anderes an¬
nehmen wollen. Aber, meine Herren, das
braucht nicht auszuschließen, daß es ein
großes neutrales Gebiet gibt, auf dem
wir alle uns in gemeinsamer Arbeit für
die gemeinsame Sorge um das Wohl un¬
seres gemeinsamen Vaterlandes werden
finden können. Dazu, meine Herren,
scheint mir allerdings die Beschäftigung
auf dem Gebiete geradezu wie geschaf¬
fen, das die Denkschrift mit so knappen,
mit so klaren und so logisch aufgebau¬
ten Sätzen herausgearbeitet hat. In die¬
sem Zusammenhänge möchte ich es
denn mit größter Freude begrüßen, daß
der Herr Minister alsbald es für gut und
notwendig erachtet hat, zur Verwirkli¬
chung seiner Ideen an einen Ausbau
der katholisch-theologischen Fakultät in
Münster i. W. heranzutreten. Er hat es
motiviert mit den Worten: „Es ist nur
billig, auch den christlichen Orient zum
Gegenstände unserer akademischen Ar¬
beit zu machen.“ Meine Herren, nicht
nur das ist billig und gut, sondern es ist
überhaupt gut und liegt sehr im Interesse
unseres deutschen Vaterlandes, wenn
wir uns bei diesen ganzen Ideen, die uns
da beschäftigen, auch mit der Missionie¬
rung, mit der christlichen Missionsarbeit
recht eingehend befassen wollen. Ich ha¬
be soeben von Friedrich Ratzel gespro¬
chen; als ich sein Buch noch einmal
durchblätterte, fiel mir folgende Stelle
auf, die mir gerade im Munde dieses
Mannes, der doch gar nicht auf meinem
Standpunkt steht, außerordentlich be¬
zeichnend zu sein scheint. Ratzel sagt
irgendwo: Große, politisch wirksame
Ideen haben sich bis in die neueste Zeit
in der Form der Religion verbreitet
Nicht bloß das Mittelalter hat mit dem
Kreuz in der Hand Staaten gegründet.
Und an einer anderen Stelle: Zur Ver¬
breitung des Christentums hat wohl
nichts so' beigetragen als seine Fähig¬
keit Barbarenvölker zu bändigen, die
das sinkende römische Reich nicht po¬
litisch zu unterwerfen vermochte. Ich
meine, das sind ganz ausgezeichnete
Sätze.
So, meine Herren, erblicke ich denn
in dem, was die Denkschrift eine Poli¬
tisierung der Jugend nennt, etwas, was
ich unter den etwas allgemeiner gefa߬
ten „Begriff einer Erziehung zu deut¬
schem Nationalbewußtsein zusammen-
fassen möchte. Darunter verstehe ich die
Ausnutzung und die Ausbildung der
edelsten deutschen Eigenschaften mit
dem Ziel, das deutsche Volk mit jenem
berechtigten Stolze auf seinen eigenen
Wert zu erfüllen, der ebenso weit ent¬
fernt ist von ödem Chauvinismus wie
von törichter und weichlicher Hintan¬
setzung seiner eigenen Interessen hin¬
ter diejenigen anderer Staaten oder gar
von Würdelosigkeit.
Meine Herren, der erste Kanzler hat
einmal folgendes Wort geprägt:Die Nei¬
gung, sich für fremde Nationalitäten
und Nationalt>estrebungen zu begeistern
auch dann, wenn dieselben nur
auf Kosten des eigenen Vaterlandes ver¬
wirklicht werden können, ist eine poli¬
tische Krankheitsform, deren geographi¬
sche Verbreitung sich leider auf Deutsch¬
land beschränkt. Das ist das, was ich
eben mit meinen Ausführungen gemeint
habe ...
Meine Herren, so gesehen, denke ich
mir die deutsche Erziehungsarbeit der
Zukunft geradezu köstlich. Mit ganz
neuen Ideen werden wir demnächst an
unsere gesamte Jugend herantreten
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Original from
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789
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
790
vom VolksschQler bis zum Studenten;
und unsere gesamte Lehrerschaft, vom
Volksschullehrer bis zum Hochschul¬
professor, wird sich in den Dienst die¬
ser Erziehungsaufgabe zum deut¬
schen Nationalbewußtsein zu stel¬
len haben. Und es muß eine wahre
Lust sein, demnächst in der Erinnerung
an Deutschlands schwerste Stunde, aus
der es dann siegreich hervorgegangen
sein wird, unsere Jugend zu echten und
rechten deutschen Männern zu erziehen.
Dabei möchte ich zum Schluß ein Wort
auf unsere Zeit anwenden, das von dem
großen Katholiken Joseph v. Görres aus¬
gesprochen worden ist, dem Manne, in
dem jeder, der ihn kennt, nächst Bis¬
marck den größten Deutschen des 19.
Jahrhunderts erblicken muß. Der hat am
Schlüsse seines Rückblickes auf das
Jahr 1814 gesagt: Viel Gutes ist gesät
worden in Deutschland in diesem und
im vergangenen Jahre, und mehr, als
man glaubt, hat Wurzel geschlagen.
Hoffnungsvoll und vielversprechend
stehen die Saaten I
Dr. Irmer (kons.):... nun zum Aktuell¬
sten in diesem Kapitel: die Frage der
Auslandshochschule. Sie ist in dan¬
kenswertester Weise geklärt worden,
meines Erachtens auch zugleich beant¬
wortet worden — vorläufig wenigstens
— in der uns vorgelegten Denkschrift
Ober die Förderung der Auslandsstudi¬
en. Vielleicht erscheint es Ihnen nicht
unwillkommen, wenn ein Mann, der jah¬
relang draußen im Auslande war und
die Psyche der Nationen und die Länder
aus eigener Anschauung kennt, Ihnen
aus seiner Erfahrung heraus seine Mei¬
nung zu dieser Frage zu erkennen gibt.
Die Frage ist zweifellos aktuell, aber
wenn gesagt wird, daß sie neu wäre, so
ist das ganz gewiß nicht richtig. Als ich
vor 25 Jahren ins Auswärtige Amt be¬
rufen wurde, war die erste Arbeit, die
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mir von meinen Oberen aufgetragen
wurde eine zusammenfassende Arbeit
über die Vorbildung der Auslandsbeam¬
ten für ihren Dienst im fremden Land.
Das war Anfang der neunziger Jahre,
und von da an ist selten eine Woche
vergangen, wo ich über dieses Auslands¬
problem an der Hand neuer Erfahrungen
nicht nachgedacht hätte.
Die Geburtsstunde dieses Gedankens
der Auslandsvorbildung fällt zusammen
mit dem Erwachen des Hansageistes in
Deutschland, damals, als unser preußi¬
scher Adler, der bis dahin ruhig und si¬
cher auf dem Felsen gesessen hatte, flie¬
gen lernte auch über das Meer, damals,
als Deutschland seinen berechtigten An¬
teil an Weltwirtschaft und an Seegel¬
tung forderte. Das war ja doch auch mit
einer der Zukunftsträume unserer Väter,
der nach der Schaffung des Reiches
noch der Erfüllung harrte. Und die Fra¬
ge hat in ihrer Ausbildung immer glei¬
chen Schritt gehalten mit der Entwick¬
lung der deutschen Politik von der kon¬
tinentalen zur Weltpolitik. Wir wissen
genau, daß Bismarck sich von dem Bo¬
den der Kontinentalpolitik nur schwer
hat abbringen lassen, erst nach seiner
Entlassung ist ihm das volle Verständ¬
nis dafür zur Gewißheit geworden, daß
das deutsche Volk zur Seegeltung ge¬
langen oder ohne sie und ohne Welt¬
wirtschaft verkümmern müsse.
Für die Entwicklung des überseei¬
schen Gedankens in Deutschland ist ein
Schulbeispiel die Ausgestaltung des Ori¬
entalischen Seminars. Das Orientalische
Seminar ist noch unter dem Fürsten Bis¬
marckgegründetworden, zunächst allein
für orientalische Sprachen. Ganz
allmählich ist das anders geworden, hat
es sich immer umfangreicher ausge¬
wachsen. Heute ist das Orientalische Se¬
minar in gewissem, beschränktem Sinne
bereits eine kleine Auslandshochschule,
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INDIANA UNIVERSITY
79!
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
792
aber immer in Anlehnung an die Berli¬
ner Universität. Ähnlich ist es geschehen
mit dem Kolonialinstitut in Hamburg.
Das Institut ist auf dem geraden Wege
zur Hochschule, zur Universität. Ein
ganz natürlicher Gang der Dinge. Ich
darf Sie weiter erinnern an das Institut
in Kiel — auch das ist angegliedert an
die Universität —, an die Handelshoch¬
schulen in Köln und Frankfurt. Sie müs¬
sen zugeben, man kann dem preußischen
Kultusministerium nicht vorwerfen, daß
es sich um diese Dinge nicht gekümmert
habe. Es hat immer gearbeitet an die¬
sem Gedanken. Es ist langsam ge¬
gangen, ich gebe zu, man konnte mit
der Frage noch nicht ins Reine kom¬
men, noch nicht schlüssig werden. Es
war da ein Meer von Vorschlägen und
Anregungen, aber es fehlte ein klarer
logischer Kopf, der der Vollstrecker
des Gedankens werden sollte, sobald
der Zeitpunkt der Reife gekommen
war ...
Wollen Sie meine Gedanken über die¬
se Frage der Auslandshochschule wis¬
sen, so gehen sie auf Grund mei¬
ner praktischen Erfahrungen dahin: Zu¬
nächst gibt es meines Erachtens gar
keine geschlossene Auslandswissen¬
schaft. Man wird das sofort erken¬
nen, wenn man einen Lehrplan da¬
für aufstellen will. Sie wird sich immer
sehr wesentlich an die Disziplinen an¬
derer Hochschulen anlehnen müssen,
nicht allein der Universität, sondern
auch der landwirtschaftlichen, der Han¬
delshochschule, vor allen Dingen auch
der technischen Hochschule. Die tech¬
nische Hochschule gerade spricht sehr
gewichtig mit, denn s;e ist ja doch die
Nährmutter der stärksten Triebkraft un¬
serer Zeit: des Verkehrs. Sie sehen, wir
haben tatsächlich keine geschlossene
Auslandswissenschaft und können da¬
mit auch kein selbständiges Auslands-
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Studium konstruieren, ohne bei der Uni¬
versität starke Anleihen zu machen ...
Am zweckmäßigsten für die Studieren¬
den wäre es wohl, wenn man in Ber¬
lin ein „Quartier latin“ schaffen könnte:
die Gebäude für die Universität und die
Hochschulen der Einzelwissenschaften
mit ihren Instituten in nächster Nachbar¬
schaft; dann hätte man eine Universität
im wahren Sinne des Wortes.
Endlich noch etwas, was bei der Be¬
handlung poch wenig berücksichtigt ist:
Es kommen ja nicht nur die gebildeten
Kreise in Frage, die eine abgeschlossene
höhere Schulbildung haben I Was wol¬
len Sie mit den Kaufleuten, den Land¬
wirten, den einfachen Handwerkern
machen, die doch in meist größerer Zahl
auch in das Ausland hinausgehen, und
die doch ganz gewiß auch deutsche Kul¬
turpioniere sein sollen? Soll es denn
wieder so kommen, wie es früher war,
daß diese schlichten unternehmenden
Männer des Volkes einfach sozusagen
Kulturdünger für die fremden Völker
wurden? Wollen Sie die ganz hilflos
lassen, oder wollen Sie sie auch auf die
Auslandsschulen schicken und dort für
den Auslandsberuf vorbereiten lassen?
Ich glaube, man muß gerade ihnen —
erst recht ihnen — einen kräftigen
Schwimmgürtel von Auslandswissen
mitgeben, damit sie nicht im englischen
Meere untersinken! ...
Ich fasse das Endergebnis der Denk¬
schrift dahin zusammen: Fort zunächst
mit dem unpraktischen und vorläufig un¬
ausführbaren Gedanken einer Auslands¬
hochschule; das kann vielleicht später
einmal kommen, da mag der Herr Mini¬
ster recht haben wenn ich auch —den
Baumeister dafür noch nicht bestellen
würde. Zunächst heißt die Forderung
der Stunde: die Unterlagen für ein all¬
gemeines Auslandswissen zu schaffen;
sodann wissenschaftliche Ausbildung
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INDIANA UNIVERSITY
793
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
794
für Auslandsberufe in den Instituten der
einzelnen Hochschulen; endlich: allge¬
meine Auslandsbildung für das ganze
deutsche Volk, aber nicht nur für die, wel¬
che hinausgehen, sondern auch für die,
die hierbleiben. Diese Ausbildung für die
Hinausgehenden muß so sein, daß jeder,
der einen praktischen Beruf da draußen
ausübt, gleichviel ob es ein hoher Be¬
ruf ist, ob er amtlich oder nicht amtlich
hinausgeschickt wird, im fernen Auslan¬
de nicht völlig hilf- und ratlos dasteht
und am Ende die Armenpflege der Kon¬
sulate in Anspruch nehmen muß. Vor
allem auch, daß er nationales Rückgrat
mitbringt, starkes deutsches völkisches
Bewußtsein, damit er nicht gleich im er¬
sten Jahre in dem fremdsprachigen Meere
untergeht. Diese doppelseitige Zukunfts¬
aufgabe,nach außen und nach innen ge¬
richtet, kann aber niemals auf dem
Wege einer Auslandshochschule erfüllt
werden, da müssen auch die Schulen
helfen. Sie paßt aber vollkommen hin¬
ein in den Rahmen des Kultusministe¬
riums, denn das gesamte Unterrichtswe¬
sen gehört dorthin.
Meine Herren, das ist natürlich eine
ganz neue und große Aufgabe. — Ich
darf nebenbei bemerken, daß dabei na¬
türlich auch andere Faktoren mitarbei-
ten müssen. Ich verweise nur auf die
gewaltige Mithilfe, die der Presse zu¬
fallt. — Aber zu scheuen braucht sich
das Kultusministerium davor nicht. Die
Geldfrage darf und wird in diesem
Falle kaum eine Rolle spielen.
Nun, meine Herren, nach meinen prak¬
tischen Erfahrungen — und sie sind das
Ergebnis einer Auslandsarbeit von
25 und mehr Jahren in allerlei fremden
Landen — kann ich Ihnen nur dringend
raten, daß Sie diesen in der ausgezeich¬
neten Denkschrift vorgesehenen Weg
ruhig betreten. Wir müssen ihn gehen,
wenn wir die großen Lücken ausfüllen
wollen, die sich in diesem Kriege an un¬
serer geistigen Auslandsrüstung gezeigt
haben, zu unserem großen Nachteil
und unwiederbringlichen Schaden. Der
harte Lehrmeister Krieg hat diese aus¬
ländischen Bestrebungen heute zu einem
nationalen Gemeingut gefördert. Wir
wollen nicht zurückkriechen auf unsere
Berge; wir wollen nicht wieder das
Meer mit dem Rücken ansehen. Für uns
heißt auch nach dem Kriege die Losung:
Vorwärts 1 Wir haben unendlich viel
nachzuholen — darüber ist kein Zwei¬
fel — auf dem weiten Arbeitsfelde der
Welt im Wettbewerb mit den anderen
Nationen. Sie sind uns zuvorgekommen,
und wir müssen sie einholen; da hilft
alles nichts. Zuwachs an politischer
Macht allein tut es da nicht. Wir müssen
sie einholen und überholen durch prak¬
tische überseeische Arbeit auf der Grund¬
lage einer allgemeinen und wissenschaft¬
lichen Auslandsbildung des Volkes in
höherem oder minderem Grade—und vor
allem auf der unerschütterlichen Grund¬
lage nationalen Pflichtbewußtseins; das
muß unserem jungen Volke immer wie¬
der eingehämmert werden. Für den hin¬
ausgehenden Deutschen darf es in Zu¬
kunft ein: „Ubi bene, ibi patria“ nicht
mehr geben. Wir müssen endlich anfhö-
ren, damit zufrieden zu sein, daß der
„deutsche Gedanke“ in der ganzen
Welt verbreitet ist. Das ist nicht genug,
meine Herren! Der deutsche Gedanke
tut es allein nicht; er muß auch draußen
zur deutschen Tat werden. Wir sind
nach dem völkermordenden Kriege ganz
gewiß nicht reich genug, um auch nur
einen Deutschen an das Ausland auf
Nimmerwiedersehen abgeben zu kön¬
nen. Ist es nicht erschütternd, meine Her¬
ren, wenn Sie jetzt in den Gefangenen¬
lagern oder in Ruhleben die Söhne und
Enkel von denjenigen, die 1866 mitge-
fochten haben, und die noch das Eiserne
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INDIANA UNfVERSITY
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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
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Kreuz von 1870 auf ihrer Brust tragen,
wiederfinden in englischer Uniform? Nie¬
manden kann das tiefer schmerzen als
mich, der ich in Kanada, auch in Au¬
stralien noch die alten Leute voll Begei¬
sterung für die alte Heimat gesehen
habe. Allein in Queensland waren mehr
als 18, die das Eiserne Kreuz trugen; und
—ihre Enkel fechten heute schon gegen
uns! Das muß aufhören ...
Sehen Sie, meine Herren, auf einem
solchen allgemeinen wissenschaftlichen
Wege, der im Rahmen des Kultusministe¬
riums umschrieben ist, werden wir un¬
sere weltwirtschaftliche Stellung auf
friedlichem Wege sichern; und mit der
Weltwirtschaft — das ist niemand
heute ein Geheimnis mehr — steht und
füllt auch die Weltstellung unserer Na¬
tion ...
D. Traub (Dortmund) (fortschr. V.-
P.): Meine Herren, gestatten Sie, daß
ich mit einer geschichtlichen Erinne¬
rung beginne. Die Zeit nach 1815 war
„die hohe Zeit der Pädagogik“ in
unserm preußischen Staat. Damals
wurden die preußischen Universitäten
nach dem Muster der Berliner Univer¬
sität begründet; damals wurde das preu¬
ßische Gymnasialwesen ins Leben ge¬
rufen; damals wurde der Volksschulun-
terricht als methodisches Lehrfach in
seinen wissenschaftlichen Voraussetzun¬
gen erkannt. Und das alles trotz der
gleichzeitigen politischen Reaktion! Und
heute? Wir fürchten für die Zukunft
keine politische Reaktion. Gerade darum
erwarten wir doppelt und dreifach eine
Wiederholung und Vertiefung jener
„hohen Zeit der Pädagogik“ vor hundert
Jahren. Wir wollen da unsere Erwar¬
tungen gar nicht von vornherein nie¬
drig stellen. Wir bitten das Kultusmi¬
nisterium in erster Linie, daß es alle
Anregungen, die von außen gegeben
werden — und es ist ja eine Zeit großer
und reicher Anregungen —, wirklich
gern und willig an sich herankommen
lassen möge. Wir sind überzeugt, daß
mit aller Freudigkeit auch jetzt wieder
in Erinnerung an jene Zeiten die großen
Aufgaben der gesamten nationalen Pä¬
dagogik klar und deutlich erkannt und
durchgeführt werden müssen.
Einen ersten Ansatz dazu sehe ich in
der vorliegenden Denkschrift Sie
bedeutet zunächst äußerlich einen Ab¬
schluß; sie ist nur der Endpunkt hinter
einer ganzen Reihe von Verhandlungen,
an denen sich dieses Haus so lebhaft
beteiligt hat. Aber das, was diese Denk¬
schrift so außerordentlich wertvoll
macht, und was ihr überall das Echo
in der Presse und auch hier im Hause
so ganz besonders verschafft hat liegt
in der Tatsache, daß hier wieder einmal
eine Idee in den Mittelpunkt gerückt
wurde. Um dieser Idee willen begrüße
ich diese Denkschrift mit lebhafter Freu¬
de. Diese Idee heißt: die Politisierung des
Volkes und besonders seiner Führer
in Staats-, Schul- und Volkswirtschaft.
Sie liegt in dem Satz der Denkschrift:
„das politische Denken muß geschult
der junge Deutsche muß politisiert wer¬
den.“
Nun gibt es empfindsame Seelen, die
etwas stutzig werden, sobald man über¬
haupt die beiden Worte „Politik“ und
„Wissenschaft“ nebeneinander stellt Es
kommen vielleicht Bedenken von seiten
der Parteipolitiker und auch von seiten
einer gewissen schiefen Auffassung über
die Pflichten echter Wissenschaft. Ich
freue mich, daß dem ersten Bedenken
gerade in der Denkschrift schon der Bo¬
den entzogen ist. Gott sei Dank, wenn
wir in eine Zeit hineinwachsen, in der
es auch jenseits der einzelnen Par¬
teigrenzen Aufgaben gibt, an denen sieb
jeder Deutsche mit Herz und Gemüt be¬
teiligen soll und darfl Gott sei Dank,
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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
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wenn wir in eine Zeit hineinwachsen,
in der jeder weiß, daß wir jenseits der
Parteipolitik aus diesen unseren ernsten
Zeiten heraus die eine große Auf¬
gabe mitnehmen müssen, für eine deut¬
sche Weltpolitik künftig unsere besten
Kräfte einzusetzen I Aber vielleicht fal¬
len die anderen Bedenken, die sich
nicht an die Oberfläche wagen, manch¬
mal schwerer ins Gewicht. Was soll
„Wissenschaft“ mit „Politik“? Wird hier
nicht etwas verbunden, was an sich
schon einer Verbindung widerstrebt?
Wird nicht die reine Idee der Wissen¬
schaft durch solche Gesichtspunkte der
Nützlichkeit verunreinigt? Da darf ich
den Augenblick benützen, auch in die¬
sen Verhandlungen unsere Meinung
über den Zweck unserer Hochschu¬
len und unserer Universitäten zu festi¬
gen. Die Universitäten sind kein bloßes
Sammelsurium von Fachschulen. Der
Gesichtspunkt der rein handwerksmäßi¬
gen Nützlichkeit, wie er in dem künf¬
tigen Broterwerb liegt, darf für unsere
Universitäten keineswegs in erster Linie
stehen. Auch sind die Universitäten
nicht bloß eine Aufbereitungsanstalt von
künftigen guten Staatsbeamten. Ich
weiß die Nützlichkeit eines guten Ge¬
wissens für jede erfüllte Staatspflicht
hoch einzuschätzen. Aber trotz alledem:
auch dieser Nützlichkeitsgedanke ist
noch nicht imstande, eine solche hohe
Aufgabe wie unsere wissenschaftliche
Bildung lebensfähig zu tragen. Nein, ich
freue mich, daß die Denkschrift ganz
bewußt die Wissenschaft selbst in einen
unmittelbaren Zusammenhang mit dem
Staatsgedanken setzt. „Nützlichkeit“ ge¬
genüber dem höchsten Begriff des Staa¬
tes bedeutet keine Herabminderung an
der Idee der wissenschaftlichen Arbeit.
Herr Kollege Haenisch hat sich gestern
auf Fichte berufen. Ich möchte genau
dasselbe Zitat, das er angeführt hat.
noch etwas erweiteren. Denn an dersel¬
ben Stelle sagt Fichte: Mittelbar dient
eine jede wissenschaftliche Bestrebung
dem Staat; gibt sie diesen Zweck auf, so
ist auch ihre Würde und ihre Selbstän¬
digkeit verloren. An diesem idealen
Staatsbegriff, der nicht zusammen fällt
mit irgendwelchem jeweiligen Kultusmi¬
nisterium oder mit irgendwelchem
augenblicklichen Staatsgebilde, ist die
Nützlichkeit der Verbindung jeden wis¬
senschaftlichen Betriebes zu messen und
von diesem höchsten Staatsbedürfnis
aus erhält die Wissenschaft Würde und
Wert Darum freue ich mich, daß der
gleiche Gedankengang in dieser Denk¬
schrift so entschlossen vertreten wird.
Die Vorzüge dieser Denkschrift seheich
in der klaren Sonderung der Aufgaben,
in dem festen Willen zu einem bestimm¬
ten Weg und in der hohen Einheitlich¬
keit der politischen Gesamterziehung
des Volkes. Uber die klare Sonderung
der Aufgaben brauche ich nicht mehr
zu reden; darüber haben meine Herren
Vorredner schon genügend gesprochen.
Der feste Wille zu einem bestimmten
Weg liegt in der bewußt eingeschlage-
nen Dezentralisation. Die Aufgaben des
Orientalischen Seminars sind gut er¬
füllt worden. Das legt mir den Wunsch
nahe, daß das Kultusministerium einmal
eine glückliche Hand finde, um alles,
was jetzt schon innerhalb unseres wis¬
senschaftlichen Betriebes geleistet wird,
besonders auch das, was das Orientali¬
sche Seminar in vorbildlicher Weise ge¬
tan hat, auch in den weitesten Volkskrei¬
sen bekannt zu machen. Draußen hat
man eigentlich keine rechte Ahnung von
dem, was tatsächlich innerhalb unseres
wissenschaftlichen Betriebes unter der
Leitung unseres Kultusministeriums und
seiner Pflege geschieht. Wenn draußen
das Interesse für diese Arbeit mehr ange¬
regtwird, dann bekommt man auch von
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selbst mehr Geld; wer Geld hat, kann
auch in diesen Dingen unendlich Segen
stiften. Vor allem aber begrüße ich das
Ziel in der politischen Gesamterziehung
unseres Volkes. Die Denkschrift zieht
hier eine Scheidelinie, der ich voll zu¬
stimme. Die Scheidelinie trennt auf der
einen Seite „ästhetisch-historisch-litera¬
rische“ Bildung und auf der anderen
Seite die neue weltpolitische Richtung.
Ich möchte diese Linie „ästhetisch-histo¬
risch-literarisch“ um das Wörtchen
„historisch” verkürzen, um berechtigten
Einwürfen die Spitze abzubrechen. Ich
weiß, daß es der Denkschrift wahrhaftig
nicht darauf ankommt, Irgend etwas
gegen die Geschichte und ihren wissen¬
schaftlichen Betrieb zu sagen. Das ist
ganz selbstverständlich. Gerade die Ge¬
schichtsforschung auf wissenschaftli¬
cher Grundlage bildet die Vorausset¬
zung auch aller künftigen weltpolitischen
Arbeit. Das ist, wie gesagt, eine Selbst¬
verständlichkeit. Aber darum möchte ich
das Wörtlein „historisch” ausmerzen
aus diesem Zusammenhang. Es war na¬
türlich gemeint, man solle eine gewisse
lähmende Richtung des „Historismus"
nicht begünstigen. Es gibt ja Leute, die
heutzutage über alle möglichen histori¬
schen Fragen unterrichtet sind, aber
keine Antwort zu geben vermögen,
wenn man sie fragt, wie lange unsere
tapferen Siebenbürgen in Kronstadt le¬
ben, wie der Weltpostverein aussieht,
wie Irlands leidensvolle Geschichte sich
entwickelt hat, und ob ein Freiherr vom
Stein zu den Größen gehört, die in die
allgemeine Bildung hineinzurechnen
sind. Daß hier tatsächlich ein Abweg un¬
serer altertümelnden historischen Auf¬
fassung besteht, ist klar und seine Ab¬
weisung war gut.
Weiter möchte ich ausdrücklich beto¬
nen, daß die Beschäftigung mit den
weltpolitischen Fragen auf nationaler
Grundlage zu geschehen hat. Das ist der
Kern dessen, was die Denkschrift will.
Er muß von vornherein gegen Mißver¬
ständnisse sichergestellt sein. Ich wün¬
sche nicht, daß wir etwa einen welt¬
politischen Unterricht in dem Sinne be¬
kommen, daß wir uns nun wieder an
alle weltpolitischen Ideen anderer Völ¬
ker verlieren und an alle möglichen Ei¬
gentümlichkeiten anderer Völker unsere
Eigenart verschwenden und vergeben
sollen. Wir sollen auf unserem eigenen
Standpunkt feststehen; nur wenn wir
das tun, werden wir das beste Mittel und
das sicherste Organ haben, um alles,
was draußen ist, erst recht zu verstehen
und zu würdigen. Die nachhaltige
Beschäftigung mit der Weltpolitik soll
ein Mittel bleiben, um uns in Unserem
nationalen Bewußtsein und unserer na¬
tionalen Würde zu stärken, nicht aber
sie zu schwächen. Das soll keineswegs
gegen die Denkschrift, sondern für sie
gesagt sein; ich meine gerade damit
ihren tiefen Sinn und ihre letzte Absicht
ausdrücklich zu unterstreichen.
Einige Ergänzungen darf ich mir ge¬
statten. Es ist schon in der Kommission
darauf aufmerksam gemacht worden,
daß die Presse weithin ein Anrecht
darauf hat, in diesem Zusammenhänge
der weltpolitischen Belehrung und der
weltpolitischen Erziehung des Volkes
genannt zu werden. Ich denke an Arti¬
kelreihen in der Kölnischen Zeitung, in
der Frankfurter Zeitung, ich denke an
die ausgezeichneten Artikel der Herren
Dr. Schiemann und Hötzsch in der
Kreuzzeitung. Da haben wir tatsächlich
schon „weltpolitische Lehrstühle", die
unserem Volke regelmäßigen Unter¬
richt erteilen. Wir bitten, daß auch künf¬
tig die Presse in irgendwelcher Vermitt¬
lung an diesem weltpolitischen Unter¬
richt teilnimmt und ihr regelrechte Ge¬
legenheit gegeben wird, die Bande mit
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Original frum
INDIANA UNIVERSITY
801
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
802
diesem wissenschaftlichen Betrieb der
künftigen Weltpolitik fester zu knüpfen.
Dazu kommt die Mitwirkung der
techni sehen Hoch sc hu len. Ich habe
mich darüber gefreut, daß der Herr Kul¬
tusminister gesagt hat, die technischen
Hochschulen sollten künftig ebenso wie
die Universitäten beteiligt werden. Es
steht ja bereits in der Denkschrift, daß
„in den allgemeinen Abteilungen der
technischen Hochschulen sich Ge¬
legenheit dazu schaffen lasse, an die¬
ser künftigen Aufgabe teilzunehmen.“
Der Vorstand des Architektenvereins zu
Berlin hat sich an den Herrn Kultusmi¬
nister in einer ausgezeichneten Eingabe
betreffend die Förderung der Auslands¬
studien gewendet und die Zulassung des
Unterrichts gerade an den technischen
Hochschulen als notwendig bezeichnet.
Nach dem, was der Herr Minister heute
zugesagt hat, glaube ich, daß wir keine
Furcht zu haben brauchen, daß irgend¬
welche berechtigten Forderungen in die¬
ser Beziehung sich nicht erfüllen wür¬
den. Auch unsere Volksschulen dürfen
in der Zukunft nicht leer ausgehen, und
die Seminarbildung hat dem neuen Geist
Rechnung zu tragen.
Besonderen Wert möchte ich darauf
legen, daß bei diesem künftigen Unter¬
richt ’ die Berücksichtigung des
Auslandsdeutschtums nichtin die
letzte Linie gerückt wird. Das Auslands¬
deutschtum als solches ist zwar Deutsch¬
tum, hat aber in seiner Geschichte und
seiner Entwicklung immer eine eigenar¬
tige lokale Färbung aufzuweisen. In
Stuttgart ist bereits ein Museum für Aus¬
landsdeutschtum errichtet worden. Wenn
wir künftig an die Verteilung der „Kul¬
turkreise“ innerhalb der einzelnen Uni¬
versitäten gehen, muß auch eine Univer¬
sität besonders damit beauftragt wer¬
den, daß sie uns wieder etwas von den
Karpathendeutschen und von den Deut-
Internationale Monatsschrift
Digitized by Gck igle
sehen in Brasilien usw. verkündet;
wir müssen einen gründlichen Zusam¬
menhang mit unseren Brüdern im Aus¬
lande bekommen, damit wir mit ihnen
leben ...
Dr. v. Campe (nat-lib.): ... Ich wende
midi nun der Frage der Auslandshoch-
s c h u 1 e n zu. Da möchte ich zunächst einen
Irrtum des Herrn Kollegen Heß berichti¬
gen. Herr Heß hat ausgeführt, daß die
Denkschrift, die der Herr Minister uns vor¬
gelegt habe, eigentlich andere Wege gehe,
als sie das Abgeordnetenhaus im vori¬
gen Jahre vorgezeichnet habe. Das ist
meines Erachtens ein Irrtum. Herr Heß
hat insofern recht, als allerdings die
ursprünglich im Abgeordnetenhause ge¬
stellten Anträge ein Zentralinstitut
wünschten, der Beschluß aber, wie
er von dem Ausschuß und auch von dem
Plenum gefaßt wurde, lautete nach ei¬
nem von Herrn Abgeordneten Cassel ge¬
stellten und vertretenen Antrag und
nach einer Formulierung, die meine po»
litischen Freunde ihm gegeben haben,
dahin, daß diese Auslandshochschule
im Anschluß an bestehende Hochschu¬
len und andere Einrichtungen geschaf¬
fen werden sollte. (Zuruf.) — Ja, Herr
Kollege Heß, ursprünglich war die Ab¬
sicht eine andere; aber es hatte der Herr
Minister damals schon Bedenken in der
Kommission geltend gemacht, und diese
Bedenken haben wir aufgegriffen und
deshalb unserm Anträge diese Form ge¬
geben. Ich lege Gewicht darauf, das hier
festzustellen, weil über diese Dinge viel
gesprochen worden ist.
Der Herr Minister hat heute in seinen
einleitenden Worten uns gesagt, daß
ihm wegen seiner Vorschläge zwei Vor¬
würfe gemacht worden seien. Einmal sei
ihm vorgeworfen \vorden, daß er nicht
gleich ein einheitlich zusammenge-
schlossenes Institut geschaffen habe. Ich
glaube,'dieser Vorwurf wird, wenn er
26
Original frum
INDIANA UNtVERSITY
803
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
804
erhoben ist, sehr bald fallen gelassen
werden; denn alle, die sich mit den Din¬
gen beschäftigt haben, sind sich heute
wohl darüber einig, daß das tatsächlich
nicht möglich ist; das mag eine spätere
Sorge sein. Der zweite Vorwurf, der
ihm gemacht worden sei, sei der, daß er
zu langsam vorgegangen sei Der Herr
Minister hat daran die Bemerkung ge¬
knüpft, daß Unterrichtsfragen erst aus¬
getragen werden müßten; man müßte
langsam an eine Sache herangehen, ehe
man auf dem Gebiet weiter kommen
könnte. Nun, ich glaube, diese letzte
Auffassung kann man durchaus teilen.
Es ist das aber eine Auffassung, die
schließlich auf allen geistigen Gebieten
zu gelten hat. Ich weiß nicht, gegen wen
die Spitze dieser Bemerkung geht. Ich
habe gestern ja ähnliche Ausführungen
allgemein gemacht, und ich lasse es da¬
hingestellt, ob sie gegen diese Ausfüh¬
rungen gewandt sein soll oder nicht. Ich
möchte nur das eine dem Herrn Minister
gegenüber bemerken. Es handelt sich
nicht darum, heute, in diesem Augen¬
blick rascher vorzugehen — ich bin
überhaupt überzeugt, daß in diesem Au¬
genblick, für diesen Etat, nichts anderes
als das geschehen könnte, was uns tat¬
sächlich vorgeschlagen ist, um Einzel¬
heiten, um ein geringes Mehr will ich
nicht rechten —; aber wir arbeiten —
und darin muß ich dem Herrn Kollegen
Inner durchaus recht geben — ungefähr
schon seit 30 Jahren an dieser Frage.
Und dieser Tatsache gegenüber war die
Arbeit allerdings eine recht langsame.
Wir haben für die Zukunft keine Zeit
zu verlieren und dürfen nicht wieder so
angsam arbeiten ...
Die acht Aufgaben, von denen der
Herr Minister heute gesprochen hat und
die er diesen Hochschuleinrichtungen
gestellt wissen will, sind ja gewiß rich¬
tig herausgestellt worden. Der Zweck
dieser ganzen Auslandshochschulen muß
doch der sein, unserer Bevölkerung das
geistige und wirtschaftliche Rüstzeug zu
geben, um all die Interessen, die im Aus¬
lande vor uns liegen, so zu vertreten,
daß wir vollen Ertrag davon haben. In
der Beziehung denkt unsere Zeit gewiß
ganz anders als die vor 20 oder 30 Jah¬
ren. Damals waren wir tatsächlich noch
binnenländisch abgestimmt: heute sind
wir weltpolitisch orientiert, müssen oder
müßten überall weltpolitisch orientiert
sein.
Man kann wohl sagen, daß selbst
Fürst Bismarck in seinen politischen An¬
schauungen sich nicht ganz bis zu die¬
ser Anschauung durchgerungen hatte.
Ich erinnere daran, daß Fürst Bismarck
seinerzeit von Kolonien nichts wissen
wollte — zunächst —, weil er keine
Flotte habe, die Kolonien zu schützen.
Später hat er allerdings seinen Stand¬
punkt etwas geändert. Er hat Kolonien
erworben. Er meinte damals: die Kolo¬
nien, die wir uns schaffen, werden von
den Kanonen unter den Mauern von
Metz geschützt werden, — ein Gesichts¬
punkt, der damals ganz gewiß zu¬
treffend war. Ob aber dieser Gesichts¬
punkt heute unter den Erfahrungen die¬
ses Krieges noch ausreichen würde, das
ist schon nicht mehr zweifelhaft. Von
dem Augenblick an, wo die Kanonen un¬
ter den Mauern von Metz nicht nur ge¬
gen Frankreich gerichtet sind, sondern
auch gegen England, und von dem Au¬
genblick an, wo die Engländer in Calais
sitzen und uns die Küsten absperren,
von dem Augenblick an, glaube ich, muß
man mit-anderem Augenmaß an diese
Dinge herantreten. Meine Herren, Bin¬
nenlandluft ist Stickluft, und das deut¬
sche Volk atmet heute tief, tief auf; es
kommt mit der Binnenlandluft in sei¬
ner gesunden Lunge nicht mehr aus. Wir
leben schließlich nicht wie Robinson auf
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
805
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
806
einer einsamen Insel, sondern unsere Zu¬
kunft geht Ober alle Grenzen der Meere
hinaus.
Ich kann dem durchaus zustimmen,
wenn der Herr Minister an die Spitze
seiner Ausführungen als erste und vor¬
nehmste Aufgabe die gestellt hat, daß
es darauf ankommen mftsse, diese welt¬
politische Bildung als einen Bestand¬
teil in unsere nationale Bildung aufzu¬
nehmen. Meine Herren, wenn man heute
einen Deutschen fragen wollte: Waren
Sie schon einmal drflben? ich glaube,
es wflrden sehr wenige sein, die mit Ja
antworten könnten. Fragen Sie einen
Engländer — ich glaube, es werden ver¬
hältnismäßig wenige sein, die das ver¬
neinen maßten. Auslandskunde muß zu
einem Gemeingut des ganzen Volkes
werden.
Meine Herren, ich bin davon über¬
zeugt, daß diese Aufgabe nach dem
Kriege noch weit dringlicher sein wird
als vorher. Ihre Lösung wird aber auch
weit schwieriger sein. Denn die Verhält¬
nisse haben sich so zugespitzt, daß der
Konkurrenzkampf demnächst so scharf
sein wird, wie wir es bis dahin nicht
geahnt haben. Er wird so scharf sein
schon um der Verleumdungen willen,
denen wir draußen ausgesetzt gewesen
sind, und weil England mit ganz andern
Waffen demnächst gegen uns auftreten
wird als bisher. England war bis dahin
uns gegenüber bis zu einem gewissen
Grade in der Lage des Großen, der
schließlich alles an sich herankommen
lassen konnte. England hat gesehen, daß
es mit dem Standpunkt nicht durch¬
kommt, und es wird aus dem Kriege so
geschwächt hervorgehen, daß es seine
Konkurrenzkräfte uns gegenüber ganz
anders wird einsetzen müssen, als es das
bis dahin zu tun Anlaß nahm.
Es kommt hinzu, daß wir, wie wir ja
wissen, mit einem allgemeinen Boykott
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bedroht werden. Auch das verschärft den
Kampf. Es wird weiter sehr wichtig sein,
daß wir rasch bei der Hand sind, rasch
die Waffen schmieden, die wir einzu¬
setzen haben, um draußen im Auslande
unsern Mann zu stehen. Der erste, der
nach diesem Kriege wieder zu vollem
Atem kommt, hat viele Schritte voraus.
Es kommt weiter hinzu, daß dieser
Krieg so viel Menschenkräfte dahinge¬
rafft hat, und daß wir deshalb Sorge
tragen müssen, jeden einzelnen von
denjenigen, auf deren Schultern die
Wahrung unserer Auslandsinteressen
demnächst liegen wird, so auszubilden,
daß er ein gut Teil mehr wird leisten
können, daß er für drei etwas leisten
kann; sonst wird es uns an dem nötigen
Menschenmaterial fehlen, um unsere
Auslandsinteressen zu vertreten.
Endlich hat uns dieser Krieg gezeigt,
daß kein Volk heute auf dem Isolier-
schemel sitzt. Das Leben der Völker hat
sich als so beziehungsreich herausge-
stellt, wie wir es nie geahnt haben. Was
hier geschieht, reflektiert an den Küsten
aller Ozeane, und deshalb wird der
Komplex unserer Interessen demnächst
viel schwieriger zu überschauen und ent¬
wirren sein, als das bis dahin möglich
gewesen ist. Es sind ja nicht nur die Be¬
amten, um die es sich hier handelt, nicht
nur die Diplomaten und Konsuln, nicht
nur die Offiziere, sondern Pflanzer,
Kaufleute, Geologen, Ingenieure, Parla¬
mentarier und Journalisten. Ich sage ab¬
sichtlich: auch Parlamentarier. Die Her¬
ren, die in den Parlamenten über unsere
Auslandsinteressen zu befinden haben,
werden sehr wohl tun, demnächst auch
diese Ausbildungsmöglichkeiten für sich
mitzunehmen. Der Herr Minister hat ge¬
wiß recht, wenn er sagt, daß über viele
Dinge mit em<Tm gewissen Dilettantis¬
mus gesprochen wrürde. Das ist durch¬
aus nicht zu verwundern, und gerade an
26 *
Original from
INDIANA UNIVERSITY
807
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
808
denjenigen Stellen, wo schließlich die
Entscheidung mit liegt, sollte man da-
für sorgen, daß eine Bildung so tief und
so gründlich geschaffen wird, wie nur
irgend möglich.
Und die Journalisten! Der Herr Mini¬
ster hat auch davon gesprochen. Unsere
Journalisten sind heute doch schließlich
Lehrer und Beeinflusser der Massen
überhaupt Vielfach geht der Unter¬
richt über das, was draußen geschieht
und wie es zu beurteilen ist, in die Mas¬
sen hinein nur durch die Zeitungen. Des¬
halb habe ich schon in der Kommission —
und ich wiederhole das auch hier — ei¬
nen Hauptton mit darauf gelegt, daß wir
diesen Herren die Möglichkeit geben,
sich an unseren Auslandshochschulen
demnächst über die Verhältnisse des
Auslandes aufs eingehendste zu unter¬
richten. Es ist doch im hohen Maße be¬
dauerlich, daß wir heute während des
Krieges die Dinge im Ausland eigentlich
immer durch die Lügendrähte von Reu¬
ter und durch Auslandsbrillen sehen
müssen. Es ist doch Tatsache, daß die
auswärtigen Zei lungen vielfach über das,
was im Auslande vor sich geht, rascher
und vielleicht auch besser unterrichtet
sind, zu urteilen imstande sind als un¬
sere Zeitungen hier im Inlande. Nun
weiß ich sehr wohl, daß das tatsächlich
nicht immer daran liegt, daß unsere
Journalisten nicht die genügende Vor¬
bildung hätten, sondern es steht uns kein
Kabelapparat zu, wir haben nicht die
Beziehungen. Diese Sachen können ja
natürlich nicht durch eine Auslands¬
hochschule geschaffen werden, und da,
möchte ich glauben, ist allerdings die
Grenze zwischen der Kompetenz des
Reiches und der Kompetenz des preußi¬
schen Staates. Der Herr Minister hat,
wie mir scheint, mit vollem Recht dar¬
auf hingewiesen, es sei Reichssache, die
Propaganda für das Deutschtum im
Digitized by Gck igle
Auslande zu schaffen. Dann wird es
auch Reichssache sein, unseren Journa¬
listen die Möglichkeit zu schaffen, sich
über ausländische Dinge zu unterrichten
und dafür die nötigen Einrichtungen zu
treffen. Wir werden hoffentlich im Frie¬
den unter den realen Garantien, die wir
haben wollen, auch die mit einstellen,
daß wir eine Sicherheit dafür gewinnen,
mit den nötigen Drähten nach dem Aus¬
lande hin verkehren zu können und nicht
immer wieder von Reuter abhängig zu
sein. Diese Dinge kann die Kultusver¬
waltung uns nicht verschaffen, aber sie
hat dafür zu sorgen, daß von allen die¬
sen Dingen nachher der rechte Gebrauch
gemacht werden kann.
Nun, es ist ja selbstverständlich ein
sehr umfangreiches Gebiet von Kennt¬
nissen und von Können, das auf diesen
Auslandshochschulen erworben werden
soll. Ich hoffe, daß da auch recht prak¬
tische Dinge demnächst getrieben wer¬
den können . . . Die Gebiete, die da
gepflegt werden sollen, sind ja in der
Denkschrift uns im einzelnen dargelegt:
Auslandskunde, Auslandspsychologie,
Massenpsychologie, Handelspolitik, Ge¬
schichte, Religionsgeschichte, Sprach-
kunde. Recht, wirtschaftliche Verhält¬
nisse, und was der Dinge mehr sind.
Aber mir ist doch einigermaßen zweifel¬
haft, ob all die Ansprüche, die an diese
Auslandshochschule zu stellen sind, ob
die in dem, was die Denkschrift uns
sagt, schon wirklich voll aufgeführt sind.
Ich würde doch ganz besonderes Ge¬
wicht darauf legen, daß der Erwerb
praktischer Kenntnisse oder richtiger
praktischen Könnens doch weit mehr in
den Vordergrund gerückt würde, als es
bis dahin nach der Denkschrift mir we¬
nigstens den Anschein hat. Ich habe in
der Kommission schon darauf hingewie¬
sen, daß man in Frankreich seit länge¬
rem eine ähnliche Einrichtung hat und
Original from
INDIANA UNIVERSITY
800
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
810
daß dort sehr praktische Themata be¬
handelt werden. Ich habe mir die MOhe
genommen, die Denkschrift daraufhin
nachzuprüfen, welche Sachen wohl in
das Programm noch aufgenommen wer¬
den könnten. Ich würde da unter ande¬
rem auf folgende Gegenstände kommen,
und zwar immer von dem Gesichts¬
punkte aus, daß es sich darum handeln
müsse, dort Fragen zur Erörterung zu
stellen, ein Wissen zu verbreiten, das
unmittelbar praktisch verwertet werden
kann, ein Wissen, das anknüpft also an
politische Ereignisse, an politische Kom¬
binationen, wie sie erst in allerletzter
Zeit praktisch geworden sind und für
die nächste Zeit auch praktisch sein wer¬
den können. Dabei bin ich beispielsweise
auf folgende Gegenstände gekommen:
die Bedeutung des Mittelmeeres, die
Probleme des Stillen Ozeans, der Suez¬
kanal, der Panamakanal, Rußlands Trieb
zum Meere, Entstehung des nordameri¬
kanischen Volkes, Italiens mitteleuropä¬
ische Interessen, die Balkanländer,
das österreichisch-ungarische Völkerge¬
misch, Österreichs Beziehungen zum
Balkan, seine Interessen am Mittelmeer,
die Grundlagen der englischen Politik,
Englands Bekämpfung der stärksten
Kontinentalmacht, die ausländischen
Parteiverhältnisse, die Balkanprobleme,
die Bagdadbahn, der Londoner und der
Bukarester Friede, die Verhältnisse von
Mesopotamien, und was der Dinge mehr
sind. Das soll durchaus nichts Vollstän¬
diges sein. Derartige praktische Thema¬
ta werden tatsächlich in Frankreich und
auch In England an ähnlichen Einrich¬
tungen schon getrieben, und ich habe
gesehen, daß in Frankreich an der
dort errichteten Schule unter ande¬
rem erörtert worden sind: die Ma¬
rokkofrage, europäische Bündnisse, die
auswärtige Politik Rußlands und Eng¬
lands in der Gegenwart, das neue Re¬
gime in Rußland, das neue Regime in
der Türkei, Alldeutschland und der Pan¬
slawismus, das Grenzgebiet zwischen
Deutschland und Frankreich, militäri¬
sche Organisationen, die politischen
Ideen im Deutschland des 19. Jahrhun¬
derts, der esprit public in England, und
ähnliche Dinge mehr. Wenn Sie diese
Themata, wie sie in Frankreich behan¬
delt werden, sich einmal durch den Kopf
gehen lassen, dann werden Sie ganz ge¬
wiß finden, daß die Stimmungen, mit
denen die Franzosen uns im Augenblick
gegenüberstehen, daß diese Stimmun¬
gen zum Teil vielleicht in der Behand¬
lung derartiger Fragen ihren Grund fin¬
den, und ich meine, das sollte uns doch
Wegweiser sein dafür, welche Wege wir
zu gehen haben.
Meine Herren, ich begrüße es also, daß
der Herr Minister an alle Hochschulen,
die wir haben, anknüpfen will. Ich
möchte da auf eins hinweisen. Sollte es
nicht möglich sein, auch mit den Hoch¬
schulen der andern deutschen Staaten in
Verbindung zu treten? Ich glaube fest¬
gestellt zu haben, daß in Leipzig und in
München nichts Ähnliches ist. Dage¬
gen habe ich feststellen können, daß man
in Stuttgart auch Ansätze hat. Dort liest
an der Technischen Hochschule der be¬
kannte Professor Grothe, einer der Vor¬
kämpfer unserer türkischen Beziehun¬
gen, über Dinge des Orients. Ich meine
also, wenn wir wirklich einmal auf der
Grundlage einer Sammlung aller dieser
verschiedenen Ansätze den Aufbau der
Hochschule vornehmen wollen, dann
darf natürlich der preußische Staat nicht
lediglich auf seinen eigenen Füßen ste¬
hen, sondern dann wird es gut sein, auch
das mitzunehmen, was die kleineren
Staaten bieten, so gut wie wir selbstver¬
ständlich an dem Kolonialinstitut in
Hamburg nicht vorübergehen können
und vorübergehen werden.
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INDIANA UNIVERSITY
811
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
812
Der Herr Minister hat heute schon dar¬
auf hingewiesen, daß er in der Denk¬
schrift ausdrücklich gesagt hat, daß auch
die technischen Hochschulen, zum min¬
dest ii de ei allgemeinen Abteilungen,
Gelegenheit böten, an dieser Arbeit mit¬
zuschaffen. Ich glaube, man könnte viel¬
leicht darin noch einen Schritt weiter ge¬
hen, und möchte doch zur Erwägung
stellen, ob es bloß die allgemeinen Ab¬
teilungen der technischen Hochschulen
sind, die da in Frage kommen können,
und nicht auch die speziellen Abteilun¬
gen derselben. Es ist in der vorhin schon
zitierten Denkschrift des Architektenver¬
eins auch hervorgehoben, daß beispiels¬
weise unsere Geologen, die doch eben
ein ganz spezielles Studium haben.
Bergkundige aller Art heute ins Aus¬
land gehen und dort im Ausland nun
auch Arbeit tun, die in das Gebiet der
Auslandskunde fällt. Es finden dort zum
Beispiel Forschungen statt nach Rohstof¬
fen, die wir für unsere Industrie nötig
haben. Es ist das also ein ganz spezielles
Gebiet, und ich meine, man sollte die
technischen Hochschulen auch in ihren
speziellen Abteilungen für die Vorbe¬
reitung zum Auslandsdienst her¬
anziehen.
Nun habe ich mir schon in der Kom¬
mission auf folgendes hinzuweisen er¬
laubt. Mir scheint dieser Ausdruck ,,Aus¬
landshochschule" kein richtiger zu sein.
Das, was wir wollen, hat eigentlich
etwas Weiteres oder zum Teil etwas an¬
deres im Auge. Es handelt sich nicht nur
um eine Auslandshochschule, sondern es
handelt sich auch besonders um eine
Hochschule für Auslandspolitik. Ich
möchte damit zum Ausdruck bringen,
daß wir uns nicht darauf beschränken
dürfen, lediglich eine Kunde des Aus¬
lands uns zu verschaffen, uns anzueig¬
nen, sondern daß wir unsere jungen
Leute anlemen sollen, wie sie sich poli¬
tisch dem Auslande gegenüber zu stellen
haben,.wiesie das Ausland politisch, wis¬
senschaftlich, merkantil und was der Be¬
ziehungen sonst mehr sein mögen, ein-
zuschä zen und zu behandeln haben. Dar¬
auf weist auch die Auswahl der Unter-
richtsgegenstände hin, die ich vorhin er¬
wähnte.
Dann noch eins, meine Herren 1 Selbst¬
verständlich wünsche ich nicht, daß diese
Auslandskunde ausschließlich auf diese
praktischen Ziele abgestellt wird; ich
wünsche auch nicht, daß ihr die wissen¬
schaftliche Grundlage genommen wird.
Das wäre durchaus undeutsch. Wir
Deutschen müssen nun einmal alle die¬
se Dinge, wie es uns im Blute liegt, wis¬
senschaftlich betrachten; aber es ist doch
durchaus nicht nötig, daß auf den Ka¬
thedern nur Professoren sitzen, und ich
sehe nicht ein — ich habe darauf in der
Kommission schon hingewiesen —, war¬
um die Männer des praktischen Le¬
bens, aus dem praktischen Beamtentum
nicht auch Hochschullehrer sein sollten,
wenn Männer wie Peters und Lin-
dequist auf die Lehrstühle solcher
Hochschulen berufen würden, wenn
Männer wie Posadowsky und Tirpitz
dort lehren würden, Männer wie Del¬
brück, ja, selbst wenn ein Mann wie
Fürst Bülow dort das lesen würde, was
er in seiner . Deutschen Po!Lik“ niederge¬
legt hat. Der Gedanke befremdet uns
vielleicht; aber ich will darauf hinwei-
sen, daß täglich in Frankreich schon et¬
was Ähnliches gemacht wird. Die ab¬
gegangenen Minister pflegen dort an der
libre 6cole zu lehren. Also, ich sehe nicht
ein, warum wir nicht etwas Ähnliches
machen könnten, und warum wir die
tiefgründige Kenntnis und das volle
Können dieser Männer nicht auch in
den Dienst dieser großen Sache stellen
könnten. Ja, meine Herren, man wird
dem vielleicht entgegenhalten, zumal es
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INDIANA UNIVERSITY
813
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
814
sich um Gebiete handelt, die erst in
jüngster Vergangenheit ihren Abschluß
gefunden haben, daß das keine Wissen«
schaft sein kann, die die Herren trei¬
ben; denn die Geschichte der letzten
Jahre ist mit ihrem Herzblut selbst ge¬
schrieben; sie können aus dem Subjek¬
tivismus nicht heraus. Meine Herren,
schadet das aber so viel, wenn die
jungen Leute nun einmal so ganz in
die Denkweise, in den Gedankengang
dieser Männer eingeführt werden? Auch
im Subjektivismus steckt ein gut Teil
Wahrheit neben der Wahrheit, die wir
im Objektivismus suchen. Erst die per¬
sönliche Note macht das Leben. Schlie߬
lich kann das auch paralysiert werden
dadurch, daß Herren ganz verschiede¬
ner Richtung auf derartige Lehrstühle
berufen werden.
Wenn das die Aufgaben dieser Hoch¬
schulen sind, dann werden wir aller¬
dings nicht mit den 107 000 M., die in
den Etat eingestellt sind, auf die Dauer
auskommen können, und ich bin über¬
zeugt, daß wir schon sehr bald hinter
diese 107000 M. eine Null werden setzen
müssen, wenn wirklich etwas Ganzes
und etwas Großes herauskommen soll.
Aber auch mit diesem Ansatz wollen
wir heute zufrieden sein. Wir freuen
uns, daß der Stein im Rollen ist, und
wir hoffen, daß er so weit rollen wird
und von nun ab recht rasch rollen
wird, bis wir an dem Ziele angelangt
sind . . .
Dr. Rewoldt (freikons.): . . . Meine
Herren, der Gegenstand, welcher den
Mittelpunkt der heutigen Verhandlun¬
gen bildet, ist die groß angelegte Auf¬
gabe der Förderung der Aus¬
landsstudie n.Die Denkschrift, welche
darüber gegeben ist, knüpft an diejeni¬
gen Gesichtspunkte an, die bereits vor
drei Jahren der Herr Minister in der
Staatshaushaltskommission vorgezeich¬
net hatte; sie bietet einen so weiten
Ausblick, daß man nur dankbar sein
kann, daß, wie der Herr Abgeordnete
D. Traub es ausdrückte, hier eine Idee
in den Mittelpunkteines groß angelegten
Plar.es ges'ellt wird. Die Denkschrift gibt
verschiedene Richtlinien über den Inhalt
der Aufgabe; sie will eine Stellung¬
nahme zu den großen Problemen der
Weltpolitik und der Weltwirtschaft
in Deutschland ermöglichen, sie will
den Auslandsstudien einen organischen
Platz im lebendigen Fluß unseres aka¬
demischen Lebens schaffen, sie will
das Eindringen in andersartige Kultur¬
kreise ermöglichen, und sie will unsere
Jugend und unser ganzes Volk über die
Fragen der heimischen Parteipolitik
hinausführen ...
Äußerlich besteht wohl Übereinstim¬
mung darin, daß man bei einer so weit¬
umfassenden Aufgabe nur zu wirklich
großen Ergebnissen gelangen könne,
wenn man die Dezentralisation der
Tätigkeit an die Spitze stellt, ohne daß
man damit einer späteren teilweisen
Zentralisierung den Weg verschließt.
Der innere Gehalt der Aufgabe aber
ist nach drei Richtungen hin vorge¬
zeichnet, einmal nach der Richtung der
wissenschaftlichen Auslandskunde, dann
der praktischen Schulung von Beamten
und Privaten für das Ausland, beides
Gebiete, welche schon jetzt auf den
Universitäten und anderen Hochschulen
und Instituten betrieben werden, welche
weiter bestehen bleiben und weiter aus¬
gebaut werden sollen; dazu kommt das
dritte Gebiet, die Weckung außenpoli¬
tischen Interesses und Verständnisses
in der Heimat Das ist der Kernpunkt
der Frage. Sie wird von der Denk¬
schrift zwischen die Ideen von Weimar
und die Zucht von Potsdam gestellt in
der richtigen Auffassung, daß zwischen
diesen beiden Grundlagen unserer Kul-
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Original fram
INDIANA UNIVERSITÄT
815
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
816
tur noch andere Aufgaben, bestehen,
deren Pflege für unsere weitere Ent¬
wicklung notwendig ist. Daß sich hier
zahlreiche Mängel im Laufe der Zeit her¬
ausgestellt haben, das fühlte man,
und man suchte tastend nach Abhilfe.
Man machte diesen oder jenen verant¬
wortlich für die hervortretenden Män¬
gel, und namentlich ist es das humani¬
stische Gymnasium gewesen, welches
oft als Sündenbock für Erscheinungen
hat dienen müssen, welche auf ganz
anderen, breiteren Ursachen beruhten.
Neben der, wie die Denkschrift hervor¬
hebt, erschreckenden Unkenntnis des
ausländischen Wesens, der zu starken
Orientierung nach innen, zeigte sich ein
oft unverhältnismäßiger Kräftever-
brauch im Innern für kleine Gegen¬
stände. Wir wissen es alle, mit wel¬
chem fast fanatischen Eifer vielfach
kleine Dinge behandelt wurden, ohne
daß dabei große Ziele auch nur ange¬
strebt wurden. Mit diesem Eifer der
Betätigung, ja Befehdung nach innen
verband sich eine teilweise rührende
Bescheidenheit nach außen.
Ich habe bereits vor einigen Tagen
bei unserer Besprechung über Handel
und Gewerbe auf die heutigen Ver¬
handlungen wegen Auslandsstudien Be¬
zug genommen und gesagt, daß wir
sämtlich — wir seien, wer es sei —
in den von der Denkschrift und diesen
Verhandlungen berührten Richtlinien
umlernen müssen. Ich nahm als Bei¬
spiel das Verhalten der Sozialdemo¬
kratie in diesem Kriege hinsichtlich
ihrer großen Ansprüche nach innen und
deren Bescheidenheit nach außen. Ich
führte diese Stellung auf einen Denk¬
fehler in der Sozialdemokratie zurück
und fand von dem Herrn Abgeordneten
Leinert die Antwort, daß ein solcher
Denkfehler nicht bei ihnen, sondern
eher bei mir vorliege. In seinen Aus¬
führungen sprach Herr Abgeordneter
Leinert an dem, was ich gesagt hatte,
vollkommen vorbei. Aber es würde za
weit führen, und es ist nicht von Inter¬
esse, bei dieser Sache darauf einzu¬
gehen. Aber eine Bemerkung, die
gestern Herr Scheidemann in der De¬
batte des Reichstags gemacht hat, hat
mich doch wieder auf diesen Punkt
zurückgeführt. Wenn es richtig berich¬
tet ist, so hat Herr Scheidemann ge¬
sagt: „Man tut gut, auch die anderen
Völker nach dem eigenen Volk zu beur¬
teilen; denn die Unterschiede sind gar
nicht so groß.“ Meine Herren, wenn
Herr Scheidemann das gesagt hat, dann
ist das der Denkfehler, den zu besei¬
tigen diejenigen Bestrebungen mithel¬
fen wollen, welche durch die Förde¬
rung der Auslandsstudien angestrebt
werden. Denn es ist nicht richtig, daß
wir die anderen Völker nach unserem
eigenen Volke beurteilen können; wir
müssen zwar, wie auch Herr D. Traub
betonte, auf festem deutschen Grunde
stehen, aber wir müssen uns in die
Ideenkreise fremder Völker hineinleben,
um uns nicht weiterhin sehr unlieb¬
samen Überraschungen auszusetzen.
Die Unkenntnis des ausländischen
Wesens mit ihren Wirkungen für die
Heimat ist auch darin zutage getreten
daß sich bei unseren werktätig gestei¬
gerten Leistungen in Handel und Indu¬
strie vielfach eine immer größere
Kluft gegenüber dem bureaukratischen
Betriebe auf manchen Gebieten unseres
Staatslebens herausstellte. Ich will da¬
von absehen, auf Einzelheiten einzu-
gehen, ich glaube nicht, daß es der
richtige Zeitpunkt ist, da, wo man an
eine so große Aufgabe herantritt, sie
durch Einzelheiten in ihrer Bedeutung
abzuschwächen. Nur das möchte ich
noch sagen, daß auch in dem gegen*
wärtigen Kriege erschreckend zutage
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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
818
getreten ist, wie sehr bei uns gerade in
fahrenden Kreisen ein Verkennen der
Auffassungen und Charaktere fremder
Völker, namentlich Englands und Ame¬
rikas, herrschte, so daß wir uns da¬
durch sehr erheblichen und oft tief
einschneidenden Enttäuschungen aus¬
gesetzt haben.
Zu den bisher erwähnten Gesichts¬
punkten kommt hinzu, daß sich immer
mehr das Spezialistentum ausbreitet.
Dieses bewirkte im Laufe der Zeit, daß
unsere Universitäten drohten, in Fach-
schulen auseinanderzufallen, daß die
Fflhlung mit den anderen Hochschulen
und mit dem praktischen Leben sich
verringerte, und daß hierdurch sich die
Schwierigkeiten, die sonst schon ent¬
standen waren, immer mehr verstärk¬
ten. Die geschichtliche Entwicklung, die
zu den jetzigen Verhältnissen geführt
bat, ist häufiger besprochen worden.
In froheren Zeiten brauchte man nicht
eine solche Unkenntnis der ausländi¬
schen Verhältnisse zu beklagen. Das
Deutsche Reich ist im Sinne der Ge¬
schichte nicht ein neues Reich, son¬
dern die Weiterbildung des alten rö¬
mischen Reiches deutscher Nation. Die¬
ses alte Reich war ein Universalreich,
und wenn in diesem Universalreiche
die studierenden Deutschen nach Ita¬
lien zogen, so verließen sie zwar den
Boden Deutschlands, sie blieben aber
innerhalb des Universalreiches, sie lern¬
ten Uaiversalkenntnisse und brachten
Universalauffassungen nach Deutsch¬
land zurück. Dem folgte die Grün¬
dung der deutschen Universitäten als
untuersltas zur Pflege universaler Bil¬
dung, der Kenntnisse des In- und Aus¬
landes; daraus entwickelten sich Gei¬
ster von so umfassender Bildung, daß
wir heute nur darüber staunen, es aber
fast nicht begreifen können. Die Ver¬
hältnisse änderten sich durch den Zer-
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fall des Reiches, durch die entstehende
Kleinstaaterei, durch die Abschließung
vom Weltverkehr, die vorbereitet wurde
durch den Zerfall der Hansa. Daraus
ergab sich eine Art Verknöcherung, er¬
gab sich die Unsicherheit vieler Deut¬
schen in Beurteilung ausländischer Ver¬
hältnisse, die vielfach im Auslande
nachteilig auf uns zurückwirkte. Unser
Verhalten war oft zu bescheiden, bis¬
weilen auch zu anspruchsvoll, statt der
ruhigen Sicherheit, die auf dem Ver¬
ständnis der heimischen und der aus¬
wärtigen Verhältnisse beruht, und die
allein geeignet ist, dem Deutschen und
dem Deutschtum diejenige Stellung im
Inlande wie im Auslande zu geben, auf
die sie wohlbegründeten Anspruch
haben.
In der Ausführung des Planes will
die Staatsregierung nicht — und das
müssen wir ihr besonders danken —
mit großen Anfängen vielleicht Kleines
erreichen, sondern sie geht den umge¬
kehrten Weg; sie will mit anfänglichen
kleinen Mitteln Großes anstreben. Sie
strebt das an durch die in Aussicht
genommene Dezentralisation, ausgehend
von den Universitäten, aber auch ande¬
ren Hochschulen und sonstigen Bil¬
dungsanstalten. Sie will ferner Brenn¬
punkte für einzelne Kulturkreise schaffen
und nirgends eine schematische Hand¬
habung anwenden. Sie will also eine
umfassende Auslandsbildung innerhalb
der Fakultäten sowie von Universität
zu Universität, von den Universitäten
zu den übrigen Hochschulen und von
da aus in breitem Strome eine Einwir¬
kung auf das ganze Staats- und Ge¬
sellschaftsleben anstreben. Sie will end¬
lich, im Gegensätze zu dem, was man
heute vielfach Weltbürgertum im un¬
günstigen Sinne nennt, ein praktisches
Weltbürgertum in Deutschland fördern
und dadurch diejenigen Kulturziele er-
26 **
Ürigiralfrcm
INDIANA UNIVERSITY
819
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
820
streben, welche beredter von anderer
Seite besprochen sind ...
Es ist hocfaerfreulidi, daß wir in diesen
schweren Kriegszeiten an eine solche
Aufgabe herangehen können, und daß
wir nicht bloß die Hoffnung, sondern
auch die sichere Aussicht haben dür¬
fen, daß die begonnene Aufgabe nach
siegreich beendetem Kriege mit großen
Erfolgen für unser Vaterland weiter¬
geführt wird. In diesem Sinne erscheint
diese in erster Linie den Universitäten
gestellte Aufgabe als das Morgenrot
einer weltpolitischen Zukunft Alle, die
dazu berufen sein werden, an der Auf¬
gabe mitzuwirken, werden es tun kön¬
nen im Bewußtsein, daß sie mitwirken
an einer Aufgabe, welche für die welt¬
politische Zukunft unseres Vaterlandes,
wie wir hoffen, von der weittragend¬
sten Bedeutung sein wird.
Die Plünderung Roms durch Bonaparte.
Von Emst Steinmann.*)
II.
Schon lange vor dem Friedensschluß
von Tolentino hatte Bonaparte Pius VI.
wissen lassen, daß er, um die päpst¬
liche Macht zu vernichten und Rom zu
erobern, es nur zu wollen brauche.
Aber eine solche Unternehmung sei zu
sehr ohne Ruhm wie ohne Gefahr, als
daß er sich damit befassen möchte. 1 )
Dieser tiefen Verachtung für das
päpstliche Rom und seine Bevölkerung,
die er schlaff, abergläubisch, träge und
niederträchtig nannte 2 ), hat Bonaparte
mehr als einmal Ausdruck verliehen:
„Ich mache mir mehr aus einer Feld¬
hütte Cäsars als aus dem vatikanischen
Tempel“, stieß er hervor, als Marino
Marinl ihm in Paris die vatikanischen
Archive zeigen mußte, die gleichfalls
aus Rom entwendet worden waren.*)
Aber dem Zauber des römischen Na¬
mens hat auch Napoleon sich auf die
Dauer nicht entziehen können. Er war
•) Siehe Heft 6.
1) Posselt, Europäische Annalen 1796
II 197.
2) Correspondance de Napoleon I er tome II
«8 nr. 2292.
3) Regestum Gementis V., Romae 1885,
I p. CCXXXIV.
zornig, daß Pius VII. ihm erfolgreicher
widerstand als sein Vorgänger Pius VI„
und was Bonaparte verachtet hatte, das
schien Napoleon begehrenswert: „Rom
ist nicht mehr Rom; es ist dort, wo du bist
Rom erwartet euch mit dem eigenen
Ruhm und mit dem eurigen. Diese Begeg¬
nung zweier Unsterblichkeiten würde der
Welt ein nie gesehenes Schauspiel ge¬
geben haben.“ So sagten die Höflinge. 4 )
Auch Canovas begeisterte Schilderun¬
gen der Herrlichkeiten Roms mochten
die Phantasie des Kaisers entzündet
haben, der ein Weltreich gründen
wollte, wie es in Rom seinen Sitz ge¬
habt hatte. 5 ) So wurde der Gedanke
geboren, den Sohn und Erben als Paten¬
kind der Dea Roma in den Schoß zu
legen und ihm mit dem Titel eines
Königs von Rom die Anwartschaft auf
die Weltherrschaft zu verleihen.
Bonaparte hat die Stadt am Tiber nie
betreten und seinen Heerführern die
Schmach überlassen, sie zu plündern
und zu quälen. Aber auch Napoleon
4) Mömorial de J. de Norvins ed. Lanzag
de Laborie III (1802-10), Paris 1897, S, 331
-333.
5) Entretiens de Napoleon et Canova,
1810, S. 47 und 51.
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
822
war nicht in Rom, wo im Jahre 1803 zu
gleicher Zeit drei Kolossalstatuen in
Marmor von ihm gearbeitet wurden. 6 )
Canova stellte den Imperator der näch¬
sten Zukunft dar in heroischer Nackt¬
heit; Calamare bildete ihn als Achill,
Massimiliano den Konsul in konsulari¬
schen Gewündern. Aber er selbst hat
die Stadt am Tiber nicht gesehen, die
gegen ihn den Bannstrahl zu schleudern
wagte und die er doch noch kurz vor
seinem Fall zur Hauptstadt Italiens
machen wollte. Welch ein Schauspiel
wftre es gewesen, ihn als Kaiser seinen
Einzug in dieselbe Stadt halten zu
sehen, der seine Feldherm einst, die
Manen von Cato und von Brutus anru¬
fend, das Danaergeschenk republikani¬
scher Freiheit aufgedrungen hatten!
Pius VI. lebte den Machthabern in
Paris zu lange. Er hatte mehr als ein¬
mal Anstalt gemacht, zu sterben, aber
er war stets genesen. „Es wäre wün¬
schenswert für die Ruhe des Volkes,“
schrieb man aus Paris an Bonaparte 7 ),
„daß Pius VI. keinen Nachfolger er¬
hielte. Aber die Republik darf sich in
dieser Sache nicht bloßstellen. Entsteht
eine Revolution in Rom, werden wir ihr
nicht entgegentreten. Es muß uns genü¬
gen, sie nicht provoziert zu haben.“ Es
galt überdies, vor allem erst die 30 Mil¬
lionen einzuheimsen. Der Geschäftsträ¬
ger Fröville schrieb es nach Paris mit
zynischer Offenheit: „Wenn alles be¬
zahlt sein wird, können wir in Rom eine
Revolution herbeiführen und wohlwol¬
lende Zuschauer bleiben.“ 8 )
Mit solchen Instruktionen erschien Jo¬
seph Bonaparte, der Bruder des Gene-
6) Teutscher Merkur 1803 I S. 237-39.
7) Correspondance inödite II 53. Schrei¬
ben vom 1. Juli 1797.
8) L. Sciout, Rome, le Directoire et Bona-
parte en l’an IV et V in Revue des questions
historiques Bd.41 (1887) S.490.
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rals, als neuernannter Botschafter am
päpstlichen Stuhl in Rom. Man hielt
sich äußerlich zurück, aber man schürte
die Revolution mit allen Mitteln. Der
Palazzo Corsini an der Lungara, in dem
der französische Botschafter residierte,
war bald der Mittelpunkt aller Neue¬
rungssüchtigen. „Hier zeigt das poli¬
tische Wetterglas immer noch auf
Sturm und Ungewitter,“ schrieb der
Maler Fernow am 7. Oktober 1797 aus
Rom. „Buonapartes Bruder wird zwar
höchlich gefeiert, aber auch allgemein
für den Exequiensprecher der päpst¬
lichen Gewalt angesehen.“ 9 )
Mehr als einmal kam es zu Aufstän-
|den in der von den Franzosen ihrer Exi¬
stenzmittel beraubten Stadt, und als der
Papst einen Versuch machte, durch die
Ernennung des Generals Provera seine
Truppen zu reorganisieren und sein ge¬
sunkenes Ansehen wiederherzustellen,
erfolgte ein drohendes Gebot Bonapar¬
tes, den österreichisch gesinnten Gene¬
ral sofort zu entlassen. So nahm das
Verhängnis seinen Weg mit dröhnenden
Schritten, und der 28. Dezember besie¬
gelte das Schicksal Roms mit der Er¬
mordung des Generals Duphot.
Der Vorgang wurde von päpstlicher
Seite natürlich anders dargestellt als
von französischer. Aber wenn sich ein
aufsässiger Volkshaufe vor dem Palast
eines fremden Botschafters versammelt
und dort die Absetzung seines recht¬
mäßigen Herrschers verlangt, wenn sich
ein fremder General in einen solchen
Haufen hineinwirft, gegen die Trup¬
pen des Landessouveräns den Degen
zieht und dabei den Tod findet, so ist
es unmöglich, diesen Souverän für das
Geschehene verantwortlich zu machen. 10 )
9) Teutscher Merkur 1797 III 276.
10) .11 est certain que la mort de Duphot
ne peut 6tre imputöe qu’ä son imprudence:
U paratt mflme assez probable que dans
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
824
Und so geschah es am 28. Dezember
1798in Rom! Aufständige mit französi¬
schen Kokarden am Hut und französi¬
schem Solde in der Tasche zogen mit Ge¬
schrei vor den Palazzo Corsini und brach-
ten Hochrufe aus auf die französische und
die römische Republik. Päpstliche Trup¬
pen suchten das Volk zu zerstreuen und
drängten die Aufrührer in den Hof des
Palastes. Bonaparte und Duphot er¬
schienen, um Ruhe zu stiften. Duphot
6türmte mit erhobenem Säbel bis an die
Porta Settimiana vor und fiel dort zu
Boden, von tödlicher Kugel getroffen.
Joseph Bonaparte aber flüchtete in
den Palast zurück, schrieb eine wü¬
tende Beschwerde an den Kardinal¬
staatssekretär, verlangte seine Pässe
und verließ am folgenden Tage Rom.
Nichts hatte ihn zurückzuhalten ver¬
mocht
Das Direktorium aber hatte endlich
den erwünschten Vorwand gefunden,
sich Roms zu bemächtigen, den Papst
zu entfernen und die Republik zu pro¬
klamieren. „Die Französische Republik
war edelmütig bei Tolentino," hatte der
Feldherr Bonaparte schon im Septem¬
ber gedroht; „sie wird es nicht mehr
sein, wenn die Dinge von neuem be¬
ginnen.“ n )
Dem General Berthier wurde „die
cette ömeute qu’il voulait apaiser, a-t-on dit,
il a commis un acte positif d’agression contre
les soldats pontificaux", schreibt Sciout a. a. O.
Revue des questions historiques Bd. 39 (1886)
S. 149 Anm. 2. Vgl. auch die Beschreibung
des Vorganges von Femow im Teutschen
Merkur 1798 I 101 — 104. (?• D’AUonville
schreibt: Duphot se fait tu er comme un fou
par des gens qu’il Charge sans en avoir £t£
attaqug. D’AUonville berichtet, wie er sagt,
was er gesehen oder gehört oder selbst in
Rom erlebt hat. Vgl. Mömoires secrets de
1770 a 1830 par le O D’Allonville, Paris
1841, IV S. 236.
11) Correspondance III 465 nr.2266. Brie!
an Joseph Bonaparte vom 29. September 1797.
Ehre zuteil“, Rom zu züchtigen. 11 ) Das
Direktorium übersandte ihm schon am
11. Januar 1798 die erste von Bonaparte
meisterhaft redigierte Instruktion, der
zwanzig Tage später eine zweite
folgte 13 ): „Ihr werdet in einer Prokla¬
mation mit wenig Worten sagen, daß
der einzige Grund eures Zuges auf Rom
in der Notwendigkeit liegt, die Mörder
des Generals Duphot zu bestrafen und
alle die zur Verantwortung zu ziehen,
welche es gewagt haben, den Botschaf¬
ter Frankreichs zu beleidigen.
„Ihr werdet die päpstliche Herrschaft
zerstören und eine neue Regierung auf¬
richten.
„Mit der Römischen Republik ist An¬
cona zu vereinigen.
„Die Güter des Papstes, seiner Familie
und der Albani werden konfisziert
werden.
„Die Trajanssäule wird abgetragen
und nach Frankreich geschafft werden.“
So lauteten die Befehle aus Paris.
In Rom wurden inzwischen Prozes¬
sionen veranstaltet, und das geängstete
Volk wallfahrtete in Scharen zu den
ehrwürdigen Heiligtümern der Stadt
Aber niemand kam der bedrängten
Kirche zu Hilfe, und Berthier rückte
von Ancona her in Eilmärschen gegen
Rom heran. Am 10. Februar schlug er
auf dem Monte Mario sein Hauptquar¬
tier auf und verlangte die Übergabe der
Engelsburg, die ohne weiteres zugestan¬
den wurde. Jedermann fühlte jetzt, daß
das Ende aller Dinge für Rom gekom¬
men sei.
12) Bonaparte an Berthier 11. Januar 1796.
Correspondance III 631 nr.2405: L'honneur
de prendre Rome vous est röservöl
13) Correspondance III 628 nr. 2404 und
Gouvion Saint-Cyr, Mgmoires pour servfr
ä l’histoire militaire sous le directoire, le
consulat et 1’empire, Paris 1831, 1 270. Jules
Gendry, Pie VI, sa vie et son pontificat,
Paris (1907), II 293 und 294.
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Ernst Steinmann, Die Plflnderung Roms durch Bonaparte
820
Die förmliche Absetzung Pius’ VI.
wurde in jenem Scheinvertrage noch
nicht ausgesprochen, der die Stadt und
alle ihre Hilfsquellen völlig in die Hand
der Franzosen gab. 14 ) Man wollte dem
Papst Zeit lassen, sich freiwillig zu ent¬
fernen, und man begnügte sich zunächst
damit, seinen geistlichen Hofstaat auf¬
zulösen und den Vatikan in eine Ka¬
serne zu verwandeln. Aber Pius machte
keine Anstalten zur Flucht; er wollte
ausharren bis zum Ende.
Am 15. Februar zog Berthier in feier¬
lichem Gepränge aufs Kapitol, wo er im
hohen Stil Bonapartes die Manen des
Cato, des Pompejus, des Brutus und des
Cicero anrief 16 ) und mit der Geste eines
Römers den Römern ihre Freiheit zu¬
rückgab. Man schmückte selbst die
Statue Mark Aurels mit der französi¬
schen Kokarde, und man zwang den
Eremiten des Kolosseums, der gerade
vorüberkam, Hand anzulegen an die
Errichtung des Freiheitsbaumes auf
dem Kapitol. 16 ) Aber die schaulustigen
Römer zeigten bei dieser Gelegenheit
wenig Begeisterung. Man mußte aus
Trastevere einen Volkshaufen zusam¬
menbringen. 17 )
An demselben Tage, dem Jahrestage
seiner Wahl, „einem Tage der Trauer
14) Baldassari, Geschichte der Wegfüh-
rung und Gefangenschaft Pius’ VI. über¬
setzt von F.X. Steck, Tübingen 1844, S. 156
bis 15a
15) Die Rede Berthiers ist vielfach ab¬
gedruckt und übersetzt worden. Ihr Inhalt
findet sich bei Sciout in der Revue des
questions historiques Bd.39 S. 151 sehr tref¬
fend analysiert
16) G. S. Sala, Diario Romano I 29 u. 30.
17) Duppa, Richard, A brief account of
the Subversion of the papal government
179a Second edition, London 1799, S. 42
n. 4a Die, weil von einem Augenzeugen
verfaßte und darum besonders wichtige Ar¬
beit Duppas ist in Archenholz’ Minerva Bd. 19
(1799) übersetzt worden.
für alle Rechtschaffenen und Gutge¬
sinnten“, wurde dem Papst seine Ab¬
setzung verkündigt: „Das römische Volk
hat selbst entschieden 1 Es will durch
den Edelmut der französischen Nation
frei werden von der päpstlichen Knecht¬
schaft.“ So wurde Pius VI. die Bot¬
schaft vom General Cervoni übermittelt
Alles wurde dem Achtzigjährigen ab¬
gefordert, was er noch besaß, bis auf
den letzten Ring, den er am Finger
trug. 18 ) Man drang in seine Privat¬
gemächer ein, man nahm ihm sein Sil¬
ber, seine »Wagen, seine Pferde und
suchte bei dem völlig ausgeraubten
Nachfolger Petri selbst in den Mauern
noch nach verborgenen Schätzen.
Wenige Tage später, am 20. Februar,
in aller Morgenfrühe hat Pius VI. als
Gefangener Rom verlassen, um in der
Verbannung zu sterben. Unter den
großen Tragödien der Weltgeschichte
verdient auch die seinige genannt zu
werden. Man hatte ihn nicht umge¬
bracht; aber an physischen Leiden und
seelischen Qualen ist ihm wohl nichts
erspart geblieben. Man lese eine kurze
Episode aus dieser Reise, die der Chro¬
nist jener Tage mit schlichten Worten
erzählt: „Am Wagen, in dem sich der
h. Vater befand, brach ein Rad zwischen
Baccano und Monterossi. In diesem
Augenblick kam einer unserer Lastträ¬
ger vorbei, der ihn an der Straße auf
einem Steine sitzen sah. Er bat um
seinen Segen. Der Papst gab ihn nicht,
sondern er holte ein weißes Tuch her¬
vor, sich die Augen zu trocknen, die
von großen Tränen voll waren. Als der
Wagen hergerichtet war, nahm der
Papst wieder Platz, und nun segnete
er den Lastträger und alle, die umher-
standen.“ 18 )
18) Geschichte Pius des Sechsten, 1799,
(anonym, ohne Ortsangabe erschienen),
S. 236. 19) Sala, Diario I 49.
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INDIANA UNIVERSUM
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
828
Nicht die Grausamkeit allein, mit der
dieser Achtzigjährige behandelt wurde,
trägt den Stempel jener Tage. Noch
mehr macht uns die Falschheit erschau¬
ern, die aus dem Verbrechen eine Tu¬
gend machte, jene heuchlerische und
verlogene Politik des Direktoriums und
seines genialen Feldherrn, die Jahre und
Monate mit einem wehrlosen Opfer
spielte, ehe sie es kaltblütig zugrunde
richtete.
Unter den Bedingungen des Schein¬
vertrages vom 10. Februar, welcher der
Absetzung des Papstes vordlisging, las
man im vierzehnten Artikel *°): „Die Ge¬
mälde, die Bücher, die Handschriften,
Statuen und anderen Kunstgegenstände,
die würdig erachtet werden, nach
Frankreich gebracht zu werden, wird
man aus der Stadt Rom fortnehmen. Der
Oberbefehlshaber wird einer ad hoc er¬
nannten Kommission seine Befehle zu¬
gehen lassen.“
In Mailand und Venedig, in Parma
und Modena, ja selbst beim Vertrag von
Tolentino war die Anzahl der zu neh¬
menden Kunstobjekte auf 15, auf 20,
auf 100 beschränkt worden. Jetzt hatte
jede Beschränkung aufgehört. Man
konnte nehmen, was man wollte, und
sich in Gegenwart und Zukunft auf
einen feierlichen Vertrag berufen. Bo¬
naparte aber, der damals schon längst
in Paris war und die Expedition nach
Ägypten vorbereitete, zeigte sich auch
jetzt noch als der Spiritus rector des
neuen Kunstraubes in Rom. Er richtete
am 4. März das Gesuch an den Minister
des Innern, sofort eine Anzahl neuer
Kunstkommissare nach Italien abzusen¬
den. 21 ) Die päpstlichen Residenzen, der
Vatikan und der Quirinal, die Samm¬
lungen und Paläste der papsttreuen
20) Vgl. Le Grelle ln Serafini, Le monete
etc. Milano 1910, S. XLIV Anm. 1.
21) Correspondance III 653 nr. 2425.
Prinzen und Kardinäle, die römischem*
Kirchen selbst mit ihren unvergleich¬
lichen Kunstschätzen — alles stand jetzt
der Raubgier der Abgesandten Frank¬
reichs offen. Sie brauchten nur zu neh¬
men, was niemand halten konnte.
Man begann dort, wo man am mei¬
sten zu finden hoffte: im VatikanI
Schon am ersten Tage nach dem Ein¬
zug Berthiers hatte sich der Schatz¬
meister der französischen Armee *•), der
vielgehaßte und vielgefürchtete Hal¬
ler, in die vatikanische Bibliothek be¬
geben. Zu dem allgemeinen Auftrag,
alles mit Beschlag zu belegen, was die
Bibliothek Wertvolles besaß, gesellte
sich noch der besondere, sofort sieben
der schönsten Kameen auszusuchen für
die fünf Direktoren der Republik, für
den General Bonaparte und für das Mu¬
seum in Paris. 23 ) Alle Schränke wur¬
den geöffnet, versteckte Kameen und
Münzen hinter den Büchern aufgestö¬
bert, und während Haller die geschnit¬
tenen Steine untersuchte, füllten sich
zwei Offiziere, die ihn begleiteten, die
Taschen mit den Gold- und Silbermün¬
zen, deren sie habhaft werden konnten.
Dasselbe ereignete sich beim nächsten
Besuch Hallers am 15. Februar, und
diesmal wurden den Beamten der Bi¬
bliothek zugleich alle Schlüssel abge¬
nommen. Die vatikanischen Sammlun¬
gen befanden sich jetzt ganz in der Ge¬
walt der Räuber I 24 )
22) Ober Haller hatte Cacault schon am
25. Mai 1797 an Bonaparte geschrieben: Le
proc6d6 du citoyen Haller n’est pas digne
de la röpublique. [Correspondance inedite
II S. 248.] Vgl. weiter über ihn Dufourcq,
Le rögime Jacobin en Italie, Paris 1900,
S. 113—114. .Ladro insigne* nennt ihnSala.
23) E. Müntz, La biblioth£que du Vatican
pendant la Involution Frangaise in M Klanges
Julien Havet, Paris 1895, S. 586 Anm. 3.
24) Ober diese Vorgänge berichtet zum
erstenmal ausführlich Le Grelle bei Serafini
a. a. O. I S. XLIV und XLV.
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INDIANA UNfVERSITY
820
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
830
An demselben Tage, an dem Pius VI.
Rom verließ, war Massöna im franzö¬
sischen Hauptquartier angelangt, um
Berthier im Oberbefehl zu ersetzen. Ber¬
thier hatte sich großmütig mit einem
einzigen geschnittenen Stein begnügt,
einer köstlichen Arbeit, den Kopf Jo¬
hannes des Täufers darstellend, die
dem Benvenuto Cellini zugeschrieben
wurde. 26 ) Massöna aber war unter den
französischen Generalen als einer der
raubsüchtigsten bekannt, und er kam
nach Rom, „umringt von einer Schar
von Individuen ohne Prinzipien und
ohne jedes Anstandsgefühl, obwohl sie
meistens mit irgendeinem administrati¬
ven Charakter bekleidet waren“. 26 )
In der so rühmlos eroberten Stadt
herrschte die größte Verwirrung. Im
Heere bereiteten die Offiziere eine
offene Revolte gegen ihren Obergeneral
vor, aber Mass6na hatte trotz allem
nichts Eiligeres zu tun, als sich im Vati¬
kan seines Raubes zu versichern. 27 ) Be¬
reits am 22. erschien er in der Biblio¬
thek, begleitet von seinem Generalstab,
geführt von Haller und dem verräteri¬
schen Goldschmied des Papstes Vala-
dier. Alle Angestellten der Bibliothek
aber waren vorsätzlich entfernt wor¬
den. Und nun geschah das Unglaub¬
liche: Massöna und seine Begleiter
ließen sich ohne weiteres die Schränke
öffnen, in denen Münzen, Medaillen und
Kameen bewahrt wurden, und nahmen
mit sich, was sie fanden. Nur einige
wenige Kameen wurden durch einen
Zufall gerettet. Genau so hatte ein Jahr
früher ein anderer General der Grande
25) Le Grelle a. a. O. S. XLVII Anm. 2.
Bonaparte erhielt damals die berühmte Ka¬
mee Ptolemäus und Arsinoe, die Josephine
1814 an Alexander von Rußland schenkte.
Le Grelle a. a. O. S. XXXVIII Anm. 4.
26) M6moires du g&igral Desvemois ed.
A. Dufourcq, Paris 1898, S. 87.
27) Le Grelle a. a. O. S. XLVI.
Arm6e, Augerau, die berühmteste Münz¬
sammlung Italiens, den Medagliere Ben-
tivoglio in Verona, geplündert. 28 )
Bald wurde diese schmachvolle Hand¬
lung des Obergenerals ruchbar in Rom.
Berthier erschien noch kurz vor der Ab¬
reise auf dem Schauplatz des Vorfalls,
aber er konnte nichts feststellen, da
man alle äußeren Spuren des Raubes
verwischt hatte und er die Schränke
nicht öffnen konnte oder wollte. Er
kannte überdies den Ruf des Plünderers
von Padua. Es war derselbe Massöna,
der einmal das Wort sprechen sollte:
„Alle Krieger seit den Tagen des Romu-
lus haben ein Vermögen gemacht, in¬
dem sie ihr Blut opferten für das
Land. Glaubt der Kaiser etwa, daß wir
uns schlagen, um seinen Thron zu
sichern?" 29 )
Nur wenige von den gestohlenen
Münzen und Kameen tauchten später in
den großen Sammlungen Europas, in
Paris, Berlin und Petersburg, auf. Sie
wurden in Rom unter der Hand von den
Offizieren verkauft. Der Maler Wicar,
der wieder im Gefolge von Monge als
Kunstkommissar in Rom erschien, wurde
bezichtigt, die schönsten Goldmünzen
des vatikanischen Medagliere einge¬
schmolzen zu haben. 80 ) Fernow weiß
von dem Gründer des Mus6e Wicar in
Lille zu berichten, daß er sich in weni¬
gen Monaten in Rom ein Vermögen von
50000 Scudi erwarb und doch unter
den Kommissaren noch als einer der
ehrlichsten galt. 81 ) Was Haller an die¬
sem Raube in der Vaticana sich persön¬
lich aneignete, ist nicht nachzuweisen.
Zwei kostbare Kunstschränke — Ge¬
schenke Ludwigs XV. und der Maria
28) Trolard, Champs de bataille d’Italie
I 386.
29) Dufourcq a. a. O. S. 125.
30) Le Grelle a. a. O. S. XLVII Anm. 1.
31) Teutscher Merkur 1798 III 284.
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
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Theresia — und ein päpstliches Kreuz,
auf der Brust zu tragen, reich mit Rubi¬
nen und Diamanten verziert, soll er sich
außer seinem Anteil an der Hauptbeute
gesichert haben.
Dieser Raub in der Vaticana war nur
ein Vorspiel kommender Dinge, gleich¬
sam eine Privatangelegenheit der Gene¬
rale Berthier und Mass6na, des Schatz¬
meisters Haller und der Offiziere, die Ge¬
legenheit gehabt hatten, mit ihnen zu
rauben. Die Kommissare, unter deren
Leitung Rom systematisch geplündert
werden sollte, Daunou, Faypoult, Monge
und Florent, waren am 31. Januar
1798 ernannt worden und langten, wie
es scheint, erst am 23. Februar in Paris
an.’*) Am 27. berichteten sie an das
Direktorium, wie folgt M ): „Die Offi¬
ziere hier scheinen sehr erregt zu sein
gegen die Agenten der Finanzverwal¬
tung. Sie sprechen von Entwendungen
ohne Protokolle, von Requisitionen, über
die nicht Buch geführt worden ist. Wir
wissen nicht, bis zu welchem Grade
diese Beschuldigungen begründet sind;
vielleicht sind sie übertrieben. Aber wir
müssen eine Tatsache bekanntgeben, die
uns vom Unterbibliothekar des Vatikans
angezeigt worden ist: Alle Kameen sind
verschwunden und ebenso ein großer
Teil der Medaillen.“
Bereits am 19. Februar hatte Ber¬
thier seinem Nachfolger in Rom die An¬
weisung erteilt, daß der rückständige
Sold der Soldaten mit römischem Silber
zu zahlen sei. 84 ) Haller hatte längst
„jene Bande von Piraten“ organisiert,
die als „Agens charg6s de l’argenterie
des 6glises“ der Schrecken von ganz
Italien ware n. 88 ) Aber von diesem Kir-
32) Taillandier, Documents bibliogra-
phiques sur P.C.F. Daunou. Seconde Edition,
Paris 1847, S. 122.
33) Le Grelle a. a. O. S. XLVIII Anm. 11.
34) Dufourcq a. a. O. S. 122.
35) Dufourcq a. a. O. S. 113.
chenraub, den bereits alle Städte des
„befreiten“ Italiens erfahren hatten, war
das meiste in den Taschen der Kom¬
missare hängen geblieben. „Seit vier
Tagen bin ich von Rom zurück,“ schrieb
ein Franzose am 6. Juli 1798. 8< ) „Dieser
ärmste Staat in Italien hat uns die stärk¬
sten Summen gezahlt. Unglücklicher¬
weise wird der Nationalschatz keine so
starken Einnahmen gehabt haben als
einige hundert Menschen, die arm nach
Rom kamen, und die mehr als reich
zurückkommen.“ Und gleichzeitig lesen
wir in einer Korrespondenz aus Paris 87 ):
„Es herrscht hier nur eine einzige Lei¬
denschaft, die Gewinnsucht. Geschmack
an Künsten und Wissenschaften, am
Studium überhaupt, Ehrbegierde, Ruhm¬
sucht, Ehrgeiz, die Intrigue selbst — alles
verschwindet vor der Gewinnsucht“
Also in Paris wie in Rom hatten die
großen wie die kleinen Machthaber nur
die eine Leidenschaft, sich zu berei¬
chern. Offiziere und Soldaten aber
hatten seit Monaten keinen Sold mehr
erhalten, und nicht alle besaßen Glück,
Gelegenheit und Skrupellosigkeit genug,
Fortuna nachzuhelfen wie die Begleiter
Hallers in der vatikanischen Bibliothek.
Im Gegenteil I Wenigstens dem gemei¬
nen Soldaten wird von Augenzeugen
mehr als einmal über seine Aufführung
ein gutes Zeugnis ausgestellt. 88 )
36) Neueste Staatsanzeigen. Germanien
1798, Bd. IV S. 533.
37) Ebendort Bd.IV S.506.
38) Neueste Staatsanzeigen. Germanien
1798, Bd. IV S.360. Eustace, Classical tour
in Italy III231: «The behaviour of the sol-
diery and subalterns was in general dvll
and orderly, but that of the generals and
their immediate dependants in the highest
degree insolent and rapacious.“ In Frascati
allerdings sangen die Kinder noch L J. 1801
am Schluß eines Madonnenliedes:
Maria, speranza nostra
E libera noi de Francesi!
Vgl. Teutscher Merkur 1801 D S. 137.
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INDIANA UNfVERSITY
833
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
834
So bereitete sich sofort nach der An>
kunft Massönas jene denkwürdige Offi¬
ziersrevolte im Pantheon vor, und ihr
ging das nicht minder seltsame Leichen¬
begängnis des Generals Duphot voraus.
Man muß sich den Schauplatz vergegen¬
wärtigen, will man diese Begebenheiten
verstehen.
Die schauerlichsten Gegensätze gaben
damals der fiebernden Stadt das Ge¬
präge. In den ausgeraubten Palästen
des Papstes und der römischen Großen
sah das hungernde Volk die hohen fran¬
zösischen Offiziere unc^ die verächt¬
lichen Kriegsbeamten der großen Na¬
tion sich in Glanz und Luxus bewegen.
Die Römer aber hatten nichts, um
Tausende von Soldaten zu speisen, die
man in ihre Häuser gelegt hatte. Das
Popolo Sovrano — mochte es nun des
einen oder des anderen Geistes sein,
mochte es dem Andenken Pius’ VI. die
Treue halten oder dem Stern Bonapar¬
tes huldigen —, das Popolo Sovrano
spürte mehr und mehr die neu ge¬
schenkte Freiheit als ein System gren¬
zenloser Bedrückung. Man sab, wie die
Denkmäler ihres Wappenschmuckes be¬
raubt und rücksichtslos zerstört wur¬
den, man sah, wie aus Kirchen und Pa¬
lästen ein unermeßlicher Raub durch die
Straßen gefahren wurde. Und das Volk
begann zu murren.
Da sollte das prunkvolle Leichen¬
begängnis des an der Porta Settimiana
gefallenen französischen Generals den
erregten Geistern für einen Augenblick
wenigstens Ablenkung bringen. 89 ) Es
sollte den Römern in einem erhabenen
Bilde vor Augen geführt werden, wie die
Große Nation ihre Toten zu ehren ver-
39) Ausführliche Beschreibungen bei Saia,
Diario Romano 152 und III233(AllegatoVI).
Ferner bei Duppa, A brief account S. 67.
Bei Duppa findet sidi auch eine Nachbil¬
dung des Katafalks auf dem Petersplatz.
Internationale Monatsschrift
stand. Im christlichen Rom wurde mit
ungeheurem Aufwand ein heidnisches
Totengepränge veranstaltet.
Schon am Tage vorher war auf der
Engelsburg alle fünf Minuten ein Ka¬
nonenschuß gelöst worden, der die Rö¬
mer immer aufs neue an die Allmacht
ihrer Bedrücker erinnern mußte. Ara
24. Februar sah man mitten auf dem
Petersplatz zwischen vier hochragenden
Zypressen einen mächtigen Katafalk
nach dem Vorbilde der Cestiuspyramide
sich erheben. Inschriften zum Preise Du-
phots und Wappenembleme schmückten
rings den hohen Sockel, und auf antiken
Dreifüßen flackerten die Totenfeuer.
Alles, was eine Armee an militärischem
Prunk aufzubieten vermag, war aufge¬
wandt worden, als Berthier um die Mit¬
tagsstunde mit seinem glänzenden Stabe
hoch zu Roß erschien; alles, was Gesang
und Töne zu Ehren eines Toten auszu¬
drücken vermögen, wurde dem General
als Weihgeschenk aufs Grab gelegt. Ein
Expriester in Priestertracht hielt eine je¬
ner hochtönenden, von falscher Rhetorik
geschwollenen Reden, in denen man den
Stil Bonapartes nachzuahmen suchte,
ohne seinen Geist zu besitzen. Dieser
Abtrünnige richtete seine Rede an die
Heroen der Französischen Republik, und
eine ungeheure Volksmenge füllte den
historischen Platz, auf dem sie sonst den
Segen des Papstes empfangen hatte. In
vollen Chören klang das Totenopfer aus,
und dann trugen die Soldaten der fran¬
zösischen Armee in düsterem militäri¬
schen Gepränge die Asche ihres Kame¬
raden an der Porta Settimiana vorbei
aufs Kapitol hinauf. An der Stelle, wo
Duphot gefallen war, wurden Schüsse
abgefeuert, und oben auf dem Kapitols¬
platz wurde die Urne auf antiker Säule
zu ewigem Gedächtnis beigesetzt. 40 )
40) M6moires du g6n6ral Desvemois ed.
Dufourcq S. 87. Nach dieser Quelle wurde
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
836
Und womit beschäftigten sich inzwi¬
schen Haller und seine „Agenten des
Kirchenraubes“? Man sträubt sich fast,
es zu glauben, aber zwei Augenzeugen
berichten glaubwürdig, daß sie die
kostbaren Stunden, in denen die Auf¬
merksamkeit des ganzen Volkes auf ein
anderes Ziel gerichtet war, benutzten,
um in den Kirchen Roms die Kostbarkei¬
ten zu stehlen. 41 ) Sie begaben sich nach
San Giovanni an der Piazza Navona und
nach S. Maria in Monserrato, den Na¬
tionalkirchen der Spanier in Rom, und
nahmen alles Silber, dessen sie habhaft
werden konnten; sie drangen in S. Maria
deir Anima, derNa:ionai:;l/che der Deut¬
schen und Österreicher, ein und zwangen
den Rektor der Kirche, ihnen alles aus¬
zuliefern, was im Inventar des Kirchen¬
schatzes verzeichnet stand. Sie nahmen
endlich von San Tommaso degli Inglesi
Besitz und zwangen die Priester ohne
weiteres, die Kirche und das Kloster zu
räumen. Inzwischen feierte der gewe¬
sene Priester Faustino Gagliuffi auf
dem Petersplatz Berthier und Mass6nä
als erlesene Werkzeuge des göttlichen
Willens auf Erden, und auf dem Kapi¬
tolsturm flatterte die französische Fahne
als Freudenzeichen der wiederaufge¬
richteten Menschenrechte in Rom.
Aber schon der nächste Tag sollte der
ewigen Stadt ein Schauspiel bieten, das
erkennen ließ, wie stark selbst in der
französischen Armee die Schmach sol¬
cher Vorgänge empfunden wurde. 42 )
auch an der Porta Settimiana ein Gedenk¬
stein für Duphot errichtet, der heute ver¬
schwunden ist, wie die Ehrensäule auf dem
Kapitol, die das römische Volk schon im
November 1798 zerstörte „maledicendo i
Francesi“. Vgl. Sala, Diario II 232.
41) So berichten Duppa (S. 69) sowohl
wie Sala (I 54). Duppa hebt hervor, der
Raub sei um so frevelhafter gewesen, als
keine der drei Nationen sich damals im
Kriege mit Frankreich befand.
42) Dufourcq a. a. O. S. 123.
Während in allen Kirchen feierliche
Totenmessen für Duphot gelesen wur¬
den, nahm Massäna auf der Piazza Co-
lonna als neuer Obergeneral die Parade
über seine Truppen ab. Nach der Pa¬
rade begaben sich sämtliche unteren
Offiziere vom Leutnant bis zum Haupt¬
mann in geschlossenem Zuge zu dem
einzigen noch erhaltenen antiken Tem¬
pel Roms, zum Pantheon. Hier ließen
sie vom Hochaltar das Allerheiligste ent¬
fernen und begannen eine lange, ernste
Beratung. Sie richteten einen Protest an
den scheidenden Berthier folgenden In¬
halts 43 ): „Eine Anzahl von Individuen,
mit autoritativer Gewalt ausgerüstet,
dringen in die reichsten Häuser der Stadt
ein und Äehmen die kostbarsten Dinge
fort, ohne irgendwelche Bestätigung zu
hinterlassen. Solche Verbrechen schreien
nach Rache; sie entehren den französi¬
schen Namen. Wir schwören angesichts
des Ewigen, in dessen Tempel wir ver¬
sammelt sind, daß wir nichts gemein
haben wollen mit dieser Plünderung
Roms und des Kirchenstaates. Soldaten
und Offiziere leiden Mangel, weil ihnen
der Sold vorenthalten wird. Wir ver¬
langen unseren Sold binnen 24 Stunden,
wir verlangen, daß das Geraubte zurück¬
erstattet werde, wir verlangen, daß die
Räuber bestraft werden.“
Da Mass6na nicht nachgeben wollte
und die Offiziere sich weigerten, weiter
unter ihm zu dienen, wurde die Lage
kritisch in Rom. Es gelang zwar schnell,
einen Aufstand in Trastevere zu unter¬
drücken und die Schuldigen zu bestra¬
fen. Aber es gelang nicht, die Offiziere
zum Gehorsam gegen ihren General zu¬
rückzuführen. Der Raub im Vatikan
strafte sich mit nie gesehener Schnellig¬
keit. Massöna wurde gezwungen, den
kaum übernommenen Oberbefehl nieder¬
zulegen und Rom zu verlassen. „Ange-
43) Abgedruckt bei Duppa a. a. O. S. 177.
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Ernst Steinmann, Die PlOnderung Roms durch Bonaparte
838
sichts eines so schmachvollen Skan-
dals“, schreibt ein französischer Histo¬
riker 44 ), „befand sich das Directoire, das
soviel lächerliche Phrasen gemacht hatte
Ober Kapitol und Freiheit, Ober Ruhm
und Uneigennützigkeit der republikani¬
schen Armeen, in der peinlichsten Ver¬
wirrung. Der französische Schatz war
öffentlich geplündert durch diese un¬
eigennützigen Krieger, von denen man
der Welt erzählte, sie dächten nur daran,
das Kapitol in alter Herrlichkeit wieder-
herzustellen. Die französische Armeen
zeigte selbst ihr Oberhaupt wie einen
neuen Verres an, und ganz Europa er¬
fuhr, daß die neue Römische Republik
nichts als eine hassenswerte Komödie
war und daß in Wirklichkeit das rö¬
mische Volk von seinen sogenannten Be¬
freiern bedrückt und geplündert wurde.“
Außer der Zahlung des rückständigen
Soldes und dem Sturz Massfenas, der
bald durch glänzende Waffentaten Ge¬
legenheit fand, sein gesunkenes Ansehen
wiederherzustellen, hatten die Protest-
Versammlungen der französischen Offi¬
ziere erst im Pantheon, dann auf dem
Kapitol weiter keine Folgen. Zwar hatte
man mit großen Worten und golde¬
nen Versprechungen das ganze römische
Volk aufgefordert, seine Klagen vorzu¬
bringen, aber schon Duppa weiß zu be¬
richten 46 ), daß die Offiziere nicht mehr
daran dachten, sich weiter mit den Ange¬
legenheiten des römischen Volkes zu be¬
fassen, nachdem ihre eigenen Wünsche
erfüllt waren. Im Gegenteil: sie ließen
sich ohne die geringsten Bedenken aus
den in Rom geraubten Schätzen ihren
Sold zahlen. So machte dieser Protest,
der so voll und feierlich von der hohen
Wölbung des Pantheon widergehallt
44) L. Sciout, Le directoire et la rfepublique
Romaine in Revue des questions historiques
XXXIX (1886) S. 157.
• 45) A.a.0. S.78.
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war, auch auf die Raubkommissäre in
Rom nicht den geringsten Eindruck. Sie
ließen sich nicht einen Augenblick in
ihrer Beschäftigung stören. Die Plünde¬
rung am Tiber wurde systematisch fort¬
gesetzt.
Die Raubvögel in Rom wußten zu ge¬
nau, daß Volk und Regierung in Paris
nicht anders dachten als sie selbst. Die
Stimmen Roederers und Quatremferes
waren längst vomGeschrei der Presse und
des Publikums begraben worden. Welch
ein Fest schickte man sich an in Paris
zu feiern l 4 «) Welch ein Triumph würde
es sein, die Kunstschätze Italiens durch
die Straßen der Hauptstadt geführt zu
sehen! Wer es noch nicht glauben
wollte, der sollte es jetzt mit eigenen
Augen sehen, daß Paris bestimmt war,
das Erbe Roms anzutreten und der Welt
nicht nur mit dem Schwert, sondern auch
mit Feder, Pinsel und Meißel Gesetze
vorzuschreiben.
Dieser Überzeugung hat wohl nie¬
mand rücksichtsloser Ausdruck gegeben
als der General Pommereul in der Über¬
setzung eines Buches, das Francesco
Milizia verfaßt und „die Kunst“ genannt
hatte, „in den schönen Künsten die
Augen aufzumachen“. 47 ) Dies ketze¬
rische Büchlein, in dem auch dem großen
Michelangelo übel mitgespielt worden
war, hatte die päpstliche Regierung in
Rom verboten, ein Umstand, der es Pom-
mereuls republikanischem Gemüt beson¬
ders empfehlen mußte.
46) Vgl. über das Fest der Freiheit, das
i. J. 1798 am 27. und 28. Juli in Paris ge¬
feiert wurde: E. Steinmann, Das Fest der
Freiheit i. J. 1798 in Paris in den Monats-
heften für Kunstwissenschaft IX (1916) S. 273.
47) De l’art de voir dans les Beaux-Arts
traduit de Thalien de Milizia, suivi des in-
stitutions propres ä les faire fleurir en France
et d’un fetat des objets d’arts dont ses mu¬
sfees ont fetfe enrichis par la guerre de la
Libertfe par le Gfenferal Pommereul, Paris
an 6 de la Rfepublique (1798), S. 312—316.
27*
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durdi Bonaparte
840
Im Anhang dieses Werkes gibt der
Obersetzer auch eine Liste der aus
Holland, Belgien und Italien geraubten
Kunstschätze und knfipift daran die
merkwürdigsten Betrachlungen überdas,
was nach den jüngsten Eroberungen
weiter von Rom nach Paris zu bringen
sei. Pommereul, der nicht der erste beste
war, sondern ein General der französi¬
schen Armee, ein bekannter Literat und
ein zukünftiger Bibliotheksdirektor des
Kaiserreichs 48 ), Pommereul muß Rom
und seine Kunstschätze sehr genau ge¬
kannt haben. Er führt im einzelnen auf,
was aus dem Vatikan, aus dem Kapito¬
linischen Museum und aus der Villa
Borghese nach Paris zu bringen sei, und
man muß sagen, die Auswahl, die er ge¬
troffen hatte, hätte nicht reicher und er¬
lesener sein können. Dann fährt er fort,
von den öffentlichen Denkmälern Roms
zu sprechen 49 ):
„Nach den Pferden des Phidias und
des Praxiteles rufen die Brücke der Re¬
volution und der Platz der Eintracht.
Sie würden dort besser stehen als auf
dem Monte Cavallo.
„Die Trajanssäule wünschen die einen
auf dem Pont-neuf zu sehen, aber man
sollte sie auf die leere Basis der Place
Vendöme setzen. Die Statue der Frei¬
heit würde die des Apostels Petrus oben
auf der Höhe bestens ersetzen. 60 ) Der
Gedanke, dies Denkmal auseinanderzu-
nehmen und abzutransportieren/mag an-
fangs ungeh euerlich erscheinen, aber er
48) Lanzag de Laborie in Revue des
Deux mondes 1912 S. 612.
49) A. a. O. S. 314.
50) Tatsächlich wurde in Rom über der
Apostelstatue auf der Mark Aurels-Säule
des Colonnaplatzes eine Statue der Frei¬
heit angebracht: una statua rappresentante
la libertä fu posta in cima alla Colonna
Antonina e per reggerla venne assicurata
con una corda al collo della statua di bronzo
di S. Paolo Apostolo esistente su detta co¬
lonna. Sala, Diario I 173.
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ist keineswegs unausführbar. Kein Be¬
denken sollte hier gestattet sein, und
auch die Kosten sollten uns nicht
schrecken.
„Braucht man für unsere Maler jene
großen Fresken im Vatikan, in denen
Raffaels Genius erglänzt, so genügt es
der Französischen Republik, sie zu wün¬
schen, um sie zu erhalten. Besitzt sie
doch allein die Künstler, die fähig sind,
ihr diesen Schatz zu verschaffen. Ein
Wprt, und das Wunder der Oberführung
ins Museum Frankreichs ist geschehen 1“
Und nun folgt die Aufzählung sämt¬
licher Fresken an den Wänden der
Stanza della Segnatura und der Stanza
d’Eliodoro. Pommereul würde keinen
Augenblick gezögert haben, sie nach Pa¬
ris zu schaffen.
„Man darf nicht einmal die herrliche
Galerie d’Orteans als für uns verloren
ansehen,“ schließt der General sein merk¬
würdiges Buch. „Trotz der Anzahl und
des Reichtums unserer Trophäen ist ihr
Verlust zu bedauern. Weiß man nicht,
daß sie sich in London befindet? Der Er¬
oberer Italiens wird sie ohne Zweifel
dort zu finden wissen, um sie dem Mu¬
seum der .Grande Nation* zurückzu¬
geben.“
Das war die Sprache, die man damals
in Paris und Rom zu führen gewohnt
war, und die Handlungen entsprachen
solchen Worten. Es war wie ein unab¬
wendbares Verhängnis, das jetzt über die
Denkmäler Roms hereinbrach, die bis da¬
hin in ganz Europa wie die glorreichsten
Reliquien der Weltgeschichte verehrt
worden waren.
Sogar an der Sixtinischen Kapelle ist
die Eroberung Roms durch die Franzo¬
sen nicht spurlos vorübergegangen.
Schon im Juni 1797 war bei einer furcht¬
baren Pulverexplosion in der Engels¬
burg auch der Vatikan in seinen Grund¬
festen erschüttert worden. „Die Erschüf-
Original frum
INDIANA UNiVERSITY
841
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
842
terung war so stark,“ berichtete Cacault
am 1. Juli an Bonaparte, „daß die Decke
der Sixtinischen Kapelle Risse bekom¬
men hat, daß ein Stück aus den Fres¬
ken zur Erde gefallen ist, und daß das
Jüngste Gericht Michelangelos unersetz¬
lichen Schaden erlitten hat.“ 61 )
Daß man aber auch gar nicht weit da¬
von entfernt war, Pommereuls Vorschlag
in betreff der Raffael-Fresken zu befol¬
gen, und nicht davor zurückschreckte,
ganze Wände mit Freskomalereien aus¬
zusägen, um sie nach Paris schaffen zu
können, beweist der Vorgang in S. Tri¬
nitä de’ Monti.
Raffaels Verklärung, Dominichinos
Kommunion des h. Hieronymus und die
Kreuzabnahme des Daniello da Volterra
hatte einst Poussin für Rom9 bedeu¬
tendste Altargemälde erklärt 68 ), und
dieser Ausspruch des genialen Künst¬
lers hatte sich in Rom wie eine fromme
Tradition erhalten! Raffael und Domi-
nichino waren bereits nach Paris ge¬
schleppt worden; warum sollte man
Daniellos Meisterwerk in S. Trinitä de’
Monti zurücklassen?
War doch der Name dieses größten
Schülers Michelangelos in Paris nicht
unbekannt geblieben. Daniello da Vol¬
terra war der Schöpfer jenes mächtigen
Bronzepferdes gewesen, das die Statue
Ludwigs XIII. auf der Place Royale
getragen hatte. Die Franzosen hatten
dies Wunderwerk der Monumentalpla-
stik in der Revolution zerstört, nun bot
sich den Franzosen die Gelegenheit, den
51) Correspondance inädite officielle et
confidentielle de Napoleon Bonaparte, Paris
1819, II 421. Bis dahin wußten wir von
dieser Pulverexplosion und der Schädigung
der Sixtinalresken nur durch Duppa, Life
of Michel-Angelo, London 1807, S. 283.
52) Girodet, CEuvres ed. Coupin II 289.
VgL auch Landon, Annales du mus6e V
<1803) S. 41. Landon hat PI. 17 das Gemälde
gestochen.
Namen Daniellos durch sein Hauptwerk
in der Malerei noch einmal in Paris auf
den Schild zu erheben.
Die Fresken in der Orsini-Kapelle in
S. Trinitä de’ Monti befanden sich nach
Bottaris Zeugnis in keineswegs tadel¬
losem Zustande. 68 ) Es hätte der vorsich¬
tigsten Behandlung bedurft, um ihren
Bestand zu sichern. Statt dessen wurde
auch diesem Meisterwerke Daniellos der
französische Name zum Verhängnis. Wir
wissen nichts Genaueres über den Vor¬
gang selbst. Femow berichtet nur am
1. Oktober 1798 aus Rom: „Die Kreuz¬
abnahme des Daniel di Volterra hat man
nebst den Seitengemälden samt der
Mauer ausgesägt, um sie nach Frank¬
reich zu transportieren,“ 64 ) und das
gleiche verkündete auch Millin im „Ma¬
gazin encyclopädique“ seinen Lesern. 66 )
Daß aber das Unternehmen mißlang und
Daniellos Fresken bei dieser Gelegen¬
heit größtenteils zugrunde gingen, er¬
fahren wir aus einem Schriftchen, das
anonym im Jahre 1800 in Erfurt er¬
schien. 68 ) Hier lesen wir: „Unverant¬
wortlich ist’s, wie diese Franco-Hunnen
mit den Kunstwerken umgingen. Das
erhabene al Fresco-Gemälde des Daniel
di Volterra, die Kreuzabnehmung, wo
besonders die herrliche Gruppe des Vor¬
dergrundes unübertroffen schön darge-
stellt war, sägten die Franzosen aus der
Wand der Kirche heraus und ach! zer¬
brachen es — und auf diese Art gingen
unzählige Gemälde, Statuen und andere
53) Vgl. E. Steinmann, Die Porträtdarstel¬
lungen des Michelangelo, Leipzig 1913, S.48.
54) Teutscher Merkur 1798 III S. 285.
55) IV 6 (1798) p. 550: On a enlevö le mur
entier de l’6glise Trinitä de’ monti sur lequel
etait la descente de croix par Daniel di Vol-
tenra, aussi que les peintures laterales, pour
les porter en France.
56) Der Kampf um Europens Stiefel. Ein
Gemälde aus der Bildergallerie unserer Tage
S.7.
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
844
Kostbarkeiten unter ihren ungeschickten
Händen zugrunde.“
Heute sind die SeitengemAide der Or-
sini-Kapelle überhaupt verschwunden,
und das wieder in die Altarwand einge¬
lassene Hauptgemälde ist völlig über¬
malt. Der Wahnwitz, bei den damaligen
Transportverhältnissen riesige Fresko¬
gemälde von Rom nach Paris zu sen¬
den, muß den französischen Kommissa¬
rien allmählich aufgegangen sein. Aber
es war zu spätl
Was S. Trinitä de’ Monti an sei¬
nen besten Freskogemälden erfahren
mußte, das erfuhren zahlreiche andere
Kirchen Roms an ihren Tafelbildern, an
ihren Grabdenkmälern, den Glocken, den
Gold- und Silbergeräten, den kirchlichen
Gewändern. Man entschließt sich nur
zögernd, einem Augenzeugen all der
fürchterlichen Dinge, dem Römer Giu¬
seppe Antonio Sala, auf seiner Via dolo¬
rosa durch die Kirchen Roms zu folgen.
Die Tatsachen, die er in der schlichten
Sprache des Chronisten aufgezeichnet
hat und die durch andere Zeugen bestä¬
tigt werden 67 ), erscheinen uns noch
57) Am überzeugendsten wirkt das Zeug¬
nis des kühlen und scharfsichtigen Femow.
Er üußert sich im Teutschen Merkur (1798
Bd. III S. 285) wie folgt: .Mehrere Kirchen,
unter denen ich hier nur die von Aracoeli
auf dem Kapitol, von Trinitä de’Monti, S.
Croce in Gerusalemme, S. Pietro in Mon-
torio, S. Bartolomeo all* Isola nennen will,
werden teils von römischen Edilen, teils
von französischen Kommissars im eigent¬
lichsten Sinne des Worts dilapidiert. Alles
darin befindliche Metall, alle marmornen
SSulen und Tafeln, welche die Altäre zier¬
ten, werden ausgebrochen und verkauft,
wobei jeder, soviel er kann, für sich selbst
nimmt... In einigen dieser der Zerstörung
preisgegebenen Kirchen, wo Grabstätten
von Kardinalen oder anderen Vornehmen
waren, hat man die Gräber aufgewühlt und
die bleiernen Särge herausgenommen, um
Sie zu Flintenkugeln zu verarbeiten. Ich
könnte eine Weile in diesem Tone fort¬
heute wie eine der fürchterlichsten An¬
klagen, die jemals gegen Kirchenräuber
und Heiligtumsschänder erhoben wor¬
den sind.
Am 23. Februar 1798 berichtete Ber-
thier nach Paris, er habe im Einverneh¬
men mit Massöna die Beschlagnahme
aller Silberschätze in den römischen Kir¬
chen angeordnet. 68 ) Wenige Tage spa¬
ter, am 1. März, begannen die ge¬
fürchteten Trabanten Hallers ihr Zer¬
störungswerk. 69 ) Und nicht in Rom
allein I Überall in der näheren und
weiteren Umgebung Roms ließen sich
diese Raubvögel nieder und schlepp¬
ten aus Kirchen und aus Klöstern
fort, was ihnen die eingeschüchterten
Priester und Mönche nicht vorzuenthal¬
ten wagten. 60 ) Haller hatte das Unter¬
nehmen aufs glänzendste organisiert In
jeder Kirche erschienen ein französi¬
scher Kommissar, ein dienstwilliger Rö¬
mer der neuen Republik und ein Silber¬
schmied. 61 ) Schnell wurde das Kost¬
barste ausgewählt gewogen und fort¬
geschleppt: Heilige Geräte, Monstran-
fahren, ehe es mir an Stoff gebräche. Machen
sie nun den Schluß von dem, was der Kunst
geschieht, wie es in allen übrigen Fächern
der Administration unserer neuen Republik
zugehen mag, wo die Beuten noch weit
ergiebiger ausfallen, und Sie werden mir
zugeben, daß Genseridb und Attila samt
ihren Visigothen und Hunnen Ehrenmänner
waren gegen die Gothen und Vandalen des
neuesten Roms.“
Wie es die Silber-Kommissare machten,
um sich an der Beute einen möglichst gro¬
ßen persönlichen Anteil zu sichern, erläutert
Sala (1102) an einem besonderen Beispiel.
58) Müntz in der Revue d’histoire diplo¬
matique X (1896) S. 499 Anm. 2.
59) Sala, Diario I 72.
60) Sala, Diario I 135. Per tutte le pro-
vincie si sono spediti de’ Commissari Fran-
cesi a far lo spoglio delle argenterie delle
chiese. S. 162 beschreibt Sala ausführlich
den Kircfaenraub in Subiaco, Trisulti, Sezze,
Alatri usw.
61) Sala, Diario I 72.
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durdi Bonaparte
846
zen, Becher, Räucherfässer, Hostien* und
Reliquienbehälter—kurz alle Gold* und
Silberschatze, die jn Jahrhunderten auf*
gehäuft waren, verschwanden in der
römischen MQnze hinter dem Vatikan. 68 )
Oberall wurde nur das nötigste Gerät
zurtlckgelassen, um an den Altären noch
das Meßopfer verrichten zu können. Die
PlOnderung wurde oft unter Todes*
drohungen überall mit so großer Eile
betrieben, daß sie bereits am 24. April
zum vorläufigen Abschluß gelangte. 66 )
Das Direktorium in Paris und die Armee
in Rom brauchten Geld und wieder Geld.
Es galt, die römische Beute, die bestän*
dig von Neapel her bedroht war, so
schnell wie irgend möglich in Sicherheit
zu bringen. Wie sich die Agenten der
großen Nation dabei auffQhrten, deutet
Sala mit den Worten an 64 ): „Ich glaube,
man brauchte keine Prozesse zu führen,
um sämtliche Kommissare zur Erschie¬
ßung zu verurteilen!“
Die neue Römische Republik, ein gänz¬
lich willenloses Werkzeug in der Hand
der französischen Armee, ließ es sich in¬
zwischen angelegen sein, der Raubsucht
ihrer Bedrücker auf alle Weise Vorschub
zu leisten. Schon im März wurden Kir¬
chen, Klöster und geistliche Institute
zum Nationaleigentum erklärt 66 ), im Mai
wurden nicht weniger als 31 Klöster
ohne weiteres aufgehoben. 66 ) Was sich
an beweglichem Gut vorfand, wurde
meistens öffentlich versteigert Einmal
in der Hand von Männern, die die Reli¬
gion bekämpften, denen die päpstliche
Autorität ein Greuel war, schienen auch
die Kirchen Roms in ihrem Bestände
62) Schon am 13. März schreibt Sala, daß
12 Wagen mit Gold- und Silberbarren die
Münze verlassen hätten. 1101.
63) Sala, Diario 1161: £ compito io spoglio
delle Chiese di tutti H Dipartimenti.
64) Sala I 161. 65) Sala I 111.
66) Sala I 200. Duppa, A briet account
S. 9a
aufs emstlichste bedroht. Sie haben in
der Tat seit dem Sacco di Roma keine so
furchtbare Verwüstung erlitten. Sala hat
die dunkle Chronik dieser Tage treulich
aufgezeichnet. Wir brauchen seiner Füh¬
rung nur zu folgen.
In San Lorenzo e Damaso, der in den
Palast der Cancelleria eingebauten ge¬
räumigen Kirche, raubten die Kommis¬
sare eigenhändig den silbernen Rahmen
um das Madonnenbild und die silberne
Krone der Madonna. 67 ) Später wurde
auch das prächtige Tabernakel aus ver¬
goldetem Erz entfernt und im Exkloster
der Konvertiten — dem allgemeinen
Auktionslokal — meistbietend verstei¬
gert. 68 ) Den Tribunen der jungen Repu¬
blik, die in der Cancelleria ihre Residenz
aufgeschlagen hatten, war die Kirche in
ihrem Palast überhaupt sehr unbequem.
Sie fürchteten den Geruch der Gräber
und fühlten sich unbehaglich beim Läu¬
ten der Glocken. So wurde San Lorenzo
im August geschlossen. 68 ) „Wer kann
den Untergang so vieler Bauwerke und
Kirchen genug beklagen?“ ruft Sala aus.
„Wahrscheinlich werden sie alle zuerat
beraubt, dann geschlossen und dann zer¬
stört oder für profane Zwecke verwandt
werden.“ 70 )
Bei der Plünderung von St. Peter, die
am 9. März begann und am 2. Juni
endigte, wurden zunächst viertausend
Pfund Silber und siebzig Pfund Gold er¬
zielt. 71 ) Man ließ der Kirche an¬
fangs großmütig für die vielen Messen
27 Becher, alle Reliquienbehälter, eine
Anzahl Lampen und mehrere Reihen von
67) Sala I 75.
68) Sala II 161. 69) Sala II 86.
70) Sala I 200.
71) Sala I 92. Ausführlicher handelt über
die Beraubung von St Peter Mons. Giuseppe
Cascioli im Bessarione Ser. III vol. IX (1912)
S. 303. Herrn Dr. Hartig bin ich für den Hin¬
weis auf die Arbeit Casciolis zu Dank ver¬
pflichtet.
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INDIANA UNIVERSITY
848
847 Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
Leuchtern. -Aber bei der zweiten Plün¬
derung wenige Monate später wurden
die silbernen Lampen und Leuchter, die
goldenen Kronen der Madonnenbilder,
alle Reliquienschreine und alle Mon¬
stranzen und Becher bis auf zehn ge¬
raubt. 78 ) Ein Prozessionskreuz, die herr¬
lichen Farnese-Leuchter des Antonio
Gentili da Faenza und einiges andere
wurde zwar auf Befehl des französi¬
schen Generals zurückerstattet, aber die
unschützbaren, unvergleichlichen Gold-
und Silberarbeiten der päpstlichen Sa¬
kristei waren auf immer dahin. „Eine
Landkirche“, ruft Sala aus, „hat heute
kostbarere Altargerftte als die erste Ba¬
silika der Welt!“
Man hatte anfangs sowohl die große
silberne Statue des hl. Ignatius in der
Kirche del Gesü, die wundervoll gear¬
beitet war, und jenen berühmten Schrein
der Apostelköpfe in SS. Giovanni e Late-
rano, Arbeiten des Giovanni di Bartolo
vom Jahre 1369, zu retten gehofft. 73 )
Die Konsuln hatten sich für die Erhal¬
tung dieser vaterländischen Altertümer
verwandt. 74 ) Aber die Franzosen hatten
erklärt, daß alles Silber in den Kirchen
ihnen zustehe als Recht des Eroberers
und hatten auch diese Schätze in die
Münze bringen lassen. 76 )
Noch langwieriger war der Kampf um
die berühmte Monstranz der Doria Pam-
phili in Sant’ Agnese an der Piazza Na-
vona gewesen. 78 ) Er endete damit, daß
72) Sala I 243, 250 und 281.
73) Sala I 94 und I 76.
74) Sala II 36.
75) Sala I 258: Anco la Basilica Latera-
nense ha dovuto sogiacere all’ intero spoglio
delle argenterie, compreso ancora il gruppo
antichissimo dell’ ultima Cena, che i Ooti
lasciarono intatto nel sacchegio di detta Ba¬
silica. Vgl. Müntz in Revue d’histoire diplo¬
matique X (1896) S. 499.
76) Sala 1 126, 128, 282; II 4 und 7. Gou-
vion St.-Cyr, Mömoires I 298—301.
sich der Prinz Doria gezwungen sah, der
Französischen Republik, die ihn und
seinesgleichen bis aufs Hemd geplündert
hatte, dies kostbare Prunkstück seines
Hauses zum Geschenk zu machen.
Man nahm in den großen und kleinen
Kirchen Roms nicht nur die Monstran¬
zen, die Hostienbehälter, die Reliquien¬
schreine, die Lampen und Leuchter —
kurz alles, was die Römer sonst beim
Hören einer Messe vor Augen gehabt
hatten —, man ließ auch den Toten keine
Ruhe. Das Grab von S. Filippo Neri,
des römischen Nationalheiligen, wurde
geöffnet, weil sein Körper in einem Sarg
von Silber ruhte, die Denkmäler der Kar¬
dinale brach man auf, um sich der blei¬
ernen Särge zu bemächtigen. 77 ) Aus
S. Maria in Aracoeli hatte sich dassacro
bambino nach San Cosimato flüchten
müssen, und die Kirche schien mit dem
völligen Untergange bedroht. 78 ) Noch
lasen die wenigen zurückgebliebenen
Jünger des hl. Franz an den beraubten
Altären die Messe, aber schon hatte man
die Gemälde fortgeschafft, von den Grab¬
steinen die metallenen Wappen und
Buchstaben entfernt und aus der Sakri¬
stei den reichen Schatz und die Kirchen¬
gewänder gestohlen. 79 ) Ja, sogar die
Kapelle, die sich noch heute über dem
Allerheiligsten der Kirche im Quer¬
schiff erhebt, sollte abgebrochen wer¬
den, und die goldschimmernde Holz¬
decke — das Weihgeschenk des römi¬
schen Volkes an die Madonna nach der
Schlacht bei Lepanto — war wie die
Decken von S. Chrysogono und S. Maria
dell’ Orto 80 ) auf Abbruch an die Wuche¬
rer aus dem Ghetto verkauft worden.
77) So in den Kirchen delle Barbarine
und S. Niccolo di Tolentino. Sala II 41.
78) Sala II 49.
79) Sala II 45, 48, 70, 72.
80) Sala II41. Zum Glück gelangte dieser
Plan nicht zur Ausführung.
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849
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durdi Bonaparte
850
„Man kann nicht ohne Tränen an all
diese Frevel denken,“ seufzt der ehr¬
liche Sala; „nicht die Qoten, nicht die
Vandalen oder irgendein anderes Volk
von Barbaren haben solche Verbrechen
begangen t“
Anfang August wurde Aracoeli ge¬
schlossen und die Franziskaner des Klo¬
sters in alle Winde zerstreut. Fast noch
schlimmer erging es anderen, gleichfalls
aufgehobenen Kirchen und Klöstern. In
S. Bartolomeo auf der Tiberinsel wurden
die Altäre zerstört und ihrer Reliquien
beraubt; alles, was Wert besaß, wurde
verkauft. Die Kirche selbst sollte in eine
Kaserne oder in ein Magazin oder in ein
Theater umgewandelt werden. 81 ) Das
gleiche Los hatten Kirche und Kloster
von SS. Domenico e Sisto 8 *): „das Klo¬
ster ein Paradies auf Erden, die Kirche
reich an köstlichen Paramenten und
einem Schatz von Silbergeraten“! S. Sa¬
bina auf dem Aventin, Kirche und Klo¬
ster, wurde für 3000 Dukaten verkauft:
„Wer dies Heiligtum erworben hat,“
schreibt Sala, „wird es in eine Spelunke
verwandeln und Säulen, Marmor und
alles übrige verkaufen.“ 83 ) Von S. Ma¬
ria deir Anima entfernten die Franzo¬
sen das kaiserliche Wappen, plünderten
die Kirche völlig aus und raubten die
besten Gemälde, unter ihnen Giulio Ro¬
manos berühmte Madonna, um sie nach
Paris zu schaffen. 84 ) In S. Antonio de*
Portoghesi wurde das gesamte Inventar
an den Antiquar Barbiellini verkauft 85 )
81) Sala I 270. 82) Sala II 34.
83) Sala II 45.
84) Sala II 92. Vgl. Teutsdier Merkur 1799
I S. 61 und Correspondance de Napoleon I.
Tom. III S. 663, wo unter CA die drei aus
S. Maria dell’ Anima geraubten Gemälde
aufgeführt werden. Eingehend handelt über
die Plünderung der Kirche J. Schmidlin, Ge¬
schichte der deutschen Nationalkirche in
Rom S. Maria dell* Anima, Freiburg 1906, «
S. 664 ff. 85) Sala III 57 und 82.
Am schlimmsten aber erging es S. Pietro
in Montorio, der herrlichen Kirche am
Janiculus, zu der man einst gewallfahr-
tet war, um Raffaels Verklärung Christi
zu bewundern. „Kirche, Kloster, Garten,
alles ist für 2000 Dukaten an einen Fran¬
zosen verkauft worden. Dieser hat alles
zerstört, um sich Metall und Marmor zu
verschaffen. Er hat sogar den Steinfu߬
boden aufgebrochen, weil er den Schädel
der berühmten Cenci sucht, die in dieser
Kirche begraben wurde.“ 86 )
Schon aus der ersten Plünderung der
Kirchenschätze, der später noch eine
gründliche Nachlese folgte 87 ), erzielten
die Franzosen nach ihren eigenen Wor¬
ten einen Gewinn von ungefähr 30 Mil¬
lionen Franken. 88 ) „Was sie sich aber
insgesamt angeeignet haben,“ schreibt
Sala 89 ), ist unabschätzbar. Man stelle
sich allein den Reichtum der ausländi-
dischen kirchlichen Institute in Rom vor!
Alle Kirchen und kirchlichen Institutio¬
nen der Flamen, Franzosen, Deutschen,
Portugiesen, Neapolitaner, Toskaner fie¬
len ihnen in die Hände, und sie nahmen
alles, was sie wollten.“
In der Tat! Keiner menschlichen Phan¬
tasie kann es gelingen, sich von den Fol¬
gen der grandiosen Raubzüge der Fran¬
zosen. durch Rom und die römischen
Provinzen auch nur annähernd eine Vor¬
stellung zu machen. Wir erfahren allzu
selten im einzelnen, was an Arbeiten in
Stein und Erz, in Silber oder Gold wirk¬
lich zugrunde gegangen ist. Bei der
Fülle der Geschichte mußte der Chronist
sich eben begnügen, im allgemeinen die
furchtbaren Dinge zu schildern. So hö¬
ren wir, daß alle Glocken Roms requi-
86) Sala II 40 und 112. Teutsdier Merkur
1798 III S. 286. Friederike Brun-Münter be¬
suchte S. Pietro in Montorio im Dezember
1802 und schrieb: .Hier ist alles Zerstörbare
zerstört!“ Vgl. Römisches Leben I 191.
87) Sala II 221.
88) Sala I 161. 89) Sala III 40.
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851
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
852
riert werden sollten 90 ), aber nur von den
Glocken von S. Clemente wird berichtet,
daß sie wirklich in die Münze wander-
ten 91 ), wie die herrlichen Bronzegitter
aus dem Missionshause auf dem Monte
Cavallo 9S ), wie das Bleidach der Kuppel
der Madonna del Rosario auf dem
Monte Mario. 93 )
Am 24. Februar war der Erlaß erschie¬
nen, der gebot, innerhalb von 8 Tagen
alle Wappen in Rom zu vernichten. 94 )
Was der Französischen Republik recht
gewesen war, mußte der Römischen bil¬
lig sein. Aber man vermag sich nicht vor¬
zustellen, was es für eine Stadt wie Rom
bedeutete, an ihren Kirchen und Palästen,
ihren Brunnen, Toren und Obelisken den
Eichbaum der Roveie, den Stier der Bor¬
gia, die Kugeln der Medici, die Lilien der
Farnese, die Bienen der Barberini ent¬
fernt zu sehen. Wie keine Stadt der Er¬
de eine Geschichte hat wie die Stadt am
Tiber, so hatte auch keine Stadt einen
solchen Reichtum an Wappen aufzuwei¬
sen in Stein und in Bronze. Sala sah mit
schwerem Herzen, wie das Wappen Cle¬
mens’ XII. am Palast der Consulta ver¬
stümmelt wurde, 95 ) wie die Wappen
Pauls V. in Stein und Erz von der vati¬
kanischen Basilika verschwanden, 9S ) wie
man sogar am Sonntag am Portal von
Sto.Spirito die Rovere-Wappen herun¬
terschlug. „In der ganzen Stadt”, schreibt
er, „ist man damit beschäftigt,die steiner¬
nen Wappen herunterzuhaun." 97 Als
sich die Konsuln am 5. Mürz eines Besse¬
ren besannen und die Einstellung der
90) Sono in requisizione le Campane e
Reliquie di tutte le chiese. Sala II120,190
und 195.
91) Sala II 115. 92) Sala I 244.
93) Sala II 161.
94) Abgedruckt bei Duppa, A brief ac-
count S. 197. Vgl. Sala I 58 und 67.
95) Sala I 106.
96) Sala I 118 und II 37.
97) Sala I 67.
Zerstörungsarbeiten befahlen, war es be¬
reits zu spät. Sieht man nicht an
der Engelsburg noch überall die abge-
hauenen Wappenschilder, muß man
nicht heute ins Dunkel der vatikanischen
Grotten herabsteigen, um Wappen frü¬
herer Päpste zu finden? „Sie hätten et¬
was eher daran denken sollen," schreibt
Sala; „die meisten Wappen liegen heute
schon am Boden und ein großer Teil
der Bauwerke hat wesentliche Architek¬
turstücke eingebüßt“ 98 )
Aber nicht nur die Wappen der gro¬
ßen römischen Familien waren der neu¬
en Republik am Tiber verhaßt. Auch die
Statuen der Päpste liefen damals Gefahr,
alle miteinander in Kalkgruben und
Schmelzöfen zu verschwinden. Im Früh¬
jahr 1798 entbrannte oben auf dem Ka¬
pitol im Saal der Kuriatier ein heftiger
Streit darüber, was mit den Marmorsta¬
tuen Leos X., Pauls IV., Sixtus’ V. und
Urbans VIII. anzufangen sei, die in eben
diesem Raume aufgestellt waren "). Man
wünschte sie zu entfernen, aber über das
Wie waren die Meinungen geteilt, und
der Streit blieb anfangs unentschieden.
Später wurde bestimmt, alle vier Sta¬
tuen als Marmor zu verkaufen und vom
Käufer zu verlangen, die Köpfe und die
Arme vom Rumpfe zu trennen. Wenig¬
stens an Sixtus V. und Paul IV. ist die¬
ser Vandalismus zur Ausführung ge¬
langt, während Urban VIII. im Konser¬
vatorenpalast verblieb und Leo X. nach
Aracoeli geschafft wurde, wo er noch
heute zu finden ist 100 ).
98) Sala I 80.
99) Femow im Teutschen Merkur 1796
II S. 102. Fernows Angaben werden durch
Sala bestätigt und ergänzt, 1144. In diesem
Saal der Kuriatier wurde eine Inschrift an¬
gebracht zum ewigen Gedächtnis der Wohl¬
taten, die Rom von Frankreich empfangen
hatte. Sala, Diario I 282.
100) Nach Aracoeli wurden auch die Sta¬
tuen Pauls III. und Gregors XIII. gebracht
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853
Ernst Stein mann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
854
Die Statue Pauls IV. hat merkwürdige
Schicksale gehabt. Sie wurde schon ein¬
mal zertrümmert, gleich nach dem To¬
de des Papstes, als sich die Wut des
rümischen Volkes gegen alles richtete,
was Caraffa hieß. Erst Clemens XI. hat¬
te im Jahre 1708 die Trümmer sammeln
lassen und das Denkmal seines Vorgän¬
gers wiederhergestellt. 101 ) Nun fiel die
Statue aufs neue dem Wechsel mensch¬
licher Dinge zum Opfer, und das gleiche
Geschick traf die Statue Sixtus’ V. Beide
sind spurlos verschwunden.
Und nicht sie allein I In der Curia Inno-
centina im Palast von Montecitorio
stand eine Kolossalstatue Innocenz’ XII.,
der den Bau vollendet hatte. 108 ) Auch
dieses Marmorbild mißfiel den neuen
Gewalthabern Roms. Es wurde als Mar¬
mor verkauft und stürzte in den Hof hin¬
ab, da die Stricke rissen. Sala sah mit
eigenen Augen, wie man den Marmor
zersügte.
Nicht besser erging es der Bronzesta¬
tue Clemens’ XII. Corsini, die der be¬
rühmte römische Bildhauer Pietro Brac-
ci gegossen hatte. Man lese, was ein Au¬
genzeuge, der Engländer Duppa, über
den Untergang dieser Statue zu sagen
weiß: 103 ) „Am 20. Mai wurde der Anfang
Die zerstörte Statue Sixtus’ V. ist bei Cia-
conius, Vitae et res gestae Pontificum Ro¬
manorum IV 139/40 abgebildet
101) Maffei (Rossi), Raccolta di statue
antiche e moderne, Roma 1704, Tat CLXII.
102) Sala 1145. Sala gibt fälschlich Inno¬
cenz XI. an. Es handelt sich um die Sta¬
tue Innocenz’ XII., die auch Vasi (Itinä-
raire instructif de Rome, 5. ed. S. 44) er¬
wähnt. Innocenz XII. ließ den Palast von
Monte Citorio durch den Architekten Fon-
tana fortsetzen und vollenden.
103) A brief account of the Subversion
of the Papal Government 1798, Second edi-
tion, London 1799, S. 145. Archenholz, Mi¬
nerva XIX (1799) S. 494. Durch diesen Nach¬
weis wird die Vermutung von Domarus
bestätigt daß die Statue in der Franzosen¬
zeit 1796/99 zerstört worden sei. Einen
gemacht, eine Kolossalstatue des Pap¬
stes Corsini in Bronze, die sich Im Konser-
vatoren-Palast befand, einzuschmelzen.
Auch wurde damals ernstlich erwogen,
mit verschiedenen anderen Statuen auf
dem St. Petersplatze ebenso zu verfah¬
ren und das Tabernakel von St. Pe¬
ter mit seinen gewundenen Säulen in
schlechte Münze zu verwandeln, alles
im letzten Grunde, um den unersätt¬
lichen Geldhunger der Raubkommis¬
sare zu stillen."
So hielten die Franzosen ihr ausdrück¬
lich gegebenes Wort, sich nicht an den
Denkmälern Roms zu vergreifen, 104 ) so
erfüllten sie auch hier, wie einst in Paris,
ihre furchtbare Mission, die historischen
Erinnerungen eines Volkes zu zerstören.
Dort fielen die Reiterbildnisse der zep¬
terführenden Könige, hier die Statuen
der völkersegnenden Päpste demselben
Wahn zum Opfer. „Wir werden einewig
unzerstörbares Exempel bleiben für die
Raubgier und die Tyrannei der Franzo¬
sen,“ ruft Sala aus. „Sie haben uns wei¬
ter nichts übriggelassen als die Augen,
um zu weinen." 105 )
Was bedeutet es gegenüber solchen
Heimsuchungen, wenn damals auch die
zahllosen Madonnenbilder aus den Stra¬
ßen Roms verschwanden? Und dochl
Diese Gemälde und Reliefs, diese Mar-
Stich der Statue von Roccus Pozzi hat Do¬
marus gefunden. Vgl. K. v. Domarus, Pietro
Bracci, Beiträge zur römischen Kunstge¬
schichte des XVIII. Jahrhunderts, Straßburg
1915, S. 22 ff. und Tafel V.
104) Erlaß des Direktoriums vom 19. Fe¬
bruar 1798 Arb 6. II est fait däfense d’enle-
ver aucun monument public de Rome. Le
präsent article et le präcädent seront af-
fichäs dans Rome. Abgedruckt in Gouvion
Saint-Cyr, Mämoires, Paris 1831, I S. 274.
Man plante übrigens auch die Mark Aurel-
Statue auf dem Kapitolsplatz durch eine
Statue der Freiheitsgöttin zu ersetzen. Vgi.
Teutscher Merkur 1798 II 102.
105) Diario I 238.
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INDIANA UNfVERSITY
855
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
856
mor- oder Terrakottabilder, Jbald Pro¬
dukte einfacher Volkskunst, bald von
ausgezeichneten Künstlern ausgeführt,
waren eine charakteristische Note im
Denkmalsschatz der ewigen Stadt. Diese
Wahrzeichen frommen Volksglaubens,
die über ganz Rom ausgestreut waren,
besaßen ihre eigene Geschichte und
ihren eigenen Kultus. Aber als nach dem
Tode Duphots Rom der fürchterlichsten
Bedrängnis entgegenging, hieß es all¬
gemein, die Madonnenbilder hätten die
Augen bewegt. 106 ) Prozessionen wur¬
den veranstaltet, die ganze Stadt geriet
in Bewegung. Dieser Glaube und Aber¬
glaube, der stets eine gewisse Gefahr für
die Ruhe der Bevölkerung in sich schloß,
war den französischen Machthabern
ebenso unverständlich wie unbequem.
Sie entzogen den Marienbildern ihren
Schutz, die nun bei Tag und Nacht von
Soldaten und Republikanern beschimpft
und beschädigt wurden; nur in Tra-
stevere wagte es niemand, die Heiligen¬
schreine der Gottesmutter zu berüh¬
ren. 10 ’)
Inzwischen walteten Daunou, Florent
und Wicar mit größter Kaltblütigkeit
ihres schmachvollen Amtes, aus dem Va¬
tikan, aus der Villa Albani, aus dem Pa¬
lazzo Braschi und aus dem Kapitolini¬
schen Museum das letzte zu entführen,
was sie für würdig erachteten, die
Sammlungen von Paris zu bereichern.
Die Trajanssäule allerdings blieb in Rom
zurück. „Wir senden einen Obelisken,“
schrieb Daunou am 15. April nach Pa¬
ris. 108 ) „Was die Trajanssäule anlangt,
so stellen sich zwei Hindernisse in den
Weg: erstens die Kosten, die unüber¬
sehbar sind, sodann Euer Versprechen,
keine öffentlichen Denkmäler zu entfüh-
106) Duppa, A brief account usw. S. 16.
107) Sala II 18, 22, 25, 44, 54.
108) Taillandier, Documents biographiques
sur P. C. F. Daunou, Paris 1847, S. 133.
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ren, das mir von den Konsuln immer wie¬
der vorgehalten wird.“ Es scheint, daß
man damit den Plan des Abbruchs der
Trajanssäule endlich fallen gelassen hat
Desto schlimmer war das Treiben in
Vatikan und Quirinal, wo es keinen
Herrn mehr gab, und wo sich inzwischen
die Herren der neuen Republik mit ihren
Gemahlinnen häuslich einzurichten be¬
gannen. Anfangs wollten die neuen Her¬
ren, wie es scheint, den Vatikan beziehn,
und der Konsul Angelucci begeisterte
sich in seinem Größenwahn an dem Ge¬
danken, im Schlafzimmer Pius’ VI. sein
Lager aufzuschlagen. 109 ) Später ent¬
schied man sich für den Quirinal als Re¬
sidenz. Er wurde für diesen Zweck mit
größtem Aufwand und höchster Eile
hergerichtet, und die Arbeiter murrten,
weil sie nicht bezahlt wurden. 110 ) Bei
der Verteilung der Räume gerieten sich
die Damen Angelucci und Visconti —
die Gemahlin des berühmten Archäolo¬
gen — in die Haare. „Wer hätte je ge¬
dacht,“ schreibt Sala, 111 ) „daß sich im
Garten des Quirinais Szenen ereignen
würden, wie man sie sonst nur in Tra-
stevere zu sehen gewohnt ist!“
Der Vatikan wurde in des Wortes wei¬
tester Bedeutung ausgeplündert. Es wur¬
de nichts Bewegliches zurückgelassen,
vom erbärmlichsten Gerät in der Küche
bis zum künstlerischen Möbel in den
Staatsräumen. 112 ) Die priesterlichen Ge¬
wänder der Sixtina, der Paulina und der
anderen päpstlichen Kapellen wur¬
den samt und sonders verbrannt, um
das Gold und Silber der Stickereien her-
aus zu schmelzen. 113 ) Man fand die Ge¬
heimsakristei Julius’II, und man beraub-
109) Sala I 77. Im Vatikan, und zwar in
den Stanzen Raffaels, hielt auch das neu-
errichtete Nationalinstitut seihe ersten Sitzun¬
gen ab. Vgl. Sala I 180.
110) Sala I 201. 111) Sala I 169.
112) Duppa, A brief account S. 59 H.
113) Duppa S. 64.
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INDIANA UNIVERSITY
857
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
858
te sie aller ihrer Schätze. 114 ) Man ver¬
kaufte sämtliche Staatswagen der Päp¬
ste 1 ^) und schleppte selbst aus den vati¬
kanischen Gärten edles zusammen, was
an Vasen und Marmorschmuck zu finden
war. „Niemals hat man einen ähnlichen
Raub gesehn“, ruft Sala aus. 116 ) „Eine
PIQnderung auch von melieren Tagen
oder ein Einfall der Barbaren würde uns
weniger geschädigt haben als dieses
friedfertige Verweilen unserer edlen Be¬
freier, die einfach hierher gekommen
sind, um zu essen, sich zu kleiden, reich
zu werden, gleichsam als befänden sie
sich in einer Sommerfrische.“
Das gesamte Inventar des vatikani¬
schen Palastes wurde in Bausch und Bo¬
gen einer Aufkäufergesellschaft aus
Lyon und Marseille überlassen,die dafür
der französischen Armee eine hohe Sum¬
me zahlte, aber nun ihrerseits wieder
große Auktionen veranstaltete und den
Rest des Raubes im Ghetto verschwin¬
den ließ. 117 )
Damals ereilte auch die Teppiche Raf¬
faels ihr Schicksal. Ursprünglich nur
zum Schmuck der Sixtinischen Kapelle
bestimmt, waren sie später einmal im
Jahre, am Fronleichnamfest, dem Vol¬
ke gezeigt worden. Sie hingen dann in
der Galerie, die vom Petersplatz in den
Vatikan hinaufführt. „Man hatte hier
Gelegenheit,“ schreibt Fernow 118 ), „die
allgemeine große Wirkung dieser Wer¬
ke auf das Gefühl, selbst der untersten
Volkskitassen, zu beobachten und sich zu
überzeugen, daß Raffael ebenso gewiß
ein Volksmaler als Homer ein Volks¬
dichter seiner Zeit war. Die Plätze vor
der Predigt Pauli, vor der Anbetung der
114) Sala I 180. 115) Sala I 132.
116) Sala I 156.
117) Duppa S. 59, 60.
118) Teutscher Merkur 1797 I S. 6. Fer-
nows Arbeit über die Tapeten Raffaels ist
in seinen Römischen Studien wieder zum
Abdruck gelangt
Weisen, dem Ananias und besonders vor
dem Kindermord sind selten leer von
Zuschauern aus dem gemeinen Volk,
welche durch frohe Lebhaftigkeit ihr
Interesse an diesen Darstellungen zu er¬
kennen geben.“
Aber wie die Franzosen den Burin -
toro, das Prachtschiff der Dogen, zerstört
hatten und damit zugleich den Glanz
des volkstümlichen Festes in Venedig,
so kümmerte es sie auch wenig, ob die
Römer jemals wieder ihr Fronleich¬
namsfest in alter Herrlichkeit begehen
würden. Wie damals in Rom alles auf
den Markt getragen wurde, was Eigen¬
tum der Kirche gewesen war, so wurden
auch die Holzgerüste und Zeltbespan¬
nungen, die man zum Corpus Domini ge¬
brauchte, verschleudert 119 ) und die Tep¬
piche Raffaels in öffentlicher Versteige¬
rungausgeboten. Ober die Preise, die ge¬
zahltwurden, über Käuferund Verkäufer
— bis es Pius VII. gelang, dem Vatikan
seinen alten Besitz, wenn auch halbzer¬
stört, wieder zu sichern — gehen die
Nachrichten auseinander. Duppa, der be¬
hauptet dabeigewesen zu sein, spricht
von einem Geschäft, das unter der Hand
zwischen den Händlern abgeschlossen
wurde und es Visconti unmöglich mach¬
te, den Schatz für Rom zu retten. 12 °) Im
Teutschen Merkur wurde behauptet,
ein Engländer sei der erste Käu¬
fer gewesen, wie die Engländer über¬
haupt den Löwenanteil aus dem Verkauf
derKunstschätze in Rom davontrugen. 1 * 1 )
119) Sala 1119: Li Francesi per lasciarci
con minori imbarazzi vendono quanto piü
possono della roba, di cui s'impadroniscono.
Essi hanno distrutto tutto il legname e le
tende che servivano per la processione del
Corpus Domini.
120) Duppa, A brief account S. 61, 62.
121) Teutscher Merkur 1798 III186. Ober
diese Auktionen heißt es im Teutschen Mer¬
kur II S. 259: „Von unabsehbaren Folgen für
Studium und Geschichte der Künste sind
die schon monatelang dauernden öffent-
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859
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
880
Sala, der sich in seinen Angaben in der
Regel als zuverlässig erweist, berich¬
tet, ohne den Käufer zu nennen,
daß sämtliche Gobelins des Vatikans
und unter ihnen auch Raffaels Meister¬
werke für 31000 Dukaten verkauft wur¬
den. „Wir können diesen Verlust nie¬
mals tief genug beklagen“, fügt er hin¬
zu. 1 ”)
Wenn Paris auch damals schon von
allen Hauptstädten Europas den grö߬
ten Reichtum an gewirkten Teppichen
besaß, so bleibt es doch unverständlich,
warum Monge, Daunou und Wicar die
Meisterwerke Raffaels dem Musfee Cen¬
tral im Louvre nicht sofort gesichert
haben oder doch‘die Versteigerung zu
verhindern suchten. Schalteten und wal¬
teten sie doch im Vatikan im Frühjahr
1798 mit unbeschränkten Machtbefug¬
nissen. Lag es doch ganz in ihrer Hand,
zu bestimmen, was geplündert oder was
nach dem Vertrag vom 10. Februar so¬
zusagen „vertragsmäßig“ aus Rom fort¬
geführt werden sollte.
Wir besitzen noch heute das genaue
Verzeichnis aller Kunstschätze Roms,
die am 6. Juli 1798 bereit waren, nach
Paris abtransportiert zu werden. 12 *) Aus
liehen Versteigerungen der besten und be¬
rühmtesten Gemälde und Denkmäler, wobei
England, wie es schon beim Ausbruch der
Revolution in Frankreich der Fall war, aufs
neue der Schlund wird, der alles verschlingt.“
Vgl. die interessanten Ausführungen in der
Minerva April 1804 II 159: Ein Beitrag zur
Geschichte der Künste, wo die Rivalität
zwischen England und Frankreich im Er¬
werb von Kunstwerken behandelt wird.
122) Sala I 155.
123) Specchio generale di tutti gli og-
getti d’arti (sic!) e scienze che partono da
Roma per Parigi nell’ anno VI dell’ era re-
publicana in Correspondance de Napoleon I.
Tome III 655. Ober die Anordnung der
Medaillen in der kaiserlichen Bibliothek
finden sich bei H. v. Hastfer, Leben und
Kunst in Paris, Weimar 1806, bemerkens¬
werte Angaben.
dem vatikanischen Palast wurden dies¬
mal weniger Statuen und Gemälde als
Münzen, Medaillen, Inkunabeln und
Bücher entwendet. Die vatikanische Bi¬
bliothek gab ihre ganze Münzen- und
Medaillensammlung her — die Kameen
waren ja bereits gestohlen worden —;
sie lieferte überdies noch 138 Inkuna¬
beln, 6 Handschriften und 15 etruskische
Vasen aus. m )
Aber auch die glänzende Privatbiblio¬
thek Pius’ VI. wurde für würdig befun¬
den, das Ihrige beizutragen zur Ausbrei¬
tung der Weltkultur, die an der Seine ge¬
boren werden sollte. 12& ) Daunou sandte
die wertvollsten Stücke nach Paris, wo
sie zum Teil noch heute in der Biblio¬
thek Sainte-Genevifeve bewahrt werden;
der Rest wurde wiederanden römischen
Antiquar Barbiellini verkauft 126 ) Und
was im Vatikan geschah, das geschah im
Palazzo Braschi an der Piazza Navona m )
und in den päpstlichen Palästen von
Terracina 128 ) und Castelgandolfo. Der
Nepotismus, dessen Pius VI. bezichtigt
wurde, nahm ein Ende mit Schrecken.
Er starb so arm wie Christus selbst,
allerdings ohne es zu wissen, denn man
124) Le Grelle bei Serafini a.a.O.1 S. XLVI1L
Im Anhang der obengenannten Recensio
sind Inkunabeln und Manuskripte im ein¬
zelnen aufgeführt S. 137—151: Nota di libri
ed altre materie antiquarie richieste alle
Biblioteca Vaticana dalla Commissione
della Republica Francese e dagli Officiali
di essa Biblioteca consegnate al Cittadino
Vicard (sic!) in virtü del mandato di pro¬
cura da esso esibito.
125) Müntz, La bibliothöque du Vatican
pendant la Evolution frangaise in Mölanges
Julien Havet, Paris 1895, S. 579 ff. und Löon
Dorez, Psautier de Paul III, Paris 1909,
S. 2 Anm. 2.
126) Sala I 174.
127) Sala I 167 und 176. Eine Liste der
im Palazzo Braschi geraubten Kunstschätze
Findet sich bei Antonio d’Este, Memorie dl
Antonio Canova, Firenze 1864, S. 236—238.
128) Sala I 220.
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INDIANA UNIVERSITY
861
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
862
hatte ihm die Plünderung des Palazzo
Braschi, den Verkauf seiner Familien¬
güter und die Verschleuderung seiner
Bibliothek verheimlicht. 1 **) Unter so
grausamen Feinden, unter so treulosen
Verrätern hatte er im Vatikan wenig¬
stens einen bewährten Diener zurück¬
gelassen, den Präfekten des Archivs,
Gaetano Marini. Wie durch ein Wunder
gelang es diesem, die Privatpapiere des
Papstes zu retten 1S0 ) und wenigstens
das Archiv vor Plünderung zu bewah¬
ren. Marini erzählt uns selbst, wie er
mit Erfolg bemüht war, gefährdete
Kunst- und Bücherschätze überall zu
sammeln und zu kaufen und im Vati¬
kan zu verbergen. 181 ) Er ahnte damals
noch nicht, daß es ihm bestimmt sein
sollte, zwölf Jahre spä:er die wichtig¬
sten Akten des päpstlichen Archivs in
die Verbannung nach Paris zu begleiten,'
um dort zu sterben. 13 *)
Natürlich mußte eine so furchtbare
Katastrophe wie diese friedliche Plün¬
derung Roms die großen römischen Fa¬
milien am schwersten treffen. 138 ) Nicht
nur die Braschi verloren ihren gesam¬
ten Besitz, auch die Colonna 134 ), die
129) Sala I 220. Quant ä Pie VI, l’ünivers
sait et ses souffrances et sa rösignation et
sa mort et le tribut de v£n£ration g£n£-
ralement payö ä sa memoire. D’Allonville,
Mömoires secrets de 1770—1830, Paris 1841,
IV 237.
*130) Sala I 218 und 219; II 6.
131) Bulletin de la sociötö des antiquaires
de France 1889 S. 109: Breve indicazione
dell’ operato dall’ Ab. Marini nell* assenza
di N. S. da Roma.
132) Delisle, Les ardiives du Vatican
im Journal des savants, Juillet 1892, S. 429
und 437.
133) Duppa, A brief account S. 130 ff.
134) .Die große heilige Familie von Raf¬
fael, die Geißelung Christi von Correggio,
der große Poussin und der Claude Lorrain
sind fort*, schreibt Friederike Brun, Römi¬
sches Leben II 52.
Borghese 136 ), die Aldrobrandini 136 ), die
Giustiniani 137 ) und viele andere vor¬
nehme Geschlechter sahen sich früher
oder später gezwungen, sich ihrer
Sammlungen ganz oder teilweise zu ent-
äußern, um die schweren Kriegssteuern
zahlen zu können. Nur den Doria-Pam-
phili 138 ) ist es gelungen, ihre Galerie,
„il bosco dei quadri", wie die Römer die
überfüllten Säle nannten) intakt zu er¬
halten.
Von allen Sammlungen der römischen
Großen aber wurde keine so mitgenom¬
men wie die Villa Albani, und es ist er¬
staunlich, daß diese herrlichste der Vil¬
len Roms trotz solcher Plünderungen
sich einen Abglanz ihres früheren Ruh¬
mes bis heute erhalten konnte. Kardinal
Alessandro Albani, der leidenschaftliche
Sammler, der Freund und Beschützer
Winckelmanns, hatte diesen Tempel der
Künste erst vor wenigen Jahrzehnten
vor der Porta Salaria aus dem Nichts
erschaffen. Durch ihre unvergleichliche
Lage in der Campagna Roms mit dem
vollen Blick auf die Sabinerberge, durch
die Kunst, mit der der Gartenarchitekt
Antonio Nolli den Boden zu benutzen
verstand, durch die einzigartige Aufstel¬
lung der Antiken mitten in der Natur —
wie auch einst die Römer sie aufgestellt
hatten — erwarb sich die Villa Albani
einen Ruf wie die Villa Ludovisi und
die Doria Pamphili.
• Der Neffe des Kardinals Alessandro
und sein Erbe hatte sich früh in Paris
durch seine Politik mißliebig gemacht.
135) Sala I 180. Die große Plünderung
der Borghese-Sammlungen wurde einige
Jahre später von Napoleon vollendet.
136) Teutscher Merkur 1798IIIS. 283—284;
1799 I S. 61.
137) C. P. Landon, Galerie Giustiniani,
Paris 1812.
138) Fr. Brun, Römisches Leben II 82.
139) Correspondance inödite I 505 und
III 202.
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INDIANA UNIVERSIW
863
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
864
Bonaparte wußte, daß er am Wiener
Hofe gegen Frankreich arbeitete,. 139 ) und
daß der energische Mann— überdies De¬
kan des h. Kollegiums — sogar versucht
hatte, den Großtürken gegen Frankreich
aufzureizen. 140 ) Auch als der Stern
Bonapartes immer höher stieg, änderte
der Kardinal nichts in seiner Haltung.
Er wurde dafür in Paris von den Papa-
bili ausgeschlossen, 141 ) und nach der Er¬
oberung Roms wurde sein Name sofort
auf die Proskriptionsliste gesetzt. 142 )
Palast und Villa Albani waren damit
dem Untergang preisgegeben. 148 ) Der
Kardinal selbst rettete sich mit Mühe
auf neapolitanisches Gebiet. 144 )
Am 20. März berichtete Daunou nach
Paris: „Die Villa Albani ist ein herrliches
Museum. Nur die Auswahl wird uns
Schwierigkeiten machen.“ Und am 3.
April fährt er fort: 146 ) „Wir haben das
Einpacken der Skulpturen der Villa Al¬
bani begonnen, die Eigentum der Fran¬
zösischen Republik geworden ist Der
Transport wird große Kosten verursachen.
Selbst wenn man in der Villa noch 300 Ob¬
jekte läßt werden die, die schon bezeich¬
net sind, 280 Kisten füllen.“ 146 ) Gleich-
140) Landrieux, Mömoires I 166.
141) Correspondance inödite I 505 und
III 202.
142) Instruction du Directoire pour le
general en chef de l’armee d’Italie vom
31. Januar 1798: II confisquera au profit de
la republique frangaise les biens du pape,
de sa famille et des Albani. Vgl. Gouvioh
Saint-Cyr, M6moires I 272.
143) Fernow aus Rom am 1. Okt. 1798
im Teutschen Merkur 1798 III S. 284: »Die
Antikensammlung der Villa Albani ist, dank
der Vorsorge des citoyen Wicar, glücklich
nach Paris abgegangen; die des Palastes
Albani hat sich größtenteils unter den Hän¬
den der Kommissärs verloren.“
144) Sala I 166.
145) Taillandier, Documents biographiques
S. 128 und 132.
146) Eine Liste seines geraubten Gutes
stellte Prinz Carlo Albani i. J. 1815 für Ca-
zeitig hatte man unter Todesdrohungen
von dem Sekretär des Kardinals ein Ge¬
heimnis erpresst. Er verriet ein verbor¬
genes Gemach, in dem man die herr¬
lichsten Gemälde und Kostbarkeiten ent¬
deckte. 147 ) Es scheint, daß man die Ab¬
sicht hatte, allmählich die ganze Villa
nach Paris zu bringen und dort wieder
aufzubauen. Sogar die Brunnenfiguren
im Garten wurden eingepackt und der
Plan der ganzen Villa aufgenommen. 148 )
' Damals gelangten auch die Manu¬
skripte Winckelmanns nach Paris. Win-
ckelmann hatte sie seinem Gönner ver¬
macht. 149 )
Es waren ursprünglich 28 Bände, von
denen 7 verloren gingen. 21 werden noch
heute in der National bibliothek in Paris
bewahrt, wo sie der Archäologe Thiersch
i. J. 1813 einsah. 150 )
Am 31. Juli 1815 las man im Rheini¬
schen Merkur einen Aufruf an das Deut¬
sche Volk, Winckelmanns Reliquien von
Frankreich zurückzufordern 151 ): „Der hand¬
schriftliche Nachlaß unseres Winckelmann
— so. heißt es hier — mußte mit allen
übrigen Schätzen der Villa Albani nach
Paris wandern; dort prangt er seit Jahren
nova auf. Vgl. A. d’Este, Memorie di Anto¬
nio Canova S.234.
147) Sala I 126 und 134.
148) Teutscher Merkur 1796 II S. 102.
149) Eiselein, Winckelmanns Werke I,
CLXXX. A. Tibal (Inventaire des manuscrits
de Winckelmann döposös ä la Bibliothöque
nationale, Paris 1911, S. 7) behauptet, die
Manuskripte seien beim Tode des Kardi¬
nals Alexander i. J. 1779 in den Vatikan ge¬
bracht. Dem steht das Zeugnis Eiseleins
gegenüber, d.aß sie direkt aus dem Besitz
Albani nach Paris gelangten. Tibal ver¬
mutet, Winckelmanns Manuskripte seien in
der „Recensio“ aufgeführt, die er nicht ein¬
sehn konnte. Das ist aber nicht der Fall.
Sie finden sich vielmehr in keiner der vati¬
kanischen Raublisten genannt.
150) Thiersch, Fr. Thierschs Leben, Leip¬
zig 1866, S. 108.
151) Rheinischer Merkur 1815 Nr. 276.
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[NDlANA UNfVERSITY
805
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
866
in der großen Bibliothek allen Teutschen
zur Schmach, nur das eitle Franzosenvolk
freut sich bis jetzt solcher schönen Habe.
Aber die Manen Winckelmanns zürnen
voll gerechten Unwillens über die un>
würdige Begegnung, welche ihnen in dem
fremden, ungastlichen Lande geworden.
Und alle Teutsche, die Winckelmanns
unsterbliche Verdienste um Kunst und
Wissenschaft zu schätzen wissen, fühlen
tiefen Schmerz darüber, daß in die Klauen
der Franzosen die Handschriften eines
Mannes gefallen, welcher von dem gründ¬
lichsten Haß erfüllt war gegen dieses
ungründliche Volk. Jetzt ist die Zeit ge¬
kommen, wo der Teutsche sein Eigentum
aus den unheiligen Händen zurückfor-
dem kann und will. Was dem Teutschen
Volke angehört, darf kein König oder
Kaiser in übelverstandencr Gutmütigkeit
aufs neue an die Franzosen verschenken.
Jetzt oder nie können die Teutschen
auch Winckelmanns zürnenden Schatten
versöhnen, und besonders den Preußen
geziemt es, ihrem großen Landsmann
dies erste und würdigste Totenopfer zu
bringen.“
Von allen Marmorschätzen der Villa
Albani ist nur das Antinous-Relief nach
Rom zurüdegekehrt, und auch die Winckel-
mann-Manuskripte wurden unglaublicher¬
weise i. J. 1815 weder von Italien noch
von Deutschland zurückgefordert. Wie
es aber in der Villa selbst noch Jahre
nach ihrer Plünderung aussah, das er¬
zählt uns die Dänin Friederike Brun 15 *),
die Freundin der Familie Humboldt,
Zoegas, Fernows, d’Agincourts, die hoch¬
herzige Gönnerin des jungen Thorwald-
152) Römisches Leben, Leipzig 1833, II10,
Aufzeichnung vom Januar 1803. Ungedruckte
Dokumente, die Plünderung der Villa AI-
bani betreffend, werden im Ministerium des
Äußeren in Paris bewahrt. Vgl. Revue
d'histoire diplomatique X (1896) S. 500
Anm. Z
Internationale Monatsschrift
sen: „Am folgenden Tage gewann ich es
über mich, die entweihte, ausgeplünderte
Villa Albani, Winckelmanns Tempel, zu
besuchen. Nirgends in Rom haben die
Franzosen so gefrevejt. Der fromme Prinz
Albani hatte sich immer mutig gegen
sie und ihre Tod und Verderben bringen¬
den Grundsätze erklärt. Sie rächten sich
am Heiligtum der Kunst, am Gemeingute
der Menschheit. Daß die herrliche Kolos-
salbüste der Pallas 15S ), das Hautrelief
des Antinous, die Statue der Leukothea
und andere Hauptstücke der herrlichen
Sammlung weggenommen wurden, war
ungerecht; daß die Basreliefs aus den
Wänden, die herrlichen antiken kolossalen
Masken aus der wunderschönen Vorhalle
gerissen und entführt wurden, war ge¬
wöhnlicher Raub; allein daß Statuen, die
man nicht mitnehmen wollte und konnte,
verstümmelt, die Säule von Verd-Antico
angehauen, dem prachtvollen Becken von
rotem afrikanischem Marmor der Bauch
mutwillig ausgebrochen, zart ausgeführ¬
ten Marmorreliefs kleine Teile mit müh¬
samer Bosheit ausgebrochen wurden,
sind Züge von jenem pöbelhaften Fre¬
vel, den dies gebildetste Volk der Erde
— wie es von seinen Schmeichlern ge¬
nannt wird — sich so häufig zu schulden
kommen ließ. Der alte Custode zeigte
uns all den verübten Greuel mit tiefer
Wehmut, welche meinen Schmerz auf¬
regte, aber auch linderte. Winckelmanns
zürnenden Schatten glaubte ich durch die*
verödeten Hallen wehend zu fühlen.* 1
Schon am 22. Mai konnte Daunou nach
Paris berichten, daß der Kunstraub ein-
gebracht sei 154 ): „Es werden 450 bis 500
153) Pallas und Leukothea befinden sich
heute in der Glyptothek in München. Vgl.
über die Zerstörung in der Villa Albani auch:
Fr. Valentinelli, Memorie storiche sulle prin-
cipali cagioni e circostanze della rivoluzione
di Roma e di Napoli, s. 1.1809, S. 292.
154) Taillandier a. a. O. 147.
28
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8t) 7
868
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
Kisten sein, und wir werden die Listen
ihres Inhalts an Büchern, Manuskripten,
Medaillen, Antiken, Gemälden, Statuen
und Schriftenstempeln einsenden. Für
den Transport schlagen wir eine Methode
vor, die keinen Pfennig kostet. Wir wer¬
den einfach Besitztümer auf römischem
Boden, die Frankreich erworben hat, als
Zahlung an weisen lassen!“
So mußten die Römer auch noch mit
der Verschleuderung ihres eigenen Grund
und Bodens für den Abtransport ihrer
vaterländischen Kunstscbätze zahlen!
Daunou, das Direktorium, die Gene¬
räle, die in Rom einer dem anderen folg¬
ten, fanden diese Methode ebenso prak¬
tisch wie später Napoleon, als er den
Kauf der Antiken der Villa Borghese auf
dieselbe Weise beglich. 155 )
Am 28. August sah Sala das große
Magazin am Tiber bis an den Rand
mit römischen Kunstschätzen gefüllt, die
nach Paris wandern sollten. Der unbe-
zwingliche Jammer eines Patrioten, der
sein Vaterland zur Ohnmacht verdammt
sieht, erfaßte ihn, und in harter, verzwei¬
felter Rede machte er dem gepreßten Her¬
zen Luft 158 ): „Dort liegen alle die Statuen
des Vatikanischen Museums, dort liegt
alles, was einst die Villa Albani besaß!
Damit nichts übrig blieb, haben die fran¬
zösischen Kommissare sogar vier moder¬
ne Statuen einpacken lassen, vier Gigan¬
ten, die eine Brunnenschale mitten in der
• Villa trugen. Solche Verluste sind uner¬
setzlich, und wenn man auch keine an¬
deren Gründe hätte, die unersättliche Raub¬
gier der Franzosen zu verabscheuen —
155) Moniteur 19 Avril 1817, Bd. 56 S. 434.
Angeloni II 264: II tenimento’ di Lucedio
— italica proprietä — fu data per parte di
prezzo.
156) II 116. Alle diese Schätze, unter
denen sich auch der Tiber und der Nil be¬
fanden, gelangten erst im Frühjahr 1804
nach Paris. Vgl. Moniteur universel Nr. 214
(4 Flor£al an 12 de la R6publique).
dieser eine Raub würde genügen, in
unserer Geschichte ihren Namen für Zeit
und Ewigkeit verhaßt zu machen! “
Der pathetische Protest der französi¬
schen Offiziere im Pantheon war — wie
wir sahen — nicht allzu ernst gemeint
und änderte, nachdem die persönlichen
Wünsche der Soldaten erfüllt waren,
nichts, aber auch gar nichts an dem Be¬
nehmen der Silberagenten und Kom¬
missare. Aber es gab damals doch zwei
Franzosen in Rom, die von Scham und
Entrüstu ng erfüllt waren über die Schmach,
mit der ihre Landsleute den Namen Frank¬
reichs am Tiber befleckten. Und beide ha¬
ben — jeder auf seine Weise — den Mut
gehabt, zu sagen, was sie dachten. Beider
Name hat in der französischen Literatur¬
geschichte einen guten Klang: Paul Louis
Courier und Seroux d’Agincourt. Courier
führte ein abenteuerliches Leben. Abhold
jeglicher Disziplin, schuf er sich selbst
immer neue Konflikte. Ein Franzose von
ganz besonderen Eigenschaften, der seine
Ideale im Altertum verwirklicht sah
und nicht in Napoleonischen Träumers
französischer Weltherrschaft. „Place
entre la Republique et le Consulat, ou
entre le Consulat et l’Empire,“ schreibt
Sainte-Beuve von ihm,„iIestpourPraxi-
t6Je"! Er war aus Neigung Gelehr¬
ter und von Beruf Soldat. Der Be¬
ruf hatte ihn nach Rom geführt;
die Neigung ließ ihn in Florenz in
einem Longusmanuskript einen unbe¬
kannten Text entdecken. Aber o weh! er
verewigte sich zugleich auf den kostbaren
Blättern mit einem Tintenklecks! Dieser
machte ihn früh in ganz Italien berühmt.
Denn die meisten Menschen bleiben
auch in Weltkatastrophen im Grunde, wie
sie sind, und der Bibliothekar der Lau-
rentiana — er trug den ominösen Namen
Furia — verfolgte die Beschädigung sei¬
ner Handschrift wie die ruchloseste aller
Taten, mochten auch gleichzeitig überall
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869
Ernst Steinmann, Dte Plünderung Roms durch Bonaparte
870
in Itaßen Hunderte von Handschriften zer¬
streut und vernichtet worden sein.
D'Agincourt lebte seit vielen Jahren
unweit von San Trinitä de* Monti in der
Via Gregoriana, seiner Freundin Ange¬
lika Kauffmann gerade gegenüber. 157 ) Er
nannte hier Haus und Garten sein eigen.
In dem einen schrieb er sein epoche¬
machendes Werk: Histoire de l’art par
les monuments, die Fortsetzung Winckel-
manns auf dem Gebiete der neueren
Kunstgeschichte, in dem andern pflegte
er die seltensten Blumen, wie sie nur
unter römischem Himmel gedeihen. Alle
Wechselfälle Roms hat er hier oben mit
erlebt, und die allgemeine Verehrung,
die er genoß, bewahrte ihn vor dem
Schlimmsten. „Nie verlasse ich die heili¬
gen Schatten um seine Wohnung,“
schreibt Friederike Brun, „ohne mich bes¬
ser zu fühlen, als da ich kam, — und
wenn ich einst Rom verlassen muß, ist
unter vielen großen Schmerzen die Tren¬
nung von d’Agincourt der tiefste. Was
aber dieser ehrwürdige Greis bei der
Rolle empfindet, welche seine Nation jetzt
in Rom spielt, das sage dir selbst I “ 158 )
Er hat es wenigstens einmal vor aller
Welt bezeugt, als er höflich, aber be¬
stimmt die Ehre ablehnte, mit Visconti,
Gaetano Marini und anderen Römern
und Franzosen im neugegründeten Natio-
nal-Institut zu sitzen. 159 )
157) Dumesnil, Histoire des plus c£16bres
amateurs Frangais, Paris 1858, Tome III1—58.
De la Salle, Notice sur la vie et les travaux
de J. L. G. Seroux d’Agincourt in Histoire
de l’art par les monuments depuis sa d£ca-
dence au IV* siede jusqu’ä son renouvelle-
ment au XVI* par J. B. L. G. Seroux d’Agin-
court, Paris 1823, I S. 3—10.
158) Brun, Briefe aus Rom, geschrieben
in den Jahren 1808, 1809,1810 über die Ver¬
folgung, Gefangenschaft und Entführung des
Papstes Pius VII., Dresden 1820, S. 79.
159) Müntz, Les annexions de collections
in Revue d’histoire diplomatique X (1896)
S. 488.
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Courier, mit d’Agincourt befreundet,
war es auch gelungen, mit Gaetano Ma-
rini im vatikanischen Archiv bekannt zu
werden, und er mag ihm, soviel er ver¬
mochte, bei seinem Rettungswerk gehol¬
fen haben. Was er täglich sah und
erlebte, und wie er die furchtbare Verwü¬
stung Roms durch französische Kommis¬
sare und Soldaten beurteilte, das hat er
in einem Brief an seinen Freund Chle-
waslri in Toulouse mit Worten ausge¬
sprochen, wie sie schonungsloser und
freimiütiger nicht zu denken sind. 16 °) Er
schrieb, als alles schon geschehen war,
am 8. Januar 1799: „Sagen Sie an alle, die
Rom sehen wollen, daß sie sich beeilen!
Jeden Tag vernichtet das Schwert der
Soldaten irgend etwas von den Kostbar¬
keiten dieser Stadt, jeden Tag entblättern
französische Agenten mit ihren Krallen
mehr und mehr ihre natürliche Schönheit.
Verzeihung, mein Herr, Sie sind an
die edle und natürliche Sprache des
Altertums gewöhnt, und Sie werden
meine Ausdrucksweise überschwäng¬
lich und blumenreich finden! Aber
ich finde keine Worte, die traurig
genug wären, um Ihnen den Zustand der
Zerstörung, des Elends und der Schmach
zu schildern, in welchen dieses arme Rom
gesunken ist, das Sie noch in seiner gan¬
zen Pracht gesehen haben und das man
jetzt bis auf die Ruinen zerstört Sonst
begab man sich von allen Enden der Erde
hierher. Wie viele Fremde, die nur für
einen Winter gekommen waren, haben
hier ihr ganzes Leben verbracht! Jetzt
160) M6moires, correspondance et opuscu-
les in6dits de Paul Louis Courier, Paris 1828,
Tome I 34. Das Buch erschien in Deutsch¬
land unter dem Titel: Denkwürdigkeiten
und Briefe von Paul Louis Courier. Aus
dem Französischen, Leipzig 1829, I 26—28.
Herr Professor Cornicelius machte mich auf
Sainte-Beuve’s geistvolle Studie über Cou¬
rier in den Causeries du lundi (2. Aull.
Bd. 6 S. 263ff.) aufmerksam.
28 *
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Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
872
sind nur noch die geblieben, die nicht zu
fliehen vermochten, oder solche, die mit
dem Dolch in der Hand unter den Lum-
pen eines Volkes, das vor Hunger stirbt,
nach einer letzten Beute suchen, die allen
Erpressungen und Räubereien entschlüpft
ist. Die Einzelheiten würden kein Ende
nehmen, und überdies in mehr als einem
Sinne kann ich Ihnen nicht alles sagen.
Aber aus dem Fragment, das ich hier
skizzieren will, werden Sie leicht das
übrige erraten.
„Das Brot gehört hier nicht mehr zu
den Dingen, die verkauft werden. Jeder
behält für sich, was er oft nicht ohne Le-
bensgefahr erhaschen konnte. Sie kennen
das Wort: panem et circenses. Die Rö¬
mer entbehren heute das eine und das
andere und noch sonst ungezählte Dinge.
Kein Mensch, er sei denn Kommissar oder
General oder Lakai von einem dieser bei¬
den, kann heute ein Ei essen. £>ie aller¬
notwendigsten Lebensbedürfnisse sind
den Römern unerreichbar, während zahl¬
reiche Franzosen, und zwar nicht immer
die vornehmsten, offene Tafel halten für
jedermann. Wahrhaftigl wir rächen den
bezwungenen Erdkreis!
„Die Monumente Roms werden nicht
besser behandelt wie die Römer. Die Tra-
janssäule ist indes noch so ziemlich, was
sie war, und unsere Kunstkenner, die nur
das schätzen, was man fortschleppen und
verkaufen kann, geben glücklicherweise
nicht acht auf sie. Die Reliefs, die sie
schmücken, sind überdies nicht mit dem
Säbel zu erreichen und dürften deswegen
erhalten bleiben. Leider ist es nicht das
gleiche mit den Skulpturen der Villa Bor¬
ghese und der Villa Pamphili, wo überall
Bilder sich finden, die Virgils Delphobos
ähnlich sind. 161 ) Ich beweine noch ein hüb¬
sches Hermeskind, das ich ganz gesehen
161) Delphobos, Sohn des Priamos. In
der Unterwelt begegnet sein barbarisch ver¬
stümmelter Schatten dem Äneas.
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hatte. Es war von oben bis unten in eine
Löwenhaut eingehüllt und trug eine kleine
Keule auf der Schulter. Es war eine er¬
lesene Arbeit griechischer Kunst, wenn
ich mich nicht täusche. Nur die Basis ist
übriggeblieben und einige zerstreute
Stücke. Ich schrieb darauf mit dem Blei¬
stift: Lugete, Veneres Cupidinesque! 162 )
Mengs und Winckelmann würden vor
Schmerz gestorben sein, hätten sie das
Unglück gehabt, lange genug zu leben,
um dieses Schauspiel zu sehen I
„Alles, was bei den Karthäusern (S.
Maria degli Angeli), in der Villa Albani,
bei den Farnese 166 ), den Onesti, im Mu¬
seum Clementi (Pio Clementino), auf
dem Kapitol vorhanden war, ist fort¬
geschleppt, geplündert, verloren oder
verkauft. Die Engländer haben ihren
Teil daran gehabt, und die französi¬
schen Kommissare, die solchen Handels
verdächtig waren, sind hier verhaftet wor¬
den. Aber natürlich wird nichts darnach
kommen. Soldaten, die in die Vatikani¬
sche Bibliothek eingedrungen waren, ha¬
ben unter anderen Kostbarkeiten den be¬
rühmten Terenz des Bembo zerstört, um
sich einige Vergoldungen anzueignen, mit
denen er geschmückt war. 161 ) Die Venus
der Villa Borghese ist von einigen Nach¬
kommen des Diomedes 166 ) an der Hand
verwundet worden, und der Hermaphro¬
dit — immane nefas — hat einen Fuß
zerbrochen.“
So sprach damals ein Franzose über
162) Catull III 1.
163) „Der Palast Farnese und die Farne-
sina sind von den französischen Kommis¬
sären in Rom als ein der Nation zugefalle-
nes Erbteil vom König von Neapel in Besitz
genommen worden.“ Vgl. Teutscher Merkur
1799 I 380.
164) Dieser Terenz wurde von neapoli¬
tanischen Soldaten gestohlen und gelangte
später in den Vatikan zurück. Vgl. D. Zanelli.
La Biblioteca Vaticana dalla sua origine
fino al presente, Roma 1857, S.97.
165) Ilias V 335-340.
Original from
INDIANA UNIVERSITY
873
Ernst Steinmann, Die Plünderung Roms durch Bonaparte
874
die Franzosen, indem er ohne alle Bemän¬
telungen einfach der Wahrheit die Ehre
gab. Er sei der letzte, der untrüglichste
Zeuge, den wir aufrufen für das Zerstö-
rungswerk der „grande nation“ in der
ewigen Stadt. Keiner der vielen unwahr-
heftigen Beschönigungsversuche späterer
französischer Historiker hat dies häßliche
Blatt in Frankreichs blutgetränkter Ge¬
schichte rein zu waschen vermocht. Und
was Bonaparte Pius VI. angetan, hat es
Napoleon Pius VII. erspart? Als Gast des
Kaisers in Paris und sein Gefangener zu¬
gleich besuchte Pius i. J. 1805 auch die
Säle im Mus6e Napoleon, in denen die
Bildwerke des Museo Pio Clementino
prangten. Niemand anders als Visconti
war sein Führer. Damals sprach der Papst
die prophetischen Worte, die von Mund
zu Munde gingen: „Diese Bildwerke wur¬
den den Griechen von den Römern fort¬
genommen. Den Römern entriß sie jetzt
aufs neue der Sieg. Aber wer weiß, ob
man immer wird den Weg zur Seine
nehmen müssen, um sie wieder zu
sehn.“ 166 )
Man sollte meinen, die Spuren solcher
Zerstörung hätten niemals wieder aus
dem Antlitz Roms ausgelöscht werden
können; nach solchen Schrecken müsse
die Stadt am Tiber erstarrt gewesen sein,
als habe sie das Haupt der Gorgo er¬
blicht. Aber in der geheimnisvollen Struk¬
tur dieser einzigen Stadt wirken die zer¬
störenden Kräfte nicht anders als die er¬
haltenden. Mag eine Generation geopfert
werden, die nächste wird zu leben wissen.
Mag man an einem Tage rauben, was
Jahrhunderte geschenkt haben — ein
neues Schicksal wird ersetzen, was ver¬
loren ging. Denn der Untergang gehört
zu Rom wie der Aufgang, und neben dem
Kolosseum wölbt sich der Petersdom 1
So fande n die Fremden, die Rom im
166) Visconti, Opere varie ed. Giovanni
Labus, Milano 1831, IV S.575 Anm. 1.
folgenden Jahrzehnt besuchten, wohl ein
bettelarmes Volk, ausgeraubte Kirchen,
geplünderte Paläste und einen gänzlich
zerstörten Staatsorganismus, aber sie ver¬
mißten kaum etwas von dem Zauber, den
hier Natur und Kunst aus unversiegbaren
Quellen stets aufs neue spenden. Schon
Femow bekämpfte mit Nachdruck die
hoffärtige Meinung der Franzosen, Rom
sei nun ganz in Paris. „Wir wollen es
mit den Jubelliedern eines sieg- und
ruhmtrunkenen Volkes nicht so genau
nehmen,“ schrieb er am 1. Okt. 1798 167 );
„sonst ließe sich wohl beweisen, daß
das, was Rom zu Rom macht, sich
nicht in Kisten packen und durch Büffel
nach Paris schleppen läßt.“
Aber auch in den vatikanischen Samm¬
lungen selbst machten sich die Lücken
weniger fühlbar als man gedacht. Die
Mutter Napoleons rief erstaunt, als man
sie zum erstenmal in den Vatikan führte:
„Ich glaubte wohl, wir besäßen in Paris
auch etwas, aber ich sehe, wir haben
noch gar nichts.“ 168 ) Dazu kam, daß die
Auswahl der Kommissare keineswegs
immer auf die besten Stücke gefallen war.
„Da, wo der Ruf der Meisterwerke sie
verließ,“ heißt es i. J. 1806 im Journal
des Luxus und der Moden 169 ), „wählten
sie schlecht. Daher sind unter den hun¬
dert Statuen und Büsten, die das Pariser
Museum zieren, gegen zwei Drittel sehr
unbedeutend im Vergleich mit so vielen
herrlichen Stücken, welche in den päpst¬
lichen Sammlungen zurückgelassen wur¬
den. Ober alle Bewunderung schön sind
167) Neuer Teutscher Merkur 1798 III279.
168) A. v. Kotzebue, Erinnerungen, Berlin
1805, III, S.26: „Noch jetzt,“ schreibt Kotze¬
bue, „nachdem die Franzosen das Museum
so manchen Schmuckes beraubt haben, bleibt
es vielleicht das erste der Welt.“ Die vor¬
nehmsten der nach Paris entführten Artikel
waren durch Abgüsse oder auch durch
Werke Canovas ersetzt worden.
169) XXI (1806) S. 16.
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INDIANA UNIVERSITY
875
Justus Hashagen, Romanischer Imperialismus
870
die Säle des Pio-Clementinischen Mu¬
seums.**
Vor allem aber wirkte der Geist der
großen Vergangenheit lebendig weiter
auch in Tod und Untergang und zeugte
in flüchtig eilenden Stunden unvergäng¬
liche Werte. Courier, der so freimütig
bezeugt hat, was Rom verlor, er mag auch
bezeugen, wasRom erhalten blieb, 17 °) und
die Bilder de6 Grauens mag ein freund¬
liches Idyll versöhnend schließen:
Fragment
Rom, April 1812.
Heute morgen in aller Frühe ging ich
zu d’Agfncourt hinauf, und wie ich die
Stufen von S. Trinitä del Monte hinauf¬
stieg, begegnete er mir, herabkommend
und sagte: „Sie wollen zu mir?“ — „Ja,“
antwortete ich, „doch da Sie eben aus¬
gehen wollen ...“ „Nein,“ fiel er ein,
„gehen Sie zu mir hinauf; im Augen¬
blick bin ich zurück “ Ich ging also in
sein Haus und wartete. Und da er nicht
kam, ging ich in den Garten hinab, die
Fülle der seltenen Pflanzen und Blumen
zu betrachten, die auf eine besonders
sinnvoll malerische Art geordnet waren.
Dichtes Gebüsch wird von freundlichen
Wegen durchschnitten, und an der Mauer
170) M6moires II 59.
des Hauses klettert das Grün bis unter
das Dadi hinauf. Das Haus liegt in einem
Winkel des Gartens. Schlanke Bäume —
ich glaube es waren Akazien — ragen
bis zum Dach empor und halten die
Sonnenstrahlen ab, ohne die Aussicht
zu verdecken. So sieht man von hier
ganz Rom bis hinunter zum Pindo und
gegenüber die Hügel von S. Pietro in
Montorio und des Vatikans. Am Ende
des Gartens in den beiden Ecken plät¬
schern zwei Brunnen ihr Wasser in zwei
Sarkophage. Wie ich so umherwandelte,
entdeckte ich in hohem, schattigem Ge¬
büsch ein antikes Grab aus Marmor mH
einer Inschrift. Ich näherte mich, um zu
lesen, entfernte das Gesträuch und be¬
mühte mich, nichts mit dem Fuß zu zer¬
treten. Da stand d’Agincourt plötzlich
vor mir, den ich nicht bemerkt hatte:
„Dies hier ist das Arkadien von Pous-
sin,“ sagte er, „wenn es hier auch weder
Tanz noch Schäfer gibt Aber lesen
Sie die Inschrift.“ Und ich las. Sie war
lateinisch abgefaßt und auf der ersten
Linie stand: Den Manen; ein wenig
darunter: Fauna lebte vierzehn Jahre,
drei Monate und sechs Tage; und ganz
unten in kleinerer Schrift: Leicht decke
dich die Erde, frommes, geliebtes Kindt
Romanischer Imperialismus.
Von Justus Hashagen.
Der Eintritt Frankreichs und selbst Ita¬
liens in den Krieg ist auch durch welt¬
politische und weltherrschaftliche (im-
perialis;ische) Beweggründe bestimmt,
wenn auch in verschiedener Weise.
Denn Frankreich kämpft mehr für sei¬
nen schon vorhandenen weltpolitischen
Besitzstand. Italien dagegen kämpft für
eine italienische Weltmacht, deren Da¬
sein in der Hauptsache erst der Zukunft
angehören soll. In der Kriegsliteratur
beider Länder findet sich ein starker
imperialistischer Einschlag.
Wenn man allerdings von den angel¬
sächsischen Riesenreichen oder von Ru߬
land herkommt, so hat man zunächst
den Eindruck, als sei der romanische Im-
peralismus viel schwächer entwik-
kelt. In der Tat ist wenigstens in frühe¬
ren Zeiten sowohl in Frankreich wie
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INDIANA UNIVERSITY
877
Jagtug Hashagen, Romanisdier Imperialismus
878
in Italien eine kräftigere oder gar
eine phantastische Ausdehnungspolitik
vielfach lebhaft bekämpft worden, be¬
sonders natürlich von edlen wirklich de¬
mokratischen und sozialistischen Par¬
teien. Sowohl in Frankreich wie in Ita¬
lien arbeitet bis zum Ausbruch des
Weltkrieges je eine ausgesprochene Per¬
sönlichkeit, die sich dem imperialisti¬
schen Strome entgegenwirft: in Frank¬
reich Jean Jaurös, einer der gefährlich¬
sten Feinde der halsbrecherischen fran¬
zösischen Marokkopolitik, in Italien Gio¬
vanni Giolitti, der sich schon im Herbst
1911, als Italien mit dem Tripoliskriege
gegen die Türkei sein erstes imperiali¬
stisches Abenteuer wagte, bis in die
zwölfte Stunde hinein dem Kriege wider¬
setzte. Schon damals hat er aber unter
dem Drucke der systematisch aufge¬
peitschten sogenannten öffentlichen Mei¬
nung nachgegeben und schließlich doch
in den Krieg gewilligt. In kleinerem
Maßstabe hat sich schon 1911 ereignet,
was sich dann 1915 in verhängnisvoller
Vergrößerung wiederholt.
Feinde eines politischen Imperialismus
in Frankreich sind aber nicht nur Jau-
res, der Sozialismus und andere ihnen
nahestehende Gruppen gewesen. Die
Widerstände reichen zunächst noch wei¬
ter. Die Gegnerschaft ist noch tiefer
eingewurzelt. Durch Frankreichs Nie¬
derlage von 1870/71 wurde auch der fran¬
zösische Weltmachtsgedanke getrof¬
fen. Nicht nur Elsaß-Lothringen hatte
es verloren, sondern auch seine Welt¬
machtstellung. Man konnte 1871 über¬
haupt zweifeln, ob Frankreich noch eine
Großmacht war. Nun hat es sich zwar
von seinem tiefen Falle bewunderungs¬
würdig rasch wieder erhoben. Wenn
man aber in Frankreich nach dem Kriege
an die Rückeroberung der Weltmacht
denkt, so faßt man das, wie Eduard
Wiechßler mit Recht betont, noch in den
ersten Jahrzehnten nach dem Kriege
nicht eigentlich politisch auf, sondern
mehr unpolitisch. Man strebt nach neuen
Erobemngen auf dem Gebiete von Bil¬
dung und Kunst, auf dem Frankreich
von jeher so große Triumphe gefeiert
hatte. Wie die Niederlage von 1870/71
bei den Franzosen zunächst nicht eine
Hinwendung zum' Staate hervorbringt,
sondern eine Abwendung vom Staate,
so zunächst auch nur die Hinwendung
zur Wiedereroberung der Welt durch die
und für die französische Kultur, nicht
aber zur politisch-militärischen Ausdeh¬
nung. Eine Hinwendung zu einem neuen,
mit französischer Zivilisation und Hu¬
manität befruchteten antimilitaristischen
und geradezu pazifistischen Weltbür-
gertume wird gepredigt zunächst aber
noch nicht die Hinwendung zu einem
politischen Nationalismus, der, wie man
an Rußland sieht so leicht in Imperia¬
lismus umschlägt. Auch die Revanche¬
stimmung oder wenigstens der Deut¬
schenhaß halten sich entsprechend noch
zurück. Wechßler erinnert daran, daß
Emile Zola in seinem erschütternden Ge¬
mälde von dem französischen Zusam¬
menbruche 1870/71, das unter dem Titel
La Däbäcle erst 1892 erschienen ist, die
in diesem Romane vorkommenden Deut¬
schen noch durchaus ruhig und sach¬
lich beurteilt. Die schöne Literatur der
Franzosen bietet einem erobernden po¬
litischen Imperialismus noch in den
ersten Jahrzehnten nach dem Kriege kei¬
nen fruchtbaren Nährboden. Die schär¬
feren Töne aber, die bereits hier und da
in der politischen Publizistik angeschla¬
gen werden, halten sich noch im Hinter¬
gründe. Ein weiter ausgreifendes impe¬
rialistisches Eroberungsideal wird erst
hier und da deutlicher. Noch auf Jahr¬
zehnte hinaus bleibt es mehr unpolitisch
als politisch. Je mehr die Republik nach
links rückt, was deutlicher seit 1879 der
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879
Justus Hashagen, Romanischer Imperialismus
880
Fall ist, um so ungünstiger anscheinend
für den Imperialismus. Wenigstens als
politische Macht führt der französische
Imperialismus in den ersten Jahrzehn¬
ten nach dem Kriege ein ziemlich be¬
scheidenes Dasein.
Es fehlt aber auch noch eine andere
politische Geistesrichtung, die in Ru߬
land dem Imperialismus so mächtigen
Vorschub leistet, eine Bewegung ähn¬
lich der des Panslawismus oder gar des
Panrussismus. Sie hat bei romanischen
Mächten wie Frankreich und Italien kaum
Aussicht auf einen politischen Erfolg.
Zwar hat schon der alte Giuseppe Gari¬
baldi von einer alllateinischen Födera¬
tivrepublik geträumt. Auch die beiden
Napoleon haben, indem sie von Frank¬
reich aus sowohl Italien wie Spanien zu
beherrschen versuchen, eine Art von all¬
lateinischem Reich erstrebt, gewisser¬
maßen dem politischen Panlatinismus
gehuldigt. Allein schon die Geographie
macht ihn unmöglich: an Pyrenäen und
Alpen ist bisher jede alllateinische Bewe¬
gung gescheitert; auch die klimatisch¬
wirtschaftlichen Gegensätze schon zwi¬
schen Frankreich und Italien sind ganz
außerordentlich. Das alles wird von
Deckert mit Recht scharf hervorgehoben.
Die Fratellanza Latina ist praktisch-po¬
litisch anscheinend auf die Lateinische
Münzkonvention, der sich aber auch
nichtlateinische Staaten angeschlossen
haben, zusammengeschrumpft, und auch
die Begründung eines Zollvereins hat
sie niemals bewirken können.
Aber man hat nun hier doch auch eine
wesentliche Einschränkung zu machen,
und das führt von den Hemmnissen zu
den Triebkräften eines romanischen Im-
peralismus. Mag der alllateinische Ge¬
danke politisch und handelspolitisch
noch so unmöglich sein: bei näherem Zu¬
sehen wird er ganz gewiß nicht nur in
der Lateinischen Münzkonvention sicht¬
bar, sondern er ist vor allem eine Kultur¬
macht. Mit einer rein politischen Beur¬
teilung würde man auch hier nicht aus-
kommen. Und eben als Kulturmacht hat
er sich zwischen Frankreich und Italien
als höchst kräftiges und geradezu unver¬
wüstliches Bindemittel erwiesen, wenn
auch das französische Geld öfters hat
nachhelfen müssen, um die Kulturbe¬
ziehungen enger zu gestalten und vor
allem: um diese zunächst unpolitischen
Beziehungen bald politisch auszumün¬
zen.
So angesehen, erscheint der alllateiRt-
sche Gedanke, der ja auch an Italiens
Eintritt in den Krieg mit an erster Stelle
beteiligt ist, als eine gewiß nicht immer
deutlich faßbare, aber eben deshalb nur
um so wirksamere Triebkraft auch der
politischen und wirtschaftspolitischen
Ausdehnungsbestrebungen. Auch und
gerade als Kulturmacht steht er in enger
Beziehung zum Weltmachtstreben in
Frankreich und Italien.
In beiden Ländern üben ferner in der¬
selben Richtung gewisse geschichtliche
Erinnerungen eine große Anziehungs¬
kraft aus, Erinnerungen an frühere glän¬
zendere Zeiten, in denen eine Welt¬
machtstellung der Romanen nicht Traum
war, sondern Wirklichkeit Man sonnt
sich in einer großartigen imperialisti¬
schen Vergangenheit und schöpft aus ihr
Mut zur Ausdehnung in der Gegenwart
Trotz der früheren Macht von Demokra¬
tie und Pazifizismus, trotz politischer
Ohnmacht des Panlatinismus gibt es in
Frankreich und Italien eine Fülle liebe¬
voll gepflegter Weltmachtserinnerungeiu
Auch hier dient wie in Rußland die
Geschichte der Agitation für mo¬
derne Ausdehnung. Diese historischen
Weltmachtserinnerungen werden nun
aber wenigstens in dem Frankreich der
Dritten Republik durch eine glänzendere
Gegenwart teilweise sogar noch in den
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Justus Hashagen, Romanischer Imperialismus
882
Schatten gestellt. Man muß einiges von
der riesenhaften französischen Gegen-
warts- und Wirklichkeitsgröße, wie sie
sich besonders im französischen Kolo¬
nialreiche mit all seinen Anhängseln ver¬
körpert, kennen, wenn man verstehen
will, wie der imperialistische Gedanke
trotz aller feindlichen Strömungen etwa
seit deri*neunziger Jahren des vergange¬
nen Jahrhunderts so mächtig anwächst
und mit.seinen Schössen und Trieben
edles andere überschattet, nicht zuletzt
die politische Vernunft. Es ist der Drit¬
ten Republik gelungen, ein gewaltiges
Kolonialreich zu schaffen, in raschem
Siegesläufe, trotz der hinschwindenden
Zahl ihrer Bevölkening und trotz aller
grundsätzlichen Kolonialfeindschaft Die
praktischen Leistungen dieser neuen
französischen Kolonial- und Weltpolitik
begründen den festesten Hort für mo¬
derne Weltmachtsgedanken im repu¬
blikanischen Frankreich. Gewiß hat
auch die Kolonialpolitik der Dritten Re¬
publik manche bittre Enttäuschung zu
verzeichnen. Es gab z. B. eine Zeit in
der die beiden Weltkanäle, der Suez-
und der Panamakanal, Werkzeuge fran¬
zösischer Weltpolitik zu werden schie¬
nen. Im allgemeinen gibt es aber
äußerlich angesehen doch nichts Er¬
folgreicheres als die Koloniafpolä-
tik der neuen Republik. Der franzö¬
sische Besitzstand von 1871 verschwin¬
det förmlich in der Masse des Besitz¬
standes von 1914. Das Ergebnis ist weit
über 10 Millionen qkm für den Flä¬
cheninhalt des französischen Kolonial¬
reichs, mit nahezu 50 Millionen Einwoh¬
nern. Es ist bemerkenswert, daß Frank¬
reich mit seinen Kolonien mindestens
noch etwa 10 Millionen Einwohner mehr
hat als das Deutsche Reich mit seinen
ehemaligen Kolonien, trotz der bekann¬
ten Entvölkerung des europäischen
Frankreich. In seinem Kolonialreiche
sieht der Franzose seinen beträchtlichen
Anteil an der Weltherrschaft praktisch
vor seinen Augen. Und auch militärisch
ist es sein Trost und seine Zuflucht. Ihm
entnimmt er seine farbigen Armeen.
Die Kolonialkriege sind zugleich die
hohe Schule für die französischen Heer¬
führer.
Neben der praktischen französischen
Kolonialpolitik ist die praktische fran¬
zösische Bündnispolitik einer der stärk¬
sten Antriebe des französischen Imperia¬
lismus. Sie hat nicht nur praktisch
der französischen Kolonialpolitik Vor¬
schub geleistet, sondern auch theoretisch
die Begeisterung für Frankreichs Auf¬
stieg oder vielmehr Wiederaufstieg zur
Weltmacht entflammt. Seit 1891 im
Bunde, mit Rußland und seit 1904 im
Bunde mit England, also mit Weltmäch¬
ten, fängt Frankreich an, sich selbst wie¬
der als Weltmacht zu fühlen. Der Fran¬
zose ist stolz auf diesen weihnacht¬
lichen Bund mit den beiden Riesenrei¬
chen. Auch daraus erklärt sich das be¬
drohliche Anwachsen der imperialisti¬
schen Agitation in Presse und Publizi¬
stik. Nicht zuletzt wird in dieser Lite¬
ratur die kolonial- und weltpolitische
Todfeindschaft gegen Deutschland ge¬
predigt. Wir wissen heute, daß der
Lügenfeldzug gegen Deutschland nicht
nur von England, sondern auch von
Frankreich ausgegangen ist, und zwar
teilweise in weltpolitischem Rahmen und
mit imperialistischen Absichten.
Nicht nur der allgemeine Deutschen¬
haß, sondern auch der französische Im¬
perialismus, Frankreichs Wille zur Welt¬
macht schafft den neuen unerschöpf¬
lichen Nährboden für die Revanche.
Ohne die französische Bündnispolitik
und ohne Marokko wäre auch der Re¬
vanchegedanke in Frankreich nicht wie¬
der so heillos im Kurse gestiegen. Das
neueste unaufhaltsame Wachstum des
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Justus Hashagen, Romanischer Imperialismus
884
883
französischen Revanchebedürfnisses ist
auch imperialistisch genährt worden.
Revanche bedeutet nicht nur Rache, cL h.
Bestrafung des „Räubers“, sondern vor
allem Wiedereinbringung des Verlore¬
nen, Rekuperation, und darüber hinaus
Schadenersatz, das Verlangen nach
neuen Siegen, nach Ausdehnung und Er¬
oberung.
Erst von hier aus fällt das rechte Licht
auf den weltpolitischen und damit den
weltgeschichtlichen Sinn des gegenwär¬
tigen deutsch-französischen Krieges. Die
Gegenstände sind nicht nur Elsaß und
Lothringen, sondern Frankreichs wirk¬
liche Weltmachtstellung, zusammen mit
seinen glühend ausgemalten imperiali¬
stischen Träumen.
In abgeschwächtem Maße gilt ähn¬
liches auch von Italien. Auch hier wir¬
ken geschichtliche Weltmachtserinne¬
rungen an die alte römische Weltherr¬
schaft und an die mittelalterliche vene¬
zianische Weltmacht. Auch Italien hat,
im Gegensatz zu Frankreich auf einer
gesunden Volksvermehrung fußend, un¬
geachtet aller Mißerfolge eine beträcht¬
liche kolonialpolitische Energie entfal¬
tet, die noch viel mehr erreicht hätte,
wenn England und Frankreich nicht ge¬
wesen wären.
Wie es sich im gegenwärtigen deutsch-
französischen Kriege nicht nur um El¬
saß-Lothringen handelt, so handelt es
sich in dem Kriege zwischen Österreich-
Ungarn und Italien nicht nur um die von
der irredentistischen Agitation in An¬
spruch genommenen Gebiete der Dop¬
pelmonarchie. Das italienische Problem
des gegenwärtigen Krieges ist auch des¬
halb so verwickelt, weil es imperiali¬
stische Ziele berührt. In der gegen Öster¬
reich-Ungarn schon seit zwanzig Jah¬
ren eingestellten Balkan- und Orientpo¬
litik Italiens tritt dieser imperialistische
Grundzug klar zutage. Es ist kein Zu¬
fall, daß zwischen Italien und Öster¬
reich-Ungarn auch bei Valona und Sa¬
loniki gekämpft wird. Nicht nur die paar
Pinien in Südtirol, wie verständnislose
Deutsche fabelten, stehen zwischen Ita¬
lien und Österreich-Ungarn, sondern Ita¬
liens unersättlicher, maßloser Drang
nach dem Osten, nach Albanien, zu den
südslawischen Ländern, nach Saloniki,
nach der Dodekanes, nach Kleinasien
und Syrien, wo italienische Auswande¬
rung und italienisches Kapital seit Jahr¬
zehnten fieberhaft und mit steigen¬
dem Erfolge gegen die schwerfälligere
Donaumonarchie gearbeitet haben.
Man kann das Größenwahn nennen.
Aber man wird dadurch den italieni¬
schen Imperialismus als eine geistige
Macht nicht aus der Welt schaffen. Die
Italiener wollen ihre imperialistischen
Karten noch nicht preisgeben. Diese Kar¬
ten sind zwar bereits zerknittert und
schmutzig geworden. Aber sie werden
sie nicht eher fortlegen, als bis man sie
ihnen aus der Hand schlägt. Der Deutsche
gibt sich auch in bezug auf Italien gerne
der Illusion eines nahen italienischen
Zusammenbruchs hin. In der Vogel-
Straußpolitik hat es der Deutsche vor
dem Kriege und während des Krieges zu
einer selbstmörderischen Meisterschaft
gebracht. Es ist Zfeit, daß er aus seinen
optimistischen Träumen endlich er¬
wache. Wäre der Imperialismus nicht
auch bei den Italienern eine Macht, so
hätten sie nicht auch dem Deutschen
Reiche schließlich kühnlich den Krieg
erklärt. Diese Kriegserklärung hätte in
Deutschland nicht nur einem überlege¬
nen und spöttischen Lächeln begegnen
sollen, sondern sie sollte auch als das
gewürdigt werden, was sie ist, als eine
neue und verhängnisvolle Etappe in der
Geschichte des italienischen und damit
auch des romanischen Imperialismus.
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Nachrichten und Mitteilungen
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Nachrichten und Mitteilungen.
Rohstoffkunde und Auslandsstudien.
Die Denkschrift über Auslandsstu¬
dien ist ein Zeichen des Friedens, den wir
erhoffen, d. h. eines solchen, der unsere
Stellung in der Welt festigt, aber auch ein
Kind des Krieges insofern, als erst durch
ihn LOcken, die nun gefüllt werden sollen,
merkbar wurden.
Geläutert durch den Krieg greift die Wis¬
senschaft in das Räderwerk des Lebens ein.
Das Leben packt sie an und trägt sie hin¬
aus in die weite Welt, die Tochter der Ge-
ichrtenstube. Mancherlei Hände werden sich
aus wissenschaftlichem Kreis recken nach
den lockenden Auslandsstudien (und der
Verkündung ihrer Forderung) und werden
neue Fäden spannen zu ihnen und unter¬
einander.
Von einem solchen Netz will ich hier
reden, das zwischen Heimat und Ausland
schwebt: Rohstoff lehre, Warenkunde,
oder wie sonst man es beiden mag, von
ihr als Forschung, als Lehre, als Bildungs¬
element.
Der Krieg zeigte, was wir besitzen, was
uns fehlt. Fragen wurden in ihm und durch
|hn laut: Woher kommt dies oder jenes Er¬
zeugnis, warum tritt in dem oder jenem
Knappheit ein, wie kann es beschafft, er¬
gänzt, ersetzt werden? Mochten es Teile
aus der Munitionsindustrie oder aus anderm
Bedarf in Heer und Marine sein, mochten
es Stoffe, Lebensmittel, Chemikalien sein,
war es Mineral, Tier oder Pflanze — es war
alter Sache geworden, die an seiner Be¬
schaffung hing, aller Interesse galt dem Ge¬
genstand, dessen Natur und Entstehung die
Mehrheit vorher kaum kannte.
Erst heute wurde Rohstoff- und Waren¬
kunde Allgemeingut. Woher stammte die
Belehrung? Aus Zeitungen, Zeitschriften
aller Höhen und Tiefen, sie ging von Mund
zu Mund, entsprang aus Vorträgen und Aus¬
stellungen, aus Versuch und Gebrauch.
Nun mit der vorgeschlagenen großzügi¬
gen Hebung der Auslandsstudien fällt uns
Versäumtes wieder schwer aufs Gewissen.
Wohl hatten wir Anfänge. Es gab eine For¬
schung auf dem bezeichncten Gebiete. An-
knüpfend an die Zweige der Naturwissen¬
schaft, je nach Natur des Gegenstandes
wurde Herkunft, Art und Weise des Vor¬
kommens aller Rohstoffe und ihre Verar¬
beitung verfolgt, in prüfenden, beobachten¬
den, vergleichenden, analysierenden und
statistischen Methoden. Wirtschaftskunde und
Geographie liehen die Hand zur Stütze und
empfingen selbst, erzeugten vermittelnde
Gebiete wie Handelsgeographie und Han¬
delspolitik, stets im engen Anschluß an Na¬
turwissenschaften und Technik. — Sollten
wir diese praktische oder angewandte Wis¬
senschaft von der reinen etwa trennen?
Nichts wäre gefährlicher als das! Erhält sie
doch ihre eigentliche Forderung von der
reinen Disziplin her, aus den Laboratorien
gehen die Fäden zum Kontor des Kauf¬
manns, von der exakt wissenschaftlichen Be¬
schreibung und Diagnostik schlägt sich so
die Brücke zur Farm über See, vom Mu-
seumsschrank zum Rohstoffspeicher. Durch
diese lebendig zu erhaltende Verbindung
erst bekommt der Handel die feinen Or¬
gane zu seiner Ausbreitung, die Festigung
gegen fremde Nebenbuhlerschaft. Die For¬
schung mit allen Grundlagen und dem Rüst¬
zeug der reinen Wissenschaft soll der Praxis
dienen können, zugleich aber sidi und ihrer
Frucht die Wege ins Weite öffnen, daheim
ans Ausland denken. Und hier freuen wir
uns buchen zu können, daß z. B. die wis¬
senschaftliche Organisation unserer kolonial-
wirtschaftlichen Naturforschung in Europa
und draußen eine von manchem unsrer
Feinde beneidete Höhe längst besaß.
Der Forschung folgte die Lehre. An¬
schließend an diu wissenschaftliche Beleh¬
rung in Hochschule, Schule, populärem Vor¬
trag, in Lehr- und Lernbuch, Lesebuch und
Vorschriften, Zeitschriften und Presse ist
Boden genug für die Verbreitung der Roh¬
stoffkenntnisse. Um den Boden zu finden,
hat auch die Darstellung sidi oft genug an
die des reinen Stoffes aus gleichem Gebiet,
also Technologie an Chemie, pflanzliche
Warenkunde an allgemeine Botanik anzu¬
fügen. So wird sie am ehesten verständ¬
lich, am sichersten begründet und am reiz¬
vollsten vorgebracht. Ist sie dieser Art in
den Grundzügen an den einzelnen Gegen¬
ständen vorbereitet, so wird sich von selbst
die Möglichkeit neuer Zusammenfassung,
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INDIANA UNfVERSITY
887
Nachrichten und Mitteilungen
888
Anordnung nach praktischen Gesichtspunk¬
ten (vorher vielleicht nach Herkommen, jetzt
nach Verwendung) ergeben, diese wird dann
die endgültige und sich einprägende sein.
Und soll das Bild der einzelnen Stoffe sich
noch erst lebhaft färben, so darf die Ein¬
reihung in die lebendige Lehre von Handel
und Wandel, in die Betrachtung des eignen
und fremden Landes nebeneinander nicht
fehlen. Von draußen lernen wir dabei für
drinnen, durch Vergleich erfahren wir die
eignen Werte. Der Kreis der eignen Hei¬
mat allein schlösse ohne die Auslandsstu¬
dien auch hier die Fruchtbarkeit der Be¬
trachtungen aus. .
Für wen nun letzten Endes das alles?
Für Forscher und Fachleute? Nein. Für je¬
den, der teilnimmt an unsrer Politik, am
Leben des Volksganzen, der den Krieg als
Teil dessen miterlebt hat. Kein von der
Sorge der Kriegszeit allein gehätscheltes
Kind des Egoismus soll die Rohstoffkunde
sein, sondern die Frucht patriotischer Ein¬
sicht. Allgemeingut sei sie, Bildungs-
element. Sie werde so selbstverständlich
wie historisch-literarische Bildung oder wie
die etwas älteren Naturwissenschaften und
Technik es in Teilen seit Jahrzehnten zu
werden begannen. Die angewandten Natur¬
wissenschaften sind das jüngste Glied dieser
Bildungsbestände. Aber 1914—1917 haben
auch sie ihre Feuertaufe erhalten und wach¬
sen nun heran auch als Teil der Volksbil¬
dung. Ober den Wall der Feinde hinweg
richtet sich der Blick, nidit sehnsüchtig, aber
voll überzeugter Erkenntnis, überlegend,
bereuend und vorausschauend auch ins ferne
Ausland, mit dem Vorsatz, audi fernste
Winkel später zu durchmustern und nutzbar
zu machen für die Heimat, wo diese Be¬
darf hat. In manches trotz erfolgreicher
Binnenwirtsdiaft uns wertvoll gebliebene
Rohstoffquartier des Auslands sehen wir um
so klarer hinaus, je fester unsre Kriegsziele
werden, getragen wohl auch vom Stolz des
Wiedergebenden und unentbehrlich Geblie¬
benen. Hierfür müssen unsre Kinder bessere
Bildungsgrundlagen mitbringen, als sie unsre
Allgemeinheit jetzt besaß, bedürfen sie auch
der Waren- und Rohstoffkenntnis zu poli¬
tischem Verständnis. Wer wollte ohne sie
an koloniale Fragen rühren?
Und nun konkreter gesprochen: Rohstoff¬
oder Warenkunde, angewandte Naturwissen¬
schaft und ihre Verknüpfung mit der Technik,
wirtschaftliche Geographie brauchen wir in
Forschung und Unterricht.') Nicht aber
Neues dafür an Einrichtungen. Grade im
Verknüpfen mit der reinen Wissenschaft er¬
kennt man heute den gebotenen Weg. Und
groß und wahrhaft gangbar wird er erst
durch die Erweiterung der Betrachtung auf
das Ausland.
Ich denke etwa, um eine Einzelheit hier
nur anzudeuten, an Ausbau der beschrei¬
bend naturwissenschaftlichen (allgemeiner
als bisher gehaltenen) Vorlesungen bis zu
Handelspolitik. Der Lehrer der Rohstoff¬
kunde, der zu dieser von der reinen Wis¬
senschaft (nicht etwa nur von der Unter¬
suchungspraxis her) kommt, an sich also
schon die Einführung seines Gegenstandes
in den Rahmen des Weltlebens vollzieht,
gelangt durch eigne Auslandsstudien, Rei¬
sen und Politik im Unterricht zur handelst
politischen Betätigung, für die er — wie
manche Erfahrung zeigt — ein großes
Publikum auch von Angehörigen andrer
Fakultäten zu finden vermag.
Hier treten die Forderungen der Denk¬
schrift, unter deren Eindruck wir zur Zeit
stehen, auf das erfreulichste in unsem Ge¬
dankenkreis ein. Die Auslandsstudien len¬
ken, anknüpfend an Ansätze aller Art, die
schon vorhanden, doch zum erstenmal das
Interesse weiterer Kreise auf eine Gedan¬
kenentwicklung, die durch den Krieg mäch¬
tig gefördert ist. Scheinbar ein spezieller
Gegenstand preußischen Unterrichtswesens,
bedeuten die Gesichtspunkte der Denkschrift
doch zugleich eine politische und nationale
Äußerung. Sie wollen ihren Ausdruck fin¬
den nicht eigentlich in neuen Forschungs¬
und Unterrichtsstellen und Gebieten, son¬
dern — und hier liegt der Kem — in der
Durchdringung des Vorhandenen, in den
Gesichtskreis der Auslandsstudien Hereln-
1) Es interessiert vielleicht, daß von sei¬
ten der Vertreter der angewandten Chemie
Warenkunde als Unterrichtsgegenstand an
Hoch- und Mittelschulen verlangt wird (vgl.
die Vorschläge von Krais in .Zeitschrift f.
angew. Chemie* 10. Okt. 1916. Einzelheit«!
für den pflanzlichen Rohstoff aus Heimat
und grade auch Ausland habe ich zusam¬
mengestellt und mit dem Bisherigen ver¬
knüpft in einem Aufsatz, der im Märzheft
d. J. in der Zeitschrift .Aus der Natur" er¬
schienen ist. Ober die Bedeutungfür Kolonial¬
politik vgl. meine Bemerkungen in.Deutsche
Kolonialzeitung" 20. Nov. 1916.
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Original frorn
INDIANA UNtVERSITY
889
Nachrichten und Mitteilungen
890
ragenden mit den Ideen unserer erstarkten
Weltpolitik. Sie ist es, die an dem Ereignis
weite Kreise teilnehmen läßt. Das ist grade
was wir für unser Sondergebiet erwarten;
nicht bei Forschungsförderung bleiben die
»Auslandsstudien“ stehen, Ober den Unter¬
richt an der akademischen Jugend als den
Nächstbeteiligten hinaus deuten sie ihre
neuen Stoffe als künftiges Bildungsziel aller
an. Friedr. Tobler.
Die Volkshochschulen in Schweden.
Männer wie Justus Möser und Fichte,
Bluntschli und Holtzendorff sind bereits
vor langer Zeit in Deutschland mit großer
Energie für den Gedanken der politischen
Volksaufklärung eingetreten. Aber erst in
jüngster Zeit hat sich hier das öffent¬
liche Interesse ernstlich den Fragen der
staatsbürgerlichen Erziehung und 'Bil¬
dung zugewendet. Es war, abgesehen
von Einzelschriften, ein verdienstvolles
Unternehmen der „Gesellschaft für staats¬
bürgerliche Erziehung“ und des Verlages
Teubner, die in anderen Ländern bereits
vorliegenden praktischen Erfahrungen in
einer systematischen Sammlung niederzu¬
legen. ln diesen Schriften der Gesellschaft
haben P. Rühlmann über die staatsbürger¬
liche Erziehung in der Schweiz und in
Frankreich, P. Oßwald über Holland, Chr.
Gröndahl über Dänemark berichtet. Eine
wertvolle Ergänzung erfahren diese Schrif¬
ten durch das neuerdings von der Zentral¬
stelle für Volkswohlfahrt herausgegebene
Buch Else Hildebrandts: »Die schwedische
Volkshochschule. Ihre politischen und so¬
zialen Grundlagen“ (Berlin 1916, C. Hey-
mann). Was die Verfasserin zu dieser Un¬
tersuchung angeregt hat, war die eigen¬
artige Erscheinung, daß die Initiative zur
Gründung von Volkshochschulen in Schwe¬
den von den Bauern ausgegangen ist.
Diese Erscheinung erklärt sich aus der
wirtschaftlichen und politischen Entwicke¬
lung des schwedischen Bauernstandes. Dem
Wachstum der Anbaufläche entsprach die
Vermehrung der landwirtschaftlichen Be¬
völkerung nicht in gleichem Grade; daraus
ergab sich ein immer steigender Wohlstand
der selbständigen Bauern; gleichzeitig ver¬
minderte sich die unselbständige Landbe¬
völkerung durch Abwanderung in die
Städte und Auswanderung nach Amerika.
Die politfsche Freiheit des schwedischen
Bauernstandes aber ist noch viel älteren
j Datums. Die Gemeindefreiheit ist altger-
I manischen Ursprungs. Schon Ende des
] 16. Jahrhunderts hatten die Bauern im
Reichstag ihre Standesvertreter. Zwischen
1 1789 und 1809 fallen die letzten Adelspri¬
vilegien, und mit der neuen Reiclistagsord-
nung bildet sich 1867 eine eigene Landt-
mannparti, deren Mitgliederzahl 78 be¬
trägt: heute sitzen in der zweiten schwedi¬
schen Kammer 96 bäuerliche Vertreter.
Bereits 1868 fassen unabhängig voneinan¬
der zwei Hofbesitzer, Andersson und Nils-
son, den Plan zu einer Volkshochschule für
die Landbevölkerung. Unterstützend wirkt
hierbei das Beispiel der dänischen Volks¬
hochschule, die unter der mächtigen An¬
regung Grundtvigs sich nach den Nieder¬
lagen von 1808 und 1864 zur Trägerin na-
! tionalen und religiösen Aufschwungs ent¬
wickelt. 1 ) 1868 wird die erste schwedische
Volkshochschule gegründet. Man kann sie
nach dem Vorangehenden als eine moderne
Frucht altgermanischer Freiheit bezeichnen.
Seither und bis 1913 erreichten hier die
Volkshochschulen die Zahl von 45. Die
Zahl ihrer Schüler beträgt im gleichen Zeit¬
raum 89190. Bezeichnend ist anfangs das
eifrige Streben, jede, auch nur finanzielle,
Einmischung des Staates fernzuhalten: die
Volkshochschule soll mit allen ihren Wur¬
zeln im Bauernstand stecken und damit
ihre organische Daseinsberechtigung er¬
weisen. Nach und nach indessen werden
die Unterstützungen des Staates, der die
Schulfreiheit wirklich unangetastet läßt,
angenommen. Sie betragen z. B. 1913
rund 500000 Kronen. Die Schüler wer¬
den durchschnittlich im Alter von 20 Jah¬
ren, Frauen von 18 Jahren angenom¬
men. »Erst soll die Jugend in praktischer
Arbeit, die der Beruf bringt, selbst Er¬
fahrungen draußen im Leben sammeln,
die dann in der Volkshochschule innerlich
verarbeitet werden sollen.“ Das Ziel war
schon von den ersten Gründern und stets
in der Folge bestimmt als Erziehung nicht
nur zur beruflichen Tüchtigkeit, sondern
zugleich zur tätigen und verständnisvollen
Teilnahme an kommunalen Angelegenhei¬
ten und schließlich an der Volksvertretung
selbst. Der Aufenthalt in der Schule
schwankt zwischen 3 und 8 Monaten und
dementsprechend das Schulgeld zwischen
1) Zu vgl. A. H. Hollmann, Die dänische
Volkshochschule, Berlin 1909.
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OrigiricBl from
INDIANA UNtVERSITY
801
Nachrichten und Mitteilungen
802
20 und 80 Kronen. Aber die selbstlose Hin-
gäbe des Direktors und seiner Frau sowie
das enge Gemeinschaftsleben der Schüler
.ermöglicht es, daß diese kurze Zeit für
die Schüler soviel bedeutet, wie sonst wohl
nur mehrere Jahre in dem Lebensgange
dieser jungen Menschen“. Die Schülerzahl
schwankt in den einzelnen Schulen zwi¬
schen 10 und 60. Der Unterricht umfaßt
humanistische, naturwissenschaftliche und
praktische Facher. Zu den ersteren zählen
insbesondere: Muttersprache, Literaturge¬
schichte, Geschichte, Geographie, Bürger¬
kunde, Nationalökonomie. In manchen
Schulen kommt noch die deutsche Sprache
hinzu. Der Unterricht weckt den histori¬
schen Sinn, die Heimatliebe der Schüler. Die
Bürgerkunde soll einem der Hauptzwecke
der Volkshochschulen, der staatsbürger¬
lichen Aufklärung dienen. Zu diesem Zweck
sind auch Diskussionsabende eingerichtet,
in denen sachlicher Meinungsaustausch und
Meinungskampf und Duldsamkeit gegen
abweichende Ansicht gepflegt wird. Oft
wird, zur Vorbereitung für spätere kommu¬
nale Tätigkeit, ein dem wirklichen nach-
geahmter „Gemeinderat“ abgehalten. Durch
Wanderungen, durch die Pflege der volks¬
tümlichen Gewerbekunst wird die Anhäng¬
lichkeit an die Heimat gestärkt. — Die
Wirkungen der schwedischen Volkshoch¬
schulen beurteilt unsere Verfasserin in durch¬
aus günstigerWeise. Durch die Volkshoch¬
schulen wird eine (indirekte, Vorbereitung
auf die spätere berufliche Tätigkeit gegeben,
der soziale Geist wirkt unter den früheren
Schülern über die Schule hinaus und regt
auch zur gegenseitigen praktischen Selbst¬
hilfe an. ln engem Zusammenhänge mit
der Wirksamkeit früherer Volkshochschüler
sind z. B. zahlreiche Krankenkassen sowie
die Genossenschaftsbewegung entstanden.
Im Norden verwirklicht die Volkshoch¬
schule außerdem ein nationales Ziel, indem
sie unter die dort ansässigen Finnen und
Lappen das Gefühl der Zugehörigkeit zum
schwedischen Volksganzen trägt. Die Ent¬
wicklung der historisch - volkstümlichen
Hausgewerbekunst in ganz Schweden ist
gleichfalls nicht zuletzt durch den Einfluß der
Volkshochschule gefördert worden. Die alten
Schüler vereinigen sich von Zeit zu Zeit
in regelmäßigen Zusammenkünften. Den
Geist dieser Gemeinschaften können die
folgenden Sätze aus einer bei dieser Ge¬
legenheit im Jahre 1908 gehaltenen Fest¬
redecharakterisieren: .Jeder Mensch, Mann
oder Frau, kann nach Vermögen sich selbst
als Mensch ausbilden in den körperlichen
und geistigen Kräften, die ihm verliehen
wurden. Beide haben die Pflidit und das
Recht, so viel wie nur irgend möglich aus
sich selbst im Leben zu machen. ... Es
ist aber nicht so leicht, das eigene Interesse
abzuwägen gegen das, was andere för
Recht halten: viel Gewissenhaftigkeit ge¬
hört zur richtigen Abschätzung. Tiefe Le¬
benskunst, reife Lebensweisheit verlangt
dies Tun. Nur langsam, nach und naai
läßt sich diese staatsbürgerliche Lebens¬
weisheit erkämpfen. Eine Jugendschule
für staatsbürgerliche Bildung muß als
ihr vornehmstes Ziel ansehen, der rich¬
tige Führer für die Jugend in dieser
Hinsicht zu sein.“ Die jährlichen Versamm¬
lungen werden häufig von mehreren hun¬
dert Personen besucht. Die früheren Schü¬
ler — sagt die Verfasserin — reisen zur
Volkshochschule wie zu einer alten Freun¬
din, zu der man nie vergebens kommt,
wenn man sich in irgendeiner Sache Rat
holen will, und die Lehrer betrachten diese
Tage als ein Fest in ihrer anstrengenden
Tätigkeit.
Besonders anziehend ist die Darstellung
der Volkshochschule für Industriearbeiter
in Schweden. Sie wurde 1906 von dem
Sozialdemokraten und Dichter Forsslund in
Brunnsvik gegründet. Aber trotz dieses par¬
teipolitischen Ursprungs ist die Brunnsviker
Schule 1911 vom Staate anerkannt worden
und erfreut sich auch seiner materiellen
Unterstützung. Dies hat in einem doppel¬
ten Umstand seinen Grund: zunächst in
der allgemeinen größeren Parteiduldsam-
keit in Schweden, sodann aber darin, daß
die Erziehung und Bildung in der Brunns¬
viker Schule durchaus keinen parteipoliti¬
schen Charakter trägt. Und hier liegt m.
E. etwas sehr Bezeichnendes. Der Partei¬
zugehörigkeit ihres Gründers und ihrer
ersten Lehrer, sowie der ausgesprochenen
Absicht der neu eintretenden Schüler zu¬
folge wäre die Schule in einem anderen
Lande zu einem neuen parteipolitischen
Kampfmittel der Sozialdemokratie wie prä¬
destiniert, tatsächlich aber hat es die Lei¬
tung verstanden, ihr lediglich einen wah¬
ren, d. h. politisch neutralen, Bildungscha-
rakter zu bewahren. Ihre Lehrer gehören
verschiedenen Parteien an. Und für ihr«
Wirkung sind die eigenen Bekenntnisse
Original from
INDIANA UNIVERSITY
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803
Nachrichten und Mitteilungen
der Schüler bezeichnend: .Nach Absolvie¬
rung der Volkshochschule wagt man nicht
mehr an der absoluten Richtigkeit seiner
Anschauungen festzuhalten, sondern ver¬
sucht, die Ansichten anderer zu verstehen.“
.Zum politischen Kampfe in dieser Weise
(d.h. in der Weise des radikalen sozial¬
demokratischen Jungverbandes) fühlt man
sich nicht mehr fähig und zur Erkämpfung
eines politischen Zieles überhaupt noch
nicht reif genug.“
In dieser parteipolitischen Neutralität
Hegt der besondere Wert der Volkshoch¬
schulen. Wir haben oben gesehen, daß,
wenn auch der Staat den schwedischen
Volkshochschulen Beihilfe gewährt, er doch
nirgends seinen Einfluß auf die innere
Organisation der Anstalten geltend macht;
er steht, wie die Verfasserin sagt, in dieser
Beziehung in Wahrheit über den Parteien.
Und das Beispiel der Brunnsviker Schule hat
uns gezeigt, wie, bei wirklich neutraler päda¬
gogischer Gesinnung der Lehrer, selbst aus
einer der Parteierziehung leicht zugänglichen
Organisation die Stätte wirklicher Volkser¬
ziehung geworden ist. Daß diese Erziehung
den nationalen Sinn nicht beeinträchtigt, zeigt
hier z. B. (gleicherweise wie in der Schweiz)
die erfolgreiche Entwicklung der schwedi¬
schen Volkswehr (skarpskyttcrörelsen); und
ein schwedischer Reichstagsabgeordneter
nannte die Volkshochschulbildung eine
„geistige Volksbewaffnung, mit deren Kräf¬
ten vor allem ein kleines Volk die unver¬
meidlichen Mängel der äußeren Verteidi¬
gung ausgleichen muß“.
Der Gedanke der Volkshochschule hat
einen kulturell-ästhetischen und kulturell¬
politischen Wert: er fördert die Entwicke¬
lung freier, durch keine Parteischablonen
in ihrem geistigen Wachstum verkümmer¬
ter Menschen; und andererseits, je allge¬
meiner das politische Wahlrecht wird,
desto dringender wird eine parteipolitisch-
neutrale, lediglich aufklärende staatsbür¬
gerliche Volkserziehung, die das wirksam¬
ste Korrektiv der bekannten Mißstände des
politischen Parteiwesens darstellt. Im gan¬
zen kann man die Volkshochschule als die
Trägerin eines modernen Humanismus be¬
zeichnen.
Schlicht, aber um so eindringlicher hat
Else Hildebrandt die Richtigkeit dieser Ge¬
danken im schwedischen Volksleben dar¬
gelegt und mit anerkennenswerter Wärme
804
tritt sie') für ihre Verwirklichung auf deut¬
schem Boden ein, wo dazu auch, wie ein¬
gangs gezeigt wurde, die geistige Saat
nicht fehlt.
Dr. E. Hurwicz, Berlin.
Unser täglich Brot.
Den alten Kriegern der Spartaner stand
je eine Portion Fleisch, ihrem Könige aber
zwei zu. Eine solche kulturhistorisch merk¬
würdige Einzelheit der Überlieferung wird
uns erst recht verständlich in Zeiten, in
denen wir am eigenen Leibe die Knappheit
von Fleisch und sonstigen Nahrungsmitteln
erfahren. Das heutige Griechenland, dieses
an sich so arme Land, wird mit dem Ver¬
stände und mit dem Gefühle die Bedeutung
jenes alten Königsrechtes voll ermessen
können. Aber die ganze Welt wird ja dafür
empfänglich.
Der Krieg öffnet uns über manches die
Augen, was wir früher als gegeben, als
selbstverständlich, als Erbstück undGewohn-
heitsding hinnahmen, was wir ohne leben¬
diges Bewußtsein taten oder sagten. Wie
viele Millionen haben nicht täglich ge¬
dankenlos die vierte Bitte des Vaterunsers
ausgesprochen oder in Gedanken nachge-
sprachen! Es ging uns zu gut, als daß
wir über ihre Bedeutung nachdachten. Wir
hatten ja alle ohne Ausnahme, was wir
zum Leben brauchten, und viele mehr als
das. Wozu darum noch Gott bitten? Eine
heilige Scheu hielt uns wohl ab, dieser
Frage näherzutreten oder auch nur an dem
Wortlaute zu rütteln (er muß eigentlich
sein: „unser künftiges Brot gib uns heute“),
weil man das Altehrwürdige besser unan¬
getastet läßt; weil es ja doch keinen Zweck
hatte, sich eine Situation auszumalen, in
der die Bitte praktische Geltung bekäme;
weil in ihr etwas Kindliches, dem wirklichen
Leben mit seinen realen Forderungen durch¬
aus Abgewandtes zu liegen schien, das
Rührung, aber keine Kritik hervorrief. Noch
weit mehr aber wiederholten mit stumpfen
Sinnen in brünstigem Glauben die Worte,
bei denen sie sich wenig oder nichts dachten.
Sogar Martin Luther ist dieser Bitte nicht
recht geworden. Er suchte zu viel da¬
hinter: nicht nur alles, was zu des Leibes
1) Am Schlüsse ihres Buches wie neuer¬
dings auch in einer Broschüre „Arbeiter¬
bildungsfragen im neuen Deutschland“ (Jena,
Diederichs, 1916).
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INDIANA UNIVERSITY
806
395 Nachrichten und Mitteilungen
Nahrung und Notdurft gehört, sondern
schlechthin alles, was ein gesegnetes und
reiches Leben auf Erden ausmacht, außer
der Stellung des Menschen zu Gott und der
Ewigkeit. Drei Bitten des Gebetes des
Herrn beziehen sich auf Gott (seinen Namen,
sein Reich, seinen Willen) und drei auf die
Sündhaftigkeit des Betenden (Schuld, etwa-
ige Versuchung und Erlösung); dazwischen
eingeschoben die eine irdische, dürftige
Bitte um Brot. Aber was hat Luther aus
diesem einen Worte alles herausgelesen,
wie reich hat er diesen Ärmlichen Begriff
entfaltet! Es ist, als ob er durch seine Er¬
klärung Kritik an der Spärlichkeit der einen,
an der Zusammenstellung der sieben Bitten
hätte üben wollen, als ob er die Einseitig¬
keit des allzu transzendentalen Gebetes
hätte verbessern und ausgleichen wollen,
wenngleich halb unbewußt. Und so haben
wir Protestanten die vierte Bitte von klein
auf auffassen gelernt, das Brot als pars oder
partiuncula pro toto, als etwas Unwesent¬
liches und Selbstverständliches, aber Ge¬
nanntes, neben all dem vielen Ungenannten
und Wesentlicheren. Denn wer könnte
zweifeln, daß gute Freunde und getreue
Nachbarn, daß Weib und Kind, Vorgesetzte
und Dienstboten, Haus und Hof und Beruf
und Pflichten, jedes einzelne für sich und
erst recht sie alle zusammen genommen
wichtiger sind als Essen, Trinken und Klei¬
dung? So sollten wir die umgedeutete Bitte
verstehen.
Daß Gott unser täglich Brot uns allen
auch ohne unser Gebet gäbe, war ihm nicht
zweifelhaft. Wir brauchen es ja wie Luft
und Wasser und können ohne Nahrung gar
nicht leben. — Wozu aber dann danken
für etwas Alltägliches, was uns zusteht und
selbstverständlich zugeht? Wozu noch um
das bitten, was wir so wie so empfangen?
Die wörtlich verstandene Bitte schien fast
überflüssig.
Luther hat sie nicht richtig verstanden.
Hätte er ein Jahrhundert später gelebt oder
Kriegsschrecken wie die des Dreißigjährigen
Krieges erlebt, so würde er dem Wortsinne
des täglichen Brotes oder des erwarteten
Bedarfes näher geblieben sein, der Nahrung
und Notdurft des Leibes, ohne die auch all
das nicht bestehen kann, was das Leben
erst lebenswert macht, wenigstens für uns
moderne Kulturmenschen, die den Frieden
und seinen Luxus gewohnt sind.
Das Vaterunser stammt aus einfacheren
Verhältnissen des Orients her und war für
die bedürfnislosen Jünger Jesu (nach dem
Vorbilde eines älteren Gebetes des Täufers
Johannes) zusammengestellt, für Jünger, die
ganz mit ihrem Gotte und den Geboten
ihres Meisters beschäftigt, sich nicht einmal
um Unterkunft und Kleidung mehr sorgten
als die Vögel und die Lilien auf dem
Felde. Da hatte das Brot oder die Polenta
seine volle Bedeutung, ohne Zukost, ohne
Fett und Fleisch, vielleicht sogar ohne Ge¬
müse und Obst. Sie baten Gott um das.
was sie durchaus brauchten. Denn Not lehrt
beten. Aber von sieben Bitten war es nur
eine, die sich um irdische Bedürfnisse drehte.
Sie war spartanisch gedacht.
Not lehrt beten. Wir bitten jetzt wieder
um Brot, Brot im Wortsinne. Der Nord¬
länder nährt sich freilich nicht von Getreide
allein, wie es vielfach der Südländer noch
heute tut. Aber die Bitte um Brot bedeutet
lediglich: wir möchten satt werden und die
Unsrigen satt wissen, ohne Verzögerung
und ohne Unterbrechung, für heute und bis
zur nächsten Ernte, für das Kriegsende und
die folgende Übergangszeit.
Jetzt verstehen wir wieder die ursprüng¬
liche, elementare Bedeutung dieser vierten
Bitte, ahnen die Bedingungen ihrer ersten
Aufstellung und würdigen ihre unerwartete
Geltungsdauer.
Hunger ist schlimm für den einzelnen,
aber als Vernichter von Millionen, und
wären es nur Frauen und Kinder von Bar¬
baren und Verbrechern und nicht unsere
Liebsten und Anverwandten, als erbarmen-
loser Vernichter von Millionen über Millio¬
nen ist der Hunger ein furchtbarer, undenk¬
barer Feind. Indem wir um unser tägliches
oder künftiges Brot beten, werden wir heu-
tigestages, woran weder Jesus oder Jo¬
hannes noch der kühne Erklärer Luther ge¬
dacht hat, in Gedanken hinzufUgen: Wir
erbitten das Waffenglück unserer Heere,
einen vernichtenden U-Bootkampf, Nieder-
zwingung Englands, Zersetzung des russi¬
schen Riesenreiches und einen unsere Nah¬
rung und Notdurft sichernden Frieden.
A. Gercke.
?flr die Schrlftleltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellns, Berlin W30, LuitpoldstraSe 4.
Druck von B.O.Teubner in Leipzig.
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INDIANA UNIVERSITY
INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
11. JAHRGANG HEFT 8 1. MAI 1917
Die Auslandsstudien im preufsischen Landtag.
Auch in der 70. Sitzung des Abgeordnetenhauses am 1. Mürz haben noch mehrere
Mitglieder, anknOplend an die Denkschrift des Ministeriums, zu dem Thema der Aus¬
landsstudien das Wort genommen. Wieder ist, wie im Aprilheft, aus den bezQglichen Teilen
ihrer Reden das Wesentliche und die Antwort des Ministers auf die Äußerungen des
Hauses zu dieser Frage nach dem stenographischen Berichte hier wiedergegeben. M. C.
. * -
Haenisch (Soz.-Dem.): ... Die Frage
der internationalen Beziehungen zwi¬
schen den Wissenschaftlern der heute
kriegführenden Lander leitet mich un¬
gezwungen über zu der von dem Herrn
Kultusminister uns vorgelegten Denk¬
schrift über die Förderung der Aus¬
landsstudien, und da muß ich aner¬
kennen, daß ich in der leider nur sehr
seltenen, aber desto angenehmeren Lage
bin, mich einmal über eine Denkschrift
und über einen Schritt des Herrn Kultus¬
ministers aufrichtig und vorbehaltlos —
oder besser: wenigstens nahezu vor¬
behaltlos; denn einige Vorbehalte will
ich nachher doch machen — freuen zu
können. Die Förderung der Auslandsstu¬
dien, die der Herr Kultusminister ange¬
regthat, und die Gedanken in der höchst-
interessanten Denkschrift, die ich auch
außerhalb dieses Hauses möglichst wei¬
ten Kreisen zu aufmerksamsten Studien
empfehlen möchte, die Gedanken, die
der Herr Kultusminister dort angeregt
hat, begrüßen wir Sozialdemokraten be¬
sonders deshalb, weil wir von jeher der
Meinung gewesen sind, daß jede Förde¬
rung der Kenntnis des Auslandes, jede
Förderung der Kenntnis ausländischen
Wesens, ausländischer Sprachen, aus¬
ländischer Wirtschaft und Politik in ih¬
ren Folgewirkungen ganz von selbst
auch dahin wirkt, daß die Völker sich
Digitized by Gougle
gegenseitig besser verstehen lernen, daß
sie sich einander mehr annähem. Gerade
deshalb, aus diesem prinzipiellen
Grunde, bin ich im höchsten Maße über
diese Pläne des Kultusministeriums er¬
freut
Was die Ausführung betrifft, so
bin auch ich der Meinung, daß sich eine
Zentralisation, hier in Berlin etwa, kei¬
neswegs empfiehlt, sondern daß es
durchaus zweckmäßig ist, die geplanten
Auslandsstudien auf die einzelnen Uni¬
versitäten je nach ihrer geographischen
Lage zu dezentralisieren, in der Weise,
wie wir es schon besprochen haben, daß
in Bonn etwa Studien über den franzö¬
sischen und niederländischen Kultur-
kreis in Betracht kommen, in Breslau
und Königsberg Studien über den russi¬
schen und überhaupt den slawischen
Kulturkreis, in Kiel Studien über die
Kulturkreise der überseeischen Völker...
Wie notwendig gerade auch für un¬
sere Beamten, unsere Beamten im diplo¬
matischen Dienst, unsere Beamten im
konsularischen Dienst, eine bessere
Kenntnis des Auslandes ist, als sie bis¬
her im allgemeinen haben, meine Herren,
dafür haben uns die Erfahrungen
vor diesem Kriege und die Erfah¬
rungen in diesem Kriege selbst
manchen sehr deutlichen Beweis gege¬
ben. Meine Herren, wenn auch das Aus-
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INDIANA LNIVERSITY
899
Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
900
land am besten natürlich an Ort und
Stelle kennen gelernt wird, so glaube
ich doch, daß es manchem unserer kon¬
sularischen Beamten, auch manchem un¬
serer Diplomaten gar nichts geschadet
hätte, wenn er vor seinem Hinausgehen
auch schon im Inlande einen recht
gründlichen Kursus durchgemacht hätte
über ausländische Kultur, über auslän¬
dische Psychologie, über ausländische
Wirtschaftsverhältnisse usw, so daß er
nicht so völlig ahnungslos auf seinen
Posten gegangen wäre, wie wir das
manchmal erlebt haben...
Meine Herren, als dann dieses Ver¬
sagen unserer Vertretung im Auslande,
der konsularischen wie diplomatischen,
am Beginn des Krieges offenbar wurde,
wurde plötzlich die Parole ausgegeben,
daß nunmehr weiteste Kreise des Vol¬
kes mobilisiert werden müßten zur Be¬
einflussung des Auslandes... Meine Her¬
ren, da wurden Leute plötzlich auf den
politischen Boden geschickt, die sich auf
ihm noch niemals bewegt hatten, die da
plötzlich in ein völlig fremdes Gebiet
hineinkamen. Meine Herren, das ging
natürlich nicht, das mußte Schiffbruch
leiden, ebenso wie es Schiffbruch leiden
würde, wenn man Soldaten, die nie ein
Gewehr in der Hand gehabt haben, plötz¬
lich in den Schützengraben hinausläßt
Meine Herren, dieses Fiasko der welt¬
politischen Mobilmachung in den ersten
Kriegsmonaten hat —wenn ich den Sinn
der Denkschrift recht verstanden habe
— den Herrn Kultusminister nicht zum
wenigsten veranlaßt, der Frage der Aus¬
landsstudien, die ja schon vor dem
Kriege hier erörtert worden ist, nun auch
wirklich ernsthaft nahezutreten und sie
endlich in Fluß zu bringen...
Meine Herren, ich darf aus der Denk¬
schrift zwei oder drei Sätze mit Erlaub¬
nis des Herrn Präsidenten zitieren, auf
die ja auch schon gestern hingewiesen
Digitized by Google
worden ist, die mir aber doch auch in ei¬
ner anderen, bisher noch nicht erörterten
Beziehung so bedeutungsvoll erschei¬
nen, daß auch ich sie hier nochmals an¬
führen möchte. Meine Herren, das sind
jene — ich möchte beinahe sagen —
klassischen Sätze derDenkschrift, die
folgendermaßen lauten: „Der Krieg hat
auch die, die es noch nicht wußten, dar¬
über aufgeklärt, wie erschreckend un¬
sere Unkenntnis des ausländischen Den¬
kens gewesen ist, wie bitter not uns ein
staatswissenschaftliches Verstehen der
Gegenwart tut. Am wichtigsten und
dringendsten erscheint die Hebung un¬
serer außerpolitischen Bildung.“ Die He¬
bung außerpolitischen Verständnisses
wird weiter in der Denkschrift als eine
der dringendsten Aufgaben der Unter-
richtsverwaltung bezeichnet. Und dann
steht folgender klassische Satz in der
Denkschrift: „Das politische Den¬
ken muß geschult, der junge
Deutsche muß politisiert wer¬
den.“ Meine Herren, das sind sehr
schöne Sätze, die wir Sozialdemokraten
seit langem vertreten haben; aber es sind
Sätze, die nichts anderes bedeuten als
eine Bankerotterklärung des al¬
ten Obrigkeitsstaates.—Herr Mi¬
nister, Sie schütteln mit dem Kopf; aber
es ist doch so, wie ich sage. Was, Herr
Minister, war denn der politische Grund¬
gedanke des alten Obrigkeitsstaates?
Das war der Gedanke, daß für das poli¬
tische Wohl und Wehe des Volkes nur
die hohe Obrigkeit zu sorgen habe; es
war der Gedanke, daß die „Untertanen“,
wie man früher so gerne sagte, im all¬
gemeinen nur dazu da seien, Steuern zu
zahlen, Soldat zu werden und im übri¬
gen das Maul zu halten. Von diesem Ge¬
danken, daß man das Volk vom politi¬
schen Leben, von politischer Betätigung
nach Möglichkeit femhalten müsse, ist
unsere gesamte Gesetzgebung, unsere
Original from
INDIANA UNIVERSITY
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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
902
gesamte Verwaltung, besonders in Preu¬
ßen, jahrzehntelang beherrscht gewesen...
Der Redner gibt nfiher an, in Ausfüh¬
rungen, die das eigentliche Thema ver¬
lassen, was für ihn diese Behauptung be¬
gründet:
Dinge, die dadurch nicht mit der heu¬
tigen Losung des Herrn Kultusministers
im Einklang stehen: „Das politische
Denken muß geschult, der junge Deut¬
sche muß politisiert werden.“ Diesen
Satz des Ministers möchte ich doppelt
und dreifach unterstreichen, und
ich freue mich, daß ein preußischer Kul¬
tusminister es gewesen ist, der diesen
Satz ausgesprochen hat..
Meine Herren, als ich vorhin die
Denkschrift des Herrn Ministers mit
Freude bergrüßte, wurde mir aus den
Reihen der Fortschrittler zugerufen, daß
das nur mit Vorbehalt zu geschehen
habe. Meine Herren, gestatten Sie mir,
daß ich die Vorbehalte, die ich mir sowie¬
so vorgenommen hatte, jetzt selbst mache.
Ich habe zunächst zu bemerken, daß es
für uns selbstverständlich ist, daß diese
neue Einrichtung der Auslandshoch¬
schule in keiner Weise, sei es di¬
rekt, sei es indirekt, von irgend¬
welchen wirtschaftlichen Inter¬
essentengruppen abhängig ge¬
macht werden darf, daß wirtschaft¬
liche Interessentengruppen in keiner Be¬
ziehung irgendwelchen Einfluß auf diese
Studienzweige ausflben dürfen. Meine
Herren, ferner fordere ich besonders
dringend... daß weiten Volksschichten
ermöglicht werde, auch an diesen neuen
Zweigen unseres Unterrichts teilzuneh-
men. Endlich, meine Herren, fordern wir
daß neben der außerpolitischen Bildung
neben der weltpolitischen auch die in¬
nerpolitische Bildung, die staatsbürger¬
liche Erziehung nicht vernachlässigt
werde. In beiden Beziehungen, sowohl
was die außerpolitische Bildung, wie
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was die innerpolitische, staatsbürger¬
liche Bildung betrifft, müssen die
Grundlagen schon in den Oberklassen
der höheren Schulen gelegt werden, da¬
mit die jungen Leute nicht völlig unvor¬
bereitet in diese Auslandsschulen auf
den Universitäten eintreten, in den hö¬
heren Klassen der höheren Schulen, von
denen wir wünschen, daß auch sie weiteren
Volkskreisen zugänglich gemacht werden.
Meine Herren, das sind die wichtig¬
sten Vorbehalte und Wünsche, die ich
bei dieser Gelegenheit auszusprechen
habe. Aber diese Vorbehalte können
mich nicht hindern, alles in allem diese
Denkschrift als erfreulich zu bezeichnen,
weil sie wesentlich dazu mithilft, den
alten Untertanenbegriff in Preußen und
Deutschland, den wir staatsrechtlich
schon seit 1848 nicht mehr haben, der
aber in der politischen Praxis leider im¬
mer noch herumspukt, endgültig auszu-
merzen und aus dem „Untertanen“ end¬
lich, auch in Preußen und Deutschland,
auch tatsächlich sich einen modernen
freien Staatsbürger entwickeln zu lassen...
Kanzow (fortschr. V.-P.) . . . Dabei
komme ich auf die Denkschrift über
die Auslandsstudien, weil wir ge¬
rade von der Wirkung im Auslande
sprechen. Auch meine Partei ist dem
Herrn Kultusminister dankbar für die
ausgezeichnete Denkschrift und dankbar
für die Ausführungen, die er uns gestern
gemacht hat. Meine Herren, ich möchte
aber zweierlei betonen: Man soll immer
unterscheiden zwischen dem Theoreti¬
schen, was notwendig ist, und dem un¬
mittelbar praktisch Wirkenden, was zu¬
nächst noch notwendiger ist, und darum
halte ich für ganz dringend geboten —
und die Reichsleitung legt hoffentlich
darauf den entscheidenden Wert —, daß
möglichst bald in intensivster Weise un¬
ser Nachrichtensystem, das vollständig
versagt hat, in anderer Weise ausgebaut
29*
Original from
INDIANA UNiVERSITY
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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
wird, damit die Wirkung auf die neutra¬
len Staaten erreicht werden kann. Im
übrigen hat der jetzige Herr Reichskanz¬
ler vor drei Jahren einmal gesagt: das
deutsche Volk sei schon genug politi¬
siert. Daß das falsch ist, davon wird er
sich inzwischen wohl selbst überzeugt
haben. Ich halte es mit dem Fürsten Bü-
low, der gesagt hat, das deutsche Volk
müsse noch mehr politisiert werden, wie
das in dankenswerter Weise in der
Denkschrift auch hervorgehoben betont
worden ist. Fürst Bülow hat dabei auch
richtig hervorgehoben, was der Fehler
von uns Deutschen, von so vielen Deut¬
schen ist: sie treten zu sehr mit speku¬
lativer und konstruierender Philosophie
an das politische Leben heran, während
man im politischen Leben als Naturfor¬
scher an das herantreten soll, was da
ist. Und so wünschen wir, daß der Deut¬
sche, der nach dem Ausland geht, mit
unbescholtenen Augen kennen lernt,
was vorhanden ist, und daß wir von dem
Auslande auch das lernen, was ler¬
nenswert ist. Im übrigen kann ich Herrn
Kollegen Irmer nur beistimmen, der ge¬
sagt hat: Jeder Deutsche, der ins Aus¬
land geht, soll immer daran denken, daß
er ein Deutscher ist...
D. v. Trott zu Solz, Minister der
geistlichen und Unterrichtsangelegen¬
heiten: Wenn ich gestern bei meinen
einleitenden Worten der Freude darüber
Ausdruck geben konnte, daß die von mir
eingereichte Denkschrift über die
Auslandsstudien bei ihrem Erschei¬
nen vielfach Zustimmung gefunden
habe, so kann ich das im Hinblick auf
die zu Ende gegangene Debatte nur wie¬
derholen. Die Denkschrift hat auf al¬
len Seiten dieses Hohen Hauses zustim-
mende Aufnahme gefunden; sie ist nach
allen Seiten hin erörtert und mit Scharf¬
sinn, Sachkunde und warmherziger Zu¬
stimmung beleuchtet worden. Ich kann
904
darüber nur meine Genugtuung aüsspre-
chen und sagen, daß in dieser Stellung
des Hohen Hauses eine wertvolle Un¬
terstützung für die Ausführung meiner
Pläne liegt.
Dabei sind auch eine Reihe von wert¬
vollen Anregungen gegeben worden, die
gewiß bei der weiteren Behandlung der
Dinge werden beachtet werden. Freilich
muß ich diesen Anregungen gegenüber
doch darauf hinweisen, daß die Denk¬
schrift selbst nicht erschöpfend sein
wollte, und daß manche von den An¬
regungen, die hier gegeben werden, auch
von uns schon erwogen worden sind, und
daß sie zu gegebener Zeit in die Tat um¬
gesetzt werden sollen.
Auch einige Anregungen, die von der
Tribüne dieses Hauses gemacht wurden,
sind schon in der Denkschrift ange¬
deutet, so z. B. der Wunsch, der hier ge¬
äußert wurde, daß auch aus der Praxis
Persönlichkeiten als Lehrer auf diesem
Gebiete herangezogen werden möchten.
Das ist, wie gesagt, auch schon in der
Denkschrift berührt worden. Wenn da¬
bei Herr v. Campe auf die Verhältnisse
in Frankreich hinwies, wo frühere Mi¬
nister nicht selten auf die Lehrkanzel
stiegen, so wird man dabei doch berück¬
sichtigen müssen, daß es in Frankreich
sehr viel mehr zurückgetretene Minister
gibt als bei uns. Ich weiß nicht, meine
Herren, ob Sie darin einen Vorzug er¬
blicken; aber man wird doch immerhin
diese Frage nicht lediglich von dem Ge¬
sichtspunkt aus ansehen dürfen, mög¬
lichst viel Lehrkräfte für Auslandsstu¬
dien zu gewinnen. Ich hatte bei meinen
früheren Ausführungen von dem Vor¬
wurfe gesprochen, der meinen Plänen
gegenüber in der Richtung erhoben wor¬
den sei, daß ein zu langsames Tempo an¬
geschlagen werde. Herr v. Campe muß
mich in dieser Beziehung mißverstanden
haben. Dieser Vorwurf war nicht pro
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Gck igle
Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
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Die Auslandsstudien im preußischen Landtag
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praeterito, sondern pro futuro gemeint,
daß es in der Natur des Vorschlages
läge; daß seine Ausführung nur unter
langsamen Fortschritten möglich wäre.
Ich habe das ja in meinen Ausführungen
des näheren auseinandergesetzt, indem
ich zwischen Bildungspolitik und Pro¬
pagandapolitik schied. Die letztere kann
rasch ins Werk gesetzt werden, Bil¬
dungspolitik kann nur allmählich, in
langsamer Ausreifung Erfolg haben. So
waren meine Ausführungen zu verstehen.
Es ist dann der Wunsch ausgesprochen
worden, daß ich auf diesem Gebiete auch
mit den übrigen Bundesstaaten, die Uni¬
versitäten und Hochschulen besitzen, in
Fühlung treten möchte. Das ist bereits
geschehen. Ich bin mit meinen Herren
Kollegen in diesen Bundesstaaten in
Verbindung getreten, und ich würde
mich sehr freuen, wenn auch auf diesem
Gebiete ein gemeinschaftliches Wirken
zum Segen der Sache stattfinden würde.
Einer der Herren hat der Auffassung
Ausdruck gegeben, daß sich die Univer¬
sitäten gewiß gern in den Dienst der ih¬
nen hier zugewiesenen Aufgabe stellen
würden. Ich teile durchaus diese An¬
sicht; auch ich bin der Überzeugung,
daß sich unsere Universitäten dieser
wichtigen Aufgabe bereitwillig widmen
werden, von deren Lösung schließlich
die weltpolitische Zukunft unseres Vol¬
kes abhängen wird. Ich nehme an, daß
wir dort keine Absage, sondern volles
Verständnis und reiche Erfüllung unse¬
res Verlangens finden werden. Dann
wird das erreicht, was ich erstrebe, daß
diese wichtige Aufgabe voll zur Erfül¬
lung gelangt. Sie werden aus meinen
Ausführungen entnommen haben, wel¬
che große Bedeutung ich ihr beilege, und
wie sehr ich es für erforderlich halte,
sie zu fördern...
Auch Herr Abgeordneter Haenisch hat
sich zu der Denkschrift zustimmend
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geäußert. Ich heue mich, daraus entneh¬
men zu können, daß auf diesem Boden
sich edle politischen Parteien einigen.
Aber er hat doch nicht der Versuchung
widerstehen können, auch aus dieser
Blume Honig für seine politischen
Zwecke und Ideale zu saugen. Daß ich
seiner Auffassung da nicht zustimmen
kann, wird er sich selbst gesagt haben.
Ich will ihm aber in den Fragen über
vormärzliche und nachmärzliche Politik,
die er mir mit seinen Ausführungen et¬
was durcheinander zu mengen schien,
nicht folgen, um den Frieden auf diesem
Gebiete nicht zu stören; es gehört das
ja auch nicht unmittelbar zu den Kul-
turaufgaben, die wir hier vertreten, es
liegt doch wohl etwas daneben...
Nach dem Schluß der Besprechung nahm
erst zur Geschäftsordnung, dann zu einer
persönlichen Bemerkung der Abgeordnete
Dr. v. Campe das Wort:
Ich habe ausgeführt, daß ich wünsche,
daß auf die Lehrstühle für AuslEinds-
kunde auch Praktiker berufen würden,
nicht nur lediglich abgegangene Mini¬
ster. Es ist mir erwidert worden, wir
hatten nicht so viel abgegangene Mini¬
ster. Ich habe eine ganze Reihe von Na¬
men genannt, die doch jedenfalls zur
Verfügung standen. Demgegenüber ist
mir nichts entgegengehalten worden.
Auf diese Bemerkung erwiderte der
Minister:
Was den zweiten Punkt anlangt, den
der Herr Abgeordnete Dr. v. Campe be¬
rührt hat, so habe ich darauf hingewiesen,
daß Männer aus der Praxis auch zur Lehr¬
tätigkeit auf dem Gebiete der Auslands¬
studien herangezogen werden sollen und
daß diese Absicht auch schon in der
Denkschrift angedeutet worden ist Nur
nebenher bin ich auch auf die Speziali¬
tät eingegangen, die der Abgeordnete v.
Campe hervorgehoben hatte, daß in
Frankreich frühere Minister derartige
Lehrstühle übernehmen.
Original frum
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Fr. Mein ecke, Reich und Nation seit 1871
908
Reich und Nation seit 1871.
Von Friedrich Meinecke.
Zwiefacher Art sind die Kräfte, die
den nationalen Staat, gleichgültig, wel¬
che Regierungsform er trage, lebendig
und stark erhalten, die einen von
festerer und härterer Art, die anderen
flüssiger und beweglicher. Fest und
hart sind und müssen die Institu¬
tionen des Staates sein, die Macht und
Autorität seiner leitenden Organe, die
Zuverlässigkeit seiner Verwaltung, die
Zucht und Straffheit vor allem seines
bewaffneten Armes, und durch edle In¬
stitutionen durchgehend die Kontinui¬
tät geschichtlich verwurzelter und be¬
währter Traditionen und Grundsätze.
Aber auch nicht eine dieser Einrich¬
tungen und Oberlieferungen könnte
durch sich selbst allein oder durch den
bloßen Zusammenhang mit den übrigen
sich auf die Dauer aufrechterhalten,
wenn nicht das flutende Leben hin¬
durchginge, das von der Volksgemein¬
schaft und ihren gesellschaftlichen
Schichten, im letzten Grunde aber von
der Seele der Individuen ausgeht. Aus
ihm stammen die geistigen und sittli¬
chen Energien und Ziele, die die Macht
des Staates tragen und ihn selbst
zur Idee, zu einer der größten gei¬
stigen Mächte des Kulturlebens er¬
heben.
Durch die Macht des preußischen
Zweites Kapitel der historisch-politischen
Einführung in das öffentliche Leben der
Gegenwart, die ich auf Anregung des Ober-
regierungsrats Dr. Negenborn und im Zu¬
sammenhänge mit den von ihm seit Jahren
gepflegten Bestrebungen staatsbürgerlicher
Erziehung übernommen habe, und deren
Eingangskapitel im vorigen Jahrgang dieser
Zeitschrift, Heft 8 und 9, erschien.
Der Verfasser.
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Staates verwirklichte Bismarck die
Idee der deutschen Nation. Macht and
Idee zugleich nun war das neue Deut¬
sche Reich. Viel reichere Ideenströme,
als bisher dem preußischen Staate,
konnten fortan dem Deutschen Reiche
zufließen aus der so sehr viel weiteren
Volksgemeinschaft. Wir dürfen uns
heute mit Genugtuung sagen, daß es ge¬
schehen ist. Allein schon durch die Lei¬
stung Deutschlands im Weltkriege ist
es dargetan. Ein unerhörtes Maß
nicht nur von physischer Kraft, sondern
auch von geistigen und sittlichen Ener¬
gien ist entfaltet worden, um das uner¬
hörte Übermaß rein physischer Kräfte,
über das die Gegner gebieten konnten,
auszugleichen. Doch wäre es falsch
und würde sofort zur Oberhebung ver¬
führen, eine solche Kraftprobe allein
zum Wertmaßstabe einer geschichtli¬
chen Entwicklung zu nehmen. Alle
Ideen, die mit und in uns jetzt gestritten
haben, waren zugleich Ideale von et¬
was noch Höherem und Vollkomme¬
nerem, Gestirne, die uns leiteten, aber
uns oft verdeckt waren durch Wolken
und Nebel. Alles Wollen bleibt hinter
dem eigentlich Gewollten zurück. Wenn
wir uns heute Rechenschaft ablegen von
den geistigen Kräften, die aus den Tie¬
fen der Nation heraus unserem Staats¬
leben seit 1871 zugeflossen sind, so wird
Strenge und Nüchternheit das erste Er¬
fordernis sein, damit der Abstand der
Wirklichkeit vom Ideale zum ehrlichen
Ausdrucke komme.
Das Ideal, das den geistigen Vor¬
kämpfern der Einigung vorschwebte,
sprach Heinrich von Treitschke 1863 am
Vorabend der Einigungskämpfe einmal
Original from
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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
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aus, als er das englische Volk mit dem
deutschen verglich. „Ein unendlich
großes Volk,“ sagte er vom englischen,
„je naher man es kennen lernt; und doch
möchte ich unser deutsches Unglück
nicht gegen die englische Glorie ver¬
tauschen. Ich sehe immer klarer: wenn
es je einen wahrhaft freien Staat, einen
Staat innerlich freier Menschen geben
wird, kein anderer kann es sein als der
deutsche.“ Die rechte Freiheit war ihm
nicht die Freiheit vom Staate, jene Ell¬
bogenfreiheit und Ungestörtheit durch
die Polizei, die uns heute unsere Gegner
als den Vorzug ihrer Freiheit rühmen,
sondern die Freiheit im Staate, die un¬
trennbare Verbindung innerlich gei¬
stiger Freiheit und Selbstbildung mit
den Freiheitsrechten, Pflichten und Op¬
fern des einzelnen gegenüber dem
Staate. Wir erkennen den organischen
Staatsgedanken aus der Zeit der Erneu¬
erung wieder. Bismarcks Werk und
Treitschkes Denken waren von ihm er¬
füllt Und doch, so deuteten wir an, hat
Bismarcks Werk durch die Art wie es
von ihm fast allein geschaffen wurde, die
Selbsttätigkeit der Nation etwas zurück¬
drängen müssen. Wohl gab er ihr die
Möglichkeit, sie künftig auszuüben, in
reichem Maße, aber die Umwandelung
vom alten Herrschaftsstaate in den Ge¬
meinschaftsstaat in der Reformzeit be¬
gonnen und jetzt wieder aufgenommen,
sollte nur langsam und vielfach gehin¬
dert weitergehen. Bismarck übte auch im
neuen Reiche eine Art von Diktatur aus,
die wohl getragen wurde vom Vertrauen
des Monarchen und der Mehrheit der
Nation und ihre Lebensinteressen nach
außen und innen großartig vertrat,
aber naturgemäß auch manche wert¬
volle Kräfte zurückhielt oder gar ab-
stieß. Es blieb also immer noch viel vom
alten Dualismus zwischen Regierung
und Regierten übrig, und selbst die An-
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hänger des Gewaltigen konnten sich
wund reiben an ihm. Auch er wiederum
rieb sich wund an den Parteien, diezwar
nicht mitregieren durften, aber vieles zu
verhindern vermochten, was er, der Re¬
gierende, ausführen wollte. Es war ein
steter, aufreibender Kampf um die
Macht zwischen ihm und seiner Schöp¬
fung, dem Reichstage, dernichtsein blo¬
ßes Geschöpf bleiben wollte. Dieses
eifersüchtige Mißtrauen von hüben und
drüben hat, wie uns die Betrachtung der
einzelnen Fragen noch deutlicher zeigen
wird, manchen schweren Schaden ge¬
stiftet. Der Reichstag hat dem Reiche
die Grundlage zur finanziellen Selbstän¬
digkeit vorenthalten, die Bismarck ihm
geben wollte. Die Kämpfe um den
Heeresetat erzeugten Oppositionsstim¬
mungen, die das Verhältnis der Parteien
untereinander und zum Staate verhäng¬
nisvoll störten. Aber gerade in diesen
Kämpfen um das Heer konnten Bis¬
marck und seine Nachfolger ihren
Willen immer wieder durchsetzen, wenn
sie vom Reichstage an die Wähler ap¬
pellierten, weil hinter ihrem Willen das
Lebensgesetz und die Existenzbe¬
dingung des Reiches standen. Dieses
Lebensgesetz bestand darin, daß alle in¬
neren politischen Freiheitsrechte sich bei
uns nun einmal unterordnen müssen der
ehernen Notwendigkeit, unsere äußere
Freiheit, Selbständigkeit und Macht
zu behaupten. Unsere kontinentale
Lage inmitten großer, mächtiger
und günstiger situierter Nachbarn
läßt uns nur die Wahl, entweder
sehr schwach oder sehr stark zu
sein. Dieser Zwang ist es im letzten
Grunde, der den Obergang vom Herr¬
schaftsstaate zum Gemeinschaftsstaate
bei uns so sehr erschwert und verzögert
Der Herrschaftsstaat darf erst dann die
Bastionen der Macht in die Hände des
Gemeinschaftsstaates ausliefem, wenn
Original from
INDIANA UNIVERSiTY
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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
912
dieser seine volle Befähigung und Kraft,
de zu behaupten, erwiesen hat. Wohl
ist die Einsicht in diese Notwendigkei¬
ten bei der Nation von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt gewachsen, aber ehe sie nicht
zur vollen Reife gedeiht, ehe nicht die
großen Machtinteressen mit unbeding¬
ter Sicherheit der Entscheidung des
Reichstages überlassen werden können,
wird der alte Dualismus zwischen Re¬
gierung und Regierten immer etwas
nachwirken. Freilich darf man die Frage
stellen, ob nicht auch ein übertriebenes
Mißtrauen der Regierenden und ihr na¬
türlicher Wunsch, sich in der Macht zu
behaupten, die Schranken für die Mit¬
wirkung der Volksvertretung oft zu
enge gezogen und das Zusammenwach¬
sen von Staat und Nation dadurch er¬
schwert hat Bismarcks unsterbliche Lei¬
stung für die Nation verträgt es, daß
man auch ihre Schattenseiten und un¬
günstigen Nebenwirkungen prüft. Auf¬
gabe der Nachkommen ist es, sie all¬
mählich zu überwinden durch das Beste,
was er ihnen hinterlassen hat in seiner
neuen Staatskunst, in dem Sinne für die
Staatsnotwendigkeiten, den die Er¬
fordernisse unserer Weltlage uns tiefer
und tiefer einprägen werden.
Und vielleicht fehlte es gerade etwas
an dem erzieherischen Drucke dieser
Weltlage, als das neue Reich seine Lauf¬
bahn begann. Deutschland stand jetzt so
mächtig in Europa da, daß es auf ge¬
raume Zeit die Gefahren eines Kampfes
um Sein und Nichtsein nicht zu fürchten
hatte. Die mannigfaltigen Richtungen
und Bedürfnisse im Inneren konnten
sich mit einer gewissen Sorglosigkeit ein¬
mal ausleben, und das Selbstgefühl und
der Stolz über die neu errungene Größe
schwellte die Brust Man möchte die
siebziger Jahre eine Zeit des Luxu-
rierens auf allen Gebieten nennen. Aller¬
gröbstes Luxurieren materieller Art trat
in den Exzessen der Gründerzeit zu¬
tage, — wiewohl man ihr nicht gerecht
wird, wenn man in ihr nicht zugleich
die vielleicht unvermeidlichen Flegel¬
jahre junger, jetzt ins Weite strebender
wirtschaftlicher Kräfte sieht Aber es
luxurierten jetzt auch die geistigen und
politischen Parteien, sowohl diejenigen,
die in der Gründung des Reiches ihre
höchsten Wünsche erfüllt sahen und nnn
genußfreudig auch alle übrigen Wün¬
sche rasch befriedigen wollten, wie die¬
jenigen, die zwar den Charakter dieses
Reiches nicht liebten, aber in seiner
großen, weit geöffneten Arena einen zur
Eroberung lockenden Tummelplatz er¬
blickten. Nun stürmten und prallten die
Parteien mit einer Heftigkeit aufeinan¬
der, die noch mehr dem Kraftgefühle
und Untemehmungsdrange als einer in¬
neren Notwendigkeit entsprang, und
weil es ihnen an Augenmaß und Erfah¬
rung fehlte, konnte man sich dabei hü¬
ben und drüben die Stirn bald blutig
stoßen an ehernen Schranken. Das war
das Schicksal des Liberalismus, als er
den von Bismarck aufgenommenen
Kampf um die kirchenpolitischen Rechte
des Staates zum allgemeinen Kultur¬
kampf des modernen Geistes gegen
das ganze ultramontane System er¬
weiterte und mit großem Getöse
führte. Zwei Offensiven stießen hier
gegeneinander, denn auch die Ul¬
tramontanen gelüstete es, eine Kraft¬
probe zu wagen gegen das Reich, das
der protestantische preußische Staat Im
Bunde mit dem unkirchlichen Libe¬
ralismus geschaffen hatte. Keiner aber
rannte den anderen um, jeder
täuschte sich in der Festigkeit der feind¬
lichen Stellungen. Auch Bismarch
schätzte sie falsch ein und überschätzte
die Wirkung der staatlichen Zwangs¬
mittel, mit denen er kämpfte. Wohl
gingen dann Reich und Einzelstaaten
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Go», igle
Original from
INDIANA UNtVERSITY
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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
914
ungeschwächt aus dem Kampfe hervor,
aber auch das katholische Deutschland
schuf sich eine machtvolle Organisation,
wie es sie zur Zeit der staatlichen Zer¬
splitterung der Nation nie gehabt hatte,
und nutzte damit den neuen Lebensstrom
aus, der durch sie ging.
Mit wild schäumenden Wogen brach
auch die sozialdemokratische Bewegung
Ober die Industriereviere des neuen
Deutschlands ein, maßlos in ihrer Agi¬
tation wie in ihren Forderungen und
Hoffnungen. Staat und bürgerliche Ge¬
sellschaft, überrascht Und empört, sahen
sie an wie eine unterirdische Gewalt,
die nicht in die nationale Gemeinschaft
hineingehörte, und hielten sich für be¬
rechtigt und verpflichtet, sie in Acht und
Bann zu tun. Der bürgerliche Liberalis¬
mus, stolz auf seine Leistung, der freien
Bewegung der individuellen Kräfte im
geeinten Reiche eben erst Tor und Tür
erschlossen zu haben, sah sein reinli¬
ches Konzept verdorben und wollte noch
nicht zugeben, daß in dem Kampfe des
Sozialismus gegen die entfesselten
Mächte des Kapitals das tiefe und
berechtigte Bedürfnis nach neuen sozial¬
politischen Bindungen und Schranken
sich mit ausspräche. Bismarck versuchte
es seit 1878 mit Zwangs- und Gewalt¬
mitteln gegen die neue Massenpartei,
aber das Sozialistengesetz hat so wenig
wie die Kulturkampfgesetzgebung den
Gegner zerbrechen können, ihn vielmehr
erst recht zusammengeschweißt und ge¬
härtet Ebensowenig freilich hat die So¬
zialdemokratie die Grundlagen des
neuen Reiches je ernstlich erschüttern
können.
Es wurde also die schwere und nie-
derdrückende Erfahrung gemacht, daß
der neue Reichsgedanke, diese heiß er¬
sehnte und schwer erkämpfte Errungen¬
schaft des deutschen Volkes, an breiten
Schichten dieses Volkes versagte. Zen-
Digitized by Gougle
trum und Sozialdemokratie leugneten
nicht den Wert der nationalen Einheit
überhaupt, — Reichsfeinde in diesem
Sinne sind sie nie gewesen, und sie zö¬
gerten auch nicht, sie für ihre eigenen
Zwecke auszubeuten. Aber sie lehnten
sich auf gegen die Art wie sie ge¬
schaffen war, und gegen die besonderen
Kräfte, die sie geschaffen hatten. In der
tiefen Abneigung gegen den preußi¬
schen Staat und den bürgerlichen Libe¬
ralismus begegneten sich die beiden
neuen Massenparteien. Ihre eigenen
Weltanschauungen klafften dabei so
weit auseinander, wie die Abgrundtiefen
verschiedener Zeiten es nur tun, und die
eine erschien der anderen wie die
Macht der Finsternis. Wiederum aber
trafen beide darin zusammen, daß sie ge¬
gen die Idee des neuen Nationalstaates,
die das begeisternde Panier ihrer kon¬
fessionellen und bürgerlichen Gegner
war, die Macht großer über- und inter¬
nationaler Ideen und Interessen aus¬
spielten. Die Nation, so lehrten siebeide
ihren Anhängern, ist noch nicht die
höchste und wertvollste Form mensch¬
lichen Gemeinschaftslebens. Sie kann
nicht, sagten die einen, mit der göttlichen
Aufgabe der Kirche wetteifern, jeder
Menschenseele das Heil zu bringen und
alle Völker in ihrem Namen zu vereini¬
gen. Sie bietet, sagten die anderen, dem
darbenden Proletarier Steine statt Brot;
das internationale Unheil des Kapitalis¬
mus kann nur durch internationale Ver¬
brüderung der unter ihm Leidenden
überwunden werden.
Die Kampfesmittel, die die Träger des
neuen Reichsgedankens gegen Zen¬
trum und Sozialdemokratie anwandten,
waren, wie wir bemerkten, unwirk¬
sam. Verrieten sie durch diese Wahl
falscher Waffen vielleicht eine eigne
innere Schwäche? Waren Kraft, Größe
und Inhalt der nationalen Idee
29**
Original frorn
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Pr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
916
und der mit ihr verbündeten preu¬
ßischen und liberalen Ideen nach
erreichtem Ziele vielleicht doch jetzt,
trotz alles Luxurierens, im inneren
Niedergange? Es ist das Schicksal jeder
energischen Konzentrierung von Ideen
auf ein Ziel, daß sie an Tiefe und Fülle
verlieren, was sie an realer Wirksam¬
keit gewinnen. Das ist das Opfer,
das der Handelnde dem Geiste abnö¬
tigen muß. „Ich brachte reines Feuer vom
Altar. — Was ich entzündet, ist nicht
reine Flamme.“ Auch der nationale Ge¬
danke war in Deutschland in der Zeit,
als idealische und romantische Winde
wehten, feiner und geistiger gewesen
und hatte damals den Glauben an über¬
nationale menschheitliche Werte, das
kosmopolitische Element, das jetzt, frei¬
lich in sehr viel gröberen Mischungen,
die *beiden neuen Massenparteien er¬
füllte, mit umfaßt. Aber wir sahen, daß
die Ideologien weichen mußten, um
Raum zu schaffen für den Waffenschritt
Bismarcks, für die neue Staatskunst der
nationalen Realpolitik. Und im allge¬
meinen Obergange zum Realismus war
auch die liberale Bewegung stark durch¬
drungen worden von den besonderen
wirtschaftlichen Interessen der Kauf¬
leute und industriellen Unternehmer.
Alle diese Körperlichkeiten, die der na¬
tionale Gedanke in der Bismarckschen
Reichsgründung annahm, wurden von
den Gegnern, obwohl auch diese dem
Zeitgeiste ihren Tribut leisteten und
ihren Balken im eigenen Auge trugen,
weidlich ausgebeutet. Die deutsche Ein¬
heit, die ihr uns bietet, ist eine kapi¬
talistische und militaristische Unter¬
nehmung, sagten die Sozialdemokraten.
Sie ist das Werk des ungläubigen Vul¬
gärliberalismus und des herrschsüch¬
tigen Ketzerstaates, sagten die Kleri¬
kalen.
Ohne Zweifel also büßte der neue
Reichsgedanke durch den spezifisch
preußischen und spezifisch bürgerlichen
Beigeschmack, den er hatte, an werben¬
der Kraft unter den Massen der Nation
ein. Auch war etwas an dem Vorwürfe,
daß der Liberalismus vulgär geworden
sei. Er hatte wohl immer eine Spielart
von platter, rationalistischer Aufklärung
mit sich herumgetragen, aber sie zeigte
jetzt in der satten Gründerzeit und im
Geschrei des Kulturkampfs ihre ganze
Blöße. Der junge Friedrich Nietzsche
goß Spott und Hohn über das seichte
Evangelium der Bourgeoisie. In der Lite¬
ratur und Kunst des Tages, die auf die
liberale Weltanschauung sich stützte,
blieb der erhoffte Aufschwung und Gei¬
stesfrühling aus. Die Ebbe im philoso¬
phischen Denken hielt an. Der Durch¬
schnittsgeschmack der Gebildeten verlor
die Maßstäbe für die Tiefen der Kunst
und des Lebens. Aber war die geistige
Kraft und der schöpferische Idealismus
der Nation, wie es im Rückblicke auf
diese Zeit zuweilen behauptet worden
ist, wirklich im Erlahmen?
Man dürfte es doch im Ernste dicht
sagen. Die Zusammenhänge von Kultur
und Staat, von politischen und geistigen
Leistungen einer Nation sind zu verbor¬
gen und verwickelt, um in jedem Augen¬
blicke einheitlich und eindeutig hervor¬
zutreten. Ein zeitweiliger Schlummer be¬
deutete noch keinen Tod. Der idealisti¬
sche Geist war auch nur übertönt vom
Tageslärme, aber spann in der Stille sich
weiter. Es fehlte auch nicht an einsamen,
originellen Köpfen, an energischer und
universaler Forschungsarbeit. Und eben
jetzt begann Heinrich v. Treitschke die
Bindeglieder und den vielgestaltigen
Reichtum unserer geistigen und politi¬
schen Entwicklung mit hinreißender Lei¬
denschaft und Pracht darzulegen. Audi
er berührte sich wohl etwas mit dem
luxurierenden Zuge der Zeit durch seine
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Gck igle
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Fr. Meinecke, Reidi und Nation seit 1871
918
oft zu grellen Farben und Urteile, aber
seine hohen und stolzen Gedanken und
Empfindungen von der Schönheit und
WOrde des Nationalstaates und von der
Mission des deutschen Geistes weck«
ten in dem heranwadisenden Ge-
schlechte den Drang und die Zuversicht,
das von den Vätern geschaffene Reich
mit eigenem, neuem Leben auszufüllen.
Und ehe noch das erste Jahrzehnt des
neuen Reiches um war, wuchs ein sol¬
ches neues Leben schon hervor aus drän¬
genden Bedürfnissen des Staates, der
Wirtschaft ja doch wohl auch des natio¬
nalen Geistes, der den neuen realen Auf¬
gaben einen tieferen Sinn zu geben ver¬
suchte. Zunächst aber fing alles ganz
konkret und nüchtern an. Das Reich be¬
durfte für seine rasch wachsenden Aus¬
gaben stärkerer Finanzmittel, als man
anfangs geglaubt hatte. Landwirtschaft
und Industrie aber sahen sich mit einem
Male schwer bedroht von der Konkur¬
renz des Auslandes, die der Industrie
durch die Aufhebung der letzten Eisen¬
zölle, der Landwirtschaft durch die ge¬
steigerten überseeischen Produktionen
und Verkehrsmittel bereitet wurde. Die
sich entfaltende Weltwirtschaft klopfte
damit zum ersten Male an die Tore des
neuen Reiches und zwang es sich in Po¬
situr zu setzen. Für den deutschen Libe¬
ralismus wurde es nun verhängnisvoll,
daß er sich in seiner Wirtschaftspolitik
zu sehr auf den Individualismus festge¬
legt und zu eng mit den freihändleri¬
schen Interessen verknüpft hatte. Und
weil er, wie wir sahen, auch durch
seine parlamentarischen Ansprüche dem
Reichskanzler immer unbequemer wurde,
so hatte dieser nun Gelegenheit zu einem
dreifachen großen Schlage. Er ließ den
Kulturkampf, für den er bisher die Hilfe
des Liberalismus gebraucht hatte, ab-
flauen, forderte Schutzzölle für Indu¬
strie und Landwirtschaft, die zu¬
gleich die neue Finanzquelle für das
Reich mit bilden sollten, spaltete die vor
diese Fragen gestellte nationallibe¬
rale Partei und setzte mit Hilfe ihres
rechten Flügels, der Konservativen und
des Zentrums die neue Finanz- und
Wirtschaftsreform 1879 durch. Der Kurs
ging fortan nun nach rechts — einer
der tiefsten Einschnitte in der inneren
Geschichte des neuen Reiches, reich an
Wirkungen auf allen Gebieten des
öffentlichen Lebens. Mit dem Unterneh¬
men der Liberalen, die Reichsverfassung
im Sinne des parlamentarischen Systems
auszubauen, war es vorbei. Nur wenn
sie eine starke und ausschlaggebende
Regierungspartei geblieben wären, hätte
es vielleicht gelingen können. Aber der
jetzt zersplitterte und zum größten Teile
in die Opposition gedrängte Liberalis¬
mus war nicht mehr imstande dazu.
Auch eine aus allen Oppositionspar¬
teien gebildete Mehrheit, wie sie in den
achtziger Jahren meist möglich war,
konnte nicht an gegen die Bollwerke
der Bismarckschen Regierung, die sich
nun nicht nur auf den Bundesrat, son¬
dern auch auf die jetzt wieder konser¬
vativ werdende Mehrheit des preußi¬
schen Landtags stützte. Auch war ja
das Zentrum unter der Führung des
klugen Welfen Windthorst jetzt nicht
mehr schlechthin Oppositionspartei, son¬
dern wirtschaftspolitisch hilfsbereit für
Bismarck und wuchs so allmählich
durch Geben und Nehmen, Fordern und
Feilschen in den Reichsorganismus, wenn
auch noch nicht mit vollem Herzen hin¬
ein, so doch aus Einsicht und Berech¬
nung an ihn hinan. Aber immer ließ es
dabei den Kanzler seine Macht fühlen,
zum schweren Schaden für die Finanzen
des Reiches, die dabei nie ganz gesun¬
den konnten, weil sie abhängig bleiben
sollten von der Gunst des Zentrums. So
erwies sich jetzt die Zersplitterung und
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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
920
Schwächung des Liberalismus, durch die
das Zentrum in die Höhe gekommen
war, als ein zweischneidiger Erfolg der
Bismarckschen Politik. Sie kam aus der
Scylla in die Charybdis, sie mußte müh¬
sam und keuchend jedes Stück ihres
Weges erobern, weil das Zentrum
jeden Augenblick jn der Lage war, in
das Oppositionslager zum Linkslibera¬
lismus und zur Sozialdemokratie abzu-
rücken. Diese wieder sogen sich in ihrem
Kampfe gegen Zölle, Sozialistengesetz
und konservative Einflüsse voll mit
Bitterkeit und Grimm gegen das Bis-
marcksche Regime. Die Geister der Par¬
teien verengten sich in dieser Lage zu
Geistern der Fraktionen und Fraktions¬
führer und wurden schier noch härter
und unbiegsamer als bisher. Auch die
alte Unbiegsamkeit der Konservativen
wurde dem Kanzler nur so lange nicht
fühlbar, als ihm die Hilfe des Libera¬
lismus nichts bedeutete. Wie im moder¬
nen Stellungskampfe waren Fraktionen
und Kanzler gegeneinander festgefah¬
ren, ohne einer den andern bezwingen
zu können. „Die Fraktionen“, sagte Bis¬
marck 1882 ganz prägnant, „bilden für
mich einen Ring, den ich nicht durch¬
brechen kann und auch nicht zu durch¬
brechen brauche.“
Nicht nur das Parteiwesen, sondern
auch der Reichsgedanke standen da¬
durch in Gefahr, sich wieder zu
verengen. Schon begannen die um
Bismarck gescharten Parteien ihren
Gegnern den Vorwurf zu machen,
daß sie nicht national seien, und
in den Begriff dessen, was „natio¬
nal“ sei, schlichen sich wieder, wie in
den siebziger Jahren, Merkmale von
parteimäßiger und vorübergehender Na¬
tur ein. Wie sich damals der hitzige Kul¬
turkämpfer besonders national erschien,
so jetzt der, der den Bismarckschen
Kampf für den Schutz der nationalen
Arbeit zu einem Kampfe gegen das sie
auswuchemde Judentum zuspitzen
wollte.
Und dennoch, in und trotz all dieser
Vergröberungen und Verengerungen
hat sich der nationale und der Reichs¬
gedanke seit 1879 vertieft und ist in eine
neue Epoche eingetreten. Der Schutz der
nationalen Arbeit, den Bismarck in sein
Programm aufnahm, bedeutete mehr als
nur den Schutz einzelner gefährdeter Ge¬
werbe. Das Entscheidende war, daß der
Staat damit Gebiete zu organisieren an¬
fing, die er in der liberalen Ära dem
Spiele der wirtschaftlichen Kräfte über¬
lassen hatte. Auch früher hatte er natür¬
lich seine Zolltarife immer den Bedürf¬
nissen der heimischen Arbeit angepaßt,
aber in dem vergrößerten Wirtschafts¬
gebiete des Reiches und in dem Zwange
und Drange der weltwirtschaftlichen
Umwälzung griffen diese Fragen jetzt
viel tiefer Ln das nationale Leben ein.
Es trat jetzt wirtschaftlich für das Reich
eine ganz ähnliche Notwendigkeit ein,
wie sie politisch für das alte Preußen,
den von allen Seiten gepreßten Kern¬
staat des Reiches, immer bestanden hatte.
Der Druck von außen hatte es ge¬
zwungen, stärker zu rüsten, sich schär¬
fer zu konzentrieren, als es die Nach¬
barn durchschnittlich nötig hatten. Nun
erfuhr Deutschland mit seiner auf engem
Raume wachsenden Bevölkerung auch
wirtschaftlich die Ungunst seiner Lage
und den Druck der größeren, auf brei¬
terer Basis beruhenden Wirtschafts¬
mächte. Es blieb nichts anderes übrig,
als aus der Not eine Tugend zu machen,
sich in sich energischer zusammenzu¬
fassen, aus dem heimischen Boden und
dem eigenen Volke so viel herauszuholen
wie nur möglich, sich so viel wirtschaft¬
liche Autarkie zu erobern, als es die
Bedürfnisse seiner Einfuhr und Ausfuhr
nur erlaubten. Mochte dieses Ziel nicht
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Fr. Meinecke. Reich und Nation seit 1871
022
gleich im ganzen Umfange vor Augen
stehen, so führte doch jeder Schritt auf
der neuen Bahn zu ihm naher. Hatte man
einmal begonnen, neue Dämme aufzu¬
richten gegen die ungefesselte Flut
der modernen wirtschaftlichen Bewe-
wegung, so konnte man bei Zolltari¬
fen nicht stehen bleiben. Die Existenz
der Sozialdemokratie mahnte daran, daß
die Errungenschaften der Großindustrie
mit schweren physischen und morali¬
schen Schädigungen der Volkskraft er¬
kauft waren, und beanspruchte noch
eine andere, tiefere, organischere Be¬
handlung als die der äußeren Nieder-
drückung durch das Sozialistengesetz.
Wie nun aus mannigfachen Wurzeln her
die Gedanken der Kaiserlichen Bot¬
schaft vom November 1881 keimten und
ins Leben traten, wird uns die genauere
Betrachtung der staatlichen Sozialpoli¬
tik später zeigen. Die Kaiserliche Botr
scbaft wurde in noch höherem Grade
zum Markstein der inneren Entwicklung
des neuen Deutschlands als die Wirt¬
schaftsreform von 1879, weil sie die gei¬
stige Grundlage des Neuen, was man
begonnen hatte, aufdeckte und es in die
Sphäre der großen historischen Idee er¬
hob. Der organische deutsche Staatsge¬
danke trat damit auf eine höhere Stufe.
Er setzte sich zum Ziele, entschlossen
den Kampf aufzunehmen mit allen Pro¬
blemen und Schwierigkeiten der moder¬
nen Kulturentwicklung und überall da,
wo sie zum Chaos zu entarten droht,
sie zum Kosmos zu gestalten. Neue Bin¬
dungen der Gesellschaft und der ein¬
zelnen durch den Staat und ein weiteres
Wachstum staatlicher Macht waren da¬
bei unvermeidlich. Dieser antiindividu¬
alistische und sozialistische Zug konnte
denen bedenklich erscheinen, die in der
inneren Freiheit und Selbständigkeit der
Individuen die Grundkraft echter Kul¬
tur und auch echter Staatsgesinnung
sahen und zu allen übrigen Beeinträch¬
tigungen der Persönlichkeit durch die
modernen Massengewalten nun auch
einen verstärkten Druck der Staatsge¬
walt auf sie fürchten mußten. Es gab
in Zukunft nur eine Sicherung dagegen.
Der Staat mußte seinen geschichtlichen
Weg vom Herrschaftsstaate zum
Gemeinschaftsstaate weitergehen, der
Dualismus zwischen Regierenden und
Regierten noch mehr zusammenschmel-
zen, der Staat noch tiefer damit
hiineinwachsen in das Innenleben des
einzelnen. Daß der Wille des Staates
schließlich zum freien Willen des
einzelnen wurde, war dann das letzte,
restlos nie zu erreichende und doch
zur Erreichung anspornende Ziel. Und
nicht nur der politische Idealismus
durfte es fordern. Wie schon Bis¬
marcks Macht- und Nationalpolitik
aus wohlverstandenem Realismus das
demokratische Zugeständnis des allge¬
meinen gleichen Wahlrechts gemacht
hatte, so machte auch seine neue Sozial¬
politik über kurz oder lang gewisse de¬
mokratische Komplemente erforderlich,
damit sie dem Arbeiter nicht nur als
staatlich dekretierte und abgemessene
Wohltat, sondern als selbst mitgewollte
und erarbeitete Leistung erschien. Keine
neue Bindungen des Volkes durch den
Staat ohne neue Verschmelzungen zwi¬
schen Volk und Staat
Bismarch und die wenigsten derer, die
ihm folgten, haben damals die künftigen
demokratischen Konsequenzen der mon¬
archischen Sozialpolitik schon im
vollen Umfange ermessen. Sehen wir sie
doch erst jetzt nach den Erfahrungen
des Weltkrieges vernehmbarer sich an¬
melden. Aber die große organisatorische
Idee allein schon, die er vertrat war da¬
mals imstande, das nationale Denken
unermeßlich zu befruchten. Man lernte
tiefer nachzusinnen über die Zusammen-
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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
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häftge der wirtschaftlichen, sittlichen
und politischen Welt, Qber das Verhält»
nis dessen, was sein soll und dessen, was
Ist, Ober die Abwehrmittel der natio¬
nalen Gemeinschaft gegen die Wirkun¬
gen des blinden wirtschaftlichen Mecha¬
nismus. Die Lehren der ethischen Na¬
tionalökonomie gingen jetzt auf im jun¬
gen Geschiechte, und wie es in einer zu¬
kunftsreichen Jugend sein muB, gingen
die Richtungen in ihr stark durch- und
auseinander. Die einen ließen sich durch
Bismarck noch tiefer hineinziehen in die
konservative Welt, die jetzt wieder zu
Ehren kam, begeisterten sich fflr die
preußisch - monarchischen Institutionen,
fflr die Idee des sozialen Königtums,
auch wohl fflr die Verbindung monar¬
chischer, sozialer, positiv kirchlicher und
selbst antisemitischer Interessen, die
der Hofprediger Stöcker in seiner
christlich-sozialen Bewegung mit agi¬
tatorischer Kraft, freilich nur mit
begrenztem Erfolge herzustellen ver¬
suchte. Andere aber beruhigten sich
nicht mit der staatlich-monarchischen
Lösung des sozialen Problems, kehrten
gegen sie einen neuen, jetzt aber ganz
sozial interessierten Individualismus
und Subjektivismus heraus, der an den
radikalen Fragestellungen Ibsens und
dem unerbittlichen Naturalismus franzö¬
sischer, nordischer und russischer
Dichter sich nährte. Das freie Ich ver¬
schmähte die überlieferten Konven¬
tionen von Staat und Gesellschaft, das
soziale Mitleid führte es wieder zur
Volksgemeinschaft zurück und rang un¬
klar, aber sehnsüchtig nach neuen, hö¬
heren Formen für sie durch Verwirkli¬
chung irgendwelcher sozialistischer
Träume. Sie waren nicht zu verwirkli¬
chen, aber ein anderes begann sich da¬
für aus dieser Jugend gegen Ausgang
der achtziger Jahre und nach ihnen zu
verwirklichen: die Hoffnung auf einedie
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Tiefen des Lebens neu anschauende
Dichtung und Kunst.
So war das zweite Jahrzehnt des neuen
Deutschlands reicher an jungen Trieben
und an neu auftauchenden Horizonten
als das erste. Und es begann jetzt hin¬
auszudrängen in die Welt. Die durch die
Bedrängnis der Landwirtschaft seit Ende
der siebziger Jahre anschwellende Aus¬
wanderung entführte dem Volkstum un¬
ersetzliche Kräfte, die in überseeischen
Pflanzungen ihm vielleicht erhalten wer¬
den konnten. Es war ein alter Traum na¬
tionaler Idealisten, daß Deutschland
noch einmal neben den älteren See - und
Kolonialmächten seinen Anteil an der
überseeischen Welt finden müsse. Aber
erst mußte sich wirkliche Unterneh¬
mungslust deutscher Kaufleüte und Sied¬
ler regen, ehe Bismarck seine Hand da¬
zu bot. Auf diesem Gebiete wollte er von
einer staatlichen Initiative grundsätzlich
nichts wissen, weil sie in das Abenteuer
führen konnte. Nicht eigentlich um einer
pressenden wirtschaftlichen Notwendig¬
keit, sondern um einer nationalen Pflicht
des Reiches zu genügen, meinte er
den Pionieren deutscher kolonialer Un¬
ternehmungen seinen Schutz geben und
sie energisch vertreten zu müssen gegen
die Eifersucht Englands. Audi das Aben¬
teuer einiger junger kühner Leute, das
uns unser Siedlungsgebiet in Ostafrika
verschafft hat, billigte und stützte er
schließlich, alses gut auslief. Wieder wa¬
ren es erste Atemzüge eines jungen
nachbismarckschen Deutschlands, die in
der von ihm geschaffenen Welt sich reg¬
ten und nun sie schon etwas zu eng fan¬
den. Es war ein großer und charak¬
teristischer Zug an Bismarck, daß
er, ohne diese wachsenden Triebe
der Zukunft zu unterdrücken, doch fest¬
hielt an denjenigen Schranken deutscher
Machtpolitik, die den gegebenen Zustän¬
den seinerzeit entsprachen. Er wußte.
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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
926
daß das durch ihn mächtig gewordene
Deutschland auch mit mächtigen Gegner¬
schaften auf dem Kontinente zu rechnen
haben werde, und er hatte den Gefahren
einer großen antideutschen Koalition
während seiner eigenen Reichsgrün-
dungspolitik zu tief in das Auge ge¬
schaut, um sie durch eigenen weiter
ausgreifenden Ehrgeiz jetzt noch zu
steigern.
Dennoch, trotz aller „Saturiertheit“,
kamen solche Gefahren schon zu seiner
Zeit Ober Deutschland, als seit 1879 rassi¬
scher Panslawismus und französisches
Revanchebedürfnis zur Flamme zusam¬
menzuschlagen drohten. Er hielt sie aus¬
einander durch die Meisterschaft seiner
Diplomatie — aber mit den sturmfreien
Zeiten, die Deutschland in den siebzi¬
ger Jahren genossen hatte, war es nun
bis auf den heutigen Augenblick vorbei.
Die Möglichkeit eines großen kontinen¬
talen Existenzkampfes war seitdem,bald
leiser, bald lauter, ein Unterton in unse¬
rem politischen Hoffen und Sorgen und
hat deshalb auch, bald stärker, bald
schwächer, unsere nationalen Ideale und
unsere innerpolitischen Ziele mitbe¬
stimmt. Nicht zu ihrem Schaden I Denn
in der Luft der Gefahr wachsen die Ener¬
gien und werden die Augen heller und
weiter.
Schon Bismarck wußte, daß die Na¬
tion im Ernste einer weltpolitischen
Stunde nicht den Bannern der Parteien,
sondern dem Banner des Staates fol¬
gen will. Das war der Sinn der Sep-
tennatswahlen von 1887 — mag man
auch heute, wie wir noch sehen werden,
über den Gegenstand des Septennats-
streites etwas anders denken als Bis¬
marck und die für ihn damals votieren¬
den Reichstagswähler. Er erreichte durch
sie noch einmal eine Mehrheit nach sei¬
nem Sinne, gebildet aus dem Kartell der
Konservativen, Freikonservativen und
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Nationalliberalen und baute die Wehr¬
kraft des Reiches wirksam aus. Man
fühlte sich in der Stimmung jener Tage
zurückversetzt in die ersten Jahre des
neuen Reiches und freute sich, daß auch
die preußischen Konservativen, die da¬
mals nur mit manchen Vorbehalten und
Ausnahmen den Wegen Bismarcks ge¬
folgt waren, jetzt als zuverlässige Diener
des Bismarckschen Reichsgedankens er¬
schienen. Aber an den beiden Massen-
Parteien des Zentrums und der Sozial¬
demokratie fand er noch immer, bei
der einen ganz geschlossene Türen,
bei der anderen nur halb geöffnete
Nebenpforten. Mit direkter Propaganda
für die nationale Idee kam man ihnen
gar nicht bei Im Gegenteil, sie lachten
darüber und erklärten sie so, wie sie ver¬
treten wurde, für konventionelle Ideo¬
logie und Hurrapatriotismus. Darum
muß man die Bedeutung der im engeren
Sinne so genannten nationalen Bewe¬
gungen, wie sie seit den achtziger
Jahren in immer neuen Anläufen, den
Vereinen deutscher Studenten, der Ko-
lonialbegeisterung, der Bismarckbegei¬
sterung, den großen nationalen Schutz¬
vereinen usw. verliefen, vom höchsten
nationalgeschichtlichen Standpunkte aus
etwas einschränken. Sie bewegten sich
immer und immer nur wieder in densel¬
ben sozialen und geistigen Schichten, die
schon vor 1870 Träger der Einheitsbe¬
wegung gewesen waren, nur daß jetzt
auch die preußischen Konservativen mit
den Intellektuellen des bürgerlichen Mit¬
telstandes zusammenarbeiteten. Für
diese Schichten, wie sie jetzt zusammen¬
gefaßt waren in den Kartellparteien von
1887, war es, trotz mancher Veräußer¬
lichung, ein immer wieder lebendiges
Bedürfnis, das Feuer der Idee, die einst
unter ihnen erwacht war, zu hüten. Auch
fehlte es ihrer nationalen Arbeit, wie wir
sahen, keineswegs an neuen großen Zie-
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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
028
len, wohl aber an solchen neuen geisti¬
gen Fermenten, die die Widerstrebenden
hätten durchdringen und gewinnen kön¬
nen. Wohl war der neue soziale Idealis¬
mus ein solches Ferment, das schon zu
wirken begann. Aber es konnte schon
deswegen nicht durchgreifend wirken,
weil es die innere Politik Bismarcks
selbst noch nicht ganz durchdrungen hatte.
Das sollte man bald erleben. Bismarck
benutzte die willkommene Mehrheit der
Kartellparteien nicht so schöpferisch, wie
es für die innere und äußere Überwin¬
dung der Oppositionsparteien nötig ge¬
wesen wäre. Auch er war, wie diese,
durch den langen verbitterten Kampf
härter und starrer geworden und ver¬
schloß sich dadurch manche Wege, die
zu einer Ausgleichung und Milderung
der inneren Spannungen führen konnten.
Die soziale Versicherungsgesetzgebung
brachte er wohl noch 1889 zum gro߬
artigen Abschluß, aber eine durchgrei¬
fende Arbeiterschutzgesetzgebung und
Erweiterung der Arbeiterrechte hielt er
nicht für ratsam. Das Sozialistengesetz
sollte bleiben und die trotz Sozialistenge¬
setz wachsende Sozialdemokratie sollte,
wenn sie über die Stränge schlüge, aus¬
schließlich mit physischer Gewalt nie¬
dergeworfen werden. Er spürte, daß die
nächsten Reichstagswahlen die Kartell¬
mehrheit sprengen, die alte leidige Op¬
positionsmehrheit wieder zurückführen
würden. Sein eigenes Werk, das Reichs¬
tagswahlrecht, erschien ihm nun als Un-
segen, weil es den unreifen und, wie er
meinte, revolutionär verseuchten Massen
zu viel Macht in die Hand gab. Nicht bie¬
gen und lösen, sondern brechen wollte
er die harte Kruste, die durch die feind¬
lichen Parteien zwischen Volk und Staat
gelegt worden war. Er hatte schon ein¬
mal mit seiner Riesenkraft das Leben der
Nation in neue, gesündere Bahnen geris¬
sen, aber diesmal täuschte er sich. Wie
menschlich und tragisch berührt der
Zorn und Ingrimm des alten Helden, der
das Schicksal der Nation auf dem Her¬
zen trug und nun für schwere Vergiftung
an ihr hielt, was nur eine sehr schwere
Wachstumskrisis des Organismus war.
Wohl aber wäre das Nationalleben ver¬
giftet worden, wenn es zum blutigen
Bürgerkriege gekommen wäre, denn der
moderne Nationalstaat ist sehr viel
empfindlicher gegen jede Zerreißung der
eng ineinander gewebten Volksgemein¬
schaft als das primitive Gefüge älterer
Staatsformen, in denen die physische
Gewalt des Machhabers leichter wieder-
hersteilen kann, was der Hader der Par¬
teien zerstört hat Keine Wohltaten
staatlicher Sozialpolitik hätten je das
Vertrauen der niedergeworfenen Arbei¬
terschaft zum Staate wiederherstellen
können. Deutschland, gewaltsam gebun¬
den im Inneren, hätte vermutlich auch
seine wirtschaftlichen Kräfte nicht mehr
frei walten lassen können, wäre im
Agrarstaate stecken geblieben und hätte
den Weg zum Weltvolke mit seinen Ge¬
fahren, aber auch mit seiner Größe viel¬
leicht nicht gefunden.
Man kann streiten darüber, in wel¬
chem Grade sich Bismarcks Gedanken
über die Niederwerfung der Sozialdemo¬
kratie schon zu festen Entwürfen ver¬
dichtet hatten, als die Krisis zwischen ihm
und dem jungen Kaiser im Frühjahr 1890
ausbrach. Daß sie zu dem tieferen Hin¬
tergründe des Konfliktes, der zur Ent¬
lassung Bismarcks führte, gehörten, ist
nicht zweifelhaft Die Nation wurde er¬
schüttert durch den Fall ihres größten
Staatsmanns; sie hatte ein Recht zu kla¬
gen, daß ein unersetzliches Gut ihr ge¬
nommen sei Aber ohne historische Un¬
dankbarkeit hat sich noch keine neue
Epoche aus dem tragenden Schoße der
alten losgerissen. Die neue Zeit hat kei¬
nen Bismarck wieder hervorgebracht.
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Fr. Meinecke, Reidi und Nation seit 1871
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aber sie war selbst durch Bismarcks
Weik hervorgebracht und durfte nicht
' anders handeln, wie er selber einst ge¬
handelt hatte: auf eigenes Wagnis den
Ideen zu folgen, die in ihr lebten und
frei sich selbst zu bestimmen.
Des Kaisers Entschluß, auf das Sozia¬
listengesetz zu verzichten und die Sozi¬
alpolitik auszubauen zur Arbeiterschutz¬
gesetzgebung und zu den Ansätzen einer
Arbeitervertretung, hat, wie wir jetzt er¬
kennen, einer neuen, aber Bismarck hin¬
ausfahrenden Entwicklung im Inneren
die Bahn geöffnet. Man muß nur die
Nah- und Femwirkungen dabei unter¬
scheiden. Die Nahwirkung bestand zwar
in einem erheblichen Fortschritte der Ge¬
setzgebung, aber zu einer Wand¬
lung der Sozialdemokratie, zu einer in¬
neren Überwindung ihrer revolutionä¬
ren und staatsfeindlichen Tendenzen
kam es noch lange nicht Und doch wur¬
den die ersten Voraussetzungen dafür
geschaffen, indem der Staat seinen Wil¬
len zeigte, die berechtigten Wünsche der
Arbeiterschaft zu erfOllen, und das Ziel
aufstellte, Arbeitgeber und Arbeiter in
ein friedliches und organisches Verhält¬
nis zueinander zu setzen.
Auch in Preußen gelangen jetzt Refor¬
men, die der alternde Bismarck verzögert
hatte, obschon sie in der Richtung sei¬
nes einstigen größten Wollens lagen.
Das galt von der Steuerreform Miquels
wie von der Landgemeindeordnung
Herrfurths. Im Reiche setzte der neue
Kanzler Caprivi, um das militärische
Gleichgewicht mit den Nachbarn im
Osten und Westen endlich durchgreifend
zu sichern, die größte der bisherigen
Heeresvermehrungen durch und erfüllte
dabei nun auch den alten liberalen
Wunsch nach zweijähriger Dienstzeit
Eine bedeutsame Verbindung von
Machtpolitik mit populären Zugeständ-
. nissen.. Hierdurch und durch seine neuen
Internationale Monatsschrift
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Handelsverträge, die die Getreidezölle
etwas herabsetzten, gelang es ihm,
Bresche zu schlagen in das kompakte
System der linksliberalen Opposition,
das Bismarck so viel Mühsal und Herze¬
leid bereitet hatte. Die deutschfreisin¬
nige Partei spaltete sich, und diese Spal¬
tung des Linksliberalismus, die ihm im
Augenblicke Eintrag tat, wurde ihm
dennoch wohltätig. Der unfruchtbare
Doktrinarismus Eugen Richters ver¬
lor an Geltung, und neue Gedanken
konnten allmählich in die aufgelocker-
ten Schollen eindringen.
Ehe dies geschehen konnte, wurde
freilich der Boden des ganzen Partei¬
lebens noch tiefer aufgewühlt und um¬
gebildet durch die Verschärfung der
wirtschaftlichen Kämpfe. Und diese wie¬
derum war die unvermeidliche Folge
und Begleiterscheinung des Größten und
Fruchtbarsten, was Deutschland in den
neunziger Jahren erlebte. Es begann die
Augen der erstaunten Welt auf sich zu
lenken durch das rasche Tempo seines
wirtschaftlichen Aufschwungs, der
ebensowohl von der Intelligenz und
Energie seiner Unternehmer wie von der
Tüchtigkeit seiner Arbeiterschaft zeugte
und diesen wie jener zugute, kam.
Schon damals konnten auswärtige
Beobachter urteilen, daß die Disziplin
und Zuverlässigkeit des deutschen Ar¬
beiters aus der Schulung der allgemei¬
nen Wehrpflicht stamme. Dieselbe Schu¬
lung aber kam auch der straffen Organi¬
sierung in Genossenschaften und sozial¬
demokratischer Partei zu statten — und
doch blickte der sozialdemokratische Ar¬
beiter nur mit Groll und Mißtrauen auf
die Unternehmer wie auf das Heer und
sah alle sozialpolitischen Leistungen des
Staates einschließlich der jüngsten nur
als eine dürftige Abschlagszahlung an.
Die Arbeitgeber aber klagten über den
Terrorismus der aufgehetzten Arbeiter,
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Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
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der bei Lohnkämpfen die Arbeitswilli¬
gen vergewaltigte und durch Kontrakt-
brache den Arbeitsvertrag untergrub.
Der Kaiser, schwer enttäuscht in seinen
ersten Hoffnungen, lieh den Klagen der
Arbeitgeber sein Ohr, sprach harte
Worte in ihrem Sinn und ließ 1899 einen
Gesetzentwurf ausarbeiten, der f flr terro¬
ristische Ausschreitungen das Zuchthaus
androhte für den Fall, daß Arbeiteraus-
stände oder Arbeitersperrungen die öf¬
fentliche Sicherheit gefährden würden.
Der Entwurf wurde vom Reichstage ab¬
gelehnt, aber hinterließ bitterste Stim¬
mungen in allen Parteilagem.
Die natürlichen Lebenszusammen-
hänge waren wieder schwer bedroht
durch diese Zuspitzung der sozialen Ge¬
gensätze. Arbeitgeber und Arbeiter wa¬
ren ja im Grunde eng auf einander ange¬
wiesen, standen im Dienste einer und der¬
selben gemeinsamen nationalen Auf¬
gabe, schufen gemeinsam die neue Ex¬
portindustrie Deutschlands und trugen
gemeinsam alles Auf und Ab ihrer
Schicksale, die in immer höherem Grade
zu Schicksalen der Gesamtheit wurden.
Die Auswanderung ließ seit Anfang der
neunziger Jahre nach, weil die wach¬
sende Bevölkerung in der heimischen
Industrie ihre Nahrung fand. Von
ihrem Gedeihen hing es fortan ab, ob
Deutschland reicher oder ärmer an
Volkskraft wurde. Der Streit der Arbeit¬
geber und Arbeiter untereinander um
Anteil am Gewinn der gemeinsamen Lei¬
stung, so .berechtigt und natürlich er für
jeden von ihnen war, gefährdete diesen
Gewinn selbst, wenn er mit Zwangs- und
Gewaltmitteln von hüben und drüben
geführt wurde. Die rücksichtslose Ent¬
schlossenheit, mit der jede der mitein¬
ander streitenden Interessengruppen
sich organisierte und wehrte, war wohl
auch eines der Zeichen der allgemeinen
aufsteigenden Lebenskraft des wirt¬
schaftlichen Deutschlands, aber einer
noch nicht vollkommen ausgereiften und
disziplinierten. Aber man versteht es,
daß in der raschen Aufwärtsbewegung
die Lage der einen und der anderen
Gruppe von Verschiebungen bedroht
wurde und daß man heiß und erregt dar¬
um kämpfen konnte, in der vordersten
Linie zu bleiben. Das glaubte jetzt auch
die deutsche Landwirtschaft tun zu mtts-
sen, als durch die Caprivischen Handels¬
verträge ein Stück ihres Zollschutzes
fiel und gleich darauf die Getreide¬
preise des Weltmarktes rasch sanken.
Der Bund der Landwirte wurde 1893 ge¬
gründet, um das älteste und ursprüng¬
lichste Gebiet der Nationalwirtschaft
kräftig zu behaupten inmitten der zu¬
nehmenden Industrialisierung. Er dürfte
sich darauf berufen, daß- nicht nur
der Großgrundbesitz, sondern auch die
Mehrheit des deutschen Bauernstandes
seiner Fahne folgte. Und die deutsche
Landwirtschaft insgesamt durfte sich
rühmen, nicht zurückgeblieben zu sein
in ihren eigenen Methoden und in eben¬
so modernem und rationellem Geiste zu
arbeiten wie die neuen Erwerbszweige,
aber sie war von fast fiebernder Sorge
erfüllt, von diesen überschattet zu wer¬
den. Hinter allen Kämpfen um Zollsätze
und um Gewinn und Verlust standen
hier, wie auch bei dem Gegensätze zwi¬
schen Unternehmern und Arbeitern, auch
immer soziale und politische Macht- und
Geltungsansprüche, kulturelle Wün¬
sche und geistige Lebensideale. Der
Agrarier rühmte die ungebrochene
Frische des Erdschollendaseins, den
Jungbrunnen natürlicher Volkskraft der
in ihm sprudelte und die sichere, altbe¬
währte Stütze, die der Staat in Gottes¬
furcht, Königstreue und konservativer
Gesinnung der Landbevölkerung besitze
und deren er doppelt bedürfe gegen¬
über den anwachsenden zucht- und
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Fr. Mein ecke, Reich und Nation seit 1871
934
autoritätslosen Massen der Industrie re-
viere und Großstädte. Deutschland geht
unter, so klang es aus ihren Worten her*
aus, wenn die Landwirtschaft untergeht
im Industriestaate. Der sozialdemokra¬
tische Arbeiter bäumte sich freilich auch
auf gegen den ganzen alten Autoritäts¬
staat, den die Agrarier behaupten woll¬
ten, und bestritt nicht nur ihre soziale
Herrenstellung, sondern auch den Wert
aller alten politischen und kirchlichen
Bindungen einschließlich der Monar¬
chie. Auch ihn erfüllte dabei ein eigen¬
tümliches Kulturideal, das trotz aller so¬
zialistischer Bindung, die es für die Ge¬
sellschaft der Zukunft forderte, doch
einen ganz individualistischen Kern
hatte, weil es jedem einzelnen Mitgliede
der Gesellschaft vollen Anteil an den
materiellen und geistigen Lebensgütem
erobern wollte. Aber solange die Sozial¬
demokratie dabei verharrte, daß ihr Ide¬
al nur auf den Trümmern der bestehen¬
den staatlichen und gesellschaftlichen
Gliederung verwirklicht werden könne,
drängte sie auch alle Vertreter derselben
zur Verteidigung nicht nur ihrer Inter¬
essen, sondern auch ihrer tief empfun¬
denen nationalen und monarchischen
Ideale eng zusammen. Die Unternehmer,
vor allem die der schweren Industrie,
näherten sich innerlich den Agrariern,
und die konservativen Agrarier wieder¬
um dem katholischen Zentrum. Der Li¬
beralismus, soweit er nicht auch unter
dem Einflüsse der Arbeitgeber nach
rechts hin Fühlung suchte, war in einer
höchst undankbaren und mühseligen
Zwischenstellung zwischen den sich
schroff gegenüberstehenden Lagern des
alten Autoritätsstaates und des revolu¬
tionären Zukunftsstaates.
Zusammengedrückt und zersplittert,
konnte er auch der Regierung keine
sichere Stütze bieten. Nach dem Sturze
Caprivis 1894 suchten seine Nachfolger,
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Fürst Chlodwig Hohenlohe (bis 1900)
anfangs auch Bülow — wie es übrigens
auch Caprivi schon mitunter getan hatte,
—, vorwiegend in den Konservativen
und dem Zentrum die Mehrheit, die sie
für die gesetzgeberischen Arbeiten
brauchten, suchten gleichzeitig aber
auch immer sich selbst im Sinne der alten
preußischen und Blsmarckschen Tradi-
dition eine eigene und unabhängige Stel¬
lungzuwahren. Ohne die Konservativen
gab es jedenfalls in Preußen überhaupt
keine Mehrheit und im Reiche keinen
festen Kern zu einer für die Regierung
brauchbaren Mehrheit Die Regierung
war selber von konservativen Gesinnun¬
gen mannigfach durchtränkt, hatte
aber dabei mancherlei verschiedene
Tendenzen in ihrem eigenen Schoße
auszugleichen. Sie verfügte über be¬
deutende staatsmännische Persönlich¬
keiten, wie Miquel, Bülow, Posa-
dowsky, aber über keine schlechthin
beherrschende und zusammenhaltende
Bismarcknatur. Der Kurs, den sie steu¬
erte, führte in einige wunderliche Zick¬
zacklinien und peinliche Erfahrungen
Der Plan der preußischen Regierung,
dem wachsenden Bedürfnisse des Güter¬
verkehrs einen neuen Weg zu bahnen
durch einen Mittellandkanal, stieß 1899
auf den entschlossenen und in der
Hauptsache erfolgreichen Widerstand
der preußischen Konservativen, die von
dem Kanalverkehr eine neue Über¬
schwemmung des heimischen Marktes
mit ausländischem Getreide fürchteten.
Die Regierung strafte zwar die konser¬
vativen Landräte, die im Abgeordneten¬
hause gegen sie zu stimmen gewagt hat¬
ten, aber brach darum doch nicht mit
den Konservativen überhaupt Ihr Leit¬
gedanke war ohne Frage zwischen den
Bedürfnissen der Landwirtschaft und In¬
dustrie, der Produzenten und Konsu¬
menten besonnen zu vermitteln und die
30*
Original from
6NDIANA UNiVERSITY
035
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
036
Gedanken der Parteien von den inneren
Interessenkämpfen hinzulenken auf die
aus der gesamten Wirtschaftsbewegung
jetzt neu aufsteigenden großen Natio¬
nalinteressen.
Da war es nun der junge Kaiser, der
mit glühender Überzeugung die Augen
der Nation auf das hohe Meer zu richten
unternahm und die Notwendigkeit einer
starken deutschen Kriegsflotte zum
Schutze aller überseeischen Interessen
unermüdlich einprägte. Es mag sein, daß
ihn ein gewisser persönlicher Ehrgeiz
an trieb, hinter dem bewunderten Vor¬
bilde Englands nicht zurQckzubleiben,
aber dieser Ehrgeiz drückte auch das na¬
türliche Bedürfnis Deutschlands und die
Konsequenzen seines wirtschaftlichen
Wachstums aus. Wir werden später
noch zu zeigen haben, wie sich ganz
neue weltpolitische Horizonte jetzt öff¬
neten und wie Deutschlands Zukunfts¬
interessen nun ein ganz anderes Gesicht
erhielten. Es war nicht leicht, Nation
und Parteien aus ihrer bisherigen bin¬
nenländischen Orientierung herauszu¬
führen, aber stufenweise ging es damit
um die Wende des Jahrhunderts voran,
und die Flottengesetze von 1898 und
1000 legten den Grund für eine stärkere
deutsche Seemacht.
War es möglich, in Weltwirtschaft
und Weltpolitik einzutreten mit einer
gespaltenen Nation, die den Ausgleich
zwischen Autorität und Freiheit, zwi¬
schen Agrar- und Industriebevölkerung
nicht zu finden vermochte? Es galt jetzt,
angesichts dieser sich aufdrängenden
Frage die fruchtbarsten Erfahrungen der
achtziger und der neunziger Jahre mit¬
einander zu vereinigen. Die neuen wirt-
schafts- und sozialpolitischen Fermente
der achtziger Jahre hatten, wie wir Sa¬
hen, eine neue Form des konservativen
Geistes geschaffen und eine höhere
Empfindung für die organisatorische
Mission des Staates geweckt. Aber das
innere Verhältnis von Staat und Masse
war dabei vernachlässigt worden und
die Spaltung zwischen rechts und links
schroffer geworden. Jetzt schlug nun die
Stunde, wo es möglich, ja wo es drin¬
gend nötig und unaufschiebbar wurde,
die wertvolle Errungenschaft der acht¬
ziger Jahre hinüberzutragen in das La¬
ger der Linken und mitten unter ihnen
die Lehre zu verkünden, daß Freiheit
und Monarchie, Macht und Masse zusam¬
menrücken müßten, um die Stoßkraft zu
schaffen, die die neuen Aufgaben der
Nation zu bewältigen vermochte. Es war
Friedrich Naumann, der 1900 die Losung
ausgab: Demokratie und Kaisertum. In
seinen politischen Anfängen war er als
Führer einer jüngeren, radikaleren
christlich-sozialen Richtung über Stök-
kers orthodox und konservativ gebun¬
denes Programm wohl rasch hinausge¬
wachsen, aber die Eindrücke der Bis-
marckschen Realpolitik und die Ideale
des sozialen Königtums waren in ihm
tief haften geblieben. Unablässig suchte
und forderte fortan seine starke Emp¬
findung und seine kühne konstruktive
Phantasie den Ausgleich zwischen den¬
jenigen Mächten des modernen Lebens,
die er als die stärksten und zukunfts¬
reichsten herausfühlte: Militärmonar-
chie, Industrialismus und Massenbewe¬
gung. Er wollte die Monarchie nach
links und die Massenbewegung nach
rechts führen. Erforderte von der Mon¬
archie, daß sie den Mut habe, ihre
Stützen zu vertauschen, und von der ver¬
altenden Schicht des ostelbischen Agrar¬
adels sich losreiße. Er forderte von den
Massen, daß sie den Mut habe, Utopien
zu opfern, und die Realitäten des Lebens,
die Notwendigkeit, alle wirtschaftliche
Arbeit und alle von ihr erstrebten Kul¬
turgüter mit einem starken Panzer zu
umgeben, aneikenne. Mit großem Sinne
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Gck igle
Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
937
Fr. Meinecke, Reich und Natten seit 1871
938
erkannte er, obgleich sein eigenes Herz
ihn mehr zu den Aufgaben der inneren
Politik hinzog, daß die äußere Politik
in ihrem Gesamtverlaufe doch noch
wichtiger und folgenschwerer sei als die
innere. „Das soziale Kaisertum", be¬
kannte er, „ist nur möglich, wenn sich
der Kaiser in seinem Hauptberuf, in der-
Vaterlandsverteidigung, auf soziale und
freiheitliche Volksteile stützen kann. . .
Wer aber will ein Deutschland überwin¬
den, in dem der Kaiser und die Masse
sich gefunden haben?"
Ahnungsreiche Gedanken dieser Art
entspringen immer aus Wirklichkeits-
sinn und Phantasie zugleich. Aber weil
Wunsch und Leidenschaft sie beflügeln,
suchen sie nur die geraden Wege zum
Ziele und verkennen, daß alle geschicht¬
lichen Lebensströme sich winden und
biegen müssen. Zwischen der alten Mon¬
archie und den neuen Massen, die er ver¬
einigen wollte, lag nun einmal die ganze
Welt der staatlichen und gesellschaft¬
lichen Mächte, innerhalb deren die Mon¬
archie emporgekommen, mit der sie tau¬
sendfältig verwachsen war. Sie sah auch
keineswegs nach unvermeidlichem Nie¬
dergang aus, sondern strotzte von Le¬
bens- und Widerstandskraft. Der ost¬
elbische Rittergutsbesitzer, der seinen
Betrieb modernisierte und sich genos¬
senschaftlich organisierte, der es ver¬
stand, auch den ländlichen Kleingrund¬
besitz in sein Interesse zu ziehen, war
dem Kampfe ums Dasein vollauf ge¬
wachsen. Jede einzelne lebendige Schicht
der Nation aber trägt bei zu ihrem
Reichtum und ist unentbehrlich, wenn
es gilt, ihre politische Gesamtkraft neu
zu organisieren. Die neue Gemeinschaft
von Demokratie und Kaisertum, die
Naumann forderte, war groß gedacht
und früher oder später unabweisbar,
wenn das nationale Leben nicht ausein¬
anderfallen sollte. Aber sie enthielt zu
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wenig. Es mußte auch alles, was von
lebensfähiger Aristokratie noch da war
in Deutschland, mit hinein, wenn die
Synthese genügen sollte. Freilich war
die Fonnel „Kaisertum, Aristokratie und
Demokratie" sehr viel schwerer und
komplizierter auszurechnen als die
alte Formel „Monarchie und Ari¬
stokratie" und die neue Formel „De¬
mokratie und Kaisertum". Ein auf
drei Gewalten beruhendes politi¬
sches System kann im gewöhnlichen
Tagesbetriebe nie so glatt funktio¬
nieren wie ein nur auf zwei Gewalten
beruhendes. Reibungen und abermals
Reibungen stören es, Kompromisse und
abermals Kompromisse müssen es wie¬
derherstellen. Aber sein eigentlicher
Sinn und Zweck geht dahin, über Tages-
bedürfnis und Tagesstreit hinaus einen
gemeinsamen Boden von Staatsnotwen¬
digkeiten für alle Parteien zu schaffen
und für die großen Existenzfragen der
Nation alle ihre Kräfte so geschlossen
und wuchtig zusammenzufassen wie nur
möglich.
Und, wenn auch nur in Biegungen
und Windungen und mit zeitweiligen
Rückstößen, so ging doch die Entwick¬
lung §eit 1900 auf dieses Ziel hin. Die
Naumannschen Gedanken wirkten über¬
aus stark auf die heran wachsen de Ge¬
neration. Es ist nicht zu viel gesagt, daß
sie insbesondere den Linksliberalismus
allmählich innerlich umformten. Der
alte doktrinäre Individualismus, der
jede Steigerung der Staatsgewalt mi߬
trauisch ansah,« schmolz in ihm zusam¬
men und der Sinn der staatlichen So¬
zialpolitik wurde tiefer gewürdigt. So
wurde der neue soziale Idealismus zum
Schrittmacher für die Anerkennung
der Staatsnotwendigkeiten. Die Hee¬
resvermehrungen, die bis dahin Kno¬
tenpunkte des innerpolitischen Strei¬
tes zwischen Regierung und Reichs-
Original fro-m
INDIANA UNIVERSITY
039
Fr. Meineoke, Reich und Nation seit 1871
940
tag gewesen waren, wurden mit ge¬
ringerer Reibung und ohne daß noch
einmal, wie 1887 und 1893, ihretwegen an
die Reichstagswähler appelliert werden
mußte, durcbgesetzt. Die Zentrumspar¬
tei lernte dabei noch früher wie der
Linksliberalismus die machtpolitischen
Notwendigkeiten verstehen und Heeres¬
und Flottenforderungen bewilligen.
Freilich konnte sie als mitregierende
Partei durch ein Zusammenwirken von
Einsicht und Berechnung auch rascher
in dies Verständnis hineinwachsen. Ein¬
mal aber ließ sie es doch zu ihrem
schweren Schaden vermissen. Sie hielt
darauf, daß die Kolonialverwaltung
ihren öffentlichen und geheimen Ein¬
flüssen sich beuge, und als 1906 Dem-
bürg, der neue Direktor des Kolonial¬
amtes, sie von sich abzuschütteln unter¬
nahm, rächte sie sich und brachte
im Bunde mit der Sozialdemokratie die
militärischen Forderungen der Regie¬
rung für Südwestafrika, die ein Wieder-
auflodem des eben niedergeworfenen
Aufstandes verhindern sollten, zu Falle.
Die freisinnige Volkspartei aber hielt es
jetzt mit der Regierung, und so konnte
es der Reichskanzler Fürst Bülow wa¬
gen, den Reichstag aufzulösen. I£s war
das erste Mal, daß die Linksliberalen mit
den alten Kartellparteien von 1887, den
Konservativen und Nationalliberalen, in
einer machtpolitischen, einer überseei¬
schen Frage sich zusammenfanden ge¬
gen Zentrum und Sozialdemokratie. Das
Zentrum vermochte seine alten, festge¬
fügten Sitze gegen ihren Anprall zwar
leidlich zu behaupten, aber die Sozial¬
demokratie verlor nahezu die Hälfte ih¬
rer Sitze, und eine neue, noch nie erlebte
Mehrheit zog 1907 als konservativ-libe¬
raler Block in den Reichstag ein.
Damit war der Bann gebrochen, der
die Linksliberalen bisher von der Regie¬
rung ferngehalten hatte. Die dauernde
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Bedeutung des Bülowblockes also liegt
darin, daß der alte Gegensatz, der seil
der Konfliktszeit, ja seit der März re vo-
lution weite Schichten des liberalen Bür¬
gertums an herzhafter Mitarbeit bei den
positiven Aufgaben des Staatslebens ge¬
hindert hatte, einen großen und wesent¬
lichen Teil seiner Schärfen verlor. Der
Linksliberalismus gab zwar seine alten
demokratischen Wünsche und sein
Ideal eines streng parlamentarisch re¬
gierten Staatswesens nicht auf, aber
ließ nicht mehr wie früher darum den
Staat in seinen machtpolitischen Bedürf¬
nissen darben. Auch das Zentrum zog
sich seine Lehre aus den Erfahrungen des
Wahlkampfes von 1907. Und unter der
starren Decke der Sozialdemokratie
begannen sich nun auch schon seit den
neunziger Jahren hier und da die alten
Marxistischen Dogmen zu lockern. Marx
hatte verkündet, daß, je weiter der Ka¬
pitalismus fortschreite, um so größer
das Elend der Massen werden würde.
Die Erfahrung widerlegte ihn, es ging
nicht abwärts, sondern aufwärts mit der
Lebenshaltung der Massen. Eine revi¬
sionistische Richtung entwickelte sich,
die auch schon im vorhandenen, gege¬
benen Staate nach friedlichen Fort¬
schritten strebte, mit den bürgerlichen
Parteien zu paktieren bereit war und
vereinzelt sogar die wirtschaftspoli¬
tischen und machtpolitischen Über¬
zeugungen ihrer bürgerlichen Gegner
zu verstehen versuchte. Nun konnte auf
süddeutschem Boden schon etwas ge¬
wagt werden, was in Preußen bei
der stärkeren Spannung zwischen den
aristokratischen und demokratischen
Mächten der Gesellschaft und der schär¬
feren Ausprägung des Herrschafts¬
staates noch lange nicht möglich er¬
schien. Seit 1905 verbanden sich in Ba¬
den die liberalen Parteien bei den Land¬
tagswahlen mit den Sozialdemokraten
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INDIANA UNIVERSITY
041
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
942
gegen das Zentrum und arbeiteten mit
ihnen auf manchen Gebieten der Lan¬
desgesetzgebung sogar parlamentarisch
zusammen.
Ganz unverkennbar standen alle diese
Symptome einer Gesundung, einer Poli¬
tisierung der einst gegen Bismarck
kämpfenden Parteien in einem ge¬
schichtlichen Zusammenhänge, der an-
hub mit dem Jahre 1890, mit der Preis¬
gabe des Sozialistengesetzes, den neuen
sozialpolitischen Wegen des Kaisers,
den Versuchen Caprivis zu einem flüs¬
sigeren Verhältnisse der Regierung zu
den Parteien. Die Naumannschen Ge-
dankengünge gaben diesen Wandlungen
zwar noch keinen vollständigen Aus¬
druck, aber einen wuchtigen Impuls,
ohne den die Entstehung des Bülow-
blockes kaum denkbar wäre. Dieser wie¬
der ging über das Naumannsche Pro¬
gramm dadurch bedeutsam hinaus, daß
er den ernsten Versuch machte, unter vol¬
ler Wahrung aller monarchischen und
machtpolitischen Interessen Konserva¬
tive und Liberale zu einer vernünftigen
Ehe zu verbinden; er mußte dabei das
ideale Ziel, auch die Massen des
Industrievolkes für den Staat zu
gewinnen, freilich vertagen. Immer¬
hin aber war die Frontstellung des
Bülowblockes gegen die Sozialdemo¬
kratie sowohl wie auch gegen das
Zentrum von anderem und milde-
derem Charakter als der Kampf, den
einst die Anhänger Bismarcks in den
siebziger Jahren gegen diese beiden
neuen Massenparteien geführt hatten.
Man erklärte sie nicht mehr durch¬
gängig und schlechthin als die unver¬
besserlichen Erz- und Erbfeinde des Rei¬
ches. Mochten die Konservativen auch
(he Sozialdemokratie noch so ansehen,
so waren doch die liberalen Parteien
nicht gemeint, den Kampf gegen ihre
radikalen Forderungen zu einem Kampfe
der ganzen bürgerlichen Gesellschaft ge¬
gen die sozialistische Massenbewegung
zu steigern. Den Gegensatz gegen das
Zentrum wiederum empfanden die Li¬
beralen allein schon aus Gründen der
Weltanschauung tiefer als die Konser¬
vativen, aber hüteten sich jetzt doch, in
die Fehler des Kulturkampfes zurückzu¬
fallen. Der Bülowblock stand also seinen
beiden Gegnern nicht in einheitlicher
Geschlossenheit gegenüber, sein linker
Flügel wollte den Graben nach links,
sein rechter Flügel den Graben nach
rechts, der ihn vom Zentrum trennte,
nicht zu tief werden lassen. Es war vom
höchsten Standpunkte des nationalen
Staatslebens aus gesehen wohl er¬
wünscht, daß kein zu tiefer, unversöhnli¬
cher Riß die Parteien voneinander schied,
daß Verständigungs- und Anlehnungs¬
möglichkeiten nach allen Seiten hinüber
bestanden. Aber die praktische Halt¬
barkeit des Bülowblockes selbst mußte
freilich darunter schwer leiden. In der
ungewohnten Gemeinschaft der preu¬
ßischen Konservativen mit der ein¬
stigen Partei Eugen Richters traute
keiner dem anderen ganz über den Weg,
war jeder Partner in Sorge, die Gemein¬
schaft zu teuer zu bezahlen durch das
Opfer alter, heiliger Grundsätze und In¬
teressen.
Auch war der alte wirtschaftspoliti-
sehe Kampf zwischen der landwirt¬
schaftlichen Bevölkerung und den städ¬
tisch- industriellen Schichten, die zum
Linksliberalismus und zur Sozialdemo¬
kratie hielten, unvergessen und hatte
erst wenige Jahre zuvor, 1902, als beim
Ablauf der Caprivischen Handelsver¬
träge ein neuer Zolltarif mit höheren
Sätzen und stärkerer Belastung der
Nahrungsmittel durchgesetzt wurde,
noch leidenschaftlich getobt. Der neue
Tarif und die neuen auf ihm beruhen¬
den Handelsverträge traten seit 1906 in
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
643
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
944
Kraft, der wirtschaftliche Aufschwung
Deutschlands hielt vor wie nach an, trotz
der neuen Zollsätze. Neuen Hader aber
unter den alten, jetzt im BQlowblock ver¬
einigten Gegnern entzündete 1909 das
Problem einer durchgreifenden Reichsfi¬
nanzreform. Ihre drängende Notwendig¬
keit wurde von keinem geleugnet, aber
über die billige Verteilung der Lasten,
die sie dem Steuerzahler bringen mußte,
gerieten Konservative und Liberale hart
aneinander, und die von der Regierung
und den Liberalen geforderte, von den
Konservativen bestrittene Erbanfall¬
steuer wurde zum Zankapfel innerhalb
des Blockes. Hinter dem agrarischen In¬
teresse, das die Konservativen dabei zäh
verteidigten, wirkte noch ihre Sorge, daß
eine Fortsetzung der Blockpolitik zu
einer Reform des preußischen Dreiklas¬
senwahlrechts, der Grundlage ihrer par¬
lamentarisch«! Machtstellung in Preu¬
ßen, führen werde; das Zentrum benutzte
mit kluger Taktik die Situation, ver¬
lockte die Konservativen dazu, mit ihm
zusammen die Finanzreform ohne Erb¬
anfallsteuer zu machen, sprengte damit
den Block und brachte den ihm mißlie¬
bigen Staatsmann, der ihn geschaffen
hatte, zu Falle.
Die neue Regierung des Kanzlers v.
Bethmann Hollweg nahm die von Kon¬
servativen und Zentrum, dem sogenann¬
ten schwarzblauen Block angebotene Fi¬
nanzreform an. Man wagte es nicht an
die Wähler zu appellieren und einen
Wahlkampf unter liberalen Vorzeichen
gegen die Konservativen zu entfesseln.
Vielleicht hätte die ernste Drohung mit
Neuwahlen die Konservativen diesmal
noch bei der Stange halten und zur An¬
nahme der Erbanfallsteuer bestimmen
können. Aber eine durch Zwang und
Drohung aufrechtgehaltene Blockpolitik
hatte keine Gewähr der Dauer, und über
kurz oder lang wäre sie doch auseinan-
Digitized by Gougle
dergebrochen. So mußte sich die Regie-
rung jetzt 6chon fragen, ob sie es auf
einen Bruch mit den Konservativen an¬
kommen lassen dürfe. Der Boden, den
die Regierung damit nach links hin hatte
betreten müssen, erschien ihr zu unsi¬
cher und gefährlich; hätte sie doch in
diesem Falle auch die Hilfe der Sozial¬
demokratie sich gefallen lassen müssen I
So wurde jetzt gewissermaßen die erste
Probe auf das Exempel gemacht ob
die Dinge schon reif seien zum Bünd¬
nisse von Demokratie und Kaisertum.
Der Linksliberalismus war seit 1906
bündnisfähig geworden, die Sozialde¬
mokratie aber noch lange nicht und so
glaubte die Regierung, vor die scharfe
Wahl zwischen Rechts und Links ge¬
stellt, sich für Rechts entscheiden zu
müssen. Man darf fragen, ob sie es nicht
doch hätte wagen dürfen, kühn in die
Wogen nach links hin zu steuern, ob
nicht gerade dadurch, daß der Staat zur
Sozialdemokratie kam, auch die Sozial¬
demokratie vielleicht gezwungen wor¬
den wäre, zum Staate zu kommen und
positive Mitarbeit an ihm zu leisten.
Aber der Ausgang dieses Wagnisses
war, im Lichte des damaligen Momentes
gesehen, unbestimmt.
Indem die Regierung den dunklen und
unberechenbaren Weg nach links hin
vermied, trieb sie nun freilich aus der
Scylla in die Charybdis, denn Zeiten tief¬
ster Spaltung und Verbitterung zwi¬
schen Rechts und Links folgten nun. Die
Konservativen erschienen den städti¬
schen Massen nur noch als eine Partei
des nackten materiellen Interesses und
ihr Bündnis mit dem Zentrum, dem die
Regierung sich beugte, als der Beginn
eines reaktionär-klerikalen Herrschafts¬
systems, das alle freieren Ideale und zu¬
gleich die wirtschaftlichen Interessen
des neuen Deutschlands bedrohte. Da¬
für klagten die Konservativen wieder
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INDIANA UNIVERSITY
945
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
946
Ober den leidenschaftlichen Radikalis¬
mus, der in die Parteien der Linken ent¬
zöge, Ober die bedenkliche Annäherung
der liberalen Schichten an die Sozial¬
demokratie. Die Liberalen freilich glaub¬
ten gerade deswegen jetzt so scharf den
schwarzblauen Block bekämpfen zu
müssen, um die flutenden und erregten
Massen ihrer Wähler bei ihrer Fahne
zu halten und vor dem Übergange in
das sozialdemokratische Lager zu be¬
wahren. Völlig gelingen konnte auch das
nicht. In den Stürmen des Wahlkampfes
von 1912 schwang sich die Sozialdemo¬
kratie, die 1907 durch den Bülowblock
auf 43 Sitze zusammengedrückt worden
war, zur stärksten Partei des Reichs¬
tages mit 110 Sitzen und nahezu 4 1 /* Mil¬
lionen Wählern auf.Alle übrigen großen
Parteien verloren, am stärksten die der
Rechten, so daß die vereinigten Parteien
der Linken die gesamte Rechte um ein
paar Stimmen überwogen und der
schwarzblaue Block im wesentlichen ge¬
brochen war. Aber war es möglich mit
diesem Reichstage zu regieren? Und
welche dunklen Befürchtungen drängten
sich nicht auf, wenn der Riß zwischen
den Massen und dem Staate immer noch
tiefer wurde, während gleichzeitig die
Weltlage für Deutschland sich immer
stärker umwölkte! Seit 1904 trieb Eng¬
land seine Einkreisungspolitik gegen
Deutschland, seit 1907 stand es nicht nur
mit Frankreich, sondern auch mit Ru߬
land zusammen. Eben hatte man die
Marokkokrisis von 1911 hinter sich,
die schon zum Weltkriege hätte füh¬
ren können. Im Herbste 1912 aber
begann der Krieg und Siegeslauf der
Balkanstaaten gegen die Türkei, der
alle Orientfragen und panslawistischen
Triebe Rußlands in Fluß brachte und
weiter wirkend das Staatsgefüge des
verbündeten Österreich-Ungarns be¬
drohen mußte.
Digitized by Gougle
Die Egoismen der Parteien und wirt¬
schaftlichen Interessengruppen, die sich
so leidenschaftlich und beinahe wach¬
send von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ent¬
laden hatten, entsprangen im Grunde
aus einer allgemein wachsenden Le¬
benskraft der Nation. Sie wurde durch
ihre gewaltig ausgreifende Arbeit und
Anstrengung nicht nur stetig reicher
an materiellen Gütern, sondern auch an
neuen Energiequellen, die nun in jedes
sich öffnende Flußbett des Lebens hin¬
einströmten. Arbeiten und Streiten war
die Signatur. Man widmete sich der Ar¬
beit mit der trotzigen Gesinnung des
Kämpfers, der unbedingt sich durch¬
setzen will. Man stürzte sich in den
Kampf mit der zähen, geduldigen und
hingebenden Gesinnung, die die Ar¬
beit verlangt, mit jenem pedantischen
Pflichtgefühl für die gewiesene Auf¬
gabe, das dem Deutschen durch Anlage
und jahrhundertelange Erziehung tief
eingedrückt war. Die Zahl und Art der
Aufgaben aber war in dem modernen,
von Menschen strotzenden, in die Welt¬
wirtschaft hinausdrängenden Deutsch¬
land so sehr viel größer und mannigfal¬
tiger als in den alten einfacheren Zeiten,
wo die deutsche Arbeitsgesinamng treu
am Webstuhle der Tradition und Auto¬
rität gesessen hatte, daß ein wildes
Durch-und Gegeneinander im Feuereifer
des Kampfes und der Arbeit entstehen
mußte. Insbesondere galt das aber vom
Treiben der Parteien. Der alte partiku-
laristische Geist der Deutschen warf sich
jetzt, wie Fürst Bülow einmal richtig be¬
obachtet hat, auf das Parteiwesen. Die
Parteien haben alle eigentlich erst im
letzten Menschenalter die volle Technik
des Parteiwesens ausgebildet, die Or¬
ganisation ihrer Vereine, Vorstände, Bu¬
reaus, Parteibeamten Und Preßpropa-
ganda. Sie wurden dadurch staatsähn¬
liche Gebilde im Staate, ebenso wie die-
Original from
[ND1ANA UNIVERSITY
047
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
948
ser durch Disziplin, Pflichtgefühl, Ehr¬
geiz und Machtwillen in sich zusammen-
gehalten. Und weil sie, wie wir noch
zu erörtern haben' werden, nach dem
Charakter unseres Regierungssystems
immer nur zur Beeinflussung des Staats¬
lebens, nie zur vollen Verantwortlich¬
keit für das Staatsganze gelangen konn¬
ten, so entwickelte sich ihr Verantwort¬
lichkeitsgefühl in erster Linie gegen sich
selbst und ihre Wühler, wurden sie sich
zu Selbstzwecken und erst recht wurden
sie dies, als die verschiedenen materi¬
ellen Interessen, die sie vertraten, in der
allgemeinen raschen Aufwärtsbewegung
der Wirtschaft immer kompakter und
massenhafter wurden. Die Schwierig¬
keit, die Sozialdemokratie hinüberzufüh-
ren auf den Boden des nationalen
Staates, rührt nicht zum geringsten da¬
her, daß in ihr jener Doppelgeist
des Kampfes und der Arbeit, jenes
zähe Eigenleben der modernen deut¬
schen Großpartei fast am höchsten ent¬
wickelt und organisatorisch am stärk¬
sten verankert ist. Gelang es dann ein¬
mal, wie beim Bülowblock, die Geister
verschiedener Parteien unter einen Hut
zu bringen, so brachen sie doch bald
wieder auseinander. Gegen die Herr¬
schaft des neuen, an seine Stelle treten¬
den schwarzblauen Blockes aber revol¬
tierten alle übrigen Parteien sogleich
mit Erfolg. Das Ende vom Liede schien
nach den Reichstagswahlen von 1912
eine Art von negativem Gleichgewichts¬
zustand zwischen den Parteien zu sein,
in dem ihre starken Egoismen sich ge¬
genseitig in Schach hielten. Man war zu¬
nächst ratlos, was daraus werden sollte.
Die Arbeits- und Kampfesgesinnung
des neuen Deutschlands, die die Parteien
so stark und starr gemacht hatte, schien
in ihnen doch zu entarten und ins Kraut
zu schießen. Die Oberfülle organisatori¬
scher Kraft, die in ihnen sich aus¬
wirkte, drohte das politische Gesamtle¬
ben der Nation zu desorganisieren. Und
doch sahen wir deutliche Symptome
einer anderen, gesünderen, nicht vom
Staatsganzen weg, sondern zu ihm
hinführenden Entwicklung bei ihnen, die
nur eben durchkreuzt, aber nicht ganz
gehemmt werden konnte durch das
trotzige Eigenleben der einzelnen Par¬
teien. Was gegeneinander kämpft, färbt
auch voneinander ab; das ist eine alte
geschichtliche Erfahrung. Geistige Ge¬
meinsamkeiten werden zwischen den
Kämpfenden geschaffen, die lange un¬
bewußt bleiben und doch schließlich
zur Synthese der streitenden Kräfte füh¬
ren können. Und je reger im National¬
leben eines großen Volkes alles aufein¬
ander stößt, um so enger greift es auch
ineinander ein. Der Mangel an Ellbo¬
genraum, über den wir so oft gestöhnt
haben, hat uns auch miteinander ver¬
schmolzen. Und zugleich führte das
mächtig pulsierende, Altes um gestal¬
ten de, Neues formende Leben in Gesell¬
schaft, Wirtschaft und Kultur, die Aus¬
dehnung in die Welt und wiederum der
Gegendruck der feindlichen Weltmächte
auf Deutschland unablässig neuen Ge¬
dankenstoff, neue Horizonte, neue Sor¬
gen und Probleme herauf, mit denen die
Denkenden aller Parteien sich leiden¬
schaftlich beschäftigten. Das Revidie¬
ren alter Programme, das Um- und Neu¬
lernen war überall im Gange, und wäh¬
rend die Parteien in ihrem Handeln sich
oft ganz hart und unbiegsam zeigten,
spannen sich in ihrem Denken mannig¬
fache neue Fäden von einer zur andern.
Es wehte durch Deutschland jetzt wieder
die scharfe Luft der Gefahr, die die Men¬
schen zwingt, sich auf das zu besinnen,
was das Ganze stark und widerstands¬
fähig macht. Zwar trug das Bild der Ge¬
fahr, in die uns ein großer Existenz¬
kampf stürzen würde, trotz aller schon
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Gck igle
Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
949
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
950
durchlebten Krisen noch undeutliche
und schwankende Züge. Aber wem sie
vor Augen trat, wurde sich sofort be¬
wußt, daß sie ein trotz alles Haders in
sich festverwachsenes, von Kraft und
Willen erfülltes, zum Äußersten ent¬
schlossenes Volk finden würde.
Es war eine eigentümliche Schickung,
daß der 1912 gewählte Reichstag, der
an den Maßstäben der Bismarckschen
Zeit gemessen der schlechteste aller bis¬
herigen Reichstage war, vor Entschei¬
dungen über nationale Existenzfragen
gestellt wurde, wie sie so groß und
schwer noch nie ein Reichstag zu fällen
hatte. Nun sollte sich aber zeigen, daß
die einstige Mehrheit Windthorst-Rich-
ter-Grillenberger, die in den achtziger
Jahren der Bismarckschen Politik so viel
Hemmung und Kummer bereitet hatte,
in Bismarcks Werk zum großen Teile
schon hineingewachsen war und auch in
ihren noch widerstrebenden Teilen hin¬
einzuwachsen begann.
Das Vorspiel dieser Entscheidungen
brachte das Jahr 1913. Die neuen Macht-
Verhältnisse, die durch die unerwartet
starke Entfaltung der jungen Balkan¬
staaten geschaffen wurden und Öster¬
reichs Stellung im Südosten gefährdeter
machten, dazu die gesteigerten Rü¬
stungen in Rußland und Frankreich
zwangen die Reichsregierung, über das
Maß der bisherigen Heeresvermehrun¬
gen weit hinauszugehen und mit einem
kräftigen Rucke den Friedensstand um
136000 Köpfe, auf eine Friedensstärke
von insgesamt rund 800000 Mann zu
vermehren. Ungewöhnlich war auch das
Maß und die Art der finanziellen Opfer,
die hierfür vom deutschen Volke zu
bringen waren. Waren die Lasten der
Reichsfinanzreform in der Hauptsache
von den breiteren Massen zu tragen ge¬
wesen, so wurden diesmal in erster Linie
die begüterten Schichten in Anspruch
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genommen durch einen einmaligen
Wehrbeitrag und durch eine Besitz¬
steuer, durch die nun auch die Forde¬
rung der Linken nach höherer Besteue¬
rung der Erbschaften tatsächlich miter-
füllt wurde. Die Sozialdemokraten ent¬
schlossen sich nun, obschon sie die Hee-
resvermehrung ablehnten, an der Dek-
kungsfrage mitzuarbeiten. Gegen den
Wehrbeitrag stimmten nur Polen und
Elsässer. Gegen das Besitzsteuergesetz
stimmten die Konservativen. Die Wehr¬
vorlage selbst wurde durch die Mehrheit
von Konservativen, Liberalen und Zen¬
trum durchgebracht Ein höchst bemer¬
kenswerter Hergang. Die alten Risse
zwischen Parteiwillen und Reichsgedan¬
ken waren noch nicht verschwunden.
Man konnte die eine Hand noch in alter
Gesinnung zurückhalten, aber die an¬
dern doch schon hinüberstrecken.
Als dann der Weltkrieg über Deutsch¬
land hereinbrach, kam der Tag der Ernte
für die Nation. Der Kaiser sprach das
Wort das allen Zwist der letzten Jahr¬
zehnte begrub: „Ich kenne keine Par¬
teien mehr, ich kenne nur noch Deut¬
sche.“ Die Nation, hochatmend, ergriff
seine Hand mit dem tiefen, alle Seelen
durchzitternden Gefühle, daß sie mit
ihm vereint einer unerhörten Prüfung
des Schicksals entgegengehe und nur in
sich selbst die Kraft, es zu bestehen,
finden könne, aber auch finden werde.
Man war ernst und froh, erschüttert
und zuversichtlich zugleich in dem An¬
blicke des Wunders, wie die Nebel rissen
und der Geist des Volkes rein und groß
aus allen Seelen emporstieg, lebend
durch ihre Seelen und doch unsterblich
über alles Einzeldasein erhaben; alle
Einzelwillen aber jetzt in eine einzige
stählerne Spitze zusammen drängend.
Und was die tieferen Beobachter des
Volkslebens schon längst ahnten, bestä¬
tigte sich jetzt. Auch die Millionenpartei
Original from
INDIANA UNIVERSITY
051
Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben
952
der Sozialdemokratie erklärte sich derungen, die der Krieg an Deutschlands
schlecht und recht als deutsch, und ihre Finanzkraft stellte. Der Bann war ge-
Vertreter bewilligten in der Reichstags- brachen, das Werk Bismarcks umschloß
Sitzung vom 4. August mit allen übrigen nun die ganze Nation.
Parteien zusammen die gewaltigen For- (Schluß folgt)
Goethes Anschauung vom sittlichen Leben.
Von Jonas Cohn.
Goethe hat über sittliche Fragen nicht I Äußerungen, opfern auch Farbigkeit
in der Art nachgedacht wie der Philo¬
soph, der Ethiker es tut. Weder kam
es ihm auf ein umfassendes, wider¬
spruchsfreies System, noch auf die Klä¬
rung der Grundbegriffe, auf die präzise
Stellung der Fragen, auf ihre richtige
wohlbewiesene Beantwortung an. Es
hat daher wenig Sinn, etwa seine ge¬
legentlichen Aussprüche über Pflicht,
Recht, Schuld, über Willensfreiheit usf.
zusammenzustellen. Vielmehr: im Han¬
deln und Dulden des Lebens ent¬
wickelte sich ihm aus der Notwendig¬
keit seines Wesens heraus eine An¬
schauung des sittlichen Lebens, die er
in Dichtungen darstellte, aus der heraus
er in Gesprächen und Briefen über man¬
nigfache Angelegenheiten urteilte und
riet, deren einzelne Seiten er endlich
in Sprüchen und Strophen zusammen¬
faßte. Was Goethe von den Wander¬
jahren zu sagen pflegte, kann man auf
seine Äußerungen über sittliches Leben
allgemein anwenden: Sie sind nicht aus
einem Stück, aber aus einem Sinn. Eine
Fülle verschiedener Bilder bietet er dar,
bald in dieser, bald in jener Per¬
spektive gesehen. Im Stil freilich stim¬
men alle diese Bilder überein, und auch
die in ihnen dargestellte Welt ist ein¬
heitlich. Projizieren wir sie gleichsam
auf eine Ebene, um eine schematische
Umrißzeichnung des Ganzen zu gewin¬
nen, so üben wir bereits Gewalt an der
freien Beweglichkeit der einzelnen
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und Reichtum; aber das ist unvermeid¬
lich, soll das Mannigfaltige, das der
Dichter uns bietet, als Einheit gesehen
werden. Wenn wir dagegen an diese
lebendigen Gebilde die Frage stellen,
ob sie diesem oder jenem unter den
verschiedenen ethischen Systemen ent¬
sprechen, so werden wir kaum eine
eindeutige Antwort erhalten und schwer¬
lich für unser eigenes Denken viel ge¬
winnen.
Es hat wohl nie einen positiveren
Menschen gegeben als Goethe war. Ich
meine mit positiv: zugewandt dem Sein,
dem Leben, allen Seiten des Univer¬
sums wie allen Betätigungen seiner
mannigfachen Kräfte, stets ganz auf¬
gehend in dem, was er tat und doch
mit weit offenen Augen für alles, was
ihm entgegenkam. Einem solchen Jüng¬
ling mußte die alte Idee einleuchten,
daß der Mensch ein „Mikrokosmos**
sei, ein verkleinertes Abbild des großen
Kosmos, der geordneten Welt. So hat
Goethe sich in seinen höchsten Augen¬
blicken gefühlt, aber diese Begeiste-
rung konnte ihn nicht dauernd erfüllen.
Das ungewisse Menschenlos, die Gren¬
zen der Menschheit lassen sich nicht
übersteigen. Die Schranken jeder, auch
der größten Individualität machen sich
fühlbar — der „Dämon** warnt, treibt
zurück von dem, was seinem Wesen
j widerstrebt Er muß sich nun als be-
| sondere, begrenzte Kraft ansehen 1er-
Original from
INDIANA UNIVERSUM
953
Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben
054
nen, muß einsehen, daß sein Gesetz
auch Ausschließung, Abschließung for¬
dert, daß er die Grenzen seines Wesens
ehren muß, um sich in diesen Grenzen
rein auszubilden. Das ist die erste
große Entsagung. Ober die notwendige
Enge des einzelnen Daseins weist hin¬
aus die Liebe, wenn die beschrankte
Seele das ihr Versagte im Geliebten
ergreifen will, weist hinaus die mit
anderen gemeinsame Arbeit, wenn der
einzelne das Bruchstück seines We¬
sens zur Leistung verdichtet und in
den Kreis fremder Leistungen einfügt.
Aber mit diesem Herai^streten aus
dem Kreise des geschlossenen Einzel-
lebens ist eine zweite Entsagung ver¬
bunden, der Verzicht auf das rück¬
sichtslose Entfalten und Auswirken
aller eigenen Kräfte. In dieser doppel¬
ten Spannung und ihrer immer nur teil¬
weisen Lösung bewegt sich das sitt¬
liche Leben. Aber das alte Bild des
Mikrokosmos ist nicht entschwunden
— es schwebt als Idealbild vor, dem
sich anzunähem nun doch höchste
Gnade bleibt.
Das Schema: ursprüngliche Positivi-
töt — doppelte Einschränkung durch
Individualität und Gesellschaft, dop¬
pelte Entsagung — endlich mikrokos-
misches Ideal — soll nun ausgefüllt
werden.
Dinge und Menschen mit liebender
Gewalt an sich heranziehen, den Augen¬
blick, wie er sich bietet, auskosten,
jedem Gefühle sich ganz überlassen,
überschwenglich in Freuden und Lei¬
den sein Leben fühlen — das ist des
jungen Goethe Verlangen. Überall sieht
er Verlockendes, Liebenswertes — sein
Schmerz ist, daß diese Fülle das Gefäß
zersprengt Als ein Liebender tritt er
ins Reich der Dichtung — und noch der
Greis antwortet auf die Frage, was Ihm
Digitized by Gougle
die Jahre, die räuberischen, denn ge¬
lassen hatten:
.Mir bleibt genug! Es bieibtldee und Liebe!*
Der liebende Blick entdeckt das
Wertvolle im geliebten Gegenstand: je
weiter, umfassender die Liebe, um so
reicher die Erkenntnis der Werte.
Goethe hat nicht an die Täuschung
durch Liebe geglaubt; im Gegenteil, es
ist eine seiner Grundüberzeugungen,
daß in der Liebe die Wahrheit liegt
daß man nur erkennt, was man liebt
Nach zwei Richtungen entfaltet sich
diese liebende Hingabe: sie versenkt
sich intensiv in den Augenblick, in das
eine Erlebnis, das jetzt die Seele erfüllt,
und sie erweitert sich extensiv zur Teil¬
nahme an allem, was da lebt und wiikt
Dem Augenblicke sich hingeben, leisten,
was er fordert, genießen, was er bietet
— alles Große, Schöne, Edle, auch alle
glückliche Heiterkeit, allen unbefange¬
nen Frohsinn, das ist stets Goethes
Mahnung. Übellaune, die durch ihren .
Krittel den unbefangenen Genuß, die
gesellige Heiterkeit stört hat er stets in
sich und bei anderen bekämpft, wie ihm
auch aller Spott auf Großes, alle Kari¬
katur zuwider war. So schreibt er am
26. Juni 1824 an Zelter: „Wie ich ein
Todfeind von allem Parodieren und
Travestieren bin, hab’ ich nie verhehlt;
aber nur deswegen bin ich’s, weil die¬
ses garstige Gezücht das Schöne, Edle,
Große herunterzieht um es zu vernich¬
ten. Ja, selbst den Schein seh’ ich nicht
gern dadurch verjagt.“ 1 )
1) Zelter hatte, obwohl kein .Gönner des
Travestierens*, sich an Shakespeares Troilus
undCressida ergötzt. Er sieht etwas Positives
in dieser Farce, Goethe stimmt in der Fort¬
setzung der zitierten Satze zu: .Die Alten
.. und Shakespeare .. setzen an die Stelle
dessen, was sie uns zu rauben scheinen,
wieder etwas höchst Schätzenswertes, Wür¬
diges und Erfreuliches.* Goethe denkt da¬
bei an den Kyklops des Euripides. Vgl. die
Original fram
INDIANA UNIVERSITY
955
Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben
056
Alle diese Mahnungen gehen hervor
aus der tiefen Überzeugung, dafi Liebe
und Verehrung richtiger sehen als Haß
und verkleinernder Tadelsinn. Darum
haben wir das Wertvolle, wenn wir
es genießen, mitfAhlen; wir verlieren
es, wenn wir uns dem Augenblick der
Hingabe entfremden.
Extensive Bejahung, Heranziehung
alles Wertvollen, was in das eigne Be¬
reich kommt, war stets Goethes Grund¬
satz. Er spricht ihn einmal aus in den
,.Annalen“ für das Jahr 1813: „Von dem
Standpunkt aus, worauf es Gott und
der Natur mich zu setzen beliebt, und
wo ich zunächst den Umständen gemäß
zu wirken nicht unterließ, sah ich mich
überall um, wo große Bestrebungen sich
hervortaten und andauernd wirkten. Ich
meinesteils war bemüht durch Studien,
eigene Leistungen, Sammlungen und
Versuche ihnen entgegenzukommen und
so auf den Gewinn dessen, was ich
. nie selbst erreicht hätte, treulich vor¬
bereitet, es zu verdienen, daß ich unbe¬
fangen, ohne Rivalität und Neid, ganz
frisch und lebendig dasjenige mir an¬
eignen durfte, was von den besten Gei¬
stern des Jahrhunderts geboten ward.“
Das Gemeine, die Notdurft das
Schlechte 6md in ihrer Macht keines¬
wegs verkannt.
,Übers Niederträchtige
Niemand sich beklage;
Denn es ist das Mächtige,
Was man dir auch sage.“
Aber beachtet wird es nur, weil es
nötig ist um Not zu lindern, um das
Schlechte zu bekämpfen. Wo wir nicht
berufen sind es abzuwehren, sollen wir
uns davon fortwenden. Selbst im Buche
des Unmuts, dem diese Verse entnom-
Beilage zu dem Briefe an Beust vom 13. Juni
1827. Gerade diese Ausnahmen und ihre
Rechtfertigung zeugen von der entschie¬
densten positiven Gesinnung.
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men sind und in dem man die höchste
positive Gesinnung nicht suchen darf,
wird dem Schlechten die Gemütsruhe
des Wanderers entgegengesetzt:
»Wandrer, gegen selche Not
Wolltest Du Dich sträuben?
Wirbelwind und trocknen Kot
Laß sie drehn und stäuben I“
Darum ist Goethe stets Gegner einer
larmoyanten Versenkung in das Elend
gewesen; „hilfreich und gut“ — sor¬
gend und tätig trat er als Privatmann
wie als Beamter den Unglücklichen und
der Not der Massen entgegen; als Be¬
trachtender,. als Künstler, wandte er
seine Gedanken von dem Jammer ab.
Aus Venedig schreibt er am 4. Mai 1790
an Caroline Herder: „Daß Sie aber in
Ihrem Briefe, meine Liebe, die hohen
Trümmern und Künste herunter¬
setzen und uns dafür Fleiß, Mühe
und Not anpreisen, soll als eine Haus¬
frauenlaune verziehen werden. Diese
drei letzten allerliebsten Schwestern sind
freilich des Menschen Gefährten, aber
warum soll man nicht alles verehren,
was das Gemüt erhebt und uns durchs
mühselige Leben hindurchhilft I Wenn
Ihr das Salz wegwerft, womit soll man
salzen?“
Mit diesen Zugeständnissen an die
Macht des Wertlosen und Wertwidri¬
gen wird die Posltivität zum Problem.
Goethes von Jugend auf scharfer Blick
für das Wirkliche auch in seinen ge¬
meinen Erscheinungen ist einmal, gleich
im Beginn seines Schaffens, für ein
ganzes Werk bestimmend geworden,
für die Mitschuldigen. Es ist recht be¬
merkenswert, daß die breite Darstel¬
lung des Gemeinen fast am Anfang von
Goethes Werk steht und seither nicht
wiederkehrt. Später wird das Negative
tragisch. — Weither verzweifelt, weil
die Fülle seines Gefühls von der Ge¬
liebten nicht erwidert, von der Ge-
Original from
INDIANA UNIVERSITY
957
Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben
958
Seilschaft zurQckgestoßen wird, weil
auch die Natur dem Verzweifelnden als
ewig gebärendes, ewig zerstörendes Un¬
geheuer entgegentritt Faust wird hin
und her geworfen von Sehnsucht nach
Hingabe an das Wertvolle und Zweifel
an der Möglichkeit irgend etwas
wahrhaft Lebenswertes zu erringen.
Die Negativität tritt als Mephisto, als
Geist der stets verneint, ihm gegenQber.
Erst durch dieses Hineintreten des Ne¬
gativen, des Kampfes, entsteht über¬
haupt was wir sittliches Leben nennen
— aber für Goethes Auffassung ist
wichtig, daß alles Positive wertvoll
bleibt, nicht zu einer verderblichen Ab¬
lenkung von dem einen, das nottut,
wird, daß ferner überall das Positive
innerlich überlegen ist, selbst wo es
äußerlich als das Schwächere erscheint.
Faust ist nur Mensch, der Teufel über¬
ragt ihn an Macht und Klugheit; aber
Mephistopheles reicht nirgends an die
Sphäre heran, der Faust angehört, so
oft er sich leidenschaftlich dem Wert¬
vollen. hingibt. Er versteht Fausts gren¬
zenloses Streben so wenig wie sein
inniges Leben in der Natur oder wie
Gretchens schlichte Frömmigkeit. In
Auerbachs Keller, in der Hexenküche,
im leeren höfischen Getriebe führt Me¬
phisto — hier ist Faust passiv —, aber
sobald etwas Echtes, wahrhaft Wert¬
volles naht, vermag der kluge Teufel
nur noch die äußeren Mittel zu seiner
Erlangung anzugeben und herbeizu¬
holen, dem Wertvollen selbst darf er
nicht nahen. Er macht die Gelegenheit
zu Gretchens Verführung — aber so¬
wie Faust sich über das bloße sinn¬
liche Begehren zu echter Liebe erhebt,
sowie Gretchens eigene Liebe erwacht,
steht er als Feind außerhalb. Er weiß
den Weg zu den Müttern, aber nur der
schönheitsdurstige Faust vermag He-
lenens Schatten zu beschwören. Wie
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man von dem bedrängten Kaiser den
Meeresstrand zu Lehen gewinnt, ist ihm
bekannt, Fausts großen Herrscher¬
gedanken als freier Fürst mit freiem
Volk auf meerentrungenem Land sein
Leben selbst zu gestalten, vermag er
nicht zu ahnen. Aber das Negative ist
nötig, damit der Mensch im Streben be-
harrt. Das Positive besitzen wir in der
Hingabe an das augenblicklich gege¬
bene Wertvolle — gewiß — aber dieses
ist stets nur begrenzt. Der Fülle des
Wertvollen bemächtigen wir uns nur,
wenn wir über jeden glücklichen
Augenblick doch wieder hinausgehen.
Man mißversteht das „Streben“ im
Sinne Goethes, wenn man meint, der
Wert liege hier am Ende der Bahn —
— er liegt in jedem Wegabschnitt, er
wird aber nur ergriffen im Weiter¬
schreiten. — Alles Echte und Große
e'rgreifen — und gerade dadurch immer
Höheres sehen, in jedem Augenblick
alles Zugängliche fassen und doch über
ihn hinauswollen — das ist Goethes
Bild des echten Strebens. Darin aber
liegt ein Zwiespalt — und das ist der
Zwiespalt in Fausts Seele. Der alte
Faust entgegnet der Sorge:
.Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück,
Er unbefriedigt jeden Augenblick.“
Er genießt den Augenblick — aber er
verharrt nicht in ihm — darum unbe¬
friedigt, darum frei. Dies allgemeine
Los des echten Menschen ist hier ge¬
steigert zum Titanischen, weil Faust
alles, die Gott-Natur selbst oder doch,
als er resigniert, die ganze Menschheit
in sich aufnehmen will.
Gegenüber dem unbedingten über¬
fliegenden Streben Fausts behält Me¬
phistopheles recht, weil er die Schranke
sichtbar macht Faust will, da der
Weltgeist sich ihm entzieht, wenigstens
die ganze Menschheit in seiner Per¬
son umspannen — Mephisto spottet
Original from
INDIANA UNiVERSITY
950
Jonas Cohn, Qoethes Anschauung vom sittlichen Leben
060
über Herrn Mikrokosmos, und Faust hat
auf sein Wort:
.Du bleibst doch immer, der du bist*
nichts mehr zu antworten.
Solange der Jüngling sich seinem
starken Qefühl, seinem unbedingten
Streben überläßt, kann er die eigene
Besonderung und Beschränkung ver¬
gessen — sobald das Versagen des Ge¬
fühls, das Mißlingen des Strebens ihn
zwingen, den Blick auf sich selbst, auf
den Mittelpunkt jenes schrankenlosen
Dranges zurückzuwenden, wird er sei¬
ner Eigenart gewahr. Aus dem unbe¬
dingten Streben muß nun, wenn der
Mensch nicht verkümmern oder ver-
flattern will, ein bestimmtes werden —
dazu aber ist Selbsterkenntnis nötig.
Immernoch ist Positivität, Fülle das Ziel,
aber nun bewußt erfaßt als die für diese
Individualität mögliche Fülle. Ferner ist
der Sinn jetzt nicht mehr auf den Au¬
genblick allein gerichtet, weder auf den
gegenwärtigen noch wie im Streben auf
den künftigen, sondern auf das Leben
als Ganzes. Der Genuß des Augenblicks,
das Leben in erfüllter Gegenwart bleibt
wertvoll, aber der Augenblick stellt sich
zugleich als Glied des ganzen Lebens¬
ganges dar. Von hier aus versteht man
den großen Wert, den Goethe zuneh¬
mend auf Erinnerung, auf Rückblick
legt. Goethe hat über sich selbst sehr
klar und unbefangen geurteilt, er hat bei
allen, auf die er Einfluß übte, ein ähnli¬
ches Urteil hervorbringen wollen. Das
Unbewußte, Dunkle, Undurchleuchtete
hat er stets als den Urgrund aller Pro¬
duktivität verehrt — aber nachdem er
einmal die Dumpfheit des Sturmes und
Dranges überwunden hatte, weilte sein
Geist nicht gern auf der Nachtseite. Er
ließ den Urgnrnd gelten — aber er arbei¬
tete sich aus ihm ans Licht empor, und
nur, was die Helle des Bewußtseins ver-
trug, durfte ihn anziehen. Auch von der
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heilenden Macht des Wissens um seine
Zustände — man könnte von seelischer
Lichtheilkunst reden — hielt er vieL Von
seiner übergroßen Reizbarkeit, die sich
beim Hören von Musik offenbart, einer
Folge seiner Leidenschaft für Ulrike v.
Levetzow, schreibt er am 24. August
1823 an seinen Sohn: „Da aber dieses bis
zum Bewußtsein emporgehoben ist, so
wird auch darauf zu wirken sein.“ So be¬
greift sich sein Drängen auf Selbster¬
kenntnis. Aber es ist nun entscheidend,
wie diese Selbsterkenntnis erreicht wird:
„Wie kann man sich selbst kennen ler¬
nen? Durch Betrachten niemals, wohl
aber durch Handeln. Versuche Deine
Pflicht zu tun und Du weißt gleich, was
an Dir ist.“
Selbsterkenntnis bedeutet hier zu¬
nächst: wissen, wie weit man es ge¬
bracht hat und was einem an Willens¬
kraft und Fertigkeiten fehlt. Das Mit¬
tel der Erkenntnis ist zugleich Mittel der
Ausbildung und Besserung. „Pflicht“ de¬
finiert Goethe als „die Forderung des
Tages.“ Wir stehen immer nur vor be¬
stimmten Aufgaben, die wir kräftig an-
packen sollen, um uns an ihnen zu be¬
währen. Aber neben dieser Einsicht in
den erreichten Grad enthalt die Selbst¬
erkenntnis durch Handeln noch die Ein¬
sicht in die unabänderliche Art unseres
Wesens. Wir müssen, um das zu ver¬
stehen, den Begriff „Handeln“ in seinem
vollen Umfang nehmen. „Handeln“ be¬
deutet bei Goethe jede Art der bewußten
Tätigkeit — auch das Forschen, das
künstlerische Darstellen fällt ihm unter
diesen Begriff. Indem der Mensch mit al¬
ler Kraft in einer bestimmten Richtung
wirkt, lernt er die Größe seiner Kraft im
ganzen und seine Eignung für diese be¬
stimmte Richtung kennen. Er sieht
so auch, ob sein Streben einer „fal¬
schen Tendenz“ entspringt Als falsche
Tendenz hat Goethe z. B. seine zeich-
Original frum
INDIANA UN1VERSITY
961
Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben
962
ne rischen Bemühungen aufgefaßt, eine
falsche Tendenz hat er in Wilhelm
Meisters schauspielerischen Versuchen
(in der späteren Fassung der „Lehr¬
jahre“) geschildert. Aber auch die fal¬
sche Tendenz bildet, wenn sie nur red¬
lich und kräftig zu Ende gelebt und dann
rechtzeitig als falsch erkannt wird. So
wird Wilhelm belehrt(Lehrjahre 7. Buch,
9.Kap.): „Nicht vor Irrtum zu bewahren,
ist die Pflicht des Menschenerziehers,
sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn
seinen Irrtum aus vollen Bechern aus¬
schlürfen zu lassen, das ist Weisheit der
Lehrer. Wer seinen Irrtum nur kostet,
hält lange damit Haus, er freut sich
dessen als eines seltenen Glücks, aber
wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn
kennen lernen, wenn er nicht wahnsin¬
nig ist.“
Goethe hat das an sich selbst erfahren.
Er schreibt an Eichstädt 15. Sept. 1804:
„Bei strenger Prüfung meines eigenen
und fremden Ganges in Leben und
Kunst fand ich oft, daß das, was man
mit Recht ein falsches Streben nennen
kann, für das Individuum ein ganz un¬
entbehrlicher Umweg zum Ziele sei. Jede
Rückkehr vom Irrtum bildet mächtig den
Menschen im einzelnen und ganzen aus,
so daß man wohl begreifen kann, wie
dem Herzensforscher ein reuiger Sünder
Heber sein kann, als neunundneunzig
Gerechte.“
Alles Streben bricht hervor aus den
dunklen Tiefen unseres Wesens. Die An¬
lage ist dem Menschen auf den Weg ge¬
geben, und jede Kraft, die in ihm ist,
will sich äußern. Aber nicht jedes Stre¬
ben, nicht jeder Wunsch entspringt
gleich stark aus der Notwendigkeit un¬
seres Wesens, aus der Kraft unserer An¬
lage. Hier ist dem Menschen eine erste
Entsagung auferlegt — er muß ver¬
zichten auf das, was er wünscht, obwohl
es seinem Wesen ungemäß ist. Diese
Internationale Monatsschrift
Digitized by Gck igle
„notwendige, bei der Geburt unmittelbar
ausgesprochene, begrenzte Individuali¬
tät der Person, das Charakteristische,
wodurch sich der einzelne von jedem
andern bei noch so großer Ähnlichkeit
unterscheidet, *) hat Goethe „Dämon“
genannt.
Wir müssen wissen, daß dieser
Dämon in uns unabänderlich ist: „Dir
kannst du nicht entfliehn.“ Ein Dämon
steckt in jedem Menschen — auch der
Einfachste, Unbedeutendste hat seine
Anlage und Notwendigkeit in sich. In
engerem Sinne „dämonisch“ aber nannte
Goethe solche Naturen, deren ganzes
Leben von einer gewaltigen Urkraft be¬
stimmt ist; die mit Notwendigkeit und
Gewißheit ihren Weg gehen, gleichsam
verbündet mit dem Schicksal — das
größte Beispiel hierfür war ihm Napo¬
leon, aberauchden Herzog Carl Au¬
gust rechnete er „zu den Urdämonen,
deren granitartiger Charakter sich nie¬
mals beugt und die gleichwohl nicht un¬
tergehen können“.*) Goethe benutzte als
Dichter solche „Urworte“ wie „dämo¬
nisch“ mehr in einem bestimmten Ge¬
fühl als mit einer ganz festen Bedeutung.
So dürfen wir beim Dämon füglich auch
an das warnende Daimonion des Sokra¬
tes denken, an jene Stimme, die in ent¬
scheidenden Augenblicken das Gemäße
fordert, das Ungemäße abweist. Die
warnende Stimme übertönen ist Schuld
Je reiner, zarter, höher ein Mensch ist,
um so zerstörender wirkt diese Schuld.
Ottilie in den Wahlverwandtschaften
weiß nur zu wiederholen: „Ich bin aus
meiner Bahn geschritten“ — sie büßt
diesen Abweg mit strenger Entsagung
und erlangt so im Tode Heiligung. Kräf¬
tiger, siegreich offenbart sich die innere
2) Urworte orphisch. Erklärung: Kunst
und Altertum II, 3, 68.
3) Gespräch mit Fr. v. Müller 1809. Bie¬
dermann 14 , 106.
31
Original from -
INDIANA UNIVERSIT7
963
Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben
964
Stimme in Iphigenien, die jede Täu¬
schung ihres Gastfreundes Thoas als Be¬
fleckung ihrer Natur von sich ablehnt
und durch reine Wahrheit «die Irrungen
löst. Die Verletzlichkeit eines Wesens,
seine Empfindlichkeit für sittliche Be¬
fleckung steht in genauem Zusammen¬
hang mit seiner Reinheit und Hoheit.
Was Ottilien zerstört, wäre derberen
Naturen wohl Oberwindlich, was Iphi¬
genie schaudernd von sich weist, er¬
scheint dem Pylades als rechtmäßige
Selbsthilfe. Dabei ist Pylades durchaus
ein hochstehender Mensch, voll Liebe
und Aufopferung, tätig, tüchtig, klug —
nur eben derber, irdischer als Iphigenie.
Daß die sittliche Forderung in jedem
sich anders, nach der Notwendigkeit
seines Wesens ausspricht, hat Goethe oft
dargestellt. Hierin ist auch eine Ein¬
schränkung der Positivität begründet.
Was uns fremd ist, unserer Natur feind¬
lich, das abzulehnen haben wir ein
Recht. Aber mehr und mehr erkennt
Goethe darin nur eine subjektive Ein¬
engung — um sich in seinem Kreise um
so kräftiger, freudiger zu behaupten.
Grundsätzlich wird der Wert dessen,
was so jeder aus dem eigenen Bereiche
entfernt, nicht angetastet. Das ist wichtig
für die ganze geistige Haltung — ob¬
wohl Goethe so wenig wie irgendein
leidenschaftlicher Mensch die Hoheit
dieser Gesinnung stets wahren konnte.
Es ist jedem Menschen aufgegeben, sein
Leben seiner Anlage gemäß zu gestal¬
ten, dabei die Steile, an der er steht,
auszufüllen, die Mittel, die ihm das
Schicksal darbietet, tüchtig zu benutzen.
Goethe hat stets Naturen geliebt, die
so in starker aufbauender Tätigkeit ih¬
ren Kreis, so groß oder klein er sei, er¬
füllen und aus ihrem Leben ein geschlos¬
senes, befriedigtes Ganzes gestalten, die
das Unglück durch ihre Tätigkeit über¬
winden und im Ganzen, Großen, Schö¬
nen „resolut leben". Schon Götz v. Ber-
iichingen ist ein so gearteter Mensch,
seine Tragik liegt nicht in ihm, sondern
darin, daß die Zeit solchen Vollnaturen
nicht mehr Raum und Luft bietet. In
Hans Sachs feierte Goethe eine solche
runde, starke Existenz, die doch alles
Erreichbare in ihrer Weise aufnahm.
Der Freund seines Alters, Zelter, der
Berliner Maurermeister und Musiker,
war ihm durch seine bei aller Vielsei¬
tigkeit auf das ihm Gemäße beschränkte
Tüchtigkeit, durch die volle großartige
Ausfüllung seines Kreises so nahe und
lieb. Aber auch im begrenzten Leben des
schlichten Menschen erkannte Goethe
diese klare in sich ruhende, das Ihre fest
ergreifende Tüchtigkeit an. Hermann
(in Hermann und Dorothea) ist das Ur¬
bild einer solchen Natur. Es ist höchst
wichtig, zu erkennen, daß begrenzte, in
sich beruhigte Tätigkeit, Beharren im
eignen Kreise für Goethe nicht im ent¬
ferntesten etwas Philisterhaftes hatte,
denn den Philister hat er allerdings zeit¬
lebens bekämpft.
„Ihr könnt mir immer ungescheut
Wie Blachern Denkmal setzen;
Von Franzen hat er euch befreit.
Ich von Philisternetzen.“
Aber was ist ihm Philister? „Ein hoh¬
ler Darm — mit Furcht und Hoffnung
ausgefüllt —, daß Gott erbarm’!“ Furcht
und Hoffnung sind auf die Zukunft ge¬
richtet, sie halten ihr Opfer in einer ste¬
ten gespannten Erwartung auf das, was
vielleicht einmal, vielleicht niemals ein-
treten wird, lenken ihn ab von dem „re¬
soluten Leben“ in der Gegenwart, von
unbefangenem Genüsse ebenso wie von
einer der Sache ganz hingegebenen Tä¬
tigkeit. Denn der wahrhaft Tätige stellt
die Frage nach dem Erfolge gar
nicht — er tut einfach sein Bestes. Das
Hinschauen auf die Zukunft und vor al¬
lem die damit verbundene Erregung
Original from
INDIANA UNIVERSITY
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965
Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben
066
hemmt die Tätigkeit. Eine allegorische
Gruppe im Karneval-Maskenzug des 2.
Teils Faust stellt Viktorie, die siegreiche
Göttin aller Tätigkeiten dar, getragen
von einem Elefanten. Die Klugheit führt,
gefesselt gehen zur Seite Furcht und
Hoffnung, »zwei der größten Menschen¬
feinde“. Wer immer zwischen Furcht
und Hoffnung schwankt, wer schließlich
der Sorge anheimfällt, der wird gehalt¬
los; denn jeden Gehalt können wir
nur in der Gegenwart durch volle Hin¬
gabe an sie in uns aufnehmen. Es wird
auffallen, vielleicht manchen abstoßen,
daß Furcht und Hoffnung hier einander
gleichgestellt werden. Übrigens fin¬
det sich diese gleichmäßige Verurtei¬
lung von Furcht und Hoffnung schon
bei den Stoikern. Seneca im 5. seiner
moral. Briefe führt einen Ausspruch des
Rhodiers Hekato (Schüler des Poseido-
nios, 1. vorchristl. Jahrh.) an: „Höre zu
hoffen auf und du wirst aufhören zu
fürchten“ (Desines timere, si sperare de-
sieris.) Seneca erwartet von seinem
Freunde die Frage: Wie können zwei
so verschiedene Wesen sich so gleich
verhalten? und antwortet darauf: Bei¬
de gehören einem schwebenden Gemüte
an, beide werden aufgeregt durch Er¬
wartung der Zukunft Die bedeutendste
Ursache beider ist daß wir uns nicht
dem Gegenwärtigen anpassen, sondern
unsere Gedanken auf Fernliegendes hin¬
ausschicken. Es ist wahrscheinlich, daß
Goethe diese stoische Lehre durch Spi¬
nozas Vermittelung überkam. *) Übri¬
gens verurteilt Goethe nur die mit
Furcht verbundene Hoffnung; wo er die
Hoffnung allein vor sich sieht preist er
sie — so im letzten der orphischen Ur-
worte, so schon 1780 in dem Hymnus
»meiner Göttin*. Hier ist sie die ältere
gesetztere Schwester" der Phantasie;
4) Vgl. Ethik 3. Teil, Lehrsatz 50 Anm.
und Def. 13. Erläuterung. 4. Teil, Lehrsatz47.
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„meine stille Freundin“ nennt sie der
Dichter und fleht:
„O daß sie erst
Mit dem Lichte des Lebens
Sich von mir wende.
Die edle Treiberin,
Trösterin, Hoffnung.“
Hier also erscheint Hoffnung mit der
Tätigkeit, mit dem echten, erfüllten Le¬
ben verbündet. Wir können den Gegen¬
satz vielleicht so ausdeuten: die enge,
auf einen bestimmtes! begrenzten
Glücksfall gerichtete, seine Wahrschein¬
lichkeit abwägende Hoffnung ist not¬
wendig mit Furcht verbunden, gehört ei¬
nem schwankenden Gemüte an -* an¬
ders die gesetztere Schwester der Phan¬
tasie: sie wägt nicht ab, sondern sie
stellt das Erhoffte als lebendig, ge¬
genwärtig hin, treibt also doppelt zur
Tätigkeit und tröstet zugleich durch die
vorausgenommene Gegenwart, wie etwa
der erblindete Faust sein großes Werk:
das freie Volk auf meerentrungenem
Lande mit dem Auge des Geistes schaut.
Der Philister also ist der ewig zwi¬
schen Furcht und Hoffnung hin- und
hergeworfene Mensch, der immer sorgt,
nie mit der Gegenwart ganz eins, nie
in reinem Streben den Erfolg vergißt.
Da Goethe für sein Leben und seine
Werke das Wort Fausts sich zueignen
darf:
»Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
Und abermals gewQnscht und so mit Macht
Mein Leben durchgestärmt; erst groß und
mächtig —
Nun aber geht es weise, geht bedächtig.“
da er seine Deutschen dazu aufgerufen
hat, jeder Stunde Wert zu verleihen, ih¬
nen gezeigt hat, wie sie das tun sollen,
fühlt er sich als Befreier aus Philister¬
netzen. Das nicht beharrende, sondern
strebende, aber jeweils dem gegenwär¬
tigen Tun ganz hingegebene Leben be¬
reichert den Menschen, das Lauern und
Horchen auf die Möglichkeiten der Zu-
31*
Original fram
INDIANA UNtVERSITY
967
Jonas Cohn, Qoethes Anschauung vom sittlichen Leben
968
kunft entleert ihn, so daß eine bloße
Höhlung übrig bleibt, in der nun die Ge¬
spenster Furcht und Hoffnung ihr Un¬
wesen treiben.
Der Gegensatz wird vollends deut¬
lich, wenn wir den Kreis der Be¬
trachtung erweitern, nicht die innere
Entwicklung des einzelnen Menschen,
sondern sein Verhältnis zu andern be¬
trachten. Da alles, woran unser Herz
hängt, die Qual der Sorge vermehrt,
wenn erst einmal der Mensch zum
Knecht der Sorge geworden ist, so engt
der Philister seinen Kreis ein. Der Apo¬
theker in Hermann und Dorothea, wohl
die entschiedenste Philistergestalt in
Goethes Werken, sagt:
a O glücklich, wer in den Tagen
dieser Flucht und Verwirrung in seinem
Haus nur allein lebt,
wem nicht Frau und Kinder zur Seite bange
sich schmiegen!“
Der echte Mensch dagegen liebt und
teilt mit, er will und sieht den Gewinn
der Liebe und Teilnahme und nimmt
den Schmerz des Verlustes auf sich,
wenn er ihn trifft. Goethes Gestalten
sind fast durchweg Liebende; selbst der
kalte Carlos im Clavigo wird durch seine
hingebende Freundschaft für Clavigo
gehoben — ganz jenseits der Liebe steht
nur Mephisto. Auch Goethe der Dichter
steht seinen Gestalten meist als Lieben¬
der zur Seite — nur sehr wenige episodi¬
sche Figuren, wie die Luciane in den
Wahlverwandtschaften, sind ohne jede
Wärme geschildert. Daß Goethe Anlage
zum Karikieren hatte, zur scharfen, zer¬
störenden Beleuchtung der Schwächen,
zeigen manche Jugenddichtungen und
gelegentliche Aussprüche. Aber er hat
diese Neigung nicht gepflegt, sie ver¬
schwand mehr und mehr vor seiner po¬
sitiven Gesinnung. Die Liebe an sich als
Gefühl, als Hingabe ist bei Goethe stets
klar, einheitlich, herrlich. Die Kämpfe
der Liebe liegen bei ihm nicht, wie oft
bei den Romantikern und vielen Spa¬
teren im Gefühl als solchem. Gefühls¬
verwirrung wie Heinrich v. Kleist
Schweben zwischen Liebe und Haß,
Kampf von Mann und Weib noch in der
Liebe wie Hebbel hat er nie geschildert
Ich glaube, den einheitlichen Glanz der
Liebe zu zerlegen, wäre ihm noch wi¬
driger gewesen, als die Zerspaltung des
weißen Lichtes. Nicht im Wesen, nur im
Schicksal der Liebe liegt für Goethe ihr
Problem. Der Gegensatz des Aufgehens
im Augenblick und des rastlosen Fort¬
strebens greift auf die Liebe zu anderen
über. Im Augenblicke des Liebens fühlt
die Liebe sich als ewig, d. h. als hinausge¬
hoben aus dem Werden und Vergehen
alles Zeitlichen. Aber die Gewalt solcher
Augenblicke läßt sich nicht festhalten—
und so kommt die Treue gegen einen an¬
dern Menschen in Streit mit der Treue
gegen das eigne sich umwandelnde
Wesen. In dem Verhältnis zu einem ge¬
liebten Menschen entsteht aus dem Kon¬
flikt zwischen Augenblick und Weiter¬
streben nicht nur Qual, sondern Schuld,
wenigstens für den titanischen Men¬
schen, mit dem der andere, der geliebte
Mensch nicht Schritt zu halten ver¬
mag. Goethe hat die Schuld und das Leid
des Verlassens oft dargestellt, einmal —
in der Elegie „Amyntas" — Schuld und
Leid des Festhaltens an einem geliebten
Wesen, das der Liebende doch zugleich
als hemmende Fessel fühlt. Dabei weiß
Goethe, daß alles Heil der Menschen in
der Dauer liegt. Die Ehe war ihm heilig
— er wollte ihre hohe Idee, ihre Unauf¬
löslichkeit gewahrt wissen, ob auch ein¬
zelne Paare einander das Leben verbit¬
tern — sie hätten sonst andere Leiden.
Die Wahlverwandtschaften beruhen
ganz auf dieser Anerkennung der Ehe
Das bedeutet natürlich nicht: sie sind eine
Predigt über den Text der Ehe; viel*
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Original frurn
INDIANA UNfVERSITY
Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben
970
969
mehr: sie stellen dar, wie die geheimsten,
stärksten Leidenschaften der Menschen
fQreinander entstehen, mächtig werden,
und im Kampfe mit den Forderungen der
Sittlichkeit edle Naturen zerstören. Aber
für einen Dichter, der es mit der Lösung
geknüpfter Bande leicht nähme, liegt
hier gar kein Konflikt vor. Wenn Edu¬
ard und Charlotte sich scheiden ließen,
könnten die wahlverwandten Paare ein¬
ander angehören. In der Ehe sieht Goe¬
the eine der großen Ideen, durch die die
Menschheit erhöht wird, eine „Synthese
des Unmöglichen“, sofern dem Gefühle
Dauer abgefordert wird, sofern zwei
Menschen zur Einheit verwachsen. Zwei
Ehegatten schulden einander soviel, sind
so verbunden, daß sie sich gar nicht mehr
trennen können, ohne in den Tiefen des
eigenen Wesens zerrissen zu werden.
Wie mit der Ehe, so ist mit jeder
menschlichen Verbindung eine Selbstbe-
schränkung, eine Entsagung verbunden.
Goethe hat das erlebt, als er einen Herr¬
scher leitend selbst an der Herrschaft
über ein kleines Land teilnahm.
.Wer andre klug zu leiten strebt,
muß fähig sein, viel zu entbehren* —
heißt es in dem Gedicht Ilmenau, dem
Rückblick auf die ersten Weimarer Jahre.
Entsagen — das bedeutet für Goethe ei¬
nen freiwilligen Verzicht, um Höheres
zu erlangen. Wem wir entsagen, dessen
Wert erkennen wir an — echte Entsa¬
gung schließt Entwertung dessen, dem
entsagt wird, nicht ein, sondern aus. Ent¬
sagung ist nicht bloßer Verzicht als
welcher auch erzwungen und dann in¬
nerlich wertlos sein kann — sondern
freier und williger Verzicht. Schon um
das eigne Leben zu einem Ganzen zu
gestalten, muß — so sahen wir — vie¬
lem entsagt werden, was augenblicklich
lockt. Noch mehr, wenn dieses eigne Le¬
ben fruchtbar werden soll für andere.
Da der Besitz nach einem bekannten
Worte in Wilhelm Meisters Lehrjahren
nicht aufgegeben, aber als „Gemeingut“
im Sinne größter Förderung aller ver¬
waltet werden soll, so muß die dem
Freunde des glücklichen Augenblicks
gemäße Verschwendung bekämpft wer¬
den. Das Ökonomische, das Novalis dem
Wilhelm Meister zum Vorwurf machte,
gewinnt so höhere Bedeutung. Ebenso
gilt es, die eigenen Kräfte zu Rate zu hal¬
ten, in Handeln und Auftreten Rück¬
sicht zu nehmen auf die Wirkung, die
man vorbildlich oder abstoßend auf an¬
dere übt. Was wirken soll, muß folge¬
recht sein, d. h. das augenblickliche Be¬
lieben einem weitschauenden Plane un¬
terordnen. In Wilhelm Meisters Lehrjah¬
ren ist diese Wirksamkeit auf andere
noch .verbunden mit allseitiger eigner
Ausbildung. Edelleute werden geschil¬
dert, kleine Herrscher auf ihren Gütern,
die durch ihre mannigfaltige geordnete
Tätigkeit Leben und Segen um sich ver¬
breiten, gemäß dem Wunschbilde, das
Goethe in den ersten Weimarer Jahren
von seiner und des Herzogs Tätigkeit in
der Seele hegte. Diesem Wunsche ver¬
sagte sich die Erfüllung. Goethe fand
sich in Italien als Dichter wieder und
schränkte seine amtliche Tätigkeit auf
die künstlerischen und wissenschaftli¬
chen Angelegenheiten ein. So staunens¬
wert der Umfang seiner Tätigkeiten und
Interessen blieb, er lernte ab weisen, um
zu leisten, und vor allem,er lernte die ver¬
schiedenen Gebiete streng auseinander¬
halten. Zuerst sondert er alles Amtliche
sorgsam ab von seinem dichterischen
Schaffen und seinem persönlichen Le¬
ben. Die ersten Akten des Frankfurter
Rechtsanwaltes sind im Sturm- und
Drangstil geschrieben, der Weimarer Mi¬
nister verschmäht die umständlichen
Formeln der damaligen Kanzleisprache
nicht. Später, besonders seit der Freund¬
schaft mit Schiller, wird auch die wis-
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Original from
INDIANA UNIVERSITY'
971
Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Leben
972
senschaftliche Arbeit entschieden von
der Dichtung getrennt. Gewiß alle Sei¬
ten des Goetheschen Wirkens fließen
aus einem Quell und bauen an einem
Leben. Aber in der Ausführung trennen
sie sich. In der Tagesarbeit teilt sich
Goethe gleichsam in eine Anzahl geson¬
derter Fachmenschen, deren Leistungen
er freilich als überschauender Präsident
dieser Akademie in einheitlichem Stile
hält und zu einem Ganzen fügt. So führt
ihn eigene Erfahrung dem Typus des
Berufsmenschen näher. Entscheidend
aber wirkt auf ihn die Änderung der
Zeitverhältnisse durch die französische
Revolution, die ihr folgenden Kriege,
wirtschaftlichen und politischen Umwäl¬
zungen. Es ist jetzt dem Menschen nicht
mehr möglich, in ruhiger Sicherheit an
dem Platze zu wirken, auf den die Ge¬
burt ihn gestellt hat, er muß bereit sein,
sich durch nützliche Tätigkeit bestimm¬
ter Art seinen Platz zu verdienen. So
wird in den Wanderjahren der Berufs¬
mensch Problem. Im Berufe liegt eine
neue Entsagung, eine neue Einschrän¬
kung. Es ist Goethes Sorge, daß sie sich
im richtigen Geiste vollzieht. Die Wan¬
derjahre wären ein sehr triviales Buch,
wenn sich ihr Gehalt in der Forderung
eines bestimmten Berufes erschöpfte. 4 )
Sie wollen in Wahrheit zeigen, wie sich
freie Menschlichkeit, volle Persönlich¬
keit, positives Verhältnis zu allem Wert¬
vollen mit der Hingabe an einen be¬
stimmten, den ganzen Menschen for¬
dernden Beruf vereinigt. Jarno, derent-
schiedenste Vertreter strenger Beschrän¬
kung auf sein Handwerk sagt: „Für
den geringsten Kopf wird es immer ein
Handwerk, für den besseren eine Kunst
5) Meine Auffassung der Wanderjahre
habe ich dargestellt und zu begründen ge¬
sucht in dem Aufsatz „Wilhelm Meisters
Wanderjahre, ihr Sinn und ihre Bedeutung
für die Gegenwart“. Logos I, 228. 1910/11.
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und der beste, wenn er eines tut, tut
er alles, oder, um weniger paradox zu
sein: in dem einen, was er tut, sieht
er das Gleichnis von allem, was recht
getan wird.“ Sehr eng hängt diese Auf¬
fassung des Berufes mit der Ehrfurcht
zusammen, die in dem pädagogischen
Teil des Romans als sittlich-religiöse
Leitidee der Erziehung dargestellt wird.
Wer gelernt hat, jeder tüchtigen Arbeit
und jedem fremden Leben Ehrfurcht zu
erweisen, der wird sich nicht vom Be¬
rufshochmut dazu verkümmern lassen,
die Besonderheiten seines Tuns als
Grenzen der Menschheit anzusehen. Er
wird aus der Hingabe an das eigne Werk
fremde Arbeits- und Betrachtungsarten
als ebenbürtig, als Ergänzung verstehen
und schließlich, so sehr er sich seiner
Arbeit hingibt, doch im Tiefsten seines
Wesens vom Arbeitsstaube rein bleiben.
Dann wird er es vermögen, den Geist
über die Enge des eignen Tuns zu erhe¬
ben, ohne darum seine Berufsarbeit ge¬
ringzuschätzen, vielmehr erblickt er
nun in ihr das ihm gemäße, seinem
Blick überschauliche Bild von allem,
was recht getan wird.
Die Wanderjahre führen den Unter¬
titel: die Entsagenden und enthalten be¬
sonders in den eingefügten Novellen na¬
hezu eine Formenlehre der Entsagung
und der höheren Vollendung des Men¬
schen durch Entsagung. Das Ganze be¬
wegt sich in den irdischen Kreisen tä¬
tigen Lebens, aber die höchste Gestalt
des Romans Makarie, jene wunderbare
Frau, deren Geist und deren Gegenwart
sittliche Konflikte löst, ragt durchaus
über die irdische Sphäre hinaus. Sie
durchschaut die Menschen mit der Kraft
der Liebe. Als Wilhelm mit ihr über ge¬
meinsame Freunde spricht, heißt es:
„Die Personen, welche Wilhelm kannte,
standen wie verklärt vor seiner Seele;
das einsichtige Wohlwollen der un-
Original frum
INDIANA UNIVERSITY
973
Jonas Cohn, Goethes Anschauung vom sittlichen Lehen
schätzbaren Frau hatte die Schale losge-
gelöst und den gesunde Kern veredelt
und belebt.“
Diese liebende Hellsichtigkeit für alle
sittlichen Verhältnisse ist aber nur die
eine Seite ihres Wesens. Sie lebt in ge¬
heimnisvoller Einheit mit den Bewe¬
gungen des Sonnensystems. Wie Goethe
diese Andeutungen verstanden wissen
will, sagt er selbst: auch wer die kosmt-
mischen Erfahrungen Makariens als ein
dem Roman wohlziemendes Märchen
belächeln könnte, dürfte sie doch immer
als ein Gleichnis des Wünschenswertes¬
ten betrachten. Das hat einen doppel¬
ten Sinn: einerseits bedient sich Goe¬
the hier wie öfter des alten Gedankens,
daß die ewige Ordnung der himmlischen
Bewegungen Vorbild und Urbild eines
richtig geordneten Innern sei. Darüber
hinaus aber ist das Wünschenswerteste
die mikrokosmische Spiegelung der Na¬
tur im Menschen. Durch alle Erkennt¬
nis der Kämpfe und Bedingtheiten, der
Begrenzungen und Entsagungen unseres
Lebens hat Goethe die mikrokosmische
Idee festgehalten. Makarie steht in den
Wanderjahren neben allen den in Ent¬
sagung und Begrenzung tätigen Arbeits¬
menschen als ein Zeichen, daß die alte
Sehnsucht nach mikrokosmischer Voll¬
endung nicht aufgegeben, nur in die
Stellung des Ideals gebracht ist, als
Warnung davor, den Sinn des Werkes
zu eng zu fassen. Daß* solche Interpreta¬
tion nichts gewaltsam unterlegt, viel¬
mehr die Bilder des Dichters wirklich
auslegt, darüber beruhigt, was Goethe am
27. Sept. 1827 an Iken (zunächst über „He¬
lena“) schreibt: „Da sich gar manches
unserer Erfahrungen nicht rund aus¬
sprechen und direkt mitteilen läßt, so
habe ich seit langem das Mittel gewählt.
974
durch einander gegenübergestellte und
gleichsam einander abspiegelnde Ge¬
bilde den geheimen Sinn dem Aufmer¬
kenden zu offenbaren.“ Während Goethe
in seiner Jugend hin- und hergeworfen
wurde zwischen brünstig ergriffenen
Momenten der Einheit mit der Gottna¬
tur und hellsichtiger Verzweiflungbeim
Anblicke der menschlichen Schwäche,
sieht er nun in dem geordneten Ganzen
eines Lebens, das sich in seiner be¬
stimmten Weise zur Ordnung aufbaut,
die wahne tätige Teilnahme an der Ord¬
nung des Ganzen. Von dem Unend¬
lichen, das wir nicht schauen können,
dürfen wir so wenigstens eine Ahnung
gewinnen. Dabei bleibt gemäß dem po¬
sitiven Grundzuge alles Einzelne in sei¬
nem Wert erhalten. Wir erheben uns
über das Begrenzte nicht, indem wir es
verneinen und entwerten, sondern in¬
dem wir es ganz zu erfassen und zu ge¬
stalten uns bemühen. Man kann die
Kunstform des Goetheschen Faust als
ein Abbild dieser Gesinnung verstehen.
Jeder Teil ist so reich, so voll ausge¬
bildet, als stände er nur um seiner selbst
willen da. Ungeduldige Frager nach der
Idee des Ganzen hat Goethe gern auf
das einzelne verwiesen, ohne dessen le¬
bendigen Genuß in der Tat der Sinn der
Dichtung verborgen bleibt. Und doch
deuten überall beziehungsreiche Worte
über den einzelnen Teil der Dichtung
hinaus, deren Held ja der Ruhe im Au¬
genblick abgeschworen hat. Die Dich¬
tung endet im Oberirdischen, und wenn
wir Goethes Sinn sonst wohl in die For¬
mel zusammenfassen dürfen: Alle 8 Ver¬
gängliche ist ein Gleichnis, so belehrt
uns zuletzt der Chorus mysticüs: Alles
Vergängliche ist nur ein Gleichnis.
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
075
Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation
976
Mission und Kolonisation.
Von Friedrich Wiegand.
Was niemand erwarten konnte, ist
eingetreten: der europäische Krieg hat
in starkem Maße das öffentliche Inter¬
esse auf die Heidenmission gelenkt
Es gibt viele unter den ihr bisher Ferner-
stehenden, die sich mit einem Male leb¬
haft um sie kümmern. Kein Verständi¬
ger wird freilich diese plötzliche Be¬
kehrung überschätzen; sie ist eher ge¬
eignet, mißtrauisch zu machen. Denn
was die meisten, die heute über Hei¬
denmission schreiben und sprechen, zu
bieten haben, ist noch immer nicht
eigentlich Rat und Hilfe als vielmehr
Tadel und Forderung. Und diese For¬
derung, die sich bezeichnenderweise
immer nur an die evangelische Mission
richtet, sie lautet: Weg mit aller deut¬
schen Missionsarbeit aus fremden Ge¬
bieten, weg vor allem aus den engli¬
schen Kolonien I
In der Tat, wenn etwas heute unsere
Empörung wachrufen muß, so ist es
die brutale Unsachlichkeit, mit der
England den von ihm heraufbeschwo-
renen Krieg führt, die Frivolität, mit der
es die scharfe Linie zwischen weißer
und schwarzer Rasse verwischt, die
Schamlosigkeit, mit der es in den Ko¬
lonien die Eingeborenen gegen die Deut¬
schen losläßt, um schließlich auch nicht
einmal vor einer rohen Störung der
missionarischen Friedensarbeit zurück¬
zuschrecken. Missionare werden gefan¬
gengesetzt, ihre Familien ausgewiesen,
die seit langer Hand gesammelten
christlichen Gemeinden mit der Auf¬
lösung bedroht. Wenn man sich ver¬
gegenwärtigt, daß hier Werte, die im
Laufe von Jahrzehnten mühsam gesam¬
melt und angebaut wurden, mit einem
Schlage und ganz unnützerweise ver¬
wüstet werden, Werte nicht bloß mate¬
rieller, sondern vor allem kultureller
und geistiger Art, so liegt freilich der
Wunsch nahe, deutsche Missionen für
kommende Zeiten vor einer ähnlichen
Schädigung gesichert zu sehn. Oben¬
drein erscheint der Vorschlag ebenso an¬
ziehend als praktisch einfach und leicht
durchführbar. Immerhin geht ein Abkoni'
mandieren deutscher Missionare etwa
von Indien nach Ostafrika nicht so
glatt, wie es sich ausspricht, und es
ist obendrein für Deutschland noch eine
sehr zweischneidige Sache. Man wird
sich daher die Eigenart aller Missions¬
arbeit aus der geschichtlichen Entwick¬
lung klarmachen müssen, ehe man das
entscheidende Wort spricht.
I.
Die Mission ist so alt wie das Chri¬
stentum selbst. Schon Paulus war ein
Missionar, der mit genialem Griff in
weit auseinanderliegenden Gebieten eine
Reihe von Christengemeinden gegrün¬
det und damit einen Zustand geschaf¬
fen hat, der bis heute nachwirkt. Er hat
zugleich durch seinen lebhaften Brief¬
wechsel, in welchem er auf die religiö¬
sen, sittlichen und persönlichen Fra¬
gen dieser Gemeinden verständnisvoll
einging, dafür gesorgt, daß dem äuße¬
ren Erfolge die innere Festigung und
Entwicklung nach Möglichkeit ent¬
sprach. Aber sein Wirken vergleicht
sich doch mehr der Arbeit des wan¬
dernden Philosophen, der durch Vor¬
träge für eine neue Richtung Anhänger
gewinnt und sie zu einem großen Ver¬
eine zusammenschließt. Paulus hat nie
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INDIANA UNIVERSITY
077
Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation
978
daran gedacht, das scharf umgrenzte
Gebiet der griechisch-römischen Bil¬
dung, die Provinzen des römischen Rei¬
ches, zu überschreiten. Die heidnischen
Germanen, die Perser im Osten, die
Stamme von Innerafrika lagen außer¬
halb seines Gesichtskreises. Er würde
sich auch nicht um sie gekümmert
haben, selbst wenn er noch so alt ge¬
worden wäre. Seine letzten und höch¬
sten Ziele waren Rom und Spanien,
Gipfel und Grenze der römischen Kul¬
tur. Innerhalb dieser Welt drehte sich
seine Aufgabe obendrein nur um reli¬
giöse und sittliche Fragen. Von den
hundert Kleinigkeiten, die heute das Le¬
ben eines Missionars ausmachen, durfte
er absehen. Wer auf den bequemen rö¬
mischen Landstraßen in kurzen Tage¬
reisen von einer Stadt zur anderen
fahrt, ist der Anforderungen überhoben,
die ein unbekanntes und unkultiviertes
Gebiet an den Missionar stellt Wer im
Lande bleibt, kommt mit seiner Mutter¬
sprache aus und hat nicht not sich in
mühsamem Ringen mit einem anders
gearteten Denken und einem fremden
Sprachgeiste auseinanderzusetzen.
Und das gleiche gilt von der Missions¬
arbeit der ersten sechs Jahrhunderte
überhaupt. Zwar will die eigensinnige
Legende von diesem oder jenem Apo¬
stel wissen, daß er sich bis an die
äußerste Grenze des Reiches gewagt
oder diese wohl gar überschritten habe.
Aber selbst wenn solchen Erzählungen
ein bescheidener geschichtlicher Kern
zugrunde liegen sollte: an der Haupt¬
sache ändern derartige Ausnahmen
nichts. Die sich automatisch voll¬
ziehende Ausbreitung des Christentums
bleibt vorläufig noch auf die Bürger
des römischen Reiches beschränkt und
gilt etwa Germanen, Syrern oder Kop¬
ten nur insofern, als sie innerhalb des
römischen Machtbereiches wohnen. Die
Kirche sucht die Heiden nicht in fer¬
nen Ländern auf, sondern läßt sie zu
sich kommen. Die Mission der alten
Zeit bleibt immer und überall national
gebunden.
Eine Mission in anderem Sinne hat
erst Papst Gregor der Große ins Auge
gefaßt. Seit 597 gewinnt er die außer¬
halb der Reichsgrenzen wohnenden An¬
gelsachsen für die römische Kirche.
Sorgfältige diplomatische Verhandlun¬
gen hatten die Bahn freigemacht, auf
der in mehreren Schüben römische Be¬
nediktinermönche als Missionare ihren
Einzug in den angelsächsischen König¬
reichen. hielten. Was Gregor zu dem
sehr kostspieligen Unternehmen veran-
laßte, waren nicht eigentlich religiöse
Gesichtspunkte und noch viel weniger
Gefühlsgründe. Vielmehr hat die Kir¬
chenpolitik auch in diesem Falle min¬
destens instinktiv seine Gedankenwelt
beherrscht und seine Maßnahmen gelei¬
tet. Es galt, das Machtgebiet des Papst¬
tums um eine neue zukunftsreiche Pro¬
vinz zu vermehren. Der Osten war ver¬
sperrt, seit mit Justinian das byzanti¬
nische Reich auch kirchlich sehr be¬
wußt seine eigenen Wege ging. Nur im
Norden war die Welt noch frei. Gregor
hat sich ihrer planmäßig bemächtigt
Zum ersten Male wird das Wort:
„Gehet hin in alle Welt“ in die Wirk¬
lichkeit umgesetzt.
Und doch ist auch Gregor eigentlich
nur dem Schritte der Legionen gefolgt
die früher einmal den Süden von Eng¬
land besetzt hielten; ideell konnte Eng¬
land noch immer für ein Stück des
römischen Reiches gelten. Dement¬
sprechend ist denn auch diese schein¬
bar sehr kühne Überseemission vorläu¬
fig die einzige geblieben, und auch das
Papsttum hat in den nächsten Jahrhun¬
derten nicht daran gedacht ihr ähn¬
liche Unternehmungen folgen zu lassen.
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INDIANA UNIVERSITY
979
Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation
980
Denn auch die Mission des Mittelalters
war so gut wie ausschließlich Kolonial-
mission. Sie lag in den Händen der
fränkischen und deutschen, der mähri¬
schen und polnischen Könige. Sie ver¬
folgte den Zweck, die eroberten Grenz¬
gebiete von Staats wegen fest an das
Hauptland zu binden und das Tren¬
nungsmoment zu beseitigen, das mit
einer anders gearteten Religion ohne
Frage gegeben ist. So förderten die
von den Frankenkönigen empfohlenen
oder beauftragten Kleriker die allmäh¬
liche Christianisierung des östlichen Ko¬
loniallandes, und zwar von Friesland
Ober Hessen, Thüringen und das Main¬
land bis in die Schweiz. In noch größe¬
rem Stile hat dann Karl der Große
überall, wohin sein erobernder Fuß trat,
zugleich die kirchliche Frage ins Auge
gefaßt und mit wechselndem Geschick,
aber überall mit gleicher Kraft geför¬
dert: zwischen Regnitz und Fichtel¬
gebirge unter den Mainslawen, im We¬
sergebiet unter den Sachsen, an der
mittleren Donau unter den Avaren. Und
Ludwig der Fromme, der kein Erobe¬
rer war, aber wenigstens einen politi¬
schen Einfluß in den skandinavischen
Ländern geltend zu machen suchte,
glaubte diese seine Pläne am besten ge¬
fördert, wenn der sanfte Ansgar die
friedlichen Beziehungen noch kirchlich
unterstrich. So gingen auch im Nor¬
den die missionierenden Benediktiner¬
mönche nur im Gefolge der kaiserlichen
Diplomatie. Und dasselbe Bild bleibt
unter den Ottonen und den fränkischen
Kaisern bis in die Tage Heinrichs des
Löwen und Albrechts des Bären. Es hat
mehr als lange gedauert, bis die schma¬
len Streifen zwischen Saale, Elbe und
Havel und dann die Oder entlang mit
Deutschland fest zusammengeschweißt
waren. Und ebenso lange, bis man diese
Slawenstriche als christliche Länder an¬
sprechen konnte. Denn auch hier blieb
die Mission überall abhängig von der
Kolonisation, von ihren Erfolgen, aber
auch von ihren Rückschlägen. Der
deutsche Militär- und Garnisonpfarrer
und der Slawenmissionar waren ein
und dieselbe Person.
Vom 8. bis zum 12. Jahrhundert gilt
als Missionssubjekt der christliche Staat
im Sinne Augustins. Er steigert seine
Macht und hebt die Kultur, indem er
zugleich das Reich Gottes fördert und
dafür sorgt, daß das Christentum in
derjenigen Form und Verfassung, in
denen er es selbst besitzt, weitergege¬
ben wird. An dieser Grundstimmung
ändert es auch nichts, wenn besonders
ausdrucksvolle Persönlichkeiten, wie
etwa Willibrord, Bonifatius oder Ans¬
gar kräftig in den Vordergrund treten.
Gewiß hat jeder von ihnen den Mis¬
sionsgedanken eigenartig ausgeprägt
und dementsprechend besondere Er¬
folge gehabt. Diese Männer waren in
den praktischen Einzelfragen wohl die
treibenden Kräfte. Aber selbst Bonifa¬
tius, der Missionar des Mittelalters
schlechthin, hat sich bei allen seinen
Unternehmungen wie selbstverständlich
im Rahmen der fränkischen Politik hal¬
ten müssen. Seine Tätigkeit schloß sieb
überall der von den fränkischen Köni¬
gen und Hausmeiern für nötig erachte¬
ten Evangelisierung der neustrischen
Grenzgebiete an. Und nur die persön¬
liche Kraft und Eigenart, mit der er
seine Aufgabe erfaßte und die zweck¬
entsprechenden Mittel zu finden wußte,
brachte er als Neues hinzu.
Nicht anders lagen aber auch die
Dinge im Osten. Byzantinische Kaiser
beschäftigten hier die Griechen Metho¬
dius und Kyrill in Mähren und Öster¬
reich. Dies brachte die ersten gro¬
ßen Grenzkonflikte in der Missioas-
geschichte. Die Bischöfe von Salzburg
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Go», igle
Original frorn
INDIANA UNIVERSITY
981
Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation
982
und Passau setzten sich zur Wehr, nicht
bloß aus Ehrgeiz oder Eitelkeit son¬
dern weil es sich um die entscheidende
Frage handelte, ob lateinische oder sla¬
wische Kirchensprache, ob Deutschtum
oder Griechentum, ob das germanische
oder das slawische Element im heu¬
tigen Österreich den Vorspmng gewin¬
nen sollten. Hinter dem, was wie ödes
Theologengezänk aussieht, standen die
großen nationalen Gegensätze. Dem na¬
tionalen Gedanken ordnete sich auch
bei dieser Missionsarbeit alles übrige
unter.
In gleicher Weise will der viel¬
gerühmte Pommernapostel Otto von
Bamberg vorzugsweise als ein vom Kö¬
nige von Polen im Dienste der polni¬
schen Eroberungspolitik berufener und
verwendeter kirchlicher Agent gewertet
sein. Er sollte die Pommern, die west¬
wärts durch eine breite heidnische Sla-
wenschicht abgesperrt waren und mit
allen ihren Beziehungen, den politi¬
schen wie merkantilen, nach Osten
schauten, die obendrein der Annahme
des Christentums nicht spröde gegen¬
überstanden, mit Polen kirchlich und
politisch zusammenschließen. Darum
nahm der von Bamberg kommende Otto,
heute für uns schwer verständlich, da¬
mals hingegen ganz naturgemäß, seinen
Weg nach Pyritz und Kammin über
Gnesen und drang n?ch dem Westen
Pommerns erst über Stettin vor.
Vergegenwärtigt man sich diese ein¬
heitliche Entwicklung, so muß es min¬
destens für den kirchlichen Romantiker,
der seinen Standpunkt in dem frommen
deutschen Mittelalter nimmt, sofern er
dieses fromme deutsche Mittelalter über¬
haupt wirklich kennt, sehr nahe liegen,
daß der Bischof mit dem Könige geht,
daß ach auch heute die kirchliche Ar¬
beit eng an die kolonisatorische des
Staates anzuschließen hat.
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Im 15. Jahrhundert haben dann die
großen Entdeckungen und überseei¬
schen. Eroberungen eingesetzt und mit
ihnen hat sich auch das missionarische
Bild zum ersten Male völlig verschoben.
Spanien und Portugal erwarben Kolo¬
nien in Amerika, Indien, Afrika. Die lei¬
tenden Gesichtspunkte waren überall
für Regierung wie Volk der Erwerb und
die Macht während ihnen sittliche oder
gar religiöse Ziele innerhalb dieser Fra¬
gen durchaus femlagen. Hatte sie doch
inzwischen der mittelalterliche Katholi¬
zismus dahin belehrt daß religiöse An¬
gelegenheiten nicht Sache des Laien,
also auch nicht Sache der Staatsregie¬
rung seien, sondern allein vom Klerus
auszugehen hätten, der, in jeder Weise
zentralisiert, seinerseits wiederum An¬
stoß und Leitung allein von der Kurie
in Rom bekam. Diese Kurie konnte man
wohl gelegentlich durch Wünsche be¬
einflussen; man durfte aber nicht wagen,
an ihr vorüberzugehen.
So ist es von jetzt ab die organisierte
Kirche, welche die Missionsarbeit in
den spanischen und portugiesischen Ko¬
lonien in die Hand nimmt. Sie bean¬
sprucht das geistliche Leben in den
neuentdeckten Gebieten für sich. Die
Leiber der Eingeborenen mögen Spanien
oder Portugal gehören, auf die Seelen
hingegen hat zweifellos Rom allein An¬
spruch. Es darf sich die Macht in jenen
unermeßlichen Gebieten nicht entgehen
lassen.
Es waren Renaissancepäpste, die sich
aus jenen Erwägungen heraus jetzt auf
die Mission warfen. Sie waren weder
geistlich interessiert noch fromm; trotz¬
dem stellten sie sich an die Spitze eines
Unternehmens rein geistlicher Art Der
dem Papsttum zu allen Zeiten eigen¬
tümliche Scharfblick hat sie auch dies¬
mal geleitet; mit staunenswertem Spür¬
sinn folgten sie dem Gange derWeltge-
Original fro-m
INDIANA UNtVERSITY
983
Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation
984
schichte. Alexander VI. aus dem Hause
Borgia teilte die Neue Welt zwischen den
beiden Entdeckerstaaten, indem et hun¬
dert Meilen westlich vom Kap Verde
und den Azoren eine Linie vom Nord¬
pol bis zum Südpol zog: der Westen
sollte Spanien, der Osten Portugal ge¬
hören. So freigebig zu sein, wurde ihm
leicht; denn für sich selbst, den dritten
im Bunde, verlangte er, daß die beiden
Konkurrenten rechtschaffene, gottes-
fürchtige, gelehrte und praktische Män¬
ner in die neuen Weltteile schicken soll¬
ten, um die Eingeborenen dem römi¬
schen Glauben zuzuführen.
Die Durchführung des neuen Mis¬
sionsprogramms fiel den Bettelorden,
in erster Linie den Franziskanern, zu
Sie haben in kurzer Zeit den Missions¬
gedanken auf der Pyrenäenhalbinsel
volkstümlich zu machen gewußt. Hier
fand ihn auch Ignatius von Loyola vor
und nahm ihn in den Kreis seiner Le¬
bensaufgaben mit auf. Er steckte eben
damals in allen klerikalen Köpfen der
beiden großen Kolonialvölker. Auf diese
Weise wurden die Jesuiten für Jahr¬
hunderte die bevorzugten Missions¬
arbeiter; ihre verblüffenden Erfolge
haben die Welt lange in Atem gehalten.
Denn sie verstanden es vortrefflich,
sich den Gepflogenheiten und einge¬
wurzelten Empfindungen der Eingebo¬
renen weitherzig anzupassen; sie waren
zufrieden, wenn sich die Getauften zur
römischen Kirche bekannten und sich
ihren kirchenregimentlichen wie liturgi¬
schen Ordnungen fügten. Weniger lag
ihnen dagegen an der ins einzelne
gehenden Seelengewinnung, die, um Er¬
folg zu haben, Jahrhunderte in An¬
spruch genommen hätte. Sie wollten
rasche Erfolge sehen, wollten im Hand¬
umdrehen unbegrenzte Völkermassen
für die römische Kirche erobern und
kirchenpolltisch nutzbar machen. Dar-
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um durften sie nicht allzu peinlich sein.
So sind Indien, Mexiko, Südamerika
fast ebenso schnell in den Besitz der
römischen Kirche gekommen wie poli¬
tisch in den von Portugal und Spanien.
In diesem ganzen Abschnitt ist die rö¬
mische Mission also auch nicht viel
etwas anderes als eine Kolonialmission.
Sie wird von Rom aus nicht unter dem
Gesichtspunkte des persönlichen Chri¬
stentums betrieben, sondern in idealer
Konkurrenz mit den weltpolitischen Er¬
oberungen der beiden katholischen Vor¬
mächte, mit Rücksicht auf sie und ge¬
wissermaßen als ihr Vormund.
An dieser Tatsache ändert es auch
nichts, wenn die Jesuiten schon früh in
Japan und China, also außerhalb der
spanisch-portugiesischen Kolonien, ge¬
arbeitet, oder wenn sie im 18. Jahrhun¬
dert in Paraguay mit höchst auffälliger
Methode geradezu eine eigene jesui¬
tische Ordensmission in Szene gesetzt
haben. Ein von den größten Erfolgen
gekröntes Missionswerk von zweihun¬
dert Jahren mußte leicht selbsttätig
weitergreifen und Gesichtspunkte* auf¬
nehmen, die ihm ursprünglich fern¬
lagen. An den eigenen Leistungen
wächst die missionarische Kraft, von
ihnen beherrscht erweitert sich der
ursprüngliche Plan. Diese Jesuiten
konnten es als die ersten wagen,
auch außerhalb des Schutzes und der
Interessen einer europäischen Kolonial¬
macht gewissermaßen auf eigene Faust
in Japan und China Mission zu treiben.
Damit schufen sie einen vollkommen
neuen Tatbestand, der verblüffend wirkte
und nicht am wenigsten von weit¬
blickenden Protestanten in Frankreich
und Deutschland, an ihrer Spitze von
Leibniz, lebhaft bewundert wurde.
Original from
INDIANA UNIVERSITY
«85
Fr. Wiegand. Mission und Kolonisation
986
II.
Wie hat sich nun der Protestantis¬
mus zur Mission gestellt?
Eine zunächst rein geistige Bewe¬
gung, der es nur um die Frage des Ge¬
wissens, nicht aber um kirchliche Macht
zu tun war, fand zu einem Missions-
betriebe, wie er sich inzwischen ent¬
wickelt hatte, keine Brücke. Man hat
wohl von dem engen Gesichtskreise
des Kleinstaatlers Luther gesprochen,
der aus partikularistischer Beschränkt¬
heit für überseeische Pläne nicht zu
haben war. Aber auch Calvin hat trotz
weiteren Blickes und reicherer Bildung
nicht an die Mission gedacht, und zwar
aus guten Gründen. Denn so paradox
es klingt: gerade wer den evangeli¬
schen Standpunkt richtig erfaßt hatte,
mußte damals die Hand von der Mis¬
sion fortlassen. Soll doch nach refor-
matorischer Anschauung der Mensch
nur das anpacken, wozu er einen Be¬
ruf hat, in diesem Berufe aber mit nüch¬
terner Hingabe seine Pflicht tun. Für
die Mission aber hatte der damalige
Protestantismus noch keinen Beruf. Er
war noch keine Weltkirche; seine Auf¬
gaben waren noch eng umschlossen
durch die religiösen Bedürfnisse der
christlichen Länder, in denen er auf¬
gekommen war und in denen er erst
tiefere Wurzel fassen mußte. Von einem
Missionsberufe konnte für den Prote¬
stanten erst geraume Zeit später die
Rede sein, etwa damals, als die Hollän¬
der sehr bescheiden und wenig erfreu¬
lich auch an der heidnischen Bevölke¬
rung ihrer indischen Kolonien so etwas
wie Seelsorge trieben. Sie taten es nicht
als Calvinisten oder weil sie besonders
fromm gewesen wären, sondern als
Seefahremation, der die koloniale Ar¬
beit auch diese religiösen Gesichts¬
punkte nahegelegt hatte. Dagegen kam
für Deutschland auch im 17. Jahrhun-
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dert die Mission noch nicht in Frage,
und seine führenden Theologen verhiel¬
ten sich ihr gegenüber während des
ganzen 17. Jahrhunderts noch durch¬
aus ablehnend. Vor allem wollte die
erlauchte und unbedingt rechtgläubige
theologische Fakultät zu Wittenberg
von Mission grundsätzlich nichts wis¬
sen. Heidenbekehrung sei wohl eine
Aufgabe der Apostel gewesen; wir
Männer von heute aber seien nur der
Kirche verpflichtet, in die uns Gott ord¬
nungsgemäß berufen habe. Dazu wirke
der von den Aposteln gegebene Anstoß
selbsttätig weiter, und wer sich ihm
entziehe, trage an seinem Heidnisch¬
bleiben allein die Schuld. Obendrein
stehe jedes weitere Vorgehen in sol¬
chen Dingen bei der Staatsregierung,
der die Pflicht, für Predigt und Unter¬
richt zu sorgen, allein obliege. Also:
wir deutschen Lutheraner haben zur
Mission keinen Beruf; diese gehört viel¬
mehr in den Rahmen einer kolonialen
Tätigkeit; sie ist nicht denkbar ohne
ein Zusammengehen mit den Bedürf¬
nissen des Staates.
An einer solchen Auffassung, die der
reformatorischen Wertschätzung der
natürlichen Lebensmächte, vor allem
des Staates, durchaus entsprach, mu߬
ten alle Anträge opferbereiter, aber kon¬
fuser Idealisten und Individualisten ab-
prallen. Auch des JustinianusvonWeltz,
eines echten Dilettanten, der sich als
Tummelplatz für seine aristokratische
Unbeschäftigtheit die Mission auser¬
sehen hatte. Als gefühlsseliger Pietist
\var er leider fünfzig Jahre zu früh auf
die Welt gekommen. Und doch hat ge¬
rade dieser Phantast für die evange¬
lische Mission das bis heute entschei¬
dende Wort gesprochen: er verlangte
als treibendes Organ eine jesusliebende
Gesellschaft, d. h. also einen Privatver¬
ein frommer Christen. Nicht der Landes-
Original fro-m
INDIANA UNIVERSIT7
987
Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation
988
herr, nicht das Kirchenregiment nimmt
die Mission in die Hand, sondern ein
frommer Kreis, dem es darum zu tun
ist, für Jesus zu arbeiten, wo und wie
er kann.
So hat der Pietismus die Mission
aufgefaßt und machtvoll betrieben.
Francke wollte Jesu Seelen gewinnen
daheim und draußen, in jeder Zunge, in
jeder Farbe.
Diese pietistische Mission war die
erste, die keine staatlichen und keine
kirchlichen Gesichtspunkte kannte noch
kennen wollte, die vielmehr beiden nach
Kräften aus dem Wege ging. Denn der
Staat ist für den Pietisten Welt. Aber
auch das Kirchenregxment, weil es ihm
durchaus nicht in allen Stücken zu Wil¬
len ist, gehört dahin.
Zu diesem prinzipiellen Standpunkt
traten dann Selbstverständlich noch
die geschichtlichen Verhältnisse. Selbst
wenn die Pietisten gewollt hätten, so
hätten sie keine nationale Mission trei¬
ben können. Wollten die Pietisten Hei¬
denseelen für Christus gewinnen, so
konnten sie diese nur unter ganz freien
Eingeborenen finden oder in einem
fremden Kolonialgebiete. Deutsche Ko¬
lonien gab es nicht. Die Pietisten
haben beide Wege eingesch lagen.
Francke, indem er von der dänischen
Kolonie Trankebar in Vorderindien aus¬
ging, die Brüdergemeinde, indem sie
nach Belieben in allen Zonen und in
allen Weltteilen einsetzte.
An Stelle des Staates und der Kirche
war das Interesse der Partei getreten.
Auch die Mission ist für den Pietisten
im eigentlichen Sinne Parteisache, Ver¬
einssache. So sehr, daß es zu allen
Zeiten als Unbequemlichkeit, ja als je-
suswidrige Störung empfunden wurde,
wenn auch andere gute Christen, etwa
die Orthodoxen, die eben keine Pieti¬
sten waren, sich daran beteiligten. Sie
gehörten in diese Vereins- und Partei¬
sache nicht hinein, sie trübten das hei¬
lige Feuer. Nur die um Francke
gescharte Gruppe steuerte die Mittel
bei, nur sie durfte die Leitung haben,
nur die in Halle abgestempelten Theo¬
logen waren als Missionare möglich.
Jeder andere wurde kräftig ferngehaiten.
Andererseits war der Pietismus vom
ersten Augenblicke an international. Die
Erweichung nationaler und kirch¬
licher Abgeschlossenheit bildet bis m
die Gegenwart 9eine Stärke und seine
Schwäche. Nichts lag Francke fer¬
ner als etwa die Verbindung der Be¬
griffe Mission und Deutschtum. Er
wollte das Reich Gottes bauen, das
eben nicht von dieser Welt ist Was
kümmerten ihn die Interessen irdischer
Politik? Jedenfalls nur so weit, als sie
ihm nützliche Dienste für das Reich
Gottes leisten konnten.
Etwas gemildert ist dies der Grund¬
satz aller Pietisten bis in unsere Tage
und aller Missionsarbeit bis in die
jüngste Vergangenheit geblieben. Was
die zufälligen Verhältnisse geschaffen
hatten, wurde später sogar mehr und
mehr zum Grundsatz erhoben.
Denn mit den zwanziger Jahren
des 19. Jahrhunderts trat der alte
Pietismus in neuer Verpuppung wie¬
der kräftig ain die Oberfläche und
zog allerorten die Aufmerksamkeit aaf
sich. Daß er ein Jahrzehnt später viel¬
fach eine konfessionelle Färbung be¬
kam und sozusagen eine Vereinigung
mit der alten Orthodoxie einging, darf
dabei nicht beirren. In der Hauptsache
war und blieb er der alte Pietismus, der
deshalb auch die Heidenmission, und
zwar nach der Methode des 18. Jahr¬
hunderts, als sein liebstes Kind ansah.
Erst jetzt ist die pietistische Mission,
deren Ansätze im 18. Jahrhundert rasch
wieder verkümmert waren, zur vollen
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Gck igle
Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
989
• Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation
990
Entfaltung gelangt. Der Privatverein
galt wieder als das normale Missions¬
subjekt. Denn mit Regierungen und
Kirchenregiment war noch immer keine
Fühlung zu gewinnen. Ihrer bureaukra-
tischen Schwerfälligkeit fehlte alles zu
einem kühnen Gedanken oder zu einer
mutigen Tat.
Diese jüngste Missionsperiode wird
vielmehr von einem genialen Autodidak¬
ten, dem Baptistenprediger William Ca-
rey, eingeleitet. Seiner baptistischen
Missionsgesellschaft folgte in England
rasch eine zweite, vorwiegend inde-
pendentistische und eine dritte, vorwie¬
gend hochkirchliche. Und ganz ähnlich
entwickelten sich etwas später die Dinge
in Deutschland. Auch hier bildeten sich
die Missionsgesellschaften nicht eigent¬
lich unter dem missionarischen Gesichts¬
punkte, sondern entweder nach konfes¬
sionellen und kirchenpolitischen Rück¬
sichten oder unter dem Einflüsse einer
starken originellen Persönlichkeit oder
eines landsmannschaftlichen Bedürfnis¬
ses. Jedenfalls herrschte überall bei
Gründung einer Missionsgesellschaft die
Willkür des pietistischen Parteigedan¬
kens.
Nicht anders lagen die Dinge, wenn
es sich um die Wahl des Arbeitsgebie¬
tes draußen handelte. England besaß
wohl wachsende Kolonien; auf sie sahen
sich die englischen Missionsgesellschaf¬
ten naturgemäß in erster Linie hingewie¬
sen. Aber für Deutschland fehlte noch
immer eine solche Richtlinie. Bei allen
Missionsuntemehmungen blieb der va¬
terländische Gedanke deshalb ausge¬
schaltet. Und würde er sich irgendwo
hervorgewagt haben, so hätte ihn die
pietistische Denkweise und der in den
Missionskreisen herrschende Partikula¬
rismus rasch zurückgedrängt. Statt sei¬
ner entschied eine gelegentliche Anre¬
gung, die Lieblingslektüre der leitenden
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Persönlichkeiten oder ihre Bekannt¬
schaft mit einem, der draußen gewesen
war. Schließlich nahm man die Karte
zur Hand und suchte nach einer noch
nicht besetzten Stelle mit der stür¬
misch vorgetragenen Forderung: Jetzt
endlich müsse mit einem Schlage die
ganze Welt für Christus gewonnen und
es müsse deshalb in allen Ländern zu
gleicher Zeit mit dem Angriff einge¬
setzt werden. Als ob Geistliches sich
nicht immer allmählich entwickelte. Und
als ob es nicht der Grundsatz jeder ge¬
sunden Strategie wäre, die Streitkräfte
an den wichtigsten Punkten zu Haupt¬
stößen zusammenzuhalten, statt sie zu
verzetteln.
Viel Enges und Ungesundes ist bei
diesem Missionsbetriebe in Deutschland
mit untergelaufen. Nicht nur die Ungunst
der Verhältnisse, sondern vor allem
eigene Fehler haben die Mission Jahr¬
zehnte hindurch nicht volkstümlich wer¬
den lassen. Sie blieb die Liebhaberei
der Pfarrer und kleinen Leute, und ihre
Kreise deckten sich nicht mit jenen, die
für nationalen und wissenschaftlichen
Fortschritt eintraten. So traf sie, viel¬
fach nicht mit Unrecht, der Schein der
Kleinlichkeit und Lächerlichkeit Ganz
im Gegensätze zu England, wo sie, ver¬
flochten mit den kolonialen Interessen
der Nation, auch bei den einflußrei¬
chen Männern des gebildeten Bürger¬
tums lebhaftes Entgegenkommen fand.
Dies alles muß zugegeben werden,
und doch läßt sich nicht leugnen, daß
die Mission des 19. Jahrhunderts bei
allen ihren Schwächen in vier Welttei¬
len eine höchst bedeutende Kulturarbeit
geleistet hat Durch seelsorgerliche
Treue, planmäßigen Unterricht und
praktische Organisationen hat sie sogar
schon in manchen Ländern ihr abschlie¬
ßendes Ziel, die Bildung selbständiger
Volkskirchen, erreicht.
Original from
[ND1ANA UNIVERSITY
991
Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation.
992
III.
So lagen die Dinge, als Deutschland
seit den achtziger Jahren rasch in die
Reihe der Kolonialstaaten eintrat Der
Jubel in den Missionskreisen war ehr¬
lich und groß. Im Handumdrehen wur¬
den sämtliche deutsche Kolonien mit
einem Netze von Missionsstationen über¬
zogen, ungeachtet der Schuldenlast in
welche dadurch die alten Gesellschaften
gerieten und unter der sie heute noch
seufzen. Ja, der Übereifer war so
stark gewesen, daß schon nach einigen
Jahren bei den Grenzregelungen in Ost¬
afrika von den rasch entstandenen
neuen deutschen Stationen zwei den
Engländern und eine dem Kongostaate
zum Opfer fielen.
Niemandem aber kam es damals in
den Sinn, die alten, in fremden Gebie¬
ten blühenden deutschen Missionsge-
meinden aufzugeben oder ihre Leiter
in eine deutsche Kolonie herüberzu¬
nehmen.
Aus guten Gründen. Denn der Kauf¬
mann verlegt wohl sein Geschäft leicht
und rasch. Schwerer wird es schon für
den Farmer. Schier unmöglich aber ist
es für den Missionar, der sich immer
erst mühsam in ein fremdes Volk hin-
einarbeiten muß. Und noch ernster liegt
die Frage für die Gemeinden selbst
Soll man sie als Ruinen sich selbst über¬
lassen oder wie Waren an den Meist¬
bietenden verschachern? Sie hängen
eben doch zu eng mit der heimischen
Missionsleitung zusammen. Dies haben
wir nicht nur vor 15 Jahren bei den
Hereroaufständen erlebt sondern erst
jüngst wieder in Kamerun und auf dem
fremden Boden von Indien. Wie jeder
Annektierte, so würden darum auch sie
einen Wechsel schmerzlich empfinden.
Freilich gewöhnt man sich schließlich
an alles, und auch die von deutsch¬
evangelischen Missionaren herangebil¬
deten Gemeinden müßten allmählich in
hochkirchliche oder methodistiscbe oder
baptistische Anschauungen hineinwach-
sen, wenn man sie an England abtreten
würde. Aber ob eine solche Verschie¬
bung — ich will nicht einmal sagen, für
den deutschen Protestantismus, sondern
für das Deutschtum überhaupt — sehr
erwünscht wäre, ist eine andere Frage
Es schien und scheint auch heute nicht
wohlgetan, wenn Hunderttausende, die
bisher zu uns Beziehungen hatten, lang¬
sam dem Engländertum, Buren tum, Ja-
panertum verfallen. Denn es ist min¬
destens sehr einseitig, die Missions¬
arbeit nur als einen den fremden Völ¬
kern geleisteten Dienst anzusehen, wohl
gar als Verschwendung von deutscher
Arbeit und deutschem Gelde. Jede Mis¬
sionsgemeinde draußen bedeutet viel¬
mehr ein größeres oder geringeres Stück
deutschen Einflusses und deutscher Be¬
ziehungen. Wem würden wir also mit
einem solchen Rückzuge nützen? Liegt
es wirklich im Interesse des deutschen
Volkes, daß wir eine Pionierarbeit von
Menschenaltern mit einem Schlage auf¬
geben? Daß wir uns aller jener Ver¬
trauensstellungen berauben, die wir
durch die Mission bei Tausenden von
britischen, burischen und japanischen
Untertanen gewonnen haben? Würden
es wohl die Japaner als Schädigung
empfinden und bedauern, wenn Deutsch¬
land sofort nach dem Falle von Tsing¬
tau seine Missionare aus Schantung zu¬
rückgezogen hätte, ohne zuvor — ein
schlechter Lohn für ihr mutiges Aus¬
halten — ihr Urteil über die Möglich¬
keit einer Fortführung der Arbeit ge¬
hört zu haben?
Man hat wohl entgegnet, die Frage
würde sich vermutlich sehr einfach in
der Weise lösen, daß uns eben nach
dem Kriege keine andere Wahl mehr
bliebe als die Zurücknahme unserer Mis-
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Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
Fr. Wiegand, Mission und Kolonisation
99 *
M
sjonare aus fremden Kolonien. Unsere
erbitterten Feinde vgn heute würden •
auch fernerhin innerhalb ihrer Grenzen
keine deutschen Missionare mehr dul¬
den. Ich halte diese Ansicht für falsch.
Der Handelsverkehr zwischen den Tod-
feinden von heute wird wieder ins Ge¬
füge kommen. Wissenschaft, Kunst und
Technik werden von neuem ihre Gedan¬
ken fruchtbringend austauschen. Warum
sollten nicht auch die religiösen
Beziehungen und unter ihnen wie¬
derum die missionarischen von der nach
dem Frieden mit Sicherheit zu erwar¬
tenden Beruhigung der Nationen Vor¬
teil ziehen?
Freilich, was unrettbar zerstört ist,
soll man nicht künstlich in seinen alten
Zustand zurückversetzen wollen. Der
Krieg ist nun einmal der große Korrek¬
tor, von dem sich die Völker belehren
lassen müssen. Er schafft Ruinen und
er löst Verbindungen, um für neue
Schöpfungen Raum zu haben. In ganz
Europa müssen heute Hunderttausende
das Alte vergessen und für eine anders
geartete Zukunft neue Gedanken suchen.
So wird auch die deutsche Missions¬
arbeit nach dem Kriege einer breiteren
Grundlage bedürfen, und zwar muß
diese Grundlage unbedingt nationaler
Art sein. Bei aller Hochachtung vor den
Leistungen der deutsch-evangelischen
Mission im 19. Jahrhundert: ihre Form
ist nicht für alle Zeiten die allein be¬
rechtigte und mögliche. Dies hat sie
selbst angefangen einzusehen. Die pie-
tistische Willkür, mit der sie sich bis¬
her ihre Missionsgebiete zusammen¬
suchte, muß in stärkerem Maße einem
vertrauensvollen Zusammenarbeiten mit
den Plänen und Aufgaben des Deut¬
schen Reiches in den Kolonien wei¬
chen. Auch die evangelische Mission
Deutschlands muß wieder wie ihre Vor¬
gängerin im Mittelalter es lernen, in den
Internationale Monatsschrift
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Bahnen der Reichspolitik zu gehen und
ihr die Wünsche und Neigungen der - -
einzelnen Missionsgesellschaften anzu¬
passen.
Haben doch diese Missionsgesell- *
schäften selbst die in der National¬
spende vom Jahre 1913 zum Ausdruck
kommende freundschaftliche Betätigung
von Kreisen, die sonst dem Missions-
betriebe völlig fremd gegenübergestan¬
den hatten, mit großer Freude begrüßt.
Haben sie doch nicht minder in der
unter dem Protektorate des Kaisers
stehenden Deutschen evangelischen Mis-
sionshiife ein sehr willkommenes Mit¬
tel gesehen, um der durch die gestei¬
gerte Arbeit in den Kolonien hervor-
geiufenen Schwierigkeiten Herr zu wer¬
den. Man braucht sich ja nur diese bei¬
den Worte „national" und „deutsch" zu
vergegenwärtigen, um sofort einzu-
sehen, welche starke Umbiegung bereits
in den letzten dreißig Jahren die aus
dem Pietismus stammende Missions¬
denkweise sich hat gefallen lassen.
Wer das deutsche Missionsleben etwas
näher kennt, der weiß, daß diese bei¬
den Begriffe „national“ und „deutsch“
vor vierzig Jahren noch in jedem deut¬
schen Missionshause starken Wider¬
spruch und unzweideutige Ablehnung
gefunden hätten. Nach dieser Seite hin
sind unsere Kolonien bereits vortreff¬
liche Erzieher der Missionskreise ge¬
worden, so daß wir auf diesem Wege
• nur einen Schritt weiterzugehen brau¬
chen. i
Die Mission muß auf hören, Vereins¬
sache zu sein und ein wohlgemeintes
Spiel, das seine Kräfte verzettelt Sie muß
um unserer Kolonien willen Sache der
ganzen Nation werden. Unsere Handels¬
kreise stehen nicht mehr, wie die be¬
rüchtigten englischen und holländischen
Handelskompanien, jenseits von allem
sittlichen Empfinden; an die Schiffe un-
32
Original fro-m
INDIANA UNIVERSITY
995
Max J. Wölfl, Shakespeare als Künstler des Barocks
serer Kaufleute knüpft das Gute sich
überall an. Wie wir unsere Kolonien
militärisch schützen und wirtschaftlich
heben, so werden wir sie auch geistig
und religiös entwickeln. Zu dieser
selbstverständlichen Pflicht muß sich
die ganze Nation bekennen, wenn anders
sie wirklich den Anspruch erhebt, ein
Kolonialvolk, ein Weltvolk zu werden.
Nationalspende und Deutsche evange¬
lische Missionshilfe sind dazu die
ersten vielversprechenden Anzeichen.
Wie das einzelne sich zu gestalten
hat, darüber zu befinden gehört zu den
zahlreichen wundervollen Aufgaben un¬
serer großen Zukunft. Verheißungsvoll
ist es jedenfalls, daß auch die Organe
der Landeskirche, Kirchenregiment und
Synoden, die der Mission gegenüber
lange Zeit eine bewunderungswürdige
Verständnislosigkeit zur Schau trugen,
gegen sie seit dreißig Jahren in zuneh¬
mendem Maße Wohlwollen bekunden
und dieses in Zukunft ohne Frage stei¬
gern werden.
Und unsere Stellung zu den jetzt
«06
feindlichen Völkern und ihren Kolo¬
nien?
Wohl wird der Geschmack an Edin-
burg-Konferenzen den an englischem
und amerikanischem Wesen sich gern
berauschenden Missionsfreunden einst¬
weilen vergehen. Denn der Bruch zwi¬
schen uns und dem Angelsachsentum
braucht auch nach dem Kriege zu seiner
Heilung noch längere Zeit Es kann aber
nicht unser Wunsch sein, diesen Bruch,
der durch den Krieg in den Protestan¬
tismus gekommen ist, zu vergrößern
und zu verewigen. Wenn wir also
in fremden Gebieten die deutsche Mis¬
sion aufrechterhalten, so tun wir es
nicht aus Schwäche oder aus Mangel
an patriotischem Empfinden, sondern
weil wir hoffen, gerade dadurch den
deutschen Einfluß in der Welt zu stärken.
Aber das Natürliche ist immer
Beste Und natürlich ist es, wenn man
in erster Linie an seine Hausgenossen
denkt. Unsere Hausgenossen aber sind
und bleiben die Bewohner unserer Ko¬
lonien.
Shakespeare als Künstler des Barocks.
Von Max J. Wolff.
Die Überschrift dieses Aufsatzes ist
einer Arbeit O. Walzels im 52. Band des
Shakespeare-Jahrbuches entnommen, in
der er die dramatische Baukunst des
Dichters behandelt. Er verwahrt sich
zwar ausdrücklich gegen die Prägung ei¬
nes neuen Schlagwortes, aber er meint
doch, daß sich in Shakespeares poeti¬
schem Sch affen die gleichen Erscheinun¬
gen finden lassen, die man in der bil¬
denden Kunst unter dem Ausdruck
B a r o ck zusammenzufassen pflegt.
Unter diesem Gesichtspunkt solle
man Shakespeares dramatische Kunst
an den Stellen zu begreifen ver¬
suchen, die noch immer vielen als
verfehlt und verbesserungsbedürftig
schienen. An der Hand von Wölfflins
Kunstgeschichtlichen Grundbe¬
griffen findet Walzel das Wesen des
Barocks im Gegensatz zur vorausgehen¬
den Renaissance darin, daß der ge¬
schlossene Stil durch den offenen ersetzt
wird, der tektonische durch den atekt-
tonischen. Die symmetrische Gliederung
weicht der Asymmetrie, die strenge Re¬
gelmäßigkeit löst sich in scheinbare Re¬
gellosigkeit auf, die Regel wird ver¬
steckt, die Dissonanz kommt auf und der
Eindruck des Zufälligen entsteht Als
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Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
997
Max J. Wolff, Shakespeare als Künstler des Barocks
Vertreter des gebundenen dramatischen
Stiles erscheint Corneille, als der des of¬
fenen Shakespeare. Diese Ausführungen
haben gewiß etwas Bestechendes, und
zweifellos ist ja auch, daß in dem fran¬
zösischen Drama der klassischen Zeit —
bei Racine fast noch stärker als bei Cor¬
neille — die technischen Richtlinien kla¬
rer hervortreten, daß die Form strenger,
der Stil gebundener ist als in Shake¬
speares freiem Schaffen; es fragt sich nur,
ob dieses freiere Schaffen, der Form Wille
des Dichters, wie Walzel sich ausdrückt,
mit Erfolg aus dem Wesen des Barocks
erklärt werden kann, ob überhaupt die
Eiitwicklung der dramatischen Kunst
der der bildenden entspricht und ob auch
hier eine Wandlung von den festen Li¬
nien der Renaissance zu den lockeren
des Barocks stattfindet.
Ein erstes Bedenken ergibt sich aus der
zeitlichen Folge der beiden als typisch
betrachteten Dichter. Shakespeare ist der
Vorgänger Corneiiles, während es nach
WalzelsTheorie umgekehrt sein müßte.
Freilich waren beide voneinander unab¬
hängig, so daß keine direkte Linie von
dem Engländer zu dem Franzosen führt,
aber dieser lebte doch zu einer Zeit,
wo das Barock längst die Renaissance
überwunden hatte, während zu Shake¬
speares Zeit die jüngere Kunstrichtung
in England noch in den Anfängen stand,
mochte sie sich in Frankreich und Italien
damals auch schon durchgesetzt haben.
Freilich kann nicht geleugnet werden,
daß das Barock einen Einfluß auf die
Dichtung im allgemeinen und auf die
Shakespeares im besonderen ausgeübt
hat. Seine beiden kleinen Epen Venus
und Adonis und Lucrezia sind so
gutwieTassos Befreites Jerusalem
oder Markus Adone Erzeugnisse des
Barocks. Auch die sprachliche Mode oder,
wie man meistens sagt, die Sprachver-
derbnis, die sich in den verschiedenen
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Ländern an die Namen Marinis Gongar¬
ras, Dubartas’ und Lilys knüpft, wird
man als Ausfluß oder gar als Aus¬
wuchs dieser Kunstrichtung betrach¬
ten müssen. Das sind Tatsachen, die
gewiß für Walzel sprechen, und noch
mehr eine Bemerkung, die Tasso in einer
seiner theoretischen Schriften macht.
Er scheidet dort eine strenge und
klassische unitä und eine romantische
unitä di molti, eine Einheit in der
Vielheit. In der Terminologie Walzels
und Wölfflins entspricht das dem ge¬
bundenen und dem offenen Stil Aber
Tassos Scheidung gilt nur für die epi¬
sche Dichtung; sie sollte die Berechti¬
gung des romanzo mit seinen bunten
Wechselfällen und seiner Vielheit von
Helden gegenüber der streng einheitli¬
chen Aeneis dartun; auf dramatisches
Gebiet hat Tasso sie nicht übertragen,
weil dort die Regeln des Aristoteles,
vielfach in der verschärften Auslegung
des 16. Jahrhunderts, in seinen Au¬
gen unbedingte Gültigkeit besaßen. Eine
andere Art des Dramas kannte er nicht,
oder wenn er sie kannte, wie vermutlich
die Celestina, so war sie für ihn kein
Drama, ja überhaupt kein Kunstwerk.
Die italienische Tragödie des 16. Jahr¬
hunderts lehnt sich sklavisch an die an¬
tiken Vorbilder an. Sie bewegt sich in¬
nerhalb der bekannten drei Einheiten,
ihre Handlung ist knapp, häufig sogar
dürftig, zur Darstellung gelangt nur die
Katastrophe, die Zahl der auftretenden
Personen ist beschränkt, sie gruppieren
sich eng um den Helden und werden
nur gezeichnet, soweit sie zu ihm Be¬
ziehung haben. Alles Nebensächliche
scheidet aus, die Episode ist unstatthaft,
die Gliederung möglichst symmetrisch
mit der kanonischen Teilung in fünf Auf¬
züge, von denen der dritte den Wende¬
punkt des Dramas bildet oder wenig¬
stens nach der Absicht des Verfassers bil-
32*
Original from
INDIANA UNtVERSITY
Max J. Wolff, Shakespeare als Kflnstler des Barocks
1000
MO
den soll. Wenn man auf diese Tragödie
eine Bezeichnung aus der Baukunst über*
tragen darf, so ist ihr Stil zweifellos ge*
bunden. Und diesem gebundenen Stil
bleiben die Italiener unbedingt treu. Ob
man ein Drama aus dem Anfang oder
dem Ende des Jahrhunderts in die Hand
nimmt, ein Werk von Trissino, RuoeUai,
MarteUi oder ein solches von Tasso.Zi-
nano, Torelli, in der Form besteht kein
Unterschied. Es wäre unmöglich, aus
dem Stil dieser Stücke einen Schluß auf
ihre Entstehungszeit zu ziehen. Die ein*
zige Wandlung, die allenfalls vor sich
geht, ist stofflicher Natur. Bei den spate¬
ren Dichtern sind Stoffe aus dem Mittel-
alter häufiger, wenn sie auch in der alte¬
ren Zeit nicht völlig fehlen, und die Vor¬
geschichte ist bei ihnen verwickelter,
ohne daß sich jedoch die Lösung, die al¬
lein zur Darstellung gelangt, mannigfalti¬
ger gestaltete. Hier zeigt sich der Ein¬
fluß der gleichzeitigen Epik, und wenn
man will, mittelbar ein solcher des Bar
rocks, der jedoch auf die Technik in kei¬
ner Weise abfarbt. Dasselbe gilt für die
italienische Komödie des 16. Jahrhun¬
derts. Nach dem Vorbild des Terenz wa¬
ren allerdings zwei Liebespaare in ei¬
nem Lustspiel zulässig, ja sie wurden
sogar als besonderer Vorzug betrachtet,
und dadurch entsteht eine Neigungzur
Doppelhandlung, aber selbst wo eine
solche vorliegt, wird sie in der üblichen
strengen Form der antiken Komödie dar¬
gestellt. Die Doppelhandlung zieht kei¬
ne stilistische Änderung nach sich. Ein¬
zelne Autoren wie Aretin oder Grazzini
strebten zwar unter Benutzung von
volkstümlichen Motiven nach einer Lok-
kerungder Form und freieren Gestal¬
tung des Lustspieles, da diesen Versu¬
chen aber meist die ganze Ungeschick¬
lichkeit der Anfangerschaft anklebt, ver¬
schwinden sie, ohne die Komödie zu be¬
einflussen. Was die Italiener im Laufe
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eines Jahrhunderts lernten, war eine
größere Gewandtheit in der Verwendung
dieses tektonischen Stiles, aber sie wird
nur benutzt, um die Handlung noch ener¬
gischer und straffer zusammenzufassen.
Dieser Zug beherrscht selbst die Steg-
reifkomödie, sie strebt danach, mit der
Commedia eruditaai wetteifern und
begibt sich, je mehr sie aufsteigt und das
geschriebene Lustspiel verdrängt, immer
mehr in den Zwang der klassischen Re¬
geln.
Die Tragödie und Komödie Frank¬
reichs im 16. Jahrhundert ist zunächst
eine genaue Nachahmung der italieni¬
schen, deren gebundener klassizistischer
Stil übernommen wird. Auf den Pariser
Theatern hatte sich aber die eigenartige
mittelalterliche Kombinationsbühne er¬
halten, die die Möglichkeit bot, auf einer
Szene mehrere Schauplatze zu vereini¬
gen, also einen Ortswechsel ohne Deko¬
rationswechsel vorzunehmen. Durch die¬
se Freiheit und nicht minder durch den
lebhaften Einfluß der Spanier erwuchs ei¬
ne gewisse Neigung zur Ungebundenbeit
und Lockerung der strengen Form, die
man bei Alexander Hardy, diesen begab¬
ten Vielschreiber, beobachten kann. Aber
die Bewegung wurde rasch überwunden,
als die Kombinationsbühne aus äußeren
Gründen verschwand und gegenüber
den Spaniern eine nationalere Rich¬
tung zum Durchbruch kam. Corneille,
der seine ersten Werke noch für die
Kombinationsbühne schrieb, ist bereits
für Walzel der mustergültige Vertreter
des gebundenen tragischen Stiles, und
was für ihn gilt, trifft in noch höherem
Maße auf Racine und im Lustspiel auf
Moliöre zu. Gerade sein Streben ist auf
eine äußerst einfache Handlung gerich¬
tet, die sich unter möglichst wenig Per¬
sonen in möglichst gerader Linie ab¬
spielt. Ein Vergleich der Jugendwerke
des Dichters Etourdi, Döpit amou-
Original frum
INDIANA UNIVERSITY
1001
Max J. Wolff, Shakespeare als Künstler des Barocks
1002
reux und Don Garcia, mit denen
der Reifezeit, etwa Tartuffe oder
Femmes savantes, beweist, mit wel¬
cher Energie Moli&re diese Tendenz ver¬
folgt hat. Es unterliegt keinem Zweifel,
daß es auch mit vollem Bewußtsein ge¬
schah, nicht etwa unter dem zufälligen
Druck der erwählten Stoffe. Das italieni¬
sche und französische Renaissance d rama
wird von Anfang an im tektonischen Stil
gehalten und sie bewahren diesen auch
zu einer Zeit, wo in den bildenden Kün¬
sten das Barock längst die Herrschaft ge¬
wonnen hatte. Eine Entwicklung findet
überhaupt nur in sehr beschrankter Wei¬
sestatt, wo aber eine solche Platz greift,
zielt sie auf eine strengere Anspannung
der Form, sie nimmt also gerade den
umgekehrten Weg als die Malerei und
die Baukunst. Ein Einfluß des Barocks
auf die dramatische Technik ist weder
in Italien noch in Frankreich erkennbar.
Die Entspannung des Stils, der Übergang
von der geschlossenen zur offenen Förm,
beruht bei den bildenden Künsten aüf
einer inneren Notwendigkeit; eine solche
besteht für das Drama offenbar nicht,
und wenn im Gegensatz zu der Tragö¬
die der Italiener und der Franzosen die
der Engländer in Übereinstimmung mit
den bildenden Künsten diesen Verlauf
genommen hat, wie Walzel behauptet,
so wftre es eine Eigentümlichkeit Shake¬
speares und seiner Zeitgenossen.
Auch in England entstand in der Mit¬
te des 16. Jahrhunderts in lateinischer
und heimischer Sprache ein klassizisti¬
sches Drama, aber es blieb dort auf die
Gelehrten beschrankt, während es in
Frankreich und Italien sich auf weitere
Kreise ausdehnte. Aufführungen waren
nicht selten, aber sie fanden an den Uni¬
versitäten, Juristenschulen und ähnli¬
chen akademischen Anstalten ausschlie߬
lich vor einem humanistisch gebildeten
Publikum statt Diese klassizistische
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Richtung hat zweifellos einen sehr er¬
heblichen Einfluß auf das englische Dra¬
ma ausgeübt, schon dadurch, daß ein grö- *
ßer Teil der Dichter aus den Reihen der
Akademiker hervorging, aber die ei¬
gentlichen Wurzeln der elisabethani-
schen Tragödie und Komödie liegen
in der aus dem Mittelalter übernom¬
menen Volksbühne mit ihrem reichen
Schatz von Mysterien; Moralitäten,*
Interludes und Possen. Wenn man
bei diesen überhaupt von einer be¬
stimmten Form (und einem Stil sprechen'
kann, so bestehen sie in der unbe¬
schränktesten Freiheit und Regel¬
losigkeit. Es wird dargestellt, was ge- 5
rade geeignet erscheint, die Aufmerk¬
samkeit und Schaulust der großen Masse
zu fesseln, und für die Art der Darstel¬
lung gibt es auch nur einen Grundsatz:
Spannung. In bunter Abwechslung muß
möglichst viel geschehen. Ist die eigent¬
liche Handlung zu langweilig, so muß
eine zweite aushelfen, oder der Clown
springt herein und sorgt für Abwechs¬
lung. Sind die Taten des Helden er¬
schöpft oder augenblicklich nicht unter¬
haltend genug, so geht man zu denen
einer Nebenperson über. Zwischen den
mehr odfer weniger ernsten Teilen wird
eingeschobenen Faustkämpfen, Akroba¬
tenkünsten, gesungenen Liedern, beson¬
ders aber den beliebten und derb aus¬
geführten Prügelszenen ein breiter
Raum überlassen. Es fehlt jedes Stilge¬
fühl oder Stilbewußtsein, iind dieser
Mangel setzt sich noch in eine sehr späte
Zeit fort, bis zu den unmittelbaren Vor¬
läufern, ja sogar bis zu den Zeitgenos¬
sen Shakespeares. Greene z. B. findet, daß
der III. Akt seines Dramas J dm es fV.
zu trahrig ist, und so verspricht er den
Zuschauern, den Erbst durch einige
Scherze zu erleichtern: 1
Der Rest ist ernst, dodi daß ihr euch erquickt,
ist er mit Späßen und mit Reim gespickt
Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1003
Max J. Wolff, Shakespeare als Künstler des Barocks
1004
Peele stellt die reizende Liebesge¬
schichte des Alten Testamentes von Da¬
vid und Bathseba dar, sie fülltaber
die üblichen Spielstunden nicht aus,
und so verlängert er das Stück dadurch,
daß er in . rein äußerlicher Weise den Tod
Davids anschließt, mit der einzigen Mo¬
tivierung, er habe in der Quelle noch et¬
was Stoff für einen third discourse
of David’s life gefunden. Heywood
endlich dramatisiert zu einer Zeit, als
Shakespeares Meisterwerke schon Vor¬
lagen, die bekannte Sage von der keu¬
schen Lucrezia, und das an der Heldin
begangene Verbrechen wird in diesem
ernsten Jambendrama in Form eines
Bänkelsftngerliedes mit abwechselnden
Stimmen berichtet, d. h. wirklich ge¬
sungen :
Valerius: Packte er Lucrezia bei der Zeh an?
Horatius: Zeh’ an?
Valerius: Ja, Mann.
Clown: Ha ha ha ha, Mann.
Horatius: Tat er ihr ein weiteres Weh an?
Clown: Weh an?
Valerius: Ja, Mann.
Clown: Ha ha ha ha ha, Mann. Trallallala
trallallala!
So geht es durch mehrere mit Zoten
gewürzte Verse fort. In der nächsten
Szene erscheint dann Lucrezia und for¬
dert in einer pathetischen Deklamation,
daß die Götter ihre geschändete Un¬
schuld rächen mögen! Diese Stücke sind
eine Anhäufung von Zufälligkeiten; die
Verfasser haben noch kein Verständnis
für die Gesamtwirkung, sondern suchen
aus jeder Einzelheit soviel Spannung
als möglich herauszuholen, Einzel-
wirkungeo, die sich gegenseitig auf-
heben und zerstören. Jeder einsichtige
oder auch nur mit einem angeborenen
Stilgefühl begabte Dichter mußte ge¬
genüber diesem Unfug ein Bedürfnis
nach einer strengeren Gliederung und
schärferen Zusammenfassung der Hand¬
lung empfinden. In Anlehnung an die
klassizistische Richtung drängen Mar¬
lowe und Kyd alles Überflüssige und
Nebensächliche energisch zu rück, suchen
die Handlung einheitlich zu gestalten
und der einheitlichen Handlung den an¬
gemessenen Ausdruck zu geben. Die Tei¬
lung in 5 Akte wird kanonisch; das Ko¬
mische empfindet man in der Tragödie
schon als stilwidriges Zugeständnis an
den Volksgeschmack, und bezeichnend
ist, daß das chronicle play, diese frei¬
este Blüte des englischen Dramas, der
selbst der junge Shakespeare noch hul¬
digt, langsam abstirbt. Auf diese Weise
entwickelte sich aus der Unform des
Volksstückes ein Drama, das allerdings
noch frei bis zur Willkür bleibt Im
Sinne Walzeis ist sein Stil offen, un¬
gebunden, atektonisch; aber es trug
schon durch die Art seines Werdens den
Zug nach größerer Strenge und nach ei¬
nem geschlosseneren Stil in sich. Um
dies zu erkennen, bedarf es nur eines
Vergleiches zwischen den Werken von
Shakespeares Vorgängern, den Peele,
Greene, Lodge, und denen seiner Nach¬
folger wie Ben Jonson, Beaumont und
Fletcher. Diese sind stolz, regelrechte
kunstvolle Dramen zu schreiben, wenn
ihr Stil auch im Vergleich zu dem der
französischen und italienischen Dichter
ein offener im Sinne Walzeis ist Es
blieb ihren Nachfolgern in der Restaura¬
tionszeit Vorbehalten* mit der stilisti¬
schen Überlieferung einer freieren und
besseren Zeit völlig zu brechen. Also
auch für das englische Drama trifft die
Behauptung Walzeis und die von ihm an¬
genommene Parallelentwicklung mit den
bildenden Künsten nicht zu. Es fehlt die
grundlegende Voraussetzung eines tek¬
tonischen Dramas, aus dem sich das
atektonische entwickelt haben soll. Der
Bau ist von Anfang an offen und die
Entwickelung verläuft gerade in der um¬
gekehrten Richtung zu einer geschlos-
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
100»
1005 Max J. Wolf!, Shakespeare als Künstler des Barocks
seneren Form,soweit die:e sichun'er den
gegebenen Verhältnissen überhaupt er*
reichen ließ. Das Drama in England,
Frankreich und Italien geht den entge*
gengesetzten Weg von den bildenden
Künsten: der Einfluß des Barodcs ist ent¬
weder gar nicht vorhanden oder er äu¬
ßert sich wenigstens nicht in einer Lok-
kerung und Entspannung des Stils.
Bisher ist nur die Entwickelung des
englischen Dramas im allgemeinen be¬
handeltworden, unter Ausschaltung von
Shakespeare, soweit das möglich war,
da dessen Stilgebung einer besonderen
Prüfung bedarf. Daß er im, Einklang mit
seinen Zeitgenossen der offenen, atekto-
nischen Form huldigt, bedarf keines
Nachweises. Obgleich er das klassizisti¬
sche Drama hochschätzte, wie aus der
lobenden Beurteilung eines solchen im
Hamlet hervorgeht, hat et keinen Ver¬
such gemacht, sich in dieser Richtung zu
betätigen. Es ist möglich, daß praktische
Rücksichten ihn daran hinderten, daß es
ihm wie Lope de Vega erging, der er¬
klärte, er wisse wohl, wie man ein gutes
Stück schreibe, sei aber gezwungen, sei¬
nen Spaniern innerhalb zweier Stunden
die ganze Weltgeschichte vorzuführen;
es ist aber auch möglich, daß Shake¬
speares künstlerische Unbewußtheit und
sein Dichterinstinkt ihn an dem nationa¬
len Stil festhalten ließen. Auf diese Frage
gibt es keine Entscheidung, wir müssen
uns mit der Tatsache begnügen, daß in
allen Dramen Shakespeares der offene
Stil herrscht, allerdings mit leichten
Schwankungen nach einer größeren An¬
oder Entspannung der Form. In seiner er¬
sten Tragödie, in Romeo und Julia,
fällt bei aller sonstigen Freiheit die her¬
vortretende Symmetrie in der Verteilung
der Personen auf, die regelmäßig bis zur
Steifheit ist, in der nächsten, in Ri¬
eh a r d IIL wird durch das mächtige Her¬
vortreten des Heiden eine straffere Glie¬
derung erreicht, ähnlich im Othello,
Macbeth und Coriolan, während in
Hamlet, Lear und Antonius und
Cleopatra eine stärkere Lok-
kerung der Form zu bemerken ist Auch
bei den Komödien geht ein festeres oder
loseres Gefüge bunt durcheinander. Das
früheste und das späteste Werk des
, Dichters sind hier die relativ am meisten
gebundenen, die Komödie der Ir¬
rungen und der Sturm. Dazwischen
liegen andere wie Verlorene Lie-
besmüh.S ommer nachts träum und
der Kaufmann von Venedig, die
selbst für Shakespeares Kunst und die
seiner Zeit einen sehr leicht gezimmer¬
ten Bau aufweisen. Aber weder ist eine
Entwickelung noch eine bestimmte Ab¬
sicht des Dichters zu erkennen, weder
die freiere noch die strengere Form ist
an eine bestimmte Periode seines Schaf¬
fens gebunden, daß die eine vielleicht
in der Jugend, die andere in der Spät¬
zeit die ausschließliche oder wenigstens
die überwiegende wäre; sie scheinen al¬
lein durch die Bedürfnisse des jeweili¬
gen Stoffes bedingt zu sein. Shake¬
speare verwendet in „Lear" eine Doppel¬
handlung, aber es bleibt ein einmaliger
Fall, der sich in den folgenden Tragödi¬
en nicht wiederholt und nicht zur Regel
erhoben wird, wie es in der Komödie
schon von den Italienern geschehen war.
Aus dem einmaligen Gebrauch der Dop-
pelhandlung läßt sich weder folgern,
daß der Dichter in ihr eine Bereicherung
seiner Technik erblickte, noch darf man
annehmen, daß er diesen Versuch als
fehlerhaft oder mißlungen verwarf, weil
er später nicht wieder darauf zurück¬
kam.
Shakespeare übernahm die Technik,
die er vorfand, als etwas Gegebenes und
Notwendiges; die Wege seiner Zeitge¬
nossen sind auch die seinen, und soweit
bei ihnen von einer Entwickelung des
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INDIANA UNIVERSITY
1006
Max J. Wolff, Shakespeare als Künstler des Barocks
1007
Stils die Rede sein kann, macht er sie
auch mit. Als der Geschmack für das lo¬
se gefügte chronicle play vorüber
war, schreibt auch Shakespeare keines
mehr, er dachte nicht daran, sich dem
Strom der Zeit entgegenzustemmen und
meinen Typus am Leben zu erhalten, ob¬
gleich er ihm zu unvergleichlichen Er¬
folgen verholfen hatte, ln den späteren
Tragödien zeigt er die Neigung, die ko¬
mischen Bestandteile möglichst zurück-
zudrängen, aber auch das ist keine per¬
sönliche Besonderheit, keine kritisch
erwogene Maßnahme, sondern der
Zug findet sich bei allen gleichzeitigen
Dramatikern, deren verfeinertes Stil¬
empfinden die unmotivierte groteske-
Komik der ältem Zeit innerhalb der Tra¬
gödie nicht mehr ertrug. Zweifellos
entsprach die Beschränkung des Komi¬
schen der eigenen Gemütsstimmung des
Dichters während und nach der Hamlet¬
periode, aber nicht er hat den Anstoß da¬
zu gegeben, sonderh er schloß sich nur
den schon vorhandenen Bestrebungen
an. Der Dichter hat vier ältere, noch er¬
haltene Dramen neu bearbeitet: The
troublesome raigne of kingJohn
in seinem König Johann, die Fa-
mous victories of Henry the
Fifth in Heinrich IV. und V., Whet-
stones Promos and Cassandra in
Maß für Maß und die Historie of
King Leir im Lear. Die alte
Taming of a Sh re w kommt nicht
in Betracht, denn wie auch das Ver¬
hältnis zu Shakespeares Stück sein
mag, so läßt sich so viel mit Sicher¬
heit nachweisen, daß sie die Quelle un¬
seres Dichters nicht gewesen ist. Wenn
wir Shakespeares Formwillen erkennen
wollen, so. müßten gerade die Bearbei¬
tungen durch den Vergleich mit den Ur-
werken eine günstige Gelegenheit bie¬
ten, eine günstigere als die anderen
Stücke, die Shakespeare auf Grund ei¬
nes erzählenden Materiales geschaffen
hat. Leider wird diese Erwartung nur
zum geringen Teile erfüllt Die Fa¬
mo us victories stehen auf einer so
tiefen Stufe, daß von einer künstlerischen
Form noch kaum die Rede sein kann.
Ein Vergleich mit Shakespeares Werk
hat nur insofern Bedeutung, als er zeigt
wie das englische Drama aus der volks¬
tümlichen Unformerwachsen ist wie be¬
sonders der offene Stil in dem un¬
gebundensten Stück unseres Dichters
auf die Zersplitterung der alten Vorlage
zurückgeht. Im König Johann dage¬
gen übernahm er den uneinheitlichen und
zerfahrenen Aufbau der alten Historie
im wesentlichen ohne Änderung. Das
ist um so erstaunlicher, als er an den
; % r
Charakteren sehr viel verbessert hat;
das Drama muß "ihm also in technischer
Beziehung genügt haben. Nur an unter¬
geordneten Stellen griff er eilt er tilgte
die Ausräubung des Klosters und die
zweite Krönung des Königs, er ver¬
kürzte die Vorgänge mit dem Pro¬
pheten aus Pomfiet, faßte die Kärtipfe
des letzten Aktes energischer zusam¬
men und ließ am Schluß die Thron¬
besteigung des neuen Herrschers Hein¬
rich weg. Hier zeigt Shakespeare das
Bestreben, Überflüssiges auszuscheiden,
das Stück von episodenhaftem Ballast
zu entlasten und außerhalb der Hand¬
lung liegende Vorgänge abzustoßen,
ohne daß jedoch der Verlauf des
Stückes selbst dadurch beeinflußt
würde. Energischer kommt dieser Zug
in Maß für Maß zum Ausdruck,
schon dadurch, daß der Dichter aus
den zehn Akten des alten Doppel¬
dramas ein einziges Stüde von fünf
Akten machte. In Promos und Cas¬
sandra ist Andrugio (Claudio) mir
eines der vielen Opfer, die dem neuen
Sittengesetz gebracht werden; Shake¬
speare konzentrierte die gesamte
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INDIANA UNIVERSITY
m.
Max J. Wollt, Shakespeare als Künstler des Barocks
Handlung um ihn und schied die
Nebenhandlung aus, die sich dort um
die Dirne Lamia und ihr Schicksal
dreht Was von diesen Teilen übrig*
blieb, dient in dem neuen Stück nur zur
Schilderung des Milieus ^ind empfängt
sein Interesse erst durch die Haupt-
handlung, nachdem es eine gründliche
Umgestaltung erfahren hat Auf der
anderen Seite mußte der Dichter sein
Werk vielfach breiter anlegen. Sein
Vorgänger Whetstone ist überhaupt
kein Dramatiker, sein Promos und
Casstfndra kein Drama, sondern eine
in weitschweifige Dialoge zerhackte
Novelle. Die wichtigsten Vorgänge wer¬
den nur kurz berichtet, Shakespeare
führt sie in dramatischer Gegenständ¬
lichkeit vor, und damit verband sieh
notwendigerweise eine weiter ausho-
lende Darstellung. Den verwickelten
Vorgang der Unterschiebung eines an¬
deren Toten an Stelle des verurteilten
Andrugio kann Whetstone beispiels¬
weise in drei Versen erledigen, Shake¬
speare braucht mehrere Szenen dazu
und muß mehrere Hilfspersonen ein-
fOhren, um diesen Tatbestand in Form
der Handlung darzustellen. Der Ver¬
gleich der beiden Stücke kann infolge¬
dessen für unsere Zwecke nur wenig
bieten, da das neue Drama nicht einem
älteren gegenübersteht, sondern einer
Erzählung, die nur in Wechselreden
vorgetragen wird. So kommt von den
älteren Stücken für uns eigentlich nur
die Geschichte von König Lear
in Betracht. Als bedeutsamster Unter¬
schied zwischen diesem und dem jün¬
geren Shakespearischen Stück fällt auf,
daß unser Dichter der Haupthandlung
eine ähnliche aus dem Hause Glosters
hinzufügt, daß er also hier eine Doppel¬
handlung einführt, während er in Maß
für Maß die in der Quelle vorhandene
unterdrückt. Schon oben ist gezeigt
HU?
worden, daß der Doppelhandlung eine
grundsätzliche Bedeutung nicht zu-
konunt, sie dient aber auch nur scheinbar
zur Verbreiterung und Lockerung des.
Aufbaues. Im Gegenteil, wenn wir uns
zunächst an die Vorgänge halten, die dem
älteren und jüngeren Stück gemeinsam,
sind, so hat Shakespeare sie in kraft¬
vollster Weise zusammengefaßt und
vereinfacht Das zeigt sich schon äußer¬
lich darin, daß er den ganzen ersten,
sieben Szenen enthaltenden Aufzug sei¬
nes Vorgängers zu einer einzigen Szene
verarbeitet. Er tilgt ferner alle Vor¬
gänge, die in Frankreich spielen, oder
verlegt sie nach England, offenbar, um
das zersplitternde Hin und Her zu ver¬
meiden, die Liebesgeschichten der bei¬
den älteren Töchter, die die Quelle in
süßlicher Phrasenhaftigkeit schildert,
werden gestrichen, wie auch die Wer¬
bung des Königs von Frankreich um
Cordelia auf das geringste Maß einge¬
schränkt wird. Shakespeare übernimmt
von dem Vorgänger nur so viel, als un¬
mittelbar für das Schicksal Lear» er¬
forderlichist. Der König wird in macht¬
vollster Weise in den Mittelpunkt ge¬
stellt, so daß aus dem alten chronicle
play ein wirkliches geschlossenes
Drama herauswächst, in dem sich alles
um den überragenden Helden gruppiert.
Bei dem Vorgänger geht dessen Schick- >
sal unter dem überflüssigen und über¬
wuchernden Beiwerk stellenweise völlig
verloren, bei Shakespeare ist Lear all¬
gegenwärtig, selbst wenn er nicht auf
der Bühne steht, oder sich in einem
handlungsunfähigen Zustand befindet.
Daran kann auch die Doppelhandlung
nichts ändern. Freilich wird der Auf¬
bau durch sie mannigfaltiger, das Stück
selbst reicher an Ereignissen, aber eine
Lockerung tritt doch nicht ein, weil
die einheitliche Idee desto stärker zum
Ausdruck kommt. Die Doppelhandlung
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1011
Max J. Wolff, Shakespeare als Künstler des Barocks
101 ?
steht nur in einem scheinbaren Wider¬
spruch zu dem festeren Gefüge, das
■Shakespeare dem Lear im Gegensatz
zu dem alten Stück gegeben hat. Be¬
säßen wir nur das eine Stück des Dich¬
ters, so wären wir zu der Behauptung
berechtigt, daß seinStreben, im Gegen¬
satz zu seinen Vorläufern, auf eine
strengere Stilisierung gerichtet war.
Andere Werke, beispielsweise der
König Johann, der die alte Technik
unbeanstandet übernimmt, schließen die
Annahme aus, daß Shakespeare dabei
nach klar erkannten Grundsätzen ver¬
fuhr, oder daß eine bewußte Kunst-
Obung vorliegt. Er übertraf nur die älte¬
ren Verfasser an dramatischem Empfin¬
den, und das führte ihn mit Notwen¬
digkeit dazu, das Obermaß ihrer
Zwanglosigkeit einzudämmen. Er brach
nicht mit ihrer Technik, so wenig wie
Beaumont, Fletcher oder Massinger, aber
gleich diesen Männern schwebte ihm
bei seinem Schaffen eine mehr drama¬
tische Wirkung im Gegensatz zu der
■mehr epischen der älteren Dichter vor,
und dies führte unwillkürlich zu einer
schärferen Anspannung der Form.
■Shakespeare nahm keine Ausnahme¬
stellung ein, mit seinen Zeitgenossen
teilte er den Ungebundenen Stil, aber
auch den Zug, diese Ungebundenheit
so weit zu beschränken, daß die drama¬
tische Wirkung sich nicht verflüchtigt.
Die Freiheit blieb, aber die Willkür 'der
älteren Zeit mußte verschwinden.
Nach Walzels Ansicht soll ähnlich
wie in der bildenden Kunst im Drama
•eine Entwicklung des geschlossenen
-Stiles zum offenen stattfinden. Unsere
bisherigen Ausführungen sprechen da¬
gegen, Italiener und Franzosen haben
den geschlossenen Stil von Anfang an
und bleiben ihm dauernd treu, während
in der englischen Literatur mit dem
■Entstehen des Dramas auch der offene
Stil herrscht, ohne daß ein Wechsel
Platz greift Der Obergang von der
einen Stilart zur anderen scheint aber
auch begrifflich unmöglich, solange die
dramatische Kunst sich naturgemäß aus
sich selber entwickelt und nicht durch
äußere Einflüsse aus ihrer Bahn ge¬
lenkt wird. Goethe vermochte mit dem.
, offenen Stil seiner Jugendwerke
zu brechen und in der Iphigenie
den geschlossenen anzunehmen, als er
sich den Wetteifer mit deif griechischen
Tragikern zum Ziel gesetzt hatte;.
Shakespeare hätte selbst bei gründlich¬
ster Lektüre des Seneka kein klassizisti¬
sches Stüde auf seine Bühne bringen
[ können, so wenig wie Corneille eines in
der freien Art der Engländer oder auch
nifr Lope de Vegas auf die seine. Der
Stil ist bei ihm, wie überhaupt in jeder
Kunst, die nicht das Erzeugnis wider-
streitender Theorien bildet, keine Sache
der Oberlegung und der freien Wahl, son¬
dern das Werk innerer und äußerer Not¬
wendigkeiten. Unter ihnen steht die
Bühne an erster Stelle. Für den Mo¬
dernen ist die Aufführung nur eine.
Erscheinungsform des dramatischen
Kunstwerks,, das ebensogut durch die
Lektüre genossen werden kann; im
16 . Jahrhundert dagegen wurden Stücke
zwar auch gelesen, aber wirkliches
Leben erhielten sie erst durch die szeni¬
sche Darstellung, die einen integrie¬
renden Teil des Kunstwerkes selber bil¬
dete. Drama und Bühne waren noch
keine getrennten Begriffe, sondern
standen in innigster Wechselwirkung.
Die Gestalt der Bühne zog auch die des
Kunstwerkes nach sich. Stellte die
Bühne wie bei Italienern und Fran¬
zosen einen feststehenden, unveränder¬
lichen, einheitlichen Schauplatz dar, so
mußte das zu einer einfachen Gestal¬
tung des Dramas führen, d. h. zu dem
sog. geschlossenen Stil. Dagegen ist.
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1013
1014
Max J. Wolff, Shakespeare als KOnstler des Barocks
eine Böhne mit unbegrenzter Wand¬
lungsfähigkeit Voraussetzung des offe¬
nen Stiles. Ob sie von ihr in jedem ein¬
zelnen Fall Gebrauch macht, ist gleich-
göltig, sie muß nur die Möglichkeit
besitzen, den Ereignissen überallhin zu
folgern Die Mannigfaltigkeit, die das
Wesen des offenen Stiles bildet, kann
sich nur auf einer Bühne entwickeln, die
die gleiche Mannigfaltigkeit bietet. Eine
Handlung kann sich in der Wirklich¬
keit an einem Orte abspielen, doch das
ist die Ausnahme, in der Regel wird
sich jede Handlung von größerem Um¬
fang, wie sie schon Aristoteles für die
Tragödie fordert, über mehrere Schau¬
plätze ausdehnen. Die Bühne des offe¬
nen Stiles kann diesem Wechsel folgen,
die des geschlossenen muß die Viel¬
heit in den feststehenden einheitlichen
Ort wie in einem Brennpunkt zu¬
sammenfassen. Dazu bedient sie sich
der Erzählung. Während die Wechsel¬
bühne die Ereignisse, gleichgültig, wo
sie sich begeben, bildlich darstellt oder
wenigstens darstellen kann, kann die
Einheitsbühne aus der Fülle der Ge¬
schehnisse nur die vorführen, die sich
gerade an dem einen Ort begeben. Alles
übrige bleibt der Erzählung überlassen.
Diese wird bei ihr einen überwiegen¬
den Raum einnehmen, vor allem wird
der Fortschritt der Handlung in Be¬
richten erfolgen, nicht durch die Dar¬
stellung selbst. Durch den starken Ge¬
brauch der Erzählung wird das Drama,
das auf der Einheitsbühne erwachsen
Ist, knapper, straffer zusammengefaßt
und äußerlich einheitlicher erscheinen
als eines des darstellenden Stiles auf der
Wechselbühne. In Shakespeares Romeo
und Julia werden die Straßenkämpfe
in Veröna, dieLiebesszenen im Haus und
Garten Capulets, die Familienangele¬
genheiten beider Häuser, die Vorgänge
in Mantua und auf dem Kirchhof unmit¬
telbar dargestellt Denselben Stoff hat
Groto für die einheitliche Bühne drama¬
tisiert. und von all diesen Ereignissen
wird nur das dargestellt, was sich ge¬
rade im Hause der Julia (Hadriana) zu¬
trägt. Als Goethe wiederum das Stück
des großen Engländers bearbeitete, d. h.
es einfacher und klassischer zu gestalten
versuchte, verfuhr er in der Weise, daß er
die weitmaschige Handlung in Erzäh¬
lung zusammenzog. Handlung und Er¬
zählung, das sind die beiden Darstel¬
lungsmöglichkeiten des Dramas, und da¬
durch, daß es zwei Darstellungsarten be¬
sitzt, unterscheidet es sich von den bil¬
denden Künsten, die nur über eine ver¬
fügen. Die Ausdrücke offner und ge¬
schlossener Stil bezeichnen hier Un¬
terschiede innerhalb derselben Darstel¬
lungsart, im Drama dagegen zwei ver¬
schiedene Darstellungsarten. In den bil¬
denden Künsten ist der Übergang von
dem einen zum andern das Werk einer
naturgemäßen Entwickelung, die sich im
16. Jahrhundert genau in derselben
Weise vollzog wie zweitausend Jahre
früher bei den Hellenen; im Drama ist
dieser Stilwechsel durch eine Entwicke-
lung niemals erreicht worden und kann
auch nicht erreicht werden, sondern nur
durch einen Bruch mit der Vergangen¬
heit, durch eine Preisgabe der Überlie¬
ferung. Dazu ist aber notwendig, daß
zuerst die Vorstellung, die Dichter und
Publikum von der Bühne haben, von
Grund auf geändert wird. Erst wenn die
Bühne den unbestimmten Charakter an¬
genommen hat wie die unsere, können
Dramen des geschlossenen und offenen
Stiles gleichmäßig auf ihr gespielt wer¬
den. Schlegel meint, das klassische Dra¬
ma verhalte sich zum romantischen wie
eine Skulptur zu einem Gemälde. Man
darf den Vergleich nicht zu wörtlich neh¬
men und daraus folgern, daß nach Schle¬
gel das Drama des gebundenen und des
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Gck igle
Original from
INDIANA UNIVERSITY
1015
Max J. Wollt, Shakespeare als Künstler de« Barocks
offenen Stiles geradezu zwei verschie¬
dene Künste seien, zunächst hat er wohl
sagen wollen, daß ersteres den Gegen¬
stand allein, befreit von altem Neben¬
sächlichen, das zweite innerhalb einer
Umwelt darstellt, aber sein Vergleich
trägt doch der Kluft, die zwischen beiden
vorhanden ist, Rechnung. Pas Trennende
zwischen dem geschlossenen und dem
offenen Stil im Drama ist wesentlich grö¬
ßer als zwischen einem Bilde Fra Angeli-
cos und Rubens’ oder selbst einem Bau¬
werk Palladios und Berninis. Die Ver¬
bindungsglieder, die zwischen diesen
bestehen, lassen sich in jedefm Handbuch
der Kunstgeschichte finden, zwischen
einem Drama Shakespeares und Gor-
neilles gibt es solche überhaupt nicht,
sondern nur eine sehr lose Seitenver¬
wandtschaft durch das antike oder besser
das klassizistische Drama. Eine Kunst
als etwas Organisches steht nie still, son¬
dern befindet sich immer im Fluß, ein
Brach aber, daß die Einheitsbühne sich
plötzlich in eine Wechselbühne verwan¬
delte, daß die erzählende Darstellung
zur handelnden überginge, wie es eine
Vertauschung des geschlossenen Stiles mit
dem offenen voraussetzen würde, ist bei
naturgemäßer Entwickelung unmöglich.
Im Gegenteil, wir haben gesehen, daß
das Drama in Italien, Frankreich und
England innerhalb- des einmal vorhan¬
denen Stiles nach einer Befestigung der
Form strebt. Das gleiche gilt für Spa¬
nien, wie ein Vergleich des jüngeren
Calderon mit dem älteren Lope de Vega
beweist, und für die griechische Komö¬
die, wo das Lustspiel Menanders aus
dem des Aristophanes erwächst. In der
attischen Tragödie bildet die Zurück-
drängung der Chöre eine ähnliche Er¬
scheinung. Im Gegensatz zu den bilden¬
den Künsten tritt im Drama keine Locke¬
rung, sondern eine schärfere Anspan¬
nung ein. Wenn sich der gleiche Vor¬
gang Überall wiederholt, so kann das
!01ß
nicht auf einem Zufall beruhen, sondern
muß aus dem Wesen des Dramas selber
folgen. Das Drama ist die späteste der
drei literarischen Gattungen, es entsteht,
wenn auch nicht gerade aus Lyrik und
Epik, so doch nach ihnen; die Stoffe, die
es behandelt, zumal in der ältesten Zeit,
wo der Dichter kaum an die selbstän¬
dige Erfindung einer Handlung denken
wird, sind bereits in epischer Form vor¬
handen. Bei ihrer Umsetzung in die dra¬
matische ergibt sich aber, daß dies ohne
Veränderungen nicht möglich ist. Diese
Veränderungen werden aber zunächst
unbewußt, später in klarer Erkenntnis
des Verfassers darin bestehen, daß das
Zufällige ausgeschieden wird, daß die
Geschehnisse in ein deutlicheres Kausa¬
litätsverhältnis gebracht werden, daß die
Aufeinanderfolge des Epos durch die
Notwendigkeit des Dramas ersetzt wird.
Das Zufällige ist der Gegensatz des Dra¬
matischen. Die Dramatiker werden die
Erfahrung machen, daß die Wirkung ih¬
rer Stücke um S9 größer, der Eindruck
um so stärker ist, je mehr diese Not¬
wendigkeit, die innere Verknüpfung der
Ereignisse, herausgearbeitet ist. Das
wird erreicht durch eine strengere Glie¬
derung und eine straffere Anspannüng
der Form. Sie erhöhen innerhalb gewis¬
ser Grenzen die dramatische Wirkung,
Die Entwickelung jeder Kunst bringt es
aber mit sich, daß ein steigender Wert
auf die Form gelegt wird; die Kunstfer¬
tigkeit überwindet allmählich die Kunst*
Am Schluß einer jeden Epoche stehen
die Virtuosen der Technik, die ihre Wir¬
kung im besondern Maße von der Form
bei Erschöpfung des innem Gehaltes er¬
warten. Zahlreiche Bilder der Barock¬
zeit sind nur aus der Lust an der Über¬
windung technischer Schwierigkeiten
entstanden. Man gab, um neue formelle
Wirkungen zu erreichen, die einfache,
geradlinige Anordnung der Frühzeitauf,
man suchte die Regel zu verstecken und
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
4017
Max J. Wolff, Shakespeare als Künstler des Barocks
1018
strebte nach dem Eindruck des Unregel'
mäßigen. In dieser Weise äußert sich die
raffiniertere Technik in der bildenden
Kunst, im Drama dagegen gerade in der
entgegengesetzten Richtung. Der Künst¬
ler vermeidet hier alles Nebensächliche
und Zufällige und sucht sich auf das
Notwendige zu beschranken, nicht weil
Ihm die Beschränkung und Vereinfa¬
chung Selbstzweck waren, sondern weil
durch sie die stärkste formelle Wirkung
erreicht wird, die aus dem Drama gezo¬
gen werden kann. Gemeinsam in der
Entwickelung der bildenden Kunst und
des Dramas ist die allmähliche stärkere
Bewertung der Technik, spater ihr Über¬
wiegen Ober den Gehalt; jedoch derselbe
Zug äußert sich bei beiden in grundver-
schiedenerWeise, bei der bildenden Kunst
in einer Lockerung, beim Drama in einer
schärferen Anspannung des Stiles, wie es
eben der Eigenart beider entspricht.
Es scheint aber, daß der Höhepunkt
der Technik niemals mit dem Höhepunkt
der Kunst zusammenfallt, im Gegenteil,
die gelungensten technischen Leistungen
werden häufig durch Preisgabe materi¬
eller Vorzöge erreicht, wie man über¬
haupt in der Steigerung der Kunstfertig¬
keit ein Zeichen oder zum mindesten ein
Vorzeichen des Verfalles sehen kann. Es
ist also nur ein bedingter Tadel, wenn
man Shakespeare nicht die höchste Voll¬
endung der Technik zuspricht und im
Aufbau seiner Stöcke Stellen findet, die
ln formeller Beziehung nicht voll be¬
friedigen. Das geschieht nicht, um den
Dichter zu „belehren“, wie Walzel meint,
und darf gewiß nicht in der Weise ge¬
schehe^ daß man den Maßstab der heu¬
tigen Bühne an Shakespeares Werke
legt. Die Bühne mit ihren Anforderun¬
gen ist etwas Zeitliches, das mehr oder
weniger von praktischen Rücksichten be¬
stimmt wird, aber unabhängig von ihr
gibt es gewisse Anforderungen, keine
willkürlich festgesetzten Regeln, die aus
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dem Wesen des Kunstwerkes selber her¬
vorgehen. Niemand wird die selbstaus-
gesprochene Charakteristik z.B. in Ri¬
chard IIL 1,1 (»Ich bin gewillt, ein Böse-
wicht zu werden“) oder in Heinrich IV.,
Erster Teil 1,2 („Ich kenn’ euch alle“)
billigen, der Monolog des Belarius
(Cymbeline III, 3), in dem er sich und
seine Pflegesöhne unter ihrem richtigen
und angenommenen Namen dem ver¬
sammelten Publikum vorstellt, ist ver¬
fehlt. Es sind Unfertigkeiten, die sich
durch die Nahe der alten Volksstücke er¬
klären, technische Verstöße gegen das
Wesen des Dramas. So lassen sich auch
einzelne Stellen und Szenen finden, wo
dem Dichter die Übertragung des epi¬
schen Stoffes in die dramatische Form
nicht völlig gelungen ist, wo die Hand¬
lung in eine Fülle von nebensächlichen
Ereignissen zersplittert. Es handelt sich
dabei nicht um den häufigen Sze¬
nenwechsel, der dem Bühnenleiter
von heute Schwierigkeiten bietet,
sondern um Fälle, wo der Dichter
über Gebühr von der Hauptsache
abschweift, wo der Fortschritt in der*
Handlung stockt, wo diese, um' einen
Ausdruck Ernst v. Wildenbruchs zu ge¬
brauchen, die dramatische Linie aus dem
Auge verliert. Das hat mit der Bühne
nur insoweit etwas zu tun, als die Sha¬
kespeares in ihrer schrankenlosen Un¬
gebundenheit eine solche Zersplitterung
begünstigte und sie dem Publikum, viel¬
leicht auch dem Dichter weniger zum
Bewußtsein kommen ließ. Solche Fälle
sind in den ersten Königsdramen, die aus
der Lehrzeit des Dichters stammen, nicht
selten, sie finden sich aber auch noch in
den reifsten Werken, und unter diesen
besonders in Antonius und Cleopa¬
tra. Es ist dabei gleichgültig, daß das
Herrscherpaar, vor allem die Ägypterin
längere Zeit von der Bühne verschwin¬
det, denn es kommt nicht darauf an, daß
der Zuschauer den Helden immer leib-
Original fro-m
INDIANA UNIVERSITY
1019
Max J. Wolf!, Shakespeare als KQnstler des Barocks
1029
haftig vor Augen hat, sondern daß die-
ser stets allgegenwärtig ist, selbst wenn
er nicht auf den Brettern steht. Tartuffe
erscheint in den ersten beiden Akten
überhaupt nicht, aber Seine Gegenwert
spüren wir, sobald der Vorhang sich
hebt. So ließe sich auch im Gegensatz
zu Walzels Ansicht eine Iphigenie
denken, wo die Titelheldin während ei¬
nes ganzen Aktes von der Bühne ver¬
schwände, selbst in einer Tragödie des
geschlossenen Stiles. In Antonius und
Cleopatra aber handelt es sich nicht
nur darum, daß wir den oder die Helden
zeitweilig aus den Augen verlieren, son¬
dern es fehlt vielfach die nötige Bezie¬
hung zu ihnen. Walzel sucht die Berech¬
tigung solcher Szenen zu beweisen; sie
hätten den Zweck, die Größe des Anto¬
nius anschaulich zu machen. Gewiß sind
sie nicht so überflüssig, daß sie einfach
mit dem Rotstift durchgestrichen wer¬
den können, und sie mögen auch die Be¬
deutung, die Walzel ihnen beilegt, be¬
sitzen; aber wenn das Shakespeares Ab¬
sicht war, so stehen Mittel und Erfolg
nicht im richtigen Verhältnis. Die Cha¬
rakterzeichnung einer Person im Drama
darf nicht auf Kosten der Handlung,
nicht unter Preisgabe des dramatischen
Fortschrittes erkauft werden, sondern
muß aus der Handlung selber hervor¬
gehn. Der Epiker mag, wenn er die
Größe seines Helden schildern will, zu
dessen früheren oder anderweiten Ta¬
ten abschweifen, ja es ist ihm sogar ge¬
stattet, zukünftige Ereignisse zu diesem
Zweck vorauszumelden, der Dramatiker
sprengt dadurch den Rahmen des Kunst¬
werkes. Diesezerspütternden Szenen sind
epische Schlacken, die der Tragödie an¬
haften, und dasselbe gilt von den un¬
entschiedenen Kämpfen, die wir in An¬
tonius und Cleopatra finden. Der
Epiker folgt den Ereignissen, wie sie
sich der Reihe nach zu tragen, für den
Dramatiker sind nur die Geschehnisse
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bedeutsam, die den Charakter der han¬
delnden Personen, in erster Linie den
des Helden, beeinflussen. Wechselnde
Kämpfe können diesen Erfolg haben, ge¬
rade Shakespeare versteht es, sowohl
in der vorliegenden Tragödie als in
Richard III. und Macbeth in mei¬
sterhafter Weise, die schwankende Ent¬
scheidung des Krieges für die Cha¬
rakterentwicklung zu verwerten, aber
wo das Hin- und Herwogen der
Schlachten nur um der Schlachten wilr
len dargestellt wird, hört die drama¬
tische Wirkung auf. Die Ereignisse als
solche sind eben für das Drama nichts,
sondern nur um der Menschen willen
vorhanden.
Die-technischen Mängel Shakespeares,
wenn man den Ausdruck „Mängel" bei¬
behalten will, erklären sich aus dem
überschnellen Wachstum des elisabe-
thanischen Dramas, das die Eierschalen
des alten Volkstückes noch nicht völ¬
lig abgestreift hat. Sie haben mit dem
Einfluß des Barocks nichts zu tun. Die¬
ser Begriff würde uns niemals das
Verständnis dafür erschließen, wie ein
Dichter von stärkstem angeborenen dra¬
matischen Gefühl, der schon Werke
wie R ichard III. geschrieben hatte, sich
mit dem zerfahrenen Aufbau des König
Johann zufrieden geben konnte. Zie¬
hen wir aber die Quelle der Tragödie
heran, so begreifen wir die Möglichkeit,
und was für ein ganzes Stück gilt,
trifft auch in anderen Werken auf ein¬
zelne Szenen zu. Das Barock käme nur
dann in Frage, wenn man in dieser
Kunstrichtung eine volkstümliche Reak¬
tion gegen den strengen Klassizismus
der Renaissance erblicken könnte. Dann
allerdings würden die Stilentspannung,
die sich in den bildenden Künsten voll¬
zieht, und der von Anfang an offene
Stil des englischen Dramas auf den¬
selben Hauptnenner zurückgehen, auf
die Volkstümlichkeit
Original from
INDIANA UNIVERSITY
»oii
Nachrichten und Mitteilungen
1022
Nachrichten und Mitteilungen
Die Getreidenahrung im Wandel der Zeiten.
Ursprünglich lebte der Mensch im Natur-
zustande von dem Wild, das er erlegte oder
fing; das Fleisch bildete die Hauptnahrung,
denn keines der Früchte, Knollen, Wurzeln
und. anderer Pflanzenteile, die der Mensch
unter unsäglichen Mühen sammelte, ver¬
mochte ihn genügend zu ernähren, wie
A. Maurizio in seinem unlängst erschie¬
nenen Buche hervorhebt. ’) Die Pflanzen
gaben damals also nicht die Qrundnahrung
ab, sondern wurden nur als Beigabe ver¬
wertet. Dabei stellte sich heraus, daß die
Gräser alle andern Pflanzen überragende
Vorzüge aufwiesen. Ohne viel Mühe konnte
man von ihren Früchten einen Vorrat an-
legen, der im gleichen Raume mehr Nähr¬
stoffe enthielt, als irgendein Erzeugnis der
übrigen Gewächse. Ein eigentliches Wild¬
getreide kennen wir nicht, doch durfte die
Prüfung von allerhand Ackerunkräutern viel¬
leicht manchen Aufschluß noch ergeben.
Bei der Auswahl der Früchte der Wildgrä-
ser war sicher die Grüße derselben haupt¬
sächlich bestimmend. Unsere heutigen Ge¬
treidearten gehören ja auch zu den groß-
früchtigsten Grasarten, die wir im Laufe der
Zeiten herangezüchtet haben. Ursprünglich
genoß man die Grassamen wohl als Brei,
wie noch heute der Brei die Hauptnahrung
vieler Naturvölker ist. Dabei stellt sich her¬
aus, daß die neue Welt kein echtes Brot¬
getreide besitzt, während die Breipflanzen
dort einen weit höheren Wert, als in der
alten Welt aufweisen. Als Breipflanzen großer
Verbreitung können wir Hafer, Mais und
Reis hinstellen, dem sich einige HUlsen-
früchte anschließen. Für Europa allein kommt
eigentlich nur der Hafer in Betracht, wäh¬
rend der Mais für Amerika charakteristisch
ist, Reis in Indien, China und Japan sein
Hauptzentrum hat. Aber weder Mais noch
Reis geben an sich eine vollwertige Nah¬
rung ab, sie bedürfen im höheren Maße als
die übrigen Getreidearten des Zusatzes von
stickstoffreichen Stoffen.
Neben dem Brei müssen wir den Auf¬
guß, die Suppe erwähnen, die ja nur eine
verdünnte Form des Breies darstellt. Dabei
ergeben sich wieder interessante Ausblicke
1) Die Getreidenahrung im Wandel der
Zeiten. Zürich, Orell Füßli, 1916.
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auf die Getränke, doch dürfte es zu weit
führen, darauf näher einzugehen. Mit der
ältesten Getreidenahrung gehen dann eine-
Reihe von Arten des Verarbeitens der Kör¬
ner einher, die sich hauptsächlich in der
Weise des Zermalmens der Naturprodukte-
äußem. Von der Steinzeit an bis weit ins.
Mittelalter mahlten die Menschen das Ge¬
treide auf allerlei Reibplatten und in Mahl¬
trögen, denen sich der Mörser zugesellte.
Bald kam man darauf, die entstehende Masse*
den Brei, zu backen und zu rösten, um den
Wassergehalt zu vermindern. Dadurch kom¬
men wir zu der Geschichte des Fladens,
welcher einen recht bedeutenden Fortschritt
in der Verwertung des Getreidekorns dar¬
stellt Freilich waren diese Produkte noch
recht reichlich mit Sand und Asche verun¬
reinigt, womit die auffallend starke Abnut¬
zung der Zähne bei vielen wilden Völkern
erklärlich wird. Die ältesten Fladen, die wir
kennen, sind die der Pfahlbauem; das Über¬
gewicht unter den Fruchten hatte damals
entschieden die Hirse, während die herr¬
schende Klasse wohl Fladen von Gerste-
und Weizen bevorzugte. Was den Fladen
hauptsächlich kennzeichnet, ist, daß dieses
Gebäck ohne Gärmittel bereitet wird, und
zwar durchschnittlich nicht aus wenigen oder
einer Getreideart wie unser Brot, sondern
aus vielen sich hierzu irgendwie eignenden
besteht. Später machte der Fladen dem
Brote mehr und mehr Platz, blieb aber stets
als die Nahrung der Armen bestehn. Die
guten Breilieferer taugen erfahrungsgemäß
schlecht zur Brotbereitung: Hirse, Buch¬
weizen, Mais, Reis, Hafer und Gerste geben
schlechtes, schweres Gebäck. Trotzdem ver¬
suchte man immer wieder, Brot aus diesen
Getreidesorten herzustellen. Erst die Säue¬
rung des Teiges als Auftreibmittel ver¬
mochte ein richtiges Brot zu schaffen. Da¬
bei kann man nicht behaupten, daß Brot
aus einer Getreidesorte durchaus junger ist
als das Mischbrot; doch ging nach und nach
die Bevölkerung mehr und mehr Überall zu
einem einheitlichen Brot Uber, wobei man
unter Korn die in der betreffenden Ge¬
gend vorwiegende als Brotfrucht dienende
Getreideart zu bezeichnen pflegt: Für den
Norden Deutschlands ist es der Roggen, für
den Süden der Weizen. Wo jetzt diese bei¬
den Getreidesorten um den Vorrang kämp-
Original from
INDIANA UNIVERSITY
1023
Nachrichten und Mitteilungen
10M
fen, haben sie früher die andern Getreide*
arten erst besiegen müssen. Interessant ist,
daß wir Weizenbrot in Süddeutschland erst
vom 12. Jahrhundert an kennen, Gersten*
brot halt sich noch heute in Nordeuropa,
in Skandinavien nennt man die Gerste
schlechtweg das Korn.
Ursprünglich mußte man das Brot viel*
fach würzen, der veränderte Geschmack
lehnte erst nach und nach viele der früher
am meisten verbreiteten Gewürze ab. Außer
dem Kümmel haben sich meistens nur noch
Brotwürzen auf dem Lande erhalten, wo
man hier und da Mohn, Fenchel, Anis, Ko*
riander usw. verwendet. Der Weg vom
Schwarzbrot zum Weißbrot förderte haupt*
sachlich diese Änderung. Der Weizenesser
kennt außer Salz fast keine Würze.
Zuerst wurde Brot nur selten gebacken,
der Vorrat des Brotes reichte lange, aber
selbst jetzt hatte Maurizio nur geringe
Mühe, zwei* und mehrjähriges Brot zu
Analysenzwecken zu erhalten. Brot galt
früher für etwas Kostbares, das man nicht
alltäglich genoß. Im Zusammenhang mit
dem jetzt täglichen Backen steht, daß der
Weizen beharrlich in Mitteleuropa vordringt
von Westen nach Osten und von Süden
nach Norden. Die Vorzüge des Weizen*
brotes sind ja auch wohlbekannt, sdion vor
zweihundert Jahren verlangte der Städter
in Frankreich sein Weißbrot. Deutsch und
Welsch unterschied sich bis in die neuste
Zeit durch sein Brot, es war ein Gegensatz
der Völker, fast der Weltanschauung. Mit
dem Oberblick über das zur Frage stehende
Thema, den wir hier an der Hand unseres
bewahrten Führers Maurizio nur geben konn*
ten, ist der Inhalt des höchst interessanten
Buches bei weitem noch nicht erschöpft.
Die Leser werden dort so manchen Finger*
zeig, so manche Aufklärung finden, die hier
nicht einmal angedeutet werden konnte.
Prof. Dr. E. Roth.
Vermittlungsstelle für technisch •wissenschaft¬
liche Untersuchungen.
Der Vorstand des Deutschen Verbandes
technisch'Wissenschaftlicher Vereine hat
beschlossen, in seiner Geschäftsstelle eine
Einrichtung zu schaffen, die für die Aus*
führung von wissenschaftlich -technischen
Untersuchungen zwischen der Technik und
den wissenschaftlichen Instituten, den Uni¬
versitäten und Technischen Hochschulen
vermitteln soll.
Sehr viele Probleme und ebenso die be¬
sondere Kenntnis der Arbeitsgebiete sipd
heute so spezialisiert, daß bisweilen für ein
bestimmtes Problenf in den wissenschaft¬
lichen Instituten nur wenige geeignete Be¬
arbeiter zur Auswahl sich finden. Wenn es
nun gelingen könnte, alle solche Probleme
den jeweils geeigneten Bearbeitern zuzufüh¬
ren, würde ein sehr erheblicher Nutzen mit
dem geringsten möglichen Arbeitsaufwand
geschaffen werden. Einerseits könnten die
großen geistigen und materiellen Weite,
die in den Einrichtungen der wissenschaft¬
lichen Institute der Universitäten und Tech¬
nischen Hochschulen und in den Kennt¬
nissen und Erfahrungen ihrer Leiter gege¬
ben sind, in höherem Maße als bisher der
deutschen Industrie nutzbar gemacht wer¬
den. Andrerseits würde der Industrie, so¬
weit sie nicht selbst durch ihre Einrich¬
tungen und sonstigen Verbindungen dazu
in der Lage ist, also besonders den mitt¬
leren und kleineren Werken, die Möglich¬
keit gegeben, die Lösung ihnen sich bie¬
tender Probleme mit Hilfe des Verbandes
einzuleiten. Und auch für die großen indu¬
striellen Werke könnte es manchmal er¬
wünscht sein, auf diese Weise Anknüpfung
mit Akademikern zu erhalten, die kompli¬
zierte Fragen zugleich wissenschaftlich und
im Zusammenhang mit der Technik zu be¬
urteilen geneigt sind.
Eine große Zahl von Institutsleitern auf
dem Gebiete der angewandten und physi¬
kalischen Chemie, der Physik, der Elektro¬
technik und der Ingenieiirwissenschaft ha¬
ben sich bereit erklärt, derartige Arbeiten...
die ihnen durch die Vermittlungsstelle des
Deutschen Verbandes zugeführt werden,
zu übernehmen; und fachkundige Herren aus
jedem der genannten Gebiete haben sich der
Geschäftsstelle zur Verfügung gestellt, um
sie bei der Auswahl der jeweils in Betracht
kommenden Bearbeiter zu unterstützen.
Der Deutsche Verband richtet daher an
die industriellen Werke der genannten Ge¬
biete die Bitte, sich seiner Vermittlungs¬
stelle Berlin NW 7, Sommerstr. 4 a zu Hän¬
den des geschäftsführenden Vorstandsmit¬
gliedes, zu bedienen.
Für die SdirlfUeltung verantwortlich: Professor Dr. Max CornlcelI u;, Berlin W30, Lnitpoldstrafle 4.
Drude von B.Q.Teubner in Leipzig.
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
11 . JAHRGANG HEFT 9 L JUNI 1917
Denkschrift über die Einrichtung der
Auslandsstudien an den deutschen Universitäten.
Von Eduard Spranger.
Einleitung.
Die Lehren, die man in Deutschland
aus den Erfahrungen des Krieges für das
Bildungsleben gezogen hat, weisen in
zwei ganz entgegengesetzte Richtungen
— ein Beispiel dafür, daß die gleichen
Erlebnisse in verschiedenen Geistern
sehr abweichende Bewegungen auslösen
können. Die einen verlangen, daß wir
uns stärker auf deutsche Wesensart zu¬
rückziehen und selbstbewußter das Ei¬
gentümliche des deutschen Geistes her¬
ausarbeiten sollen. Die anderen meinen,
daß wir uns zu stark im eignen Hause
eingesponnen haben und deshalb in ent¬
scheidender Stunde von den andern Völ¬
kern ebenso unverstanden geblieben
waren, wie wir für sie kein Verständnis
finden konnten. Man spricht auch kurz
von dem Wege nach Weimar und dem
Wege zu weltpolitischem Denken. Viel¬
leicht schließt sich beides nicht so stark
aus, als es auf den ersten Anblick er¬
scheinen will. Denn in demselben Grade,
wie man sich selbst begreift, nähert man
sich auch dem Besonderen abweichen¬
der Geistesverfassung, und nur, wenn
man in andre Naturen hingebend und
lernend eingedrungen ist, kehrt man be¬
reichert und zuversichtlicher in sich
selbst zurück.
Entstanden auf Anregung des Herrn Mini¬
sterialdirektor D. Dr. F. Schmidt vom April
1916 und dem Kgl. Preußischen Ministerium
der geistlichen und Unterrichtsangelegenhei¬
ten am 1. März 1917 eingereicht. Der Verf.
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Aber den Ton wird man unvermeid¬
lich auf das Neue zu legen haben, und
so soll denn in dieser Denkschrift, unbe¬
schadet der „rechten Verehrung für das
einheimische Große“, nur von dem die
Rede sein, was uns bisher gefehlt hat.
Zwei Gedanken sind es, die ich im vor¬
aus als wesentlich herausheben
möchte, damit sie nicht unter den einzel¬
nen Erwägungen verloren gehen: Ein¬
mal lege ich das Schwergewicht auf den
wissenschaftlichen Charakter der
Beschäftigung mit dem Auslande. Nur
in diesem Sinne kann sie den Universi¬
täten zugemutet werden. In diesem
Sinne ist sie aber auch ihre echte Auf¬
gabe und Pflicht. Von der wissenschaft¬
lichen Spitze aus mag dann die Verbrei¬
terung zur praktischen Auslandsbildung
und „allgemeinen Auslandskenntnis“ er¬
folgen; der umgekehrte Weg führt nie¬
mals zur Höhe. — Andererseits aber ist
vor einem schädlichen Übereifer zu war¬
nen. Es ist nicht möglich und ist nicht
nötig, daß jede deutsche Universität ihr
eignes Balkaninstitut begründe. Viel¬
mehr muß auf diesem Gebiete endlich
eine geregelte Arbeitsteilung zwischen
den deutschen Universitäten angebahnt
werden. Die Hochschulen stecken viel¬
fach noch im Banne des Partikularismus
und jenes unproduktiven Wetteifers,
der im Grunde Nachahmungssucht ist.
Es ist Zeit, daß auch an ihnen der deut¬
sche Gedanke sich Bahn breche und
daß jede sich in erster Linie als deutsche
33
Original ffo-m
INDIANA UNIVERSITY
1027 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1028
Bildungsstätte, dann erst als Landesuni¬
versität fühle. Nur wenn eine Ver¬
ständigung Ober den Gesamtplan der
Auslandsstudien vorangegangen ist,
kann unzweckmäßige Verdopplung von
Ausgaben und vor allem das Aufkom¬
men vieler minderwertiger Konkurrenz-
Institute vermieden werden. Jede Uni¬
versität pflege ihren Kulturkreis, diesen
aber in unerreichbarer Vorzüglichkeit!
Damit hat sie teil am großen Leben der
Welt, während sie sonst Gefahr läuft,
durch Einmischung in diese neuen Auf¬
gaben nur ihren eilten geschlossenen Zu¬
sammenhang zu verlieren.
Deshalb ist es auch nicht zu empfeh¬
len, allmählich, mit den gerade auftre¬
tenden Forderungen der Zeit, einzelne
Professuren für fremde Kultur bald an
dieser, bald an jener Fakultät zu grün¬
den und so das Ganze scheinbar von
selbst wachsen zu lassen. Eine neue
Sache fordert auch einen neuen Plan.
Hat man diesen gefaßt, so mag man in
seinem Rahmen langsam vorgehen und
Einzelheiten dem freien Spiel der Ent¬
wicklung überlassen; aber das Ganze
muß man im voraus überschauen.
Schon die Gründe der Sparsamkeit ra¬
ten zu einem zielbewußten Verfahren,
wenn es auch anfangs unorganisch er¬
scheinen könnte. Denn die gelegentliche
Begründung einzelner Professuren ist
nur scheinbar billiger. Jede Universität
wird dann danach streben, dasselbe zu
haben wie die großen und größten. Die
Kolonialinstitute, die England- und
Amerikaprofessuren, die Lektorate für
tausend Sprachen werden bald wie Pilze
emporwachsen. Keine dieser Einrichtun¬
gen würde wirklich auf der Höhe stehen.
Denn so viele Dozenten ersten Ranges
für Spezialgebiete sind in Deutschland
nicht zu finden. Und keiner würde eine so
große Hörerzahl haben, daß der Auf¬
wand sich entfernt lohnte.
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Oberläßt man die Dinge sich selbst,
so haben wir in einigen Jahren vielleicht
in Deutschland 4—5 allgemeine russische
Professuren. Da jede nur auf einer einzi¬
gen Kraft beruhte, und die anderen poli¬
tisch wichtigen Länder doch auch an der
betreffenden Universität zur Geltung
kommen wollten, würde sich nirgends)
ein wirklich großer Mittelpunkt rassi¬
scher Auslandsstudien entwickeln. Ei¬
nigte man sich darüber, statt des¬
sen an einer Universität drei oder
vier nach sachlichen Kulturgebieten
differenzierte Professuren für Rußland
zu begründen und diese mit Gelehrten
ersten Ranges zu besetzen, so würde die
betreffende Universität im ganzen Reich
den Vorrang für das Studium des russi¬
schen Kulturkreises erhalten, während
andere eine andere Spezialität entwik-
keln könnten. Oder mit einem weiteren
Beispiele: 10 Lektorate für Bulgarisch
an verschiedenen Universitäten leisten
nicht dasselbe wie ein einziges höher
ausgestaltetes Balkaninstitut, in dem
ein Zusammenwirken der .besten Ken¬
ner und die entsprechende Konzentra¬
tion des interessierten Hörerkreises
stattfände.
Kurz: das Verfahren, gelegentlich
„zeitgemäße“ Professuren zu gründen,
muß zugunsten einer planmäßigen Ge¬
samtorganisation aufgegeben werden.
Auf diesem Gebiet, dessen Bedeutung
sich aus der politischen Stellung des Rei¬
ches ergeben hat, muß sich auch der
erste Anfang einer Organisation
entwickeln, die auf bewußter
Arbeitsteilung der Reichsuni¬
versitäten beruht, im Gegensatz
zu dem bisher herrschenden Prinzip
des Wetteifers, das gerade bei großen
neuen Aufgaben ein Entgegenarbeiten,
nicht ein Zusammenarbeiten bedeuten
würde.
Original from
INDIANA UNIVERSITY
1029 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien_1030
L Hochschule und Kultur*
Zusammenhang.
Der Name Universität wird seit
Jahrhunderten nicht mehr ausschließ'
lieh auf die Gesamtheit der Leh¬
renden und Lernenden bezogen, sondern
auf das Ganze der Forschung und der
Wissenschaft. Nachdem bis gegen Ende
des 17 . Jahrhunderts ein enzyklopädi¬
sches Ideal geherrscht hatte, kam durch
die Leibniz-Wolffische Philosophie der
Gedanke einer philosophischen Totali¬
tät des Wissens empor. Noch weitere
Vertiefung erfuhr das Streben nach phi¬
losophischer Umrahmung der Wissen¬
schaften durch den deutschen Idealis¬
mus der Kant, Fichte, Scheliing. Ins¬
besondere der Letztgenannte machte
den Versuch, die Organisation der
Universität aus der philosophischen
Idee des Wissens selber abzulei¬
ten, andern er die Gliederung der
Fakultäten und Fächer als die genaue
Spiegelung der Einheit des Wissens und
seiner Besonderung ansah. Auf diesem
spekulativen Wege sind ihm Fichte und
Steffens, und in gemäßigterer Form
Schleiermacher und W. v. Humboldt ge¬
folgt Wie die Philosophie alle Wissen¬
schaften umspannte, so rückte auch die
philosophische Fakultät in den Mit¬
telpunkt der Hochschule und wurde
für die Arbeit aller anderen von vorbild¬
licher Bedeutung.
Noch heute gehört nach allgemeiner
Auffassung zum Wesen der Universität
das Streben nach Universalität und Ein¬
heit der Wissenschaft. Aber der Sinn
dieser Auffassung hat sich doch nicht
unerheblich verschoben. Zu Beginn des
19 . Jahrhunderts suchte und fand man
das zusammenhaltende Band aller Fa¬
kultäten in der systematischen Ein¬
heit des Wissens, heute in der Ein¬
heit der Kultur. Damals ver¬
stand man das ganze Leben aus einem
Digitized by Gougle
fertigen, flberweltlichen Ideenzusam¬
menhang, der in die Wirklichkeit über-
getreten sei, heute nimmt man es als ei¬
nen unendlich verzweigten, sich entwic¬
kelnden und umbildenden Wirkungs¬
zusammenhang, den die Wissen¬
schaft erst in ein Gedankengebdlde zu
verwandeln habe.
Dazwischen liegen tiefgreifende
Schicksale der Menschheit und unsres
Volkes. Die Kultur ist — unter dem Ein¬
fluß der national-demokratischen Bewe¬
gung, der Technik und der industriellen
Produktion — verwickelter geworden;
unser Blick für diese Welt ist realisti¬
scher geworden, da die im voraus fer¬
tige Idee nicht weit genug ist, diesen
Zusammenhang zu umspannen. Auch
die Universität hat diese Wandlung an
sich erfahren. Schon im Laufe des 18 .
und 19 . Jahrhunderts hat sie eine An¬
zahl von Kulturgebieten aus ihrem Zu¬
sammenhänge entlassen müssen, da sie
der alten Wissenschaftseinteilung und
Lehrorganisation nicht einzuordnen wa¬
ren. Die Landwirtschaft, die Technik,
der Bergbau, der Handel haben ihre
Pflegestätte an besonderen „Fach¬
hochschulen“ gefunden. Schon die¬
ser Name zeigt, daß man die alte
Hochschule nicht als eine Fachbil¬
dungsanstalt ansah, sondern ihr einen
allgemeineren Charakter zuschrieb: den
Charakter der eigentlichen Wissen¬
schaftlichkeit, wenn auch im Hinblick
auf künftige Berufs- und Kulturgebiete
wie Seelsoige und Heilkunde, Verwal¬
tung, Rechtspflege und Lehramt Beson¬
ders bei der Landwirtschaft und der
Technik haben die Erörterungen, ob sie
nicht eigentlich in den Schoß der Univer¬
sitäten zurückgenommen werden sollten,
lange genug geschwebt. Und bei jedem
neuen Gebiet das eine Hochschulbil¬
dung fordert taucht die Frage von neu¬
em auf, ob es gesonderte Anstalten ver-
33 *
Original fro-m
INDIANA UNIVERSITY
1031 Ed. Spränget, Denkschrift über die Einrichtung der Auslandsstudien 1032
lange oder dem Verband der Universität
einzuverleiben sei.
Es muß zugegeben werden, daß die
Universität schon heute nicht mehr den
ganzen Zusammenhang der Kultur spie'
gelt. Sie hat ihren Betrieb tatsächlich
nicht auf alle Gebiete der Praxis aus¬
gedehnt, die eine wissenschaftliche
Grundlage fordern, wie z. B. die Technik
unverkennbar auf theoretischen Einsich¬
ten ruht. Umgekehrt haben einzelne Ge¬
biete der Praxis, die keine Aufnahme
fanden, sich selbständig die besonderen
wissenschaftlichen Grundlagen geschaf¬
fen, deren sie bedürfen, und aus diesem
Prozeß ist das ausgedehnte Fachhoch¬
schulwesen unsrer Zeit hervorgegangen.
Die Ausbreitung und innere Differen¬
zierung der Kultur dauert weiter an.
Stärker als Literatur, Wissenschaft und
Kunst hat die maschinelle Produktion
der Industrie einen internationalen Ver¬
kehr geschaffen. Wir sind, fast ohne es
zu merken, zugleich mit der späten Voll¬
endung unsres nationalen Daseins in ein
Zeitalter der Weltwirtschaft und damit
der Weltpolitik hineingewachsen. Die
ersten Anzeichen für das Vorhandensein
solcher internationaler Berührungen,
Bänder und Reibungsflächen waren die
Weltausstellungen, deren Reihe 1851 in
London eröffnet wurde. Nicht die Aus¬
dehnung über den europäischen Konti¬
nent hinaus ist dabei das Wesentliche,
sondern die wachsende wirtschaftliche
und politische Bedeutung unsrer Bezie¬
hungen zum Auslande überhaupt Es
muß zugestanden werden: wir haben
im vergangenen Jahrhundert
auch keine kontinentale Aus¬
landsorientierung gehabt. Wir
waren noch nicht zum vollen Bewußt¬
sein der nationalen Lebensbedingungen
erwacht; sondern es ging uns, wie den
Schülern unsrer Gelehrtenschulen seit
den Tagen Leasings: sie wußten sich
nicht zu bewegen, wenn sie aus der
klösterlichen Selbstbildimg ins Leben
traten. Deshalb liegt auch die nächste
Aufgabe gar nicht darin, den neuen ko¬
lonialen und imperialistischen Bestre¬
bungen des Zeitalters der Weltpolitik
gerecht zu werden, sondern nachzuho¬
len, was wir bisher überhaupt noch nicht
gehabt haben: eine Erziehung des Vol¬
kes zum Verkehr mit anderen Völkern.
Dieser Verkehr beruhte bisher auf dem
autodidaktischen Instinkt von Unterneh¬
mern, Kaufleuten und Reisenden mit
privater Verantwortung: Eine Aus-
landsbildung hates in Deutsch¬
land im 19. Jahrhundert über¬
haupt noch nicht gegben, weder
eine kontinentale noch eine pla¬
netarische. Wir haben England und
Frankreich und Rußland im strengen
Sinn so wenig gekannt wie Amerika, Ja¬
pan und die überseeischen Koloniallän¬
der.
Wenn nunmehr, nach den Erfahrun¬
gen der letzten Jahre, die Notwendigkeit
einer umfassenden Auslandsbildung un¬
widerruflich zum Bewußtsein gekom¬
men ist, so tritt auch hierbei zunächst
die Grundfrage auf, ob diese Ausbil¬
dung den Universitäten oder besonderen
Fachanstalten zu übertragen sei.
Das Problem ist Im Grunde nur ein
Ausschnitt aus einem viel umfassende¬
ren Zusammenhänge: der Aufgabe einer
politischen Volkserziehung überhaupt.
Wir haben im 18. Jahrhundert in Preu¬
ßen eine Blüteepoche des Staatser¬
ziehungsgedankens gehabt die ebenso
völlig vergessen ist, wie man sich von
dem Sinn und der Größe jener zentrali¬
stischen Staatsidee abgekehrt hat. Eine
politische Erziehung im prägnanten
Sinne fehlt im 19. Jahrhundert über¬
haupt: gemäß den politischen Strömun¬
gen der Zeit haben die Regierungen sie
eher zurückgehalten als gefördert und
Original fram
INDIANA UNIVERSITY
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Google
1033 Ed* Spranger, Denkschrift aber die Einrichtung der Auslandsstudien 1034
der Liberalismus hat ihr durch eine Be¬
tonung der nationalen Geistesgüter und
der Persönlichkeitsidee Genüge zu tun
geglaubt Mit dem Jahre 1890 hat, wie
ich an anderer Stelle 1 ) ausführlich darge¬
stellt habe, eine neue Epoche eingesetzt.
Seit damals der Deutsche Kaiser weit
vorausschauend die Initiative ergriff, ist
es uns allmählich auf den verschieden¬
sten Gebieten zum Bewußtsein gekom¬
men, daß es nicht genug ist, die Jugend
zur Selbstverantwortung zu erzie¬
hen, sondern daß auch die soziale
Verantwortung im Innern und die
nationale Verantwortung nach
außen im Volke geweckt werden muß.
Wieviel von dieser neuen Volkserzie¬
hung können die alten Universitäten
übernehmen, ohne daß dadurch ihr Rah¬
men gesprengt und ihre sonstigen Auf¬
gaben gefährdet würden ?
IL Bisherige Gestaltung und neue
Ansätze.
1 . Die Kultur des Auslandes ist schon
heute an unsern Universitäten mit Lehr¬
stühlen bedacht. Wenn man jedoch von
den ganz allgemeinen Disziplinen der
Geographie und der Ethnologie absieht,
so bleiben nur die Professuren für neu¬
ere Philologie und die wenig zahlrei¬
chen für ausländische Geschichte.
Diese Erscheinung ist für den Ent¬
wicklungsgang der deutschen Bildung
sehr charakteristisch. Seit den 70er Jah¬
ren des 18. Jahrhunderts wurde die klas¬
sische Philologie in Deutschland die ei¬
gentliche Bildungswissenschaft. Ur¬
sprünglich auf die griechische und römi¬
sche Sprache und Literatur des Alter-
1) .Fünfundzwanzig Jahre deutscher Er-
zfehungspolitik“, Union Deutsche Verlags-
gesellschalt, Berlin-Stuttgart 1916. Vgl. ferner:
.Das humanistische und das politische Er¬
ziehungsideal im heutigen Deutschland“,
Deutsche Abende des Zentralinstituts für
Erziehung und Unterricht, Berlin 1916.
tums gerichtet, hat dieser Studienzweig
sich allmählich ausgedehnt zu einer
Wissenschaft von der ganzen Kultur
des Altertums. Aber es lag in der Natur
der Dinge, daß diese vergangenen Epo¬
chen nur wieder aufgedeckt werden
konnten, wenn man bis in die letzten
Feinheiten der Sprache eingedrungen
war. Denn diese untergegangene Welt
ließ sich ja nicht anders beleben als
durch das eindringlichste Verständnis
der verhältnismäßig spärlichen literari¬
schen Denkmäler. Zu ihnen war die
Sprache der Zugang. So erklärt sich
das bleibende, enge Bündnis zwischen
Sprachwissenschaft einerseits, klassi¬
scher Literaturgeschichte und Kultur¬
kunde andererseits. Nur die Kunstbe¬
trachtung unter dem Namen Archäo¬
logie und die alte Geschichte als Teil der
Weltgeschichte gelangten zu relativer
Selbständigkeit. Das übrige blieb in der
Hand der Philologen, die von dem Ein¬
heitspunkt der Sprache aus die ganze
Vielheit der antiken Kulturerscheinun¬
gen durchdrangen.
Die bindende Kraft dieses Vorbildes
kann nicht hoch genug veranschlagt
werden. Die Literatur der neueren Völ¬
ker, der germanischen und romanischen»
nicht ausgenommen das deutsche, wurde
ebenfalls vorwiegend vom Sprachge-
sichtspunkte aus behandelt, und es galt
als selbstverständlich, daß jemand, der
von diesen Literaturen reden wollte, von
der historischen Grammatik, der philolo¬
gischen Kritik und der Editionstechnik
herkommen müßte. M. a. W.: Alle Phi¬
lologien, einschließlich der orientali¬
schen, haben sich nach dem Vorbilde
der klassischen Philologie ausgestaltet.
Es gehört nicht hierher, wie sich in den
letzten Jahrzehnten in den einzelnen Dis¬
ziplinen eine fruchtbare Loslösung von
der Herrschaft dieses Vorbildes vollzo¬
gen hat. Die Romanistik und die Angli-
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Gck igle
Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1035
stik jedenfalls kamen an den entschei¬
dendsten Wendpunkt, als sie sich erin¬
nerten, daß es sich bei ihnen um lebende
Sprachen handelte, und daß diese noch
in anderem Sinne getrieben werden
müßten als im historischen (Viötor 1885).
Darin lag ein erstes Symptom, daß man
der lebenden Kultur des Auslandes von
Beiten der Wissenschaft ein Interesse zu¬
zuwenden begann. Aber erst spät brach
an den Universitäten die naheliegende
Einsicht durch, daß auch die Literatur
nicht die einzige Brücke zu diesen Lan¬
dern ist, sondern daß man sie selbst se¬
hen kann und gesehen haben muß, um
von ihrergegen wärtigen Gestalt aus auch
ihre Vergangenheit tiefer zu verstehen.
Gewiß bleiben Sprachwissenschaft, phi¬
lologisch orientierte Literaturgeschichte
und allgemeine Geschichte wesentliche
Teile jeder wissenschaftlichen
Auslandskenntnis. Aber das ist klar,
daß — als Eingangsweg zum heu¬
tigen England und Frankreich — der
Weg über den Beowulf und das
Rolandslied ein weiter Umweg ist, und
daß man das gleichzeitige Ausland unter
ganz anderen Gesichtspunkten betrach¬
ten kann, die auch noch wissenschaftlich
bleiben.
Das erste Ergebnis dieser Erörterung
also ist dieses: Das Auslandsstudi¬
um in Deutschland muß von der
einseitigen Herrschaft des phi¬
lologischen Gesichtspunktes
befreit werden.
2. In der Tat finden sich Ansätze zu
Auslandsstudien, die viel näher an die
Wirklichkeit heranführen, als es im Rah¬
men der für Oberlehrer bestimmten neu¬
sprachlichen Bildung der philosophi¬
schen Fakultät möglich war. Der wach¬
sende Einfluß politischer und wirt¬
schaftlicher Gesichtspunkte gegenüber
dem bloßen Schulinteresse tritt hierin zu¬
tage. Diese Ansätze, die aus dem kon¬
1036
kreten Bedürfnis einer neuen Zeit ohne
grundsätzliche Erwägungen hingestellt
worden sind, bieten gerade deshalb ein
besonders lehrreiches Material zur Be¬
urteilung der Frage, nach welcher Seite
die Entwicklungstendenz geht Vor al¬
lem ist zu beachten, in welchem Verhält¬
nis sie zur Universität stehen. Folgende
Grundformen sind bisher zu bemerken:
1. völlige Selbständigkeit;
2. Anlehnung an die Universität;
3. Herauswachsen aus be¬
stehenden Professuren
4. Neuschöpfung von Pro¬
fessuren
1 . Das Hamburgische Koloni¬
alinstitut (gegr. 1908) steht scheinbar
ganz selbständig da. Jedoch hat es in
dem weit entwickelten „Allgemei¬
nen Vorlesungswesen'* eine erhebliche
Stütze, und wir haben in den letzten Jah¬
ren die unverkennbare Tendenz bemerkt,
diese Bruchstücke zu einer eigentlichen
Universität zu erweitern. Dabei zeigte
sich denn allerdings die Schwierigkeit,
die neuen Lehrstühle (und Seminare) für
englische, indische, romanische, chinesi¬
sche, japanische, islamische und Neger¬
kultur in dem Rahmen der alten Formen
unterzubringen. Der Gedanke einer kolo¬
nialwissenschaftlichen Fakultät tauchte
auf, die aber in sich auch keine Einheit
gehabt hätte. (Vgl. m. Kritik: „Ober den
Beruf unserer Zeit zur Universitätsgrün-
düng“ in den „Geisteswissenschaften“ I,
1,1913.) Andererseits hat das Institut im¬
mer mit der Gefahr zu kämpfen gehabt,
in (seiner isolierten Stellung als bloße
Sprachenlehranstalt mißverstanden und
mißbraucht zu werden. (Vgl. Jahresbe¬
richt über das 5. Studienjahr S. 25.)
Ganz unabhängig von einer Universi¬
tät ist das Deutsch-Südamerikani¬
sche Institut in Aachen, das aus
vorwiegend wirtschaftlichen Interessen
erwachsen ist.
Ed. Spranger, Denkschrift über die Einrichtung der Auslandsstudien
I an der
Uni¬
versität
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Original frum
INDIANA UNIVERSITY
1037 Ed. Spranger, Denkschrift Aber die Einrichtung der Auslandsstudien 1038
2. Das Seminar für orientalische Spra¬
chen“ in Berlin (gegr. 1887) kennzeichnet
schon durch seinen Namen, daß es sich
anfänglich eine sehr enge Grenze setzen
mußte. Daher blieb denn auch die Ver¬
bindung mit der Universität, die sich auf
einige Personalunionen in den Professu¬
ren und auf Gemeinschaftlichkeit des
Vorlesungsverzeichnisses erstreckte, bis¬
her sehr äußerlich und unbefriedigend.
Je mehr die Anstalt aus einem prakti¬
schen Spracheninstitut zu einer wirkli¬
chen Kulturakademie wird, um so drin¬
genderwird es sein, auch organisatorisch
ihr Niveau der Universität mehr anzunä-
hem.
3. Das neue Bedürfnis der Zeit hat
sich ferner kundgegeben in der Ausge¬
staltung von Extraordinariaten und Lek¬
toraten zu ordentlichen Professuren, und
in der Begründung großer Institute im
Anschluß an bereits bestehende Lehr¬
stühle. Dahin gehören z. B. die osteuropä¬
ische Geschichte und Landeskunde in
Berlin (1902), das Institut für Seeverkehr
und Weltwirtschaft in Kiel (1914), meh¬
rere smologische und slavische Profes¬
suren, solche für koloniale Geographie
und Landwirtschaft, für amerikanische
und englische Geschichte usw. Doch
blieb überall der weitere Ausbau da¬
durch behindert, daß einzelne Fakul-
tätsinstitute nicht zu weit über den Rah¬
men der alten Fakultät hinauswachsen
durften.
4. Ganz neue Professuren sind ander¬
wärts für Arabisch und Türkisch, für
Chinesisch und Japanisch gegründet
worden, vielfach ftiit starte philolo¬
gisch-historischem Charakter. Die Ein¬
richtung der amerikanischen Austausch¬
professuren und das Amerika-Insti-
stitut in Berlin gehört auch hierher. Ein
kontinuierliches Studium hat sich jedoch
bei diesen Wechsel- und Wanderprofes¬
suren nicht entwickeln können, und auch
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die politischen Hoffnungen, die man auf
sie setzte, haben sich bisher schlecht er¬
füllt Das ganze Verfahren dieser Einzel-
gründungen hat den Nachteil, daß je¬
mand, der unter sich nahe verwandte
Kulturkreise studieren will, unter Um¬
ständen genötigt ist, drei Universitäten
zu besuchen, um an jeder gerade einen
Gesichtspunkt, den er braucht, befriedigt
zu finden.
Gehen wir vom Tatsächlich-Be¬
stehenden auf grundsätzliche Fragestel¬
lungen zurück, so liegen im bisherigen
Zustand zwei Probleme, die beantwortet
werden müssen:
1 . Welcher Grad von Wissenschaft¬
lichkeit erscheint für das Auslandsstudi¬
um als Wünschenswert, und demgemäß 1
welcher Grad der Verbindung mit der all-
gemeinwissenschaftlichen Hochschule,
der Universität?
2 . Wie kann im Fall dieser Verbin¬
dung der ganze Umfang der Auslands¬
studien gegliedert und der Universität
einverleibt werden, ohne daß deren Rah¬
men gesprengt würde?
IR. Die Notwendigkeit des wissen¬
schaftlichen Gesichtspunktes.
Der natürliche Weg zum Bekanntwer¬
den mit dem Auslande ist das Reisen. Er
kann durch nichts anderes vollwertig er¬
setzt werden. Darüber muß man sich im
voraus klar sein. Denn bei der bekannten
theoretischen Veranlagung des Deut¬
schen ist es nicht unwahrscheinlich^
daß der Gesichtspunkt aufkäme, man
könne künftig an irgendwelchen Anstal¬
ten „Ausland studieren“. Wie diese An¬
stalten beschaffen sein mögen, sie blei¬
ben in dem doppelten Sinne von der Au¬
topsie abhängig, daß sie
1 . entweder auf den Aufenthalt im
Ausland vorbereiten oder
2. die im Ausland bereits gewonnenen
Eindrücke nachträglich vertiefen.
Original frorn
INDIANA UNiVERSITY
1039 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1040
Damit ist ausgesprochen, daß aller¬
dings das gegenwärtige Leben das Ziel
gibt und nicht irgendein Buch- oder Mu¬
seumsbetrieb. Die Praxis der großen Poli¬
tik, der Wirtschaft und des ganzen in¬
ternationalen Verkehrs hat die Neuein¬
richtungen nötig gemacht; also müssen
sie auch an diesem Maßstabe gemessen
werden.
Es scheint nun keineswegs notwendig,
diesem Ziele gerade auf dem Wege der
Wissenschaft entgegenzustreben. Anstal¬
ten mit einem pragmatischen Sprach-
und Sachbetrieb, mit Lehrern, die
aus selbsterworbener Lebenserfahrung
schöpfen, mit einem Lehrplan, der den
besonderen Gelegenheiten und Interes¬
senrichtungen angepaßt wäre, könnten
sehr wohl als ausreichend erscheinen.
Und so könnte man auf den Gedanken
kommen: ein allgemeines Auslandsinsti¬
tut ohne Anlehnung an die Universität,
vielleicht im Sinne Eltzbachere an eine
Handelshochschule, wäre das für den
Augenblick Förderlichste. Ja mancher
begrüßt vielleicht einen solchen Gedan¬
ken als Loslösung von der alten deut¬
schen Gründlichkeit, die nichts anderes
sei als Schwerfälligkeit.
Bei näherer Erwägung ergibt sich, daß
die wichtigsten Gründe gegen diese Lö¬
sung der Frage sprechen.
1 . Unsere unzulängliche Auslands¬
kenntnis beruht zum großen Teil dar¬
auf, daß die Eindrücke einzelner Perso¬
nen mit einseitiger Blickeinstellung, die
Ergebnisse von kurzen Reisen in eng be¬
grenzten Gebieten durch lehrhaft gehal¬
tene Tagebücher und Broschüren ver¬
breitet werden. Die Kaufmannsperspek¬
tive, die Diplomaten- und die Gelehrten -
Perspektive führen zu den merkwürdig¬
sten Widersprüchen. Alles bleibt verein¬
zelt, wie die Sammlungsstücke, die Jagd¬
liebhaber aus fremden Erdteilen mit¬
gebracht haben. Es steckt keine strenge
Kritik und Fragestellung dahinter. Die
schlechteste Manier, daß man näraüch
seine Lehrzeit zum fertigen Urteilen und
Aburteilen mißbraucht, darf nicht orga¬
nisatorisch vervielfältigt werden. Selbst
die Länge der Erfahrungszeit spielt be¬
kanntlich keine Rolle, wenn der Blick
nicht geschult worden ist und allerhand
subjektive Neigungen und Abneigungen
sich in die Auffassung eingemischt
haben.
2 . Das Auslandsstudium würde und
bliebe bei der geschilderten Einrichtung
eine femliegende Fachsache, wie z.B.
heute das Hamburger Kolonialinstitut im
nationalen Interesse noch isoliert da¬
steht. Die akademisch Gebildeten wür¬
den ebensowenig wie früher davon
Kenntnis nehmen. Die Aufgabe aber ist,
nicht nur die Vertreter des Handels und
der Technik, sondern gerade auch die
Akademiker mit diesem Geiste zu er¬
füllen. Die Angliederung an die Univer¬
sität hat nicht nur die Folge, daß Juri¬
sten, Nationalökonomen, Neuphilologen,
selbst Theologen gelegentlich Vorlesun¬
gen aus diesem Gebiet hören, sondern
daß sich auch jene auf Gleichachtung ru¬
hende Verkehrs- und Geistesgemaia-
schaft unter den Hörem ergibt^ die über¬
all einen gleich wichtigen TeU des aka¬
demischen Lebens neben den Vorlesun¬
gen bedeutet.
3. Endlich der wichtigste Grund: Eine
Kulturangelegenheit, die man fördern
will, muß in ihrer höchsten Gestalt zum
Leben gebracht werden; dann entfaltet
sie sich nach unten und in die Breite
von selbst durch die fortzeugende Kraft,
die in jeder wahrhaft ernsten Geistes¬
arbeit liegt. Irrig aber ist die umgekehrt»
Hoffnung, daß ein Bildungsgebiet vea
der Stufe der allgemeinen Anregung und
des populären Lehrbetriebes sich endlich
bis zur Wissenschaftlichkeit verfeinern
werde. Denn auf jedem Wissensgebiet
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1041 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1042
Ist die volkstümliche Form das letzte,
nicht das erste. Wenn den Auslands*
Studien in Deutschland der Rang
eines echten akademischen Ge¬
bietes gegeben wird, so ist damit
am bestenSorge getroffen, ihren
Wert dem nationalen Bewußt¬
sein einzuhämmern.
Aber ebenso stark muß betont werden:
diese Angliederung an die Universitäten
kann nicht deswegen erfolgen, weil an
ihnen schon die organischen Anfänge
vorhanden wären, die es nur fortzuent-
wickeln gilt. Denn in Wahrheit ist an
den meisten Universitäten noch so gut
wie gar nichts da. Vielmehr erhebt sich
nun erst das schwierige Problem, ob und
in welcher Form für diese ganz neuen
Aufgaben Raum an den Universitäten
geschafft werden kann.
IV. „Auslandsstudium“ im allge¬
meinen oder Individualisierung?
Drei Wege sind möglich, auf denen
die gedachte Erweiterung der Universi¬
tät erfolgen könnte: 1. Einordnung ein¬
zelner Professuren und Lektorate in die
sachlich zuständigen einzelnen Fakul¬
täten; 2. Gründung von allgemeinen
Aaslandsinstituten, und zwar eines gro¬
ßen an der größten, kleinerer an den an¬
deren Universitäten; 3. Individualisie¬
rung nach Kulturkreisen und Zutei¬
lung zu einzelnen, lokal geeigneten Uni¬
versitäten.
1. Der erste Weg hat sich in all den
Fällen als geeignet erwiesen, wo es sich
darum handelte, neue Zweige der wis¬
senschaftlichen Forschung einzuführen,
die nur auf Erweiterung vorhandener
Disziplinen oder auf einer besonderen
Methode beruhten. So * konnten z. B.
Lehrstühle für vergleichende Religions-
geschieh te, vergleichende Rechtsge-
schichte, vergleichende Sprachwissen¬
schaft usw. gegründet werden, als man
anfing, sich von dem Banne rein indivi¬
dueller Kulturauffassung zu befreien
und gemeinsame, international wieder¬
kehrende Grundtypen zu erkennen. In
ähnlicher Weise könnte man nun den
Auslandsgesichtspunkt in der theologi¬
schen, juristischen und philosophischen
Fakultät durch Betonung der entspre¬
chenden Vorlesungsgebiete zur Geltung
bringen.
Die Denkschrift vom 24. Januar 1917
folgt zum großen Teil diesem Wege, und
auch die wirkliche Entwicklung weist in
eine solche Richtung. Am auffälligsten
und ohne Zweifel am wichtigsten ist die
Aufnahme des weltwirtschaftlichen Ge¬
sichtspunktes in die nationalökonomi¬
schen Vorlesungen. Es ist aber wieder¬
holt bemerkt worden, daß es sich hier
nicht um ein neues Fach handelte, son¬
dern um die Ausdehnung eines alten
Faches entsprechend einer in der wirk¬
lichen Kultur zutage tretenden Ausdeh¬
nung. Die Begründung des „Instituts
für Seeverkehr und Weltwirtschaft“ üb
Anschluß an eine nationalökonomische
Professur in Kiel war eine schöpferische
Tat. Nur darf man nicht übersehen, daß
die Absicht dabei weniger auf eigentli¬
che „Auslandsstudien“ ging, als auf
wirtschaftswissenschaftliche Studien in
ihrer denkbar größten Erweiterung; im
Hinblick auf Fragestellung und auf Ma-
terialsammlung, jedoch unter unver¬
meidlicher Rückbeziehung auf unsere
Volkswirtschaft. In ähnlicher
Weise ist in der juristischen Fakultät das
internationale Privatrecht zu einem
wichtigen Fach geworden, und das Völ¬
kerrecht hat, gemäß seiner wachsenden
Differenzierung und praktischen Bedeu¬
tung, ebenfalls eine umfassende Pflege
erfahren. Der Geographie sind beson¬
dere Professuren für koloniale Geogra¬
phie gewidmet worden, obwohl hierin
keine neue Wissenschaft liegt, sondern
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Go», igle
Original frurn
INDIANA UNtVERSITY
1043 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1044
nur eine praktisch bedingte Bevor*
zugung einzelner Länder. Oberhaupt
hat man versucht, dem wachsenden Ko*
ionialinteresse dadurch zu genügen, daß
man in jeder einzelnen Fakultät die
darauf bezüglichen Disziplinen, die teils
der Theologie, der Rechtswissenschaft
und der Hygiene, teils der Geographie,
Botanik, Landwirtschaft, Völkerkunde,
Sprachwissenschaft usw. angehörten,
verstärkte und ausbaute. Man dachte
vor dem Kriege z. B. in Leipzig daran,
die in solcher Richtung interessierte
Dozentenschaft außerdem allmählich
zu einem Kolonialinstitut organisa¬
torisch und räumlich zusammenzufas-
' sen. Unter der Voraussetzung, daß die
betreffenden Professoren die Kolonien
aus eigener Erfahrung kennen und daß
eine Hörerschaft dafür aufzubringen ist,
wird gegen den Plan nichts zu sagen
sein.
Auch sonst hat das politische Bedürf¬
nis hier und dort zur Begründung von
Einzelprofessuren geführt Besonders
dem Balkan und dem näheren Orient ist
ein verstärktes Interesse gewidmet wor¬
den. Aber ein intensives und blühendes
Studium kann sich bei solcher Verein¬
zelung nicht entwickeln. Es ist sehr die
Frage, ob 'diese gelegentlichen und un¬
systematischen Gründungen den erheb¬
lichen Geldaufwand lohnen. Bei einem
einzelnen Mann kann man nicht das Le¬
ben eines ganzen Kulturkreises studie¬
ren. Lektorate für Sprachen fallen über¬
haupt kaum unter den Gesichtspunkt dler
Wissenschaft. Philologische Professu¬
ren sind in der Regel rein linguistisch¬
literarisch orientiert. Der politische!,
wirtschaftliche, rechtliche Gesichtspunkt
kommt nur selten zur Geltung, falls näm¬
lich die betreffende Persönlichkeit, die
den Lehrstuhl innehat, nach dieser Rich¬
tung hin befähigt und erfahren ist Vom
Standpunkt der heimischen Universität
aber ist zu befürchten, daß ihr innerer
Zusammenhang, der ohnehin schon lose
ist dadurch gesprengt wird. Manche
Professuren sind anfangs für ganz be¬
stimmte Personen gegründet Sind diese
nicht mehr da, so gehen sie ein oder
veröden, während wichtige und lösbare
Aufgaben aus Mangel an Geld notleiden.
Jedenfalls entsteht auf diesem Wege
keine Kontinuität und keine Konzentra¬
tion des Studiums.
Will man also die Auslands¬
studien ernstlich fördern, so
muß man auch den Schritt wagen,
vom gelegentlichen ,Verfahren
zu einem ganz systematischen
überzugehen. In dieser Entschei¬
dung allein liegt der Schutz vor
Zersplitterung und Vergeu¬
dung.
2 . Auslandsinstitute werden da¬
her nicht zu umgehen sein; es fragt sich
nur, wie sie eingerichtet und mit dem
Ganzen der Universität verbunden wer¬
den sollen.
Von vornherein muß man sich Idar
werden, daß „Ausland 0 gar kein positi¬
ver Begriff ist Wir lächeln über
die Griechen, die alle Fremdvölker kurz
„Barbaren“ nannten, ohne Unterschiede
in der Bewertung ihrer Kultur zu ma¬
chen. Wenn wir vom „Ausland“ reden,
verfahren wir gleich egozentrisch. Das
Ausland ist keine Einheit mit gleichen
Qualitäten. Infolgedessen kann es so et¬
was wie „Auslandsstudien“ und ein
„Auslandsinstitut“ nicht geben, es sei
denn in Beziehung auf ein ganz be¬
stimmtes Ausland von einer ganz be¬
stimmt umgrenzten und charakterisier¬
ten Kultur.
Man denke sich — zunächst an der
größten deutschen ,Universität — ein
Auslandsinstitut. Worin bestünde seine
Aufgabe? Nehmen wir sie im Hinblick
auf die treibenden politischen und wirt-
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Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
1045 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1046
schaftlichen Interessen noch so eng, so
müßte es durch je eine Professur in
den Volkscharakter und die heutige
Kulturlage folgender Länder einführen:
1. Österreich-Ungarn, 2. Frankreich,
3. England, 4. Italien, 5. Spanien und
Portugal, 61 Skandinavien, 7. Rußland,
8 . siavischer Balkan, 9. europäische und
asiatische Türkei, 10. Ägypten, 11. Süd¬
afrika, 12. Indien, 13. Japan, 14. China,
15. Vereinigte Staaten von Amerika,
16L Südamerika, 17. Australien. Man
könnte weiter aufzählen; und es ist
gut, sich diese Mannigfaltigkeit zur
Anschauung zu bringen, um zu sehen,
daß auf diesem Wege alles andre er¬
reicht werden würde als eine tiefere
Kenntnis des Auslandes. Selbst die Be¬
gründung von Nebenprofessuren könnte
hier nicht helfen. Ein solches Institut geht
über das im Anfang Mögliche hinaus
und ist nicht einmal als Endexgebnis zu
wünschen. Es hätte gar keine Einheit,
es sei denn die negative, daß in ihm
lauter außer deutsche Kulturen verei¬
nigt sind. Was aber hätten der Russe
und der Südamerikaner einander zu sa¬
gen, und wer, der das eine studierte,
hätte auch Nutzen von dem andern? —
Es wäre also gänzlich verfehlt, wenn
sich bei den Universität«! der Ehrgeiz
entwickelte, Auslandsinstitute schlecht¬
weg ihrem Betriebe anzuglAedem.
3. Also nicht Auslandsinstitute, son¬
dern Kulturkreisinstitute. PerGe-
danke mag noch so unerwünscht sein:
es geht nicht anders als durch das inten¬
sive Studium einzelner Kulturen, die eine
charakterologische Einheit bilden. Will
man echt wissenschaftlich verfahren, so
kann man nicht mit Vergleichungen und
Verallgemeinerungen an fangen, sondern
muß eine historisch gewordene Einheit
in ihrer innerlich notwendigen und
durchaus zusammenhängenden Struk¬
tur studieren. Es ist hier ähnlich wie
beim historischen Studium: der schlech¬
teste Weg wäre, mit der allgemeinen
Weltgeschichte anzufangen. Sondern
Versenkung in eine Epoche, in diese
aber unter universalen Gesichtspunkten,
muß das erste sein. Dann ist später der
Zugang zu allen weiteren Epochen durch
eine Art geheimer Mitübung erleichtert
Denn die richtige Einstellung des Blickes
ist schon da, und die Mannigfaltigkeit
des Stoffes hat keine verwirrende Wir¬
kung mehr.
Es gibt kein „Auslandsstudium“, son¬
dern nur Studium einer singulären frem¬
den Kultur. Dadurch gerade unterschei¬
det sich das Studium von der rohen, un-
geschulten Erfahrung, daß es das ein¬
zelne nach seinem genetischen Ursprung
und seinem strukturellen Zusammen¬
hang als ein innerlich Notwendiges, als
eine geprägte Form oder einen Charak¬
ter zu begreifen sucht, während der
bloße Empiriker Tatsachen an Tatsachen
reiht, Merkwürdigkeiten zu berichten
weiß und ein Sammler (an Stelle eines:
Forschers) bleibt.
Ein Beispiel statt vieler: das englische
Volk in seiner von uns abweichenden
Geistesart war uns vor dem Kriege im
allgemeinen nicht viel näher bekannt, als
man den Engländer bei ihm daheim im
täglichen Leben oder in deutschen Som¬
merfrischen kennen lernt. Die besondere
Färbung, die der englische Freiheitsge¬
danke gegenüber dem deutschen hat, die
eigentümliche Form der Staatsgesin¬
nung, der Grad der Belastungsprobe, die
sie etwa aushalten würde — das sind
kulturelle Tatsachen, die man nicht ein¬
fach aus dem gegebenen Friedensbilde,
aus den Erfahrungen im gesellschaftli¬
chen oder geschäftlichen Leben ab¬
liest. Dazu bedarf es einer tieferen
Bohrung. Kein Mensch wird auf
den Gedanken kommen, eine fremde In¬
dividualität aus noch so häufigen Be-
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
1047 Ed. Spranger, Denkschrift über die Einrichtung der Auslandsstudien 1048
Segnungen im Salon, am Mittagstisch
oder in einer einseitigen Geschäftsbezie¬
hung wirklich durchdringend erkannt zu
haben. Er strebt vielmehr nach Vertraut¬
heit mit ihrer Lebensgeschichte. Man
muß sie in mannigfachen, bedeutsamen
und die Grundrichtungen einigermaßen
erschöpfenden Situationen beobachtet
haben. Man muß aber auch zu beobach¬
ten verstehen und wissen, worauf es an¬
kommt ; man muß das Zufällige vom Ty¬
pischen unterscheiden können. Erst dann
wird man gelegentlich auch eine Ver¬
haltungsweise im voraus bestimmen
können.
Verstehen, nicht angesamraelte
Sachkunde, ist das Ziel des „wis¬
senschaftlichen“ Auslandstudiums, oder
man verzichte auf diesen Namen. Es
folgt aber aus der Natur alles Verste¬
hens, daß es nur auf dem Wege vom To¬
talbilde zur intensiveren Auffassung des
Einzelzuges verläuft, und nicht umge¬
kehrt auf mosaikartigem Zusammenset¬
zen beruht Von der Totalität zum ein¬
zelnen Moment! Folgende Thesen be¬
dürfen daher der Anerkennung im vor¬
aus:
1. Es ist nicht möglich, tiefere Aus-
landskenntnis durch Studium eines ein¬
zelnen Sachgebietes der fremden Kultur,
z. B. der isolierten Wirtschaft zu gewin¬
nen. Also ausgehen von der un¬
teilbaren Ganzheit der Kultur!
2. Es ist nicht möglich, ein Volk aus
einer einzelnen Epoche seiner Entwick¬
lung heraus zu beurteilen. A1 s o h i s t o-
rische Fundierung!
3. Es ist nicht möglich, die Beob¬
achtungen an einer einzelnen Land¬
schaft oder einem einzelnen Stande zu
verallgemeinern. Also auch geogra¬
phisch-soziologische Totalität!
Für die Organisation des Auslandstu-
diums folgt daraus, daß eine einzelne
Kultur als historisch-politisch-geistige
Individualität zur Darstellung ge langes
muß, ganz so, wie die deutsche Kultur
sich nicht in einer einzelnen Fakultät
spiegelt sondern im günstigsten Falle
in ihrer 4-oder5teiligen Gesamtheit ih¬
ren Ausdruck findet. Natürlich können
nicht ganze Universitäten des Auslanr
des zu uns verpflanzt werden, sondern
es kommt darauf an, ihre wesentlichen
Seiten gleichsam in einer konzentrier¬
ten Gestalt zur Anschauung zü bringen.
Wenn also auch jede Auslandshoch¬
schule nur einen einzelnen Kulturkreis
zum Gegenstände hat, so muß doch die
allgemeine Gliederung der Kultur über¬
haupt für ihre innere Gliederung maßge¬
bend sein.
V. Gliederung des Lehrbetriebs
nach der Gliederung der Kultur.
Eine Kultur ist niemals ein Gebilde
mit auseinanderliegenden Teilen, son¬
dern ein Gewebe von Motiven, so daß,
wer eine einzelne Seite der Kultur her¬
aushebt und vorzugweise betrachtet,
unvermeidlich in seinem Gegenstand alle
übrigen Seiten und Momente mit
drin hat.
Gehen wir, um diese gegenseitige Be¬
dingtheit (Reziprozität) aller Kulturfak¬
toren zu erläutern, von der Wirtschaft
als nächstliegendem Beispiel aus.
1. Es ist eine alte Einsicht, daß der
Ablauf aller wirtschaftlichen Prozesse
durch und durch bedingt ist von der
Rechtsordnung (z. B. den Eigentumsver¬
hältnissen, dem Handelsrecht, der Alt
der Arbeitsverträge usw.), und daß diese
Rechtsordnung selbst nur eine Ausstrah¬
lung der allgemeinen Staatsverfassung
ist Die Wirtschaft ist also politisch-
rechtlich bedingt.
2 . Von der rechtlich geregelten Seile
der Kultur unterscheiden sich die tat¬
sächlichen Machtverhaltnisse nach au¬
ßen und die tatsächliche Abstufung der
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Go», igle
Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1040 Ed. Spranger, Denkschrift Aber die Einrichtung der Auslandsstudien 1050
Gesellschaft (nach Kasten, Ständen,
Klassen): der allgemeine soziologische
(Seist eines Volkes und seine politische
Lage’. Es ist kein Zufall, daß National¬
ökonomie, Soziologie und ein wichtiges
StQck Politik heute bei uns noch immer
in ein und derselben Hand zu liegen pfle¬
gen. Das Wirtschaftsleben ist von Fak¬
toren der Gemeinschaftsbildung abhän¬
gig, die selbst nicht rein wirtschaftlich
bedingt, aber auch nicht rechtlicher Na¬
tur sind. Der besondere Charakter des
Kaufmanns tan des ist z. B. bestimmt
durch seine Stellung im Ganzen der na¬
tionalen Gesellschaft, seine allgemeine
politische Leistung, seine Achtung oder
Mißachtung, seine Bildung, seine Rasse-
Zugehörigkeit usw. Kurz: die Wirtschaft
ist auch politisch-soziologisch bedingt
3. Der Stand der Wissenschaft be¬
stimmt in einem Kulturganzen den Stand
der Technik, und die Technik wieder die
Art der Produktion. Also kann das wirt¬
schaftliche Leben nur im Zusammen¬
hang der allgemeinen und fachmäßigen
Bildung des betreffenden Volkes be¬
trachtet werden. Dabei ist die Höhenlage
der Naturwissenschaften maßgebend für
die industrielle Technik, während die
Geisteswissenschaften eine Technik der
sozialen Regelung begründen.
4 In der schönen Kunst im weitesten
Sinne liegen Quellen für die Beurteilung
der allgemeinen Phantasierichtung und
damit für die Bedürfnisse eines Volkes.
Nicht nur der Luxus, sondern das Ganze
der Lebenshaltung findet in der litera¬
rischen und künstlerischen Produktion
einen zur Form erhobenen Ausdruck.
■Wer Rodin und Meunier kennt, blickt
in geheimere Antriebe des französischen
Nationalcharakters hinein. Denn das fei¬
nere Erleben ist der gemeinsame Unter¬
grund von Arbeit und Genuß.
5. Endlich ist aber, wie es z.B. für den
engHsohan Nationalcharakter durch
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neuere Forschungen (Max Weber u. a.)
eindrucksvoll dargestellt worden ist, die
Richtung der Religiosität entscheidend
für den Geist und das tiefere Ethos des
gesamten ökonomischen Lebens. Der Zu¬
sammenhang der jüdischen Religion und
Moral mit dem jüdischen Handelsgeist
ist leider noch nicht tiefer verfolgt. In
Rußland umschlingt wie im Orient noch
heut ein religiöses Band das ganze wirt¬
schaftliche Denken und Tun des Volkes.
Bei uns selbst haben Katholizismus, Lu¬
thertum und Kalvinismus ganz verschie¬
dene Formen der Wirtschaftsetbik er¬
zeugt.—
Stellten wir statt der Wirtschaft die
Religiosität oder das Staatsleben in den
Vordergrund der Analyse, so würden
sich ebenso viele umgekehrte Abhängig¬
keitsverhältnisse zu Wirtschaft, Gesell¬
schaft, Wissenschaft und Kunst ergeben.
Alle Kulturgebiete sind wechselseitig
Funktionen voneinander; ja sie sind
überhaupt nur in einer abstrakten Be¬
trachtung herauszulösen. Freilich haben
sie 9ich in höheren Kulturlagen durch
diese fortschreitende, isolierte Reflexion
über ihr eigentümliches Wesen auch
tatsächlich reiner herausdifferenziert
Und so wird die heute erreichte Gliede¬
rung der Kulturwissenschaften ge¬
radezu ein Hinweis auf die strukturelle
Gliederung der Kultur selber. (Eingehen¬
der in m. „Lebensformen“, Halle 1914)
Ihre Hauptseiten sind erschöpft durch
die zusammenwirkende Betrachtungs¬
weise von Religionswissenschaft,
Erkenntnistheorie, Kunstwis¬
senschaft, Politik und Jurispru¬
denz, Soziologie und Wirt¬
schaftswissenschaft. Inderprakti-
sChen Arbeitsteilung werden die Gren¬
zen vielleicht etwas anders verlaufen:
denn 'die Erkenntnistheorie ist ihrem
Wesen nach nicht national bedingt, wohl
aber der Stand der wissen schaff 11-
Original fram
INDIANA UNIVERSITY
1051 Ed* Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1052
chen Arbeit und die Organisation
des Wissens im nationalen Bildungs¬
wesen. Die bildende Kunst spielt nicht
in allen Landern eine kulturell zentrale
Rolle; um so wichtiger ist das Gebiet
der schonen Literatur, das man
nicht mit Unrecht als reinsten Spiegel
der Volksseele ansieht.
Aus dem übernationalen Wesen der
Kultur überhaupt, ganz abgesehen von
ihren besonderen Gestaltungen, eigibt
sich also, daß jeder voll entfaltete
Kulturkreis unter folgenden Gesichts'
punkten behandelt werden muß, in
denen zugleich die Titel der Hauptpro¬
fessuren enthalten sind:
Professur für Staats- und Privatrecht,
„ für* Soziologie (als Gesell-
schaftslehre und Bevölke-
rungskunde),
* für Volkswirtschaft,
„ für Bildungswesen,
„ für Literatur der Gegenwart,
. für Religion und Kirchentum.
Professuren für Geschichte und altere
Literaturgeschichte sind in der Regelim
Verbände der Universität schon ent¬
halten.
Natürlich kann ein so großer Apparat
nicht für jedes Kulturland an jeder Uni¬
versität eingerichtet werden. Schon der
Mangel an geeigneten Persönlichkeiten
läßt diesen Gedanken als ausgeschlossen
erscheinen, selbst wenn die Kosten gar
keine Rolle spielten. Ein Institut für
ein Land im ganzen Deutschen Reich
ist hinlänglich, und auch dann noch wird
man sich auf die wichtigsten Kultur¬
kreise beschränken müssen.
Damit ist ganz von selbst eine Dezen¬
tralisation gegeben, wie sie auch durch
die Denkschrift vom 24. Januar 1917 vor¬
gesehen ist. Einzelne geeignete Univer¬
sitäten werden einen solchen Anbau er¬
halten, dessen Verhältnis zum Ganzen
noch immer ein Problem bleibt. Zuvor
aber ist zu erörtern, welche Kultuiknesse
vor allem in Betracht kommen und
welche Orte sich für ihre wissenschaft¬
liche Pflege .besonders eignen.
VL Welche Kulturkreise und wo?
Hier kann es sich natürlich nur um
ganz vorläufige Bemerkungen und um
subjektive Meinungen handeln. Das
Ganze ist in erster Linie abhängig von
der vorwaltenden Richtung unserer Po¬
litik nach dem Kriege, über die sichnodh
hdchts Bestimmtes sagen läßt Die Ko¬
stenfrage ist gleichfalls ein großes Pro¬
blem; doch erfordert die Ausgestaltung
des ganzen Gebietes in dieser wie in je¬
ner Form mindestens Jahrzehnte.
Da die weltgeschichtliche Auseinan¬
dersetzung mit der englischen Welt*
und Seemacht die vielleicht ein Jahr¬
hundert in Anspruch nehmen wird, z. Z.
unsre wichtigste Auslandsbeziehung be¬
deutet, so ist die Pflege des großen
englischen Kulturkreises offenbar die
dringendste Angelegenheit. Ob sich die
sehr heterogenen Kolonien dem ohne
Schaden des Zentrums einordnen lassen
werden, möchte ich sehr bezweifeln. Der
Ort für ein solches Institut ist KieL
Denn dort ist der Mittelpunkt unseres
politischen Seeverkehrs. Das „Institut
für Seeverkehr und Weltwirtschaft“ und
die „Marineakademie" vereinen das Pu¬
blikum, das auch für das Englandinstitut
in erster Reihe in Betracht kommt; und
die Nähe des Hamburger Handels wie
des Hamburger Kolonialinstituts, mit
dem das Seminar für Weltwirtschaft be¬
reits in reger Verbindung steht, ist ein
weiterer Grund für diese Wahl. Ein In¬
stitut für englische Kultur in dem ge¬
schilderten Sinne ist unendlich viel
fruchtbarer als etwa die doppelte Be¬
setzung der anglistisch-philologischen
Professuren an allen preußischen Uni*
DigiiV 2 by C^Q , glc
Original frorn
INDIANA UNIVERSITY
1053 E& Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1054
versitäten. Der Aufwand aber wäre nicht
ganz so groß.
Die zweätnächste Aufgabe ist ein
Rußland-Institut. Wir waren Ober
Rüßland vor dem Kriege trotz zahlrei¬
cher Fachvertreter irrig unterrichtet, viel¬
leicht, weil sie Rußland vorwiegend vom
baltischen Gesichtspunkte aus und des¬
wegen im romantischen Licht einer deut¬
schen Irredenta sahen. Das Institut für
osteuropäische Geschichte und Landes¬
kunde ist in Berlin; ein einzelnes schon
bestehendes Seminar kann für die Neu¬
gestaltung im großen jedoch nicht bin¬
dend sein. Die Universitäten Breslau und
Königsberg bedürfen ohnehin der Bele¬
bung. Breslau wäre vielleicht vorzuzäe-
hen, weil seine Nähe zu Österreich auch
Besucher aus der Donaumonarchie an¬
locken würde.
Berlin hat bereits die wesentlichsten
Anfänge für drei wichtige Kulturkreise^
Das Amerika-Institut (das übrigens
entsprechend der Tatsache, daß die Ver¬
einigten Staaten noch keine wirkliche
Kultureinheit bilden, eine wesentlich ab¬
weichende Entwicklung nehmen wird)
muß weiter ausgebildet werden, falls
man sich nicht entschließen will, die
Pflege dieses Kulturkreises einer künf¬
tigen Hamburger Universität zu über¬
lassen. Austauschprofessoren jedoch ha¬
ben sich nicht bewährt. Sie beherrschen
oft nicht die deutsche Kultur und Sprache
so weit, um Amerika von einer instruk¬
tiven Seite zu beleuchten, und vor edlem :
es entwickelt sich keine Kontinuität des
Studiums. Das Orientalische Semi¬
nar, ursprünglich ein Spracheninstitut,
muß ebenfalls individuell behandelt
werden, da es sich hier teilweise um
Halbkulturen handelt. Die Trennung in
ein Institut für den Islam oder den nähe¬
ren Orient einschließlich Indien, und in
ein Ostasien-Institut ist jedenfalls unver¬
meidlich. Als dritter Zweig blieben die
Negersprachen übrig. Näheres können
nur Fachleute sagen.
Den Bundesstaaten darf weder das
Recht noch die Pflicht bestritten werden,
an diesen Neuschöpfungen mitzuwirken.
Ohnehin werden wohl nur München und
Leipzig in Betracht kommen. Leipzig ist
nach alter Tradition eine von den Studie¬
renden der Balkanländer bevorzugte
Stätte. Bulgarien und Rumänien Unter¬
halten dort Seminare, die vielleicht aus
Privatinstituten in Universitätsinstitute
verwandelt werden könnten, ohne daß
der Zuschuß dieser Länder fortfiele. Die
Universität Athen hat die lebendigsten
Beziehungen zu Leipzig. Die Vereinigung
dieser drei Länder, zu denen noch Ser¬
bien und die Türkei hinzutreten könnten,
wäre um so leichter, als ihre teils un¬
entwickelte, teils nicht selbständige Kul¬
tur fürs erste von einer geringeren Zahl
von Lehrkräften noch beherrscht wer¬
den könnte.
Die französische Kultur wirdnach
dem Kriege voraussichtlich kaum noch
die alte Rolle im Ganzen der Weltpolitik
spielen. Man wird ihr in Bonn, vielleicht
sogar in Straßburg eine Stätte schaffen
können, während Italien und die
Mittelmeerländer des Westens
vielleicht als Aufgabe für München in
Betracht kommen, schon wegen des um¬
fassenden kunstgeschichtlichen Materials.
In dieser Übersicht könnte die Auf¬
gabe als unendlich erscheinen und die
Frage nach der Aufbringung der Mittel
sich ernstlich vordrängen. Es ist aber
keineswegs nötig, sogleich vollständig
besetzte Institute zu gründen. Vielmehr
kann der allmähliche Weg auch hier ein¬
geschlagen werden, wofern nur die
grundsätzliche Arbeitsteilung erfolgt
und der Gesamtplan als Ziel ins Auge
gefaßt ist, ohne den sich der viel teurere
Weg des Experimentierens ergeben
würde.
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1055 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1050
VII. Äußeres Verhältnis zur
Universität.
Die geschilderten Einrichtungen sind
zu groß, als daß sie in den Rahmen eines
Universitätsseminars oder -instituts ge¬
preßt werden könnten. Auch hat sich die
Eingliederung völlig selbständiger Ge¬
biete in das traditionell geschlossene
Ganze einer Fakultät immer als mißlich
erwiesen, ganz abgesehen davon, daß die
Auslandsstudien mindestens in drei Fa¬
kultäten hineingreifen würden. So ist
z.B. die Stellung der landwirtschaftli¬
chen Ordinariate in den philosophischen
Fakultäten deshalb ungünstig, weil sie ei¬
gentlich einen selbständigen Hochsehul¬
körper mit einem ganzen Stab von Do¬
zenten hinter sich haben, die Fakultäts¬
genossen aber kaum irgendein Ver¬
ständnis für die besonderen Bedürfnisse
dieses Studienzweiges besitzen.
Aus solchen Gründen scheint es mir
untunlich, das Kultiirkreisstudiüm in
eine oder mehrere Fakultäten mit unter¬
zustecken. Emst genommen ist der Ge¬
genstand immer zu umfangreich, als daß
er diese Grenzen, zu eigenartig, als daß
er diese Angleichung vertragen könnte.
Stellt man die betreffenden Auslands-
Professuren aber lose neben die Univer¬
sität, wie es heute beim Orientalischen
Seminar der Fall ist, so bilden sie
in Wahrheit ein unabhängiges Institut
ohne jeden organisatorisch geregelten
Verkehr mit der Hochschule. Die Profes¬
suren erhalten leicht den Charakter des
zweiten Ranges, und die ganze Einrich¬
tung den einer inoffiziellen Veranstal¬
tung, die mindestens für die Fakultäts-
angehörigen sehr fern steht.
Zwischen beiden Wegen bleibt dem-
nach.nur der mittlere, dem betreffenden
Kulturkreis an der Universität, der seine
Pflege anvertraut ist, eine eigene Fa¬
kultät zu widmen. Es entsteht dadurch,
historisch genommen, eine Anomalie.
Aber das Neue, das sich gebieterisch auf¬
drängt, zersprengt oft die alten Formen.
Auch die staatswissenschaftlichen Fa¬
kultäten des deutschen Südens haben
sich einmal verselbständigt, ohne daß
dazu ein so dringender Anlaß gegeben
war wie in unserem Falle. Jedenfalls
ist kein Zweifel, daß die betreffende Kul¬
turkreisfakultät in sich eine geschlosse¬
nere, echtere Einheit bilden würde als
manche der alten Fakultäten. 8 ) Aber
auch nach außen wäre eine fruchtbare
und organische Wechselwirkung mög¬
lich. In der philosophischen Fakultät
sind in Philologie, Geschichte, Geogra¬
phie, Geologie die wichtigsten Hilfswis¬
senschaften gegeben. Der Historiker und
geschichtlich gewandte Philolog des be¬
treffenden Kultuikreises würden ohne¬
hin im Verbände ihrer alten Fakultät
bleiben. Die naturwissenschaftlichen und
medizinischen Fächer würden zu diesem
Zweige der Geistes Wissenschaften jeden¬
falls keine geringere Beziehung haben
als zu den übrigen. Die Berührungen mit
der juristischen und staatswissenschaft¬
lichen Fakultät wären die allerengsten,
und die Theologie könnte mancherlei
Anregungen finden. Doch würde ich dar¬
aus unter keinen Umständen folgern,
daß die Mitglieder der betreffenden Aus¬
landsfakultät außerdem noch Mitglieder
der ihnen nächstverwandten alten Fakul¬
täten sein sollen, wie es bei Gelegenheit
des Hamburger Universitätsplanes für
die kolonialwissenschaftliche Fakultät
2) Universitätsinstitute mit 4 oder mehr
gieichgeordneten Dozenten als Direktoren
sind in Wahrheit schon kleine Fakultäten,
auch ohne diesen Namen zu führen, und
kreuzen sich mit den alten Fakultäten in
einer Weise, die immer zu Interessenkon-
flikten führen wird. Ferner sind in den alten
Fakultäten großenteils die gesuchten Lehr¬
kräfte noch gar nicht da. Also kann man
sie auch nicht in ein solches Institut depu¬
tieren.
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1057 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1058
vorgeschlagen worden ist Denn daraus
würden sich unvermeidliche Reibungen
in der Geschäftsführung ergeben.
Es besteht m. E. kein Bedenken, zu den
Rechten der neuen Fakultät auch die
Teilnahme an der Rektorwahl, die Ver¬
tretung im Senat und ein eignes Dekanat
zu rechnen. Später wird man ihr die
Möglichkeit geben, Doktoren zu kreieren
und sich so einen wissenschaftlich hoch¬
stehenden Nachwuchs zu sichern.
Trotz alledem kann es sich nicht um
eine einfache Nebenordnung zu den 4
oder 5 alten Fakultäten handeln. Die
neue würde vielmehr den Charakter
einer Facultas superior tragen, in die man
der Regel nach erst eintreten kann, nach¬
dem man eine der anderen in gewissem
Grade durchlaufen hat. Das folgt schon
daraus, daß Auslandskenntnis eigentlich
kein „Beruf“ ist. Entweder als Staats¬
vertreter oder als Lehrer, als Theolog
oder als Arzt, als Finanzmann oder als
industrieller (bzw. agrarischer) Unter¬
nehmer geht man ins Ausland. Von einer
dieser Seiten her also muß man seine spe¬
zifische Schulung gewonnen haben, und
mit diesem besonderen Akzent muß man
sein Auslandsstudium treiben. Jene hö¬
here Fakultät gibt nur die besondere be¬
rufliche Zuspitzung einer wissenschaft¬
lichen Ausbildung, die zunächst in all¬
gemeinen Umrissen vollendet sein muß.
Aus dieser ergänzenden Bedeutung
der Auslandsfakultäten ergibt sich dann
die abweichende Einrichtung des Studi¬
ums gegenüber den Grundstudien.
VÜL Einrichtung des Studiums.
Es ist auch eine der Lehren des Krie¬
ges, daß das akademische Studium nicht
weiter ausgedehnt werden darf, wenn
nicht die besten Jahre der Praxis verlo¬
ren gehen sollen. Eine weitreichende
Ausgestaltung des akademischen
Fortbildungswesens, zu dem wir
Internationale Monatsschrift
Digitized by Gougle
bereits wichtige Ansätze (besonders
in den Staatswissenschaften) haben,
scheint mir für alle Gebiete zeitgemäß.
Auch die Auslandsstudien sollten grö߬
tenteils diesen Charakter von Fortbil¬
dungskursen erhalten. Und zwar ist hier
Fortbildung teils als Fortführang grund¬
legender theoretischer Studien, teils als
vertiefende Fortbildung nach der Praxis
im Auslande selbst zu verstehen.
Von Auslandsstudien ohne vorange¬
hende oder begleitende Auslandsreisen
ist nicht viel zu halten. Immerhin wird
zwischen denen zu unterscheiden sein,
deren Leben sein Schwergewicht im Aus¬
lande selbst hat (Beamten, Auslands¬
lehrern, Kaufleuten, ^Landwirten), und
denen, die im Inlande die Kenntnis frem¬
der Kulturen zu verbreiten haben, also
akademischen und höheren Lehrern. Im
allgemeinen werden die ersteren höch¬
stens einmal zusammenhängende Kurse
besuchen, während es den letzteren mög¬
lich ist, öfter zu ihnen zurückzukehren.
Beide Kreise sollen im akademischen
Verkehr ihre Vorzüge gegeneinander
austauschen, wie denn auch auf die An¬
wesenheit von Ausländem des betref¬
fenden Kulturkreises in der Universi¬
tätsstadt zu Studienzwecken selbstver¬
ständlich gerechnet wird.
Schon wegen dieser Zusammen¬
setzung des Hörerkreises empfiehlt es
sich, kürzere Abschnitte als das übliche
Semester zur Studieneinheit zu wählen,
damit man leichter in das Studium ein¬
treten und .es leichter unterbrechen kann.
Um aber andrerseits eine gewisse Paral¬
lelität mit den Zeiten der anderen Fakul¬
täten zu bewahren, könnte man Trime¬
ster zu je 2 Monaten einrichten: vom 15.
Oktober bis 15. Dezember, vom 15. Ja¬
nuar bis 15. März, und vom 1. Mai bis
Ende Juni. Das akademische Winterse¬
mester zerfiele .dann für die Auslands¬
studien in zwei Teile, das Sommerse-
34
Original from
INDIANA UNIVERSITY
1050 Ed- Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1060
mester würde früher geschlossen wer¬
den. Darin liegt zugleich eine gewisse
Gegenwehr gegen pedantische Ausführ¬
lichkeit der Vorlesungen. Beurlaubungen
für zwei Monate sind leichter durch¬
führbar als für ganze Semester.
Als Hörer kommen keineswegs nur
Vollakademiker in Betracht. Praxis im
auswärtigen Handel, in der Landwirt¬
schaft, im Finanzwesen muß als ausrei¬
chender Ersatz für das formelle
Reifezeugnis angesehen werden. Es
ist anzunehmen, daß jede Hörer¬
kategorie ein Bedürfnis nach son¬
stigen Vorlesungen der betreffenden
Universität hat: Auslandsbeamte und
Finanzleute nach den juristischen
und staatswissenschaftlichen, Landwirte
nach naturwissenschaftlichen und agrar¬
ökonomischen, Ärzte nach hygienischen
und klimatologischen, Geistliche nach
theologischen, Lehrer nach geschichtli¬
chen und philologischen. Dieser Hinweis
genügt, um den organischen Zusammen¬
hang zu bestätigen, um dessen willen die
Verbindung der Auslandsstudien mit
den Universitäten befürwortet wird.
Ein besonders wichtiger Punkt, der je¬
doch nicht der einseitigen Regelung
durch das Kultusministerium unterliegt,
ist die Vorbildung der Diplomaten und
Auslandsbeamten. In den Bestimmungen
vom 1. Mai 1908, die allerdings „wissen¬
schaftliche“ Kenntnisse und nicht bloße
Geschäftserfahrung verlangen, ist von
eigentlichem Auslandsstudium gar
nicht die Rede, abgesehen vom
Staatsrecht der größeren fremden Staa¬
ten und der äußeren Handelspolitik.
Für den letzteren Zweck wird der Be¬
such einer Handelshochschule empfoh¬
len. — Die in dieser Denkschrift vorge¬
schlagenen Einrichtungen würden min¬
destens als ein Angebot an das Aus¬
wärtige Amt ihre Wirkung tun. Freilich
ist dabei jein Gesichtspunkt unumgäng¬
lich, der oben bereits allgemein ausge¬
führt worden ist: es gibt kein „Auslands“-
Studium schlechtweg, sondern immer nur
ein Studium einzelner Länder. Also wer¬
den auch die Diplomaten nur ein oder
zwei große Kulturkreise wirklich „stu¬
dieren“ können. In dem Bereich dieser
Länder, mit denen sie sich praktisch und
theoretisch vertraut gemacht haben,
sollte man sie lassen. 3 ) Denn auch für
die Diplomaten gilt, was überall' gilt:
Talente bewähren sich in dem, was sie
gründlich gelernt haben, nur Genies
kann man mit Erfolg vor wechselnde
Aufgaben der verschiedensten Art
stelle«; und auch diesen bleibt die sach¬
liche Orientierung nicht erspart, sondern
höchstens der reguläre schulmäßige
Weg des Lernens.
IX. Ausbreitung der Auslands¬
studien und „AllgemeineAuslands-
bildung“.
„Allgemeine Auslandsbildung“ als
Stück der politischen Volkserziehung
läßt sich in doppelter Gestalt denken:
Entweder in der Form einer weitverbrei¬
teten volkstümlichen Propaganda, wie
sie von seiten der Reichsregierung und
privater Vereine etwa in Sachen der Ko¬
lonial- und Flottenpolitik zur Anwen¬
dung gekommen ist: Ausstellungen, er¬
zählende Schriften, Reiseberichte, Kino¬
vorführungen, vor allem aber die illu¬
strierte Presse werden in dieser Hinsicht
die weiteste Wiiksamkeit entfalten. —
Oder in Gestalt populärer Wissenschaft,
die in Vorträgen, Broschüren und Mu¬
seen durch wirkliche Kenner dargeböten
3) Die heute üblichen Wanderkonsulate
führen zu keinem sicheren Einleben in ein
fremdes Land und Volk und sind eine der
Wurzeln des Obels. Hingegen bereitet es
wohl keine Schwierigkeiten, daß sich nicht
alle Auslandsfakultäten in Berlin, dem Mit¬
telpunkt der diplomatischen Ausbildung, be¬
finden würden.
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Gck igle
Original frorn
INDIANA UNIVERSITY
1061 Ed. Spranger, Denkschrift Ober die Einrichtung der Auslandsstudien 1062
wird. Denkt man an die erste Form (die
Propaganda), bo geht das die Univer¬
sitäten nichts an. Denn — das hat uns
dieser Krieg gelehrt — zur Beeinflus¬
sung der Volksstimmung sind ganz ob¬
jektive Darstellungen am wenigsten ge¬
eignet. Politische Mittel müssen notge¬
drungen eine politische Färbung haben.
Populäre Auslandswissenschaftaber
ist nur denkbar, wenn schon eine echte
Wissenschaft der betreffenden Ge¬
biete da ist, und hierfür ist nicht jeder
Reisende und Journalist ohne weiteres
brauchbar. Verlangt man von den Uni¬
versitäten eine anregende Wirkung nach
dieser Seite, so müssen vorher Ge¬
lehrte von solcher Richtung da sein.
Bloße Praktiker und Geschäftsleute kön¬
nen nicht in die akademischen Haupt¬
ämter gelassen werden. Vielmehr denke
ich mir die Auslandsfakultäten so, daß
durch die Hauptprofessuren das Niveaü
gehalten wird, während nebenamtlich
oder auftragsweise Dozenten zugelas¬
sen werden können, die in den andern
Fakultäten gemäß ihrer eigentümlichen
Struktur nicht am Platze wären. Diese
„Dozentenschaft“ wird auch nicht (wie)
die Hauptprofessoren) nach vorher fest¬
stehenden Gebieten zu wählen sein, son¬
dern es wird einerseits das Bedürfnis,
andrerseits die Person und ihre Ver-
wendbarkeit (auf Zeit oder für die
Dauer) allein ausschlaggebend sein. Ei¬
nen Professor für englisches Recht (z. B.
wird man immer haben müssen; einen
Dozenten für englische Textilindustrie
nur dann, wenn gerade ein Mann mit
entsprechender Erfahrung und Bildung
da ist und das Untenichtsbedürfnisnach
dieser Seite geht.
Wenn in der Denkschrift vom 24. Ja¬
nuar 1917 zwischen der wissenschaftli¬
chen Ausbildung und der allgemeinen
Auslandsbildung eine dritte Aufgabe:
„Praktische Schulung von Beamten und
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Privaten, die ins Ausland wollen“, ge¬
nannt wird, so läßt sich dieser Zweck
nur unter doppelter Voraussetzung er¬
reichen: Es müssen neben den Haupt¬
professoren wissenschaftlicher Richtung
Lehrkräfte vorhanden sein, die ihre Ar¬
beit in der Richtung auf das Technische
und Praktische ergänzen; und es müssen
Institute vorhanden sein, die nicht nur
Bücher, sondern ein umfassendes An¬
schauungsmaterial enthalten. Jedoch
muß dafür gesorgt werden, daß diese un¬
tergeordneten Aufgaben nicht das Ge¬
samtniveau der Universität schädigen.
Im allgemeinen wird es im Anfang an
solchen fehlen, die mit dem nötigen Er¬
fahrungskreis Gabe und Neigung zum
Lehren verbinden. Eben deshalb ist viel¬
leicht die wichtigste Aufgabe für den
Augenblick, mit deren Hervorhebung ich
diese Skizze absdhließen kann, die Her¬
anbildung von Auslandslehrem für das
Inland, d. h. von Männern, die an Schu¬
len und in freien Vortragskursen das In¬
teresse für einzelne Teile des Auslan¬
des (denn eine „allgemeine“ Auslands¬
kenntnis in dem Sinne umfassender
Kenntnis aller Länder wird es nie geben)
zu wecken fähig sind. Oft genug (bei
der Volksschule wie bei der Frauen-
schule und bei der Fortbildungsschule)
hat man den Fehler gemacht, von unten
zu bauen und Schulen zu gründen, ehe
man Lehrer für sie hatte. So paradox
es klingt: im Unterrichtswesen muß
man von oben bauen. Sorgt man für eine
echte Wissenschaftsquelle höchster Po¬
tenz und für die Ausbildung von Lehr¬
kräften an dieser Quelle, so verbreitet
sich der Geist des betreffenden Gebie¬
tes ganz von selbst nach unten und in die
Weite. Man setze also diesmal an der
rechten Stelle ein: Wir brauchen vor al¬
lem für unsere höheren Schulen und für
Vortragskurse in größeren Städten ein
wachsendes Heer von Lehrkräften, die
34*
Original from
INDIANA UNIVERSITY
1063 Q- Gronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz.Okkupation 1064
auf Grund eigener Anschauung Und kri¬
tischer Urteilsschulung das Interesse für
die Besonderheit der fremden Kulturen
wecken. Das kann nicht gelegentlich ge¬
schehen, durch Beschäftigung einzelner
bereits geeigneter Leute an einzelnen
Universitäten und Schulen; denn das
wäre eine Bodenkultur ohne Rücksicht
auf ihre Reproduktion. Die Aussaat muß
so sein, daß sie nicht nur dies Jahr
Früchte gewährt, sondern auch Saat für
die nächsten Jahre. Unerläßlich ist,
gleichviel, ob man unsre sonstigen Pläne
billigt oder nicht, die Ausdehnung Ides
neuphilologischen Universitätsstudiums
zu einem Auslandsstudium mit lebendi¬
gen kulturellen Tendenzen. Dazu kann
es aber erst werden, wenn die Kenntnis
der kulturell und politisch wichtigsten
Länder planmäßig gefordert wird: durch
Reisestipendien, die über den blo¬
ßen Buchbetrieb hinausführen, und
durch Studienmittelpunkte, de¬
ren hochstehender akademischer Geist
aus den Reiseerfahrungen erst ein Kul¬
turverständnis macht Lebendiger Ver¬
kehr und Studium müssen so eng mit¬
einander verbunden sein, daß durch den
ständigen Austausch von Studierenden
zwischen der Heimatuniversität und dem
betreffenden Auslande die ganze gei¬
stige Färbung des gewählten Ortes be¬
stimmt wird.
Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der
französischen Okkupation 1806—1813.
Von Georg Gronau. ~
Im Jahre 1816 stellte der Inspektor
der Casseler Galerie E. F. F. Robert nach
Rückerstattung der Gemälde des kur¬
fürstlichen Besitzes aus Paris ein neues
Inventar auf, in welchem er nicht nur
das damals wirklich Vorhandene, son¬
dern auch alles, was sich jemals im land-
gräflichen Besitz befunden hatte, an-
führt. In der vom 30. April datierten Vor¬
rede faßt er die Verluste, die der Samm¬
lung während der Zeit der französischen
Okkupation des ßessenlandes entstan¬
den waren, kurz zusammen; aus seinen
Worten läßt sich die numerische Bedeu¬
tung dieser Einbuße am besten erfassen.
„Im Jahre 1806 wurden auf allerhöch¬
sten Befehl /des damaligen Kurfürsten
Wilhelms I.) eingepackt 48 Stück, welche
bei der verräterischen Überrumpelung
von Cassel dem General Lagrange in die
Hände fielen, und nach Mainz transpor¬
tiert und von da nach Paris oder Mal-
maison. Von diesen sind drei Stück 1815
aus Malmaison wieder zurückgeholt
worden. Es fehlen daher (folgen die
Nummern des Inventars) ... im ganzen
45 Stück.
Unter dem von 1806—1807 vom fran¬
zösischen General Lagrange geführten
Gouvernement sind ferner abhanden ge¬
kommen und fehlen in der Sammlung
... im ganzen 48 Stück.
Der berüchtigte Denon hat folgende
Gemälde, welche er einesteils in das dar¬
über gegebene Verzeichnis aufgeführt,
aber 1815 nicht zurückgegeben worden
sind; andere aber ohne ein Empfang dar¬
über auszustellen mitgenommen und
rein gestohlen*... im ganzen 20 Stück.
Endlich sind unter der usurpierten
Regierung des Westfälischen Afterkönig
Hieronimus Napoleon vermißt, gestoh¬
len und (abhanden gekommen ... im
ganzen 280 (richtig 269) Stück.“
Nach Roberts durch Aufführung der
fehlenden Inventamummem belegten
Original frum
INDIANA UNtVERSITY
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1065 G.Gronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1066
Zusammenstellung haben demnach die
Casseler Sammlungen wahrend der
Jahre 1806—1813 im ganzen 382 Ge¬
mälde verloren, d. h. etwa ein Fünftel
ihres früheren Gesamtbesitzes. Dieser
Verlust erscheint noch ungleich bedeut¬
samer, wenn man die einzelnen Objekte
ins Auge faßt: eine große Zahl derjeni¬
gen Stücke, die den höchsten Ruhm der
Sammlung bei den Kunstfreunden der
Vergangenheit ausmachten, befindet
sich darunter.
Die Geschichte des französischen
Kunstraubs und der teilweisen Rück¬
erstattung der Bilder im Jahre 1815
ist mehrfach behandelt worden,
jedoch niemals in so umfassender
Weise, daß der wirkliche Charakter der
Einbuße genügend herausgearbeitet
worden ist. Neues Material ist seit jenen
früheren Veröffentlichungen gedruckt
worden; andere Tatsachen lassen sich
aus einzelnen fragmentarischsen Akten
feststellen. Es scheint daher angebracht,
was darüber bekannt ist, zusammenzn-
stellen, auch um die stark übertriebenen,
aber durch langjährige Tradition in
Hessen sanktionierten Behauptungen
über den Bestand an ehemaligen .Cas¬
seler Bildern in der Ermitage in Peters¬
burg zu berichtigen.
Bei dem bedrohlichen Heranrücken
des französischen Heeres war Kurfürst
Wilhelm I. darauf bedacht, außer sei¬
nem sich auf viele Millionen belaufen'
den Barvermögen und dem gleichfalls
einen bedeutenden Wert darstellenden
Silbersdhatz den wertvollsten Teil der
von Vater und Großvater überkomme¬
nen Gemälde in Sicherheit zu bringen.
Aus den Beständen wurden im ganzen
48 Stück ausgewählt, die man für das
kostbarste Gut ansah: eine Auswahl bei¬
läufig, die zwar tatsächlich eine Reihe
der wirklichen Perlen umfaßte, aber
auch manches, das in der heutigen Be-
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Wertung nicht so hoch eingeschätzt wer¬
den würde; wofür dann anderes, das
heute als höchstes Gut angesehen wird
(wie Rembrandts „Segen Jakobs“, die
„Saskia“, der „Bruyningh“ und die
„Große Landschaft“), in die Zahl der
in Sicherheit zu bringenden Gemälde
nicht einbezogen wurde.
Unter den ausgewählten Gemälden
befanden sich: von Rembrandt die gro¬
ße Kreuzabnahme, das Noli me tangere,
eine Maria mit dem Kind und zwei Bild¬
nisse, Gegenstücke eines Herrn und ei¬
ner Dame, Potters zwei berühmte Ge¬
mälde („La vache qui pisse“ und das
„Leben eines Jägers“ in 14 Abteilungein),
fünf Bilder von Gerard Dou, darunter
die zwei Darstellungen der Heiingsver-
käuferin, zwei Werke von Slingelandt,
van der Heydens Ansicht des Verkey in
Amsterdam und eine Ansicht von Cöln,
vier große Frucht- und Blumenstücke
Jan van Huysums, zwei Hauptstücke
von Berchem, eine Gesellschaft beim
Kartenspiel von Schalcken, vier Arbeiten
Wouwermans, darunter der „Kirchen¬
raub“ und der „Heuwagen“, das Bildnis
des Lukas van Uffelen von Van Dyck,
drei Gemälde von Teniers („Der Aufzug
der Antwerpener Schützengilde“, „Die
Wachtstube“ und eine „Bauernstube“).
Ferner sämtliche fünf Bilder von Claude
Lorrain, darunter die „vier Tageszeiten“,
zwei dem Poussin zugeschriebeneWerke,
eine „Heilige Familie“ von Andrea del
Sarto, die „mütterliche Liebe“ und eine
„Heilige Familie“, die unter Leonardos
Namen bekannt waren, eine Madonna
von Raffael nebst Werken von Anni¬
bale Carracci, Carlo Dold, Guido Reni
und andern Meistern. Diese „Auswahl
einiger der vorzüglichsten Gemälde in
der kurfürstlichen Gallerie zu Kassel“
wurde in sechs Kisten verpackt; am
Schluß des Verzeichnisses, das die ge¬
wählte Anordnung meldet, ist bemerkt:
Original from
INDIANA UNiVERSITY
1007 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1068
„Obige Gemälde sind am lten Oktober
1806 eingepackt und durch herrschaft¬
liche Tagelöhner ins kurfürstliche Resi¬
denz Schloß in sechs Kasten transpor¬
tiert worden.”
Ober die weiteren Schicksale diesen
Bilderauswahl stehen völlig sichere
Nachrichten nicht zur Verfügung. Wahr¬
scheinlich wurden die sechs Kisten (mit
dem Silberschatz des kurfürstlichen
Hauses vereinigt und in ein, wie man
glaubte, völlig sicheres Versteck ge¬
bracht Die Wahl fiel auf das im
Reinhartswalde gelegene Jagdschloß
Sababurg, woselbst am 18. Oktober
nachmittags 42 große und kleine Kisten
eintrafen und in einem Gewölbe an der
Haupttreppe eingemauert wurden. 1 )
.Eine Steile in einem noch wiederholt
anzuführenden Briefe Denons vom
30. Juni 1814, in dem er sich über die
Casseler Bilder ausspricht, ist geeig¬
net, diese Annahme zu stützen: „Je
m’empresse d’adresser ä Votre Excellen-
oe (an den Hausminister Grafen Blacas)
la liste des quarante - huit tableaux
enlev6s de Cassel par l’ölecteur, apres
la bataille d’Ifena, retrouuös dans une
malson de garde-chasse, dans une for&t,
saisis par le gönöral Lagrange et exp6-
diös par lui ä l’impöratrice Jos6phine
qui, pour lors, ötait ä Mayence. 2 * )
Der Zufluchtsort, an welchem man
die Schätze |des kurfürstlichen Hauses
untergebracht hatte, blieb nach der Be¬
setzung Cassels durch die Franzosen
unter Marschall Mörder den französi¬
schen Behörden nur wenige Tage ver¬
borgen. Nachdem der zum Gouverneur
für Hessen eingesetzte General La-
1) S. den Bericht eines Augenzeugen,
des späteren Geh. Rat Schwedes, in: Zeit¬
schrift für hessische Geschichte N. F. 1,251 ff.
2) Charles Saunier, Les conquötes artisti-
ques de la Evolution et de l’empire, Paris
1902. p. 78.
Digitized by Got «gle
grange am 4. November eine Prokla¬
mation erlassen hatte *), in der die Auf¬
forderung enthalten war, die dem kur-
hessischen Staat gehörigen, etwa ver¬
borgenen Wertstücke anzuzeigen, mach¬
ten Oberbaurat Jussow, der selbst die
Vermauerung des Schatzes in Sababurg
geleitet hatte, und Steuermt Gottsched
dem Landesdirektorium eine Mitteilung
über das Versteck; dieses gab sie an
Lagrange weiter, und so wurde der
Silberschatz unter französischer Bewa¬
chung zunächst nach Cassel zurückge-
bracht und von dort durch die Franzo¬
sen nach Mainz weitertransportiert. Die
Bilderkisten erfuhren wahrscheinlich
dasselbe Schicksal.
Jedoch gelangte nicht die volle Zahl
der 48 Gemälde an den vorläufigen Ort
ihrer Bestimmung. Wie nämlich aus der
Fortsetzung des oben bereits ausgeführ¬
ten Schreibens von Denon hervorgeht,
erhielt die Kaiserin Josephine nur 36
von den 48 Bildern 4 ), so daß Denon
folgerte, es müsse eine Kiste verloren
gegangen sein. Hier klar zu sehen und
festzustellen, welche Bilder tatsächlich
in Josephinens Besitz gelangten, welche
nicht, wird dadurch noch erschwert, daß
die Kaiserin, wiederum nach Denons
Aussage, über eine größere Zahl frei
verfügt hatte. Mit Sicherheit lassen sich
von diesem Augenblick an die Schick¬
sale von etwa 22 Bildern verfolgen, von
denen die Mehrzahl, durch Kaiser
Alexander I. angekauft, in die Ermi¬
tage gelangt ist, drei 1815 dem recht¬
mäßigen Besitzer zurückerstattet wur-
3) Vgl. die Schrift von Hugo Brunner,
General Lagrange als Gouverneur von Hes¬
sen-Cassel. Cassel 1897.
4) Dieselbe Angabe findet sich in einem
Bericht des hessischen Gesandten von Carls-
hausen vom 22. August 1815. Vgl. Stengel,
Private und amtliche Beziehungen der Brü¬
der Grimm zu Hessen, Marburg 1886, U,
p. 399.
Original from
INDIANA UNIVERSITY
1060 G.Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1070
den und weitere zwei oder drei noch
später bei Josephinens Nachkommen,
den Herzögen von Leuchtenberg, nach*
zuweisen sind.
Was aus den übrigen geworden ist,
läßt sich nur vermuten; und diese Ver¬
mutung weist dahin, daß General La-
grange sie für sich genommen habe. Da
er nachweislich gegen Zahlung einer
Summe von 800000 Francs sich rück¬
sichtlich des Piuvatvermögens des Kur¬
fürsten bestechen ließ, das nach Frank¬
furt in Sicherheit gebracht werden
konnte, liegt der Gedanke nahe, daß er
auch unter den Gemälden des Kurfür¬
sten eine Auswahl traf, die er für sich
behielt, wie ja auch nach Roberts Aus¬
sage unter seinem Gouvernement weitere
48 Gemälde veruntreut worden sind.
Dieser Verdacht muß ferner durch den
Umstand verstärkt werden, daß zwei Ki¬
sten, welche hervorragende Kostbarkei¬
ten in Edelmetall enthielten, seitdem La-
grange sie dem Museum entnommen
hatte, spurlos verloren geblieben sind 5 );
jedenfalls fand sich 1815 nich'ts davon
in den Pariser Museen vor. Der ehema¬
lige Gouverneur wußte während der An¬
wesenheit der hessischen Delegierten in
Paris seine Spuren so gut zu verbergen,
daß es dem um die Wiederbeschaffung
der geraubten Kunstsachen hochver¬
dienten Jacob Grimm trotz eifrigster
Bemühungen nicht gelang, auch nur sei¬
ne Wohnung auszukundschaften. Wenn
dann eine Reihe der verschollenen Bil¬
der in den auf den Friedensschluß fol¬
genden Jahren bald hier, bald da auf¬
tauchen und ihre Spuren mehrfach auf
den Pariser Kunsthandel führen, so ge¬
winnt die Vermutung, daß kein andrer
als Lagrange für das Verschwinden von
12 jener auserlesenen 48 Bilder verant-
5) Das genaue Verzeichnis ist abgedrucbt
in Zeitschr. d. Vereins !. hess. Gesch. u.
Landeskunde IX, 1882, S. 336ff.
wörtlich zu machen sein dürfte, an in¬
nerer Wahrscheinlichkeit.
Lagrange bekleidete die Stellung ei¬
nes Gouverneurs nicht ganz ein Jahr;
dann trat er als Chef des Kriegsdeparte¬
ments in die Regentschaft des neuge¬
bildeten Königreichs Westfalen ein,
um bald hinterher, weil etwas von sei¬
nen Veruntreuungen ruchbar geworden
war, seinen Posten und den ihm zu heiß
gewordenen Boden zu verlassen. 6 ) Zu
der Zeit seiner Allmacht waren nach Ro¬
berts Angabe weitere 48 Gemälde aus
den kurfürstlichen Sammlungen ver¬
schwunden. Wenn diese sich auch nicht
an Bedeutung mit jener ersten Auswahl
der kostbarsten Stücke messen können,
so handelte es sich dodh auch hier utn
überwiegend erlesene Qualität. In der
Liste findet man u. a. ein Bild von
Rembrandt (Christus mit der Dornen¬
krone), zwei von Rubens, zwei vofri
Frans Hals (Bauemkopf und Bauern¬
mädchen), fünf Arbeiten von Ostade,
darunter die „Anbetung der Hirten“
(jetzt bei Otto Beit in London), eine
„Bauerngesellschaft“ (Sammlung Heu¬
gel, Paris) und drei Aquarelle mit Bau-
emszenen, drei dem Bouwer zugeschrie¬
bene Bilder, einen hervorragend cchönen
Metsu (Das Austernfrühstück, jetzt in
der Ermitage), einen Terborch, vier Te-
niers, von denen der eine, die „Affen¬
küche“ in die Ermitage gelangt ist, ein
ausgezeichnetes Stück von 'Wouwer-
man, den Auszug zur Falkenjagd dar¬
stellend (wahrscheinlich das Bild, das
A. von Rothschild in Londojn gehört),
ein von Smith besonders gerühmtes
Familienstück des Gonzalez Coques, so¬
wie Arbeiten von Schalcken und van der
Werff, von Berchem und Dujardin, meh¬
rere de Heems und andere. Auch hier
fehlt es meist an genügenden Anhalts-
6) S. Brunner a. a. O. p. 50.
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Gck igle
Original from
INDIANA UNIVERSITY
1071 G.Qronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1072
punkten, um die Schicksale der Bilder
Bufzuhellen. Nur so viel läßt sich be¬
stimmt sagen, daß vier von diesen
48 Bildern gegenwärtig in der Ermitage
zu finden sind — außer den zwei
schon genannten von Metsu und Te-
niers van der Werffs „Austreibung aus
dem Paradies“ und eine „Landschaft mit
Kühen und Schafen“ von Dujardin —,
und daß ein fünftes Stüde, eine Land¬
schaft von Breughel, mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit als ein später im
Leuchtenbergschen Besitz befindliches
Bild angesehen werden darf. Demnach
sind einige dieser von Lagrange fortge¬
nommenen Bilder mit jener ersten Sen¬
dung an die Kaiserin nach Mainz ge¬
gangen und 1 gehören in die Rubrik der
„Malmaison- Bilder“. Von den übrigen
Bildern sind dann einige wiederum bald
nach dem Pariser Frieden im Kunst-
handel zu Paris aufgetaucht
Wenige Wochen, nachdem die Fran¬
zosen von den hessischen Landen Besitz
ergriffen hatten, erschien in Cassel
Napoleons Berater in Kunstangelegen¬
heiten, seit 1803 Generaldirektor des
Nationalmuseums, Vivant Denon, um
auf Grund einer Kabinettsorder des Kai¬
sers vom 24. November 1806 ans den
Casseler Sammlungen die für das Musöe
Napoleon geeigneten Bilder auszu¬
suchen. Als er die von dem Landgrafen
vereinigten Kunstschätze kennen lernte,
äußerte ersieh gegen den Galerieinspek-
tor Joh. Heinrich Tischbein d. J., noch
nie sei ihm die Wahl so schwer ge¬
fallen : „Car* tous sont des perles et des
bijoux.“ 7 ) Trotz dieser durch den Reich¬
tum des Vorhandenen verursachten Ver¬
legenheit traf Denon eine Auswahl, die
seiner bewährten Kennerschaft alle
Ehre macht, ln dem am 8. Januar 1807
aufgesetzten und von Denon, dem Hof-
7) Fr. Maller, Zur Geschichte der Casseler
Galerie. Zeitschr.lbild. Kunst VI, 1871, S. 180.
marschall Grafen von Bohlen, Tischbein
und dem französischen Intendanten
Hessens, Martelüfeie, Unterzeichneten
Protokoll der Übergabe sind 263 Ge¬
mälde aufgeführt, zu denen in einem
Supplement vom 16. Januar weitere 36
Nummern hinzukamen, so daß Denon
insgesamt 299 Bilder aus den Casseler
Sammlungen zur Überführung nach
Paris bestimmte, deren jedes sofort mit
dem Siegel versehen wurde. Die Ab¬
nahme und Übergabe dieser Bilder er¬
folgte in der durch die Rechtsanschau¬
ungen jener Zeit zugelassenen, legalen
Form und ebenso ist, wie wir sehen
werden, die Rückerstattung 1815 erfolgt
Nur ein Bild, behaupteten die franzö¬
sischen Beamten später, habe niemals
den Ort seiner Bestimmung erreicht
nämlich ein Bildchen vom älteren
MierLs, einen seifenblasenden Knaben
darstellend. 8 ) Es soll angeblich vor
dem Transport noch in Cassel abhanden
gekommen sein ; Robert im Inventar zu
1816 beschuldigt Denon dieses Dieb¬
stahls, jedoch ist es höchst zweifelhaft,
ob mit Recht
So gingen jetzt die Casseler Samm¬
lungen fast aller Werke verlustig, die
ihren Ruhm in der Welt der Kunst¬
freunde bedeutet hatten, der besten
Rembrandts und Rubens, der van
Dycks und Jordaens und der erlesenen
Gruppe der niederländischen Klein¬
meister. Es bezeichnet den damaligen
Zeitgeschmack, daß auch ekle verhält¬
nismäßig große Zahl der nicht bedeuten¬
den italienischen Bilder mit fortgeführt
wurde, dagegen drei von den sieben Ge¬
mälden des Frans Hals zurückgelassen.
Robert hat in der eingangs zitierten
Einleitung seines Inventars 20 Bilder
8) Wahrscheinlich identisch mit einem
von Smith, Catalogue, Supplement S. 37
Nr. 11, aufgefflhrten Bild in Buckingham
Palace, London.
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Go», igle
Original from
INDIANA UNIVERSITY
1073 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1074
aufgeführt, die teils 1815 nicht zurück¬
gegeben, teils von Denon ohne Emp¬
fangsbestätigung mitgenommen und
„rein gestohlen“ worden seien. In die
erste Rubrik gehören im ganzen 10 Bil¬
der, von denen drei in französischen
Provinzmuseen verblieben, vier nach
Aussage der französischen Behörden
während der Besetzung von St. Cloud
und Compi&gne durch preußische Trup¬
pen 1814 fortgekommen sein sollten;
das achte ist der bereits aufgeführte
Mieris, der angeblich schon in Cassel
selbst abhanden kam. Von einem wei¬
teren Bilde, einem Kircheninnem des
Neefs, heißt es 1815: „Ce tableau ne
s’eS|t pas trouv6 et a probablement 6t6
remis ä une autre Cour.“ Heute läßt
sich feststellen, was es mit diesem Ver¬
schwinden für eine Bewandtnis gehabt
hat: es war nach Schloß Malmaison
gebracht worden und gehört zu den von
Josephinens Erben an Alexander I. ver¬
kauften Bildern (Ermitage Nr. 1198).
Das zehnte Bild — ein Kampf zwi¬
schen Infanterie und Kavallerie im
Kornfeld von Wouwerman — war
zwar laut ausdrücklicher Erklärung
Denons aus Cassel mitgenommen wor¬
den, fand sich aber 1815 nirgends vor. 9 )
Unter den übrigen Bildern erscheint nur
eines von hervorragender Bedeutung ge¬
wesen zu sein : ein männliches Bildnis
in Lebensgröße von Rembranrft, das
bisher nicht wieder hat nachgewiesen
werden können. 10 )
Inwieweit Robert mit seiner Beschul-
9) Es könnte nach den annähernd Ober'
einstimmenden Maßen identisch sein mit
einem Bild, das nach Angabe von Smith
(Catalogue, Suppl. S. 202 Nr. 185) 1834 auf
der Versteigerung der Duchesse de Berry
in London vorkam.
10) In einem später noch anzufahrenden
handschriftlichen Verzeichnis von Robert ist
als Besitzer dieses Bildes der russische
Kaiser angegeben.
digung Denons recht hat, läßt sich ge¬
genwärtig nicht mehr feststellen. Der
Verdacht einer persönlichen Bereiche¬
rung liegt bei einem Manne nahe, der
ein ebenso hervorragender Kenner wie
feinsinniger Sammler gewesen ist.
Zugunsten Denons fällt jedoch der Um¬
stand schwer ins Gewicht, daß in dem
Katalog seiner reichhaltigen Samm¬
lung, der nach seinem Tode aufgestellt
wurde 11 * * ), sich nicht ein einziges Bild
vorfindet, dessen Herkunft aus der
Casseler Galerie erweisbar wäre. So
ist es wahrscheinlich, daß Robert, ohne
sichere Anhaltspunkte zu besitzen, De¬
non hier kurzerhand Verluste der
Sammlungen aufgebürdet hat, für die
nicht dieser, sondern andere Organe der
französischen Verwaltung verantwort¬
lich zu machen sind.
Gassei hatte demnach innerhalb der
ersten drei Monate der französischen
Okkupation nahezu vierhundert seiner
kostbarsten Bücher eingebüßt; und
selbst damit hörten die Raubzüge noch
nicht auf. Auf die Trilogie des amt¬
lichen und privaten Kunstraubes folgte
noch ein von den französischen Behör¬
den in Szene gesetztes SatyrspieL
Ende Januar 1808 mußte plötzlich das
Erdgeschoß der Malerakademie freige¬
macht werden, um für die Gouveme-
mentsdruckerei Platz zu schaffen; die
daselbst befindlichen Gipse und Bilder
wurden in Eile in das Museum ver¬
bracht. 19 ) Dort muß es dann wegen der
Unterbringung des Restbestandes der
Galerie — soweit sie nicht in den ver¬
schiedenen Schlössern verstreut war —
11) Description des objets d’art qui Com¬
posern le Cabinet de feu M. le baron V.
Denon. Tableaux ... par A. N. Pörignon.
Paris 1826. Die Angabe bei Rooses, L’ceuvre
de Rubens III, p. 139, spricht eher gegen
als für einen Raub von seiten Denons.
12) H. Knackfuß, Geschichte der Kgl.
Kunstakademie zu Cassel, Cassel 1908, S.124.
Digitized by
Go», igle
Original frorn
INDIANA UNIVERS \Y
1075 G.Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1076
Schwierigkeiten gegeben haben, deren
der Minister der Justiz und des Innern,
SLm6on, durch ein besonders einfaches
Verfahren glaubte Herr werden zu kön¬
nen : die Gemälde sollten zur öffent¬
lichen Versteigerung gebracht werden.
Allerdings nicht alles und jedes; viel¬
mehr wünschte der Minister, daß eine
Auswahl getroffen würde. Diese Auf¬
gabe wurde aber nicht dem Inspektor
Tischbein, noch seinem Adlatus Robert
übertragen, sondern dem Hofwerkmei¬
ster Wolf. Der wackere Mann, in der
Einsicht, daß er „aus Mangel an Kennt¬
nissen" diese Auswahl nicht treffen
könnte, sandte seinen Sohn zu Robert,
er möchte in das Museum kommen „und
von denen aus dem Academie-Haus da¬
hin transportierten Gemählden eine Aus¬
wahl treffen". Nach vorheriger Verstän¬
digung mit Tischbein kam Robert der
Aufforderung nach. Der Werkmeister
wies ihm den Auftrag Simeons vor, der
dahin lautete, daß „diejenigen (Bilder)
von noch einigem Wert im Museum auf¬
bewahrt werden sollten". „Ich fing
hierauf an, berichtet Robert, und suchte
aus und ließ das ausgesuchte von zwey
Taglöhner auf die große Treppe des
Museums stellen. Kaum hatte ich über
einige zwanzig Stück ausgesucht, als
der Hof-Werckmeister ausrief, ja wo
wollen wir den Platz finden, wenn sie
so fortfahren wollen auszusuchen. Ich
gegenantwortete ihm, wenn ich nach
Überzeugung verfahren sollte, müßte ich
also machen, fragte ihn, ob er etwa diese
Gemählde verschleudern wollte und für
8 oder 11 Groschen das Stück verkaufen,
das 20, 30, 50 Louisdor wert sey; wenn
dieses der Fall, dann wäre ich hier
nichts nütze und würde wieder nach
Hause gehen, er könne es dann nach
Gefallen machen. Hierauf versetzte er,
er wünsche, daß man sie alle behalten
könne, es wäre aber des Raumes wegen,
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man würde sie nicht alle im Museum
unterbringen können. Ich fuhr also fort
auszusuchen nach Überzeugung und Ge¬
wissen, und hätte von Herzen gern man¬
ches gutes und schönes Portrait man¬
ches anderes Bild von geringem Werth
doch seiner Geschichte wegen zu er¬
halten gesucht. Viele von den ausge¬
suchten wurden nachher vor ein Spott¬
geld verkauft und verschleudert wie ich
vorher gesagt hatte. Da die Zeit zu kurz
war, um genauer die Gemählde prüfen
zu können, so ist manches schöne Por¬
trait von Werth mit ausgeschossen und
verkauft worden." Und in einer Nach¬
schrift bemerkt Robert noch : „Aus den
ganlzen Bildern, die im Museum ver¬
kauft worden nebst denen goldenen
Rahmen aus der Bilder Gallerie, sowie
mehrere andere Gegenstände aus dein
Museum ist eine Summa von ohngefähr
700 Rthlr. gelöst worden." 18 )
Durch sein Eingreifen vermochte
Robert wenigstens 260 Bilder der Samm¬
lung für Cassel zu retten — einen frei¬
lich traurigen Rest, wenn man an den
früheren Besitz denkt Immerhin war
das vor der Verschleuderung Bewahrte
durchaus nicht völlig wertlos; finden
sich doch darunter Bilder, wie der
„Lustige Zecher“ -von Frans Hals, zwei
Gemälde von Jordaens („Moses schlägt
Wasser aus dem Felsen" und die klei¬
nere Fassung der „Erziehung des Ju¬
piter"), das große, dekorative Stilleben
von P. Boel, die zwei interessanten, dem
Cornelis de Vos zugeschriebenen Bild¬
fragmente, der „Kranke Königssohn"
von Celesti, ein großer (noch nicht aus¬
gestellter) Luca Giordano, mehrere Bil¬
der von Liberi, die „Legende von der
Königstochter“ von Paolo Veronese, das
13) In dem Vorwort zum Inventar von
1816. Der betr. Passus ist vollständig abge¬
druckt in Eisenmanns Katalog der Casseler
Galerie von 1888, S. XV ff.
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INDIANA UNIVERSITY
1077 G.Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1078
ausgezeichnete, wohl spanische Porträt
eines Edelmanns und so noch manches
andere, das auch in der heutigen Galerie
Beachtung fordert. Aber nicht alles wie¬
derum, das damals durch Robert gerettet
wurde, ist vor späterer Venmtreuung
bewahrt geblieben. Bei recht vielen
Nummern hat dieser mit roter Tinte be¬
merkt : „NB. Ist bey dem Bau des soge¬
nannten Reichs Saales gestohlen wor¬
den.“ Ober den chaotischen Zustand,
in den das Museum während der Ver¬
wandlung des Gebäudes in den Stände¬
palast geriet, liegt die ausführliche
Schilderung des Bibliothekars und Vor¬
stands der Antikensammlung, Völkel,
vor 14 ); aus dieser ergibt sich, daß von
der dadurch geschaffenen Gelegenheit
zum Diebstahl nur allzu reichlicher Ge¬
brauch gemacht wurde. Unter den Wer¬
ken, die auf diese Weise verschwanden,
scheinen zwei von namhaftem künst¬
lerischem Wert sich befunden zu
haben: ein Doppelporträt voin Ant.
Moro und das Bildnis einer Dame von
Luini. Von beiden hat sich jede Spur
verloren.
Das übrige, das Roberts Umsicht nicht
hatte retten können, wurde am 13. Juni
1808 zur öffentlichen Versteigerung ge¬
bracht. „Kein hessischer Patriot betei¬
ligte sich an der Auktion, und so kam
nicht weniges an eingewanderte Fran¬
zosen und auswärts wohnende Besitzer.
Über 200 Gemälde gingen auf diese Art
der Galerie für immer verloren. 15 ) Auch
die Verschleuderung der durch Robert
14) A. Duncker, Eines hessischen Ge¬
lehrten Lebenserihnerungen aus der Zeit
des Königs J6röme, in: Zeitsdir. d. Vereins
f. hess. Gesch. u. Landeskunde N. F. IX,
1882, S. 276ff.
15) A. Duncker, Zur Geschichte der Cas¬
seler Kunstschätze, vornehmlich in den
Zeiten des Königreichs Westfalen, in:
Deutsche Rundschau, 9. Jahrgang, Februar
1883, S. 225.
bezeugten goldenen Rahmen der Bilder¬
galerie wird man, namentlich vom
heutigen Standpunkt jaus, lebhaft be¬
dauern müssen ; denn die wenigen Pro¬
ben von alten Rahmen, die sich aus der
Zeit des großen Begründers der Galerie,
Landgraf Wilhelm VIII., erhalten haben,
beweisen, daß (dieser für seine Schätze
das gediegen Kostbarste gewählt hatte,
während die nach Frankreich entführ¬
ten Gemälde in Paris alle die uniformen,
nüchternen Empirerahmen des Mus6e
Napoleon erhielten, die sie zum Teil
bis auf die Gegenwart behalten haben.
Damit war nun die Vernichtung der
Casseler Gemäldesammlung durch die
französischen Usurpatoren vollendet.
Kein Wunder, daß der Mann, der seit
1775 sie als Inspektor treu verwaltet
hatte, Joh. Heinrich Tischbein d. J., den
Verlust nicht lange überlebte. Die Be¬
raubung durch Denon erschütterte ihn
in seinen Grundfesten : „Wie entgeistet
ging er zwischen den hämmernden und
klopfenden Handwerkern herum. Jedes
Bild, das eingepackt wurde, war ihm ein
verstorbener Herzensfreund, jede Kiste
ein Sarg.“ „Als er nun bald auch ge¬
zwungen wurde, seine Dienstwohnung
im Akademiegebäude, die er seit mehr
als 30 Jahren innehatte, zu räumen,
brach dem Greise das Herz.“ 16 ) Er
starb am 22. November 1808.
Die westfälische Regierung war nicht
gewillt, die Verluste dadurch verschmer¬
zen zu machen, daß sie ihrerseits auf
einen Ausbau der Kunstsammlungen
bedacht gewesen wäre. Ais ihr Robert
durch Vermittlung Johannes v. Müllers,
der die Stellung eines Generaldirektors
des öffentlichen Unterrichts bekleidete,
den Vorschlag unterbreitete, die bedeu¬
tende Kupferstichsammlung des Rates
von Stöcker zu Frankfurt zu erwerben
16) Duncker a. a. O.
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1079 Ch Gronau. Die Verluste der Casseler Galerie in derzeit der franz. Okkupation |Q60
und durch die Vereinigung der an ver¬
schiedenen Stellen, in der Akademie, im
Palais und Schlössern zerstreuten Bil¬
der res te etwas wie eine neue Galerie
zu schaffen, verhielt sich die zuständige
Behörde völlig ablehnend. 17 ) Es war ein
magerer Trost, daß aus den geraubten
Galerien von Braunschweig und Salz¬
dahlum 252 Bilder nach Cassel geschafft
wurden, denn sie wurden für die Deko¬
ration der Schlösser des Königs und
•einer Oroßwürdenträger verwendet
Alle die Gemälde, die auf Veranlas¬
sung der französischen Behörden 1808
durch Versteigerung der Galerie ent¬
fremdet wurden, hat Robert in der letz¬
ten Rubrik seiner Aufstellung der Ver¬
luste vereinigt und sie als „vermißt, ge¬
stohlen und abhanden gekommen“ be¬
zeichnet. Es sind im ganzen 269 Num¬
mern, unter denen es auch an großen
Namen nicht fehlt, deren Bedeutungman
aber daran wird ermessen können, daß
die Auslese Denons 1806 und die Aus¬
wahl Roberts vor der Versteigerung
das Material ja schon sorgfältig gesiebt
hatten. Ein Verlust also, den man mehr
ziffernmäßig wird in Rechnung zu set¬
zen haben, obschon es an guten Stücken
auch hier nicht ganz gefehlt hat Nur
dos allerwenigste läßt sich über die Zeit
des Verschwindens hinaus verfolgen.
Eine größere Zahl auf einmal wurde
durch Vermittlung eines Casseler Kauf¬
manns Rogge-Ludwig, der nach Paris
geschäftliche Beziehungen unterhielt
1820 dem Kurfürsten Wilhelm I. zum
Kauf angeboten. Die Bilder befanden
sich damals im Besitz eines franzö¬
sischen Herrn, der sie mit 80000 Francs
beüehen hatte und sie als sein Eigentum
betrachtete, da der ursprüngliche —
nicht genannte — Besitzer außerstande
war. die Summe zurückzuerstatten. Der
17) Knacktu B a. a. O. S. 133H.
Kurfürst lehnte jedoch das Angebot ab,
und so sind diese Bilder in Paris verblie¬
ben, wo eines von ihnen, eine Gesell¬
schaft von kartenspielenden Bauern von
Teniers, 1857 auf einer Versteigerung
noch einmal auftaucht u )
In einigen wenigen Fällen läßt sich
wahrscheinlich machen, daß Robert in
diese Rubrik auch Gemälde aufgemom-
men hat die bereits früher, sei es durch
Lagrange, sei es durch Denon fortge¬
kommen waren. Eine „Wassermühle“
von Potter nämlich war laut Zeugnis
von Smith 1815 in Malmaison
und gelangte von dort, aus durch
verschiedene Hände in eine englische
Privatsammlung 19 ); ein Bild von G.
Schalcken, heute Eigentum der Hambur¬
ger Kunsthalle, war nach Angabe H. de
Groots *°) bis 1814 im Musöe Napolöon.
In der Liste der von Denon übernom¬
menen Gemälde findet es sich jedoch
nicht, muß demnach auf eine an¬
dere Weise, falls obige Angabe richtig
ist in die große Staatssammlung ge¬
langt sein. Ein drittes Bild, ein Werk
Elsheimers, war in neuerer Zeit in eng¬
lischem Privatbesitz nachweisbar. 21 )
In die Rubrik dieser Verluste müssen
auch diejenigen Gemälde eingerechnet
werden, die Jöröme nach Frankreich mit-
gehen ließ, als er im Oktober 1813 sein
Königreich räumte. „Nicht allein Privat¬
eigentum und solche Gegenstände, die
während der Dauer des Königreichs auf
Staatskosten angeschafft waren, packte
man ein, sondern man raffte auch vom
ehemaligen Besitze des hessischen Für¬
stenhauses so viel zusammen, als in der
Eile gehen wollte. Jacob Grimm...Bi-
18) Blanc, Tresor des arts U. S. 554.
19) Catalogue raisonn£ V, SL 123. Nr. 7.
20) Beschreibendes Verzeichnis V. S. 363
Nr. 14Ö
21) Bode, Studien z. Gesch. <L boBind.
Malerei. 1883. S. 294.
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1081 Q. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1082
bliothekar der König!. Kabinettsbiblio¬
thek in Napoleonshöhe, wie das Lust¬
schloß Wilhelmshöhe während der Herr¬
schaft J6römes genannt wurde, mußte
es widerwillig geschehen lassen, daß die
kostbarsten Werke und Kupferstiche der
ihm anvertrauten Sammlung eingepackt
wurden. Aus dem Schloß zu Cassel nahm
man mit, was noch an wertvollen Gemäl¬
den seit 1807 zurückgeblieben und seit¬
dem aus den Braunschweiger Sammlun¬
gen hinzugekommen war.“ 2S )
Unter den Akten der Galerie befindet
sich eine recht summarische Auf¬
stellung der Kisten, die in verschiedenen
Etappen im April und September/Okto¬
ber 1813 durch den Garde-Meuble Hof¬
tapezier Wenderoth verpackt wurden
und durch den Spediteur Broeckelmann
und Sohn zur Absendung gelangten. Es
handelt sich dabei überwiegend um Ein¬
richtungsgegenstände aus dem persön¬
lichem Gebrauch des Königspaares; drei
Kisten enthielten 105, drei weitere 60 Bil¬
der, doch fehlt leider eine genauere An¬
gabe des Inhalts. Andere Kisten, bei de¬
nen eine solche vorliegt, enthielten die
Familienbildnisse z. T. von der Hand G6-
rards, Davids und des von Jöröme viel¬
beschäftigten Flamen Kinson. Daß unter
den in Eile zusammengeraff(ten Gemäl¬
den aus den Schlössern sich noch ein¬
zelne Stücke allerersten Ranges befan¬
den, sieht man aus den Verzeichnissen
von Roberts Hand: bereits unter den er¬
sten zehn Nummern sind die lebensgro¬
ßen Porträts von Rubens, Rembrandt
und zwei van Dycks, sowie der „Rabbi¬
ner“ von Rembrandt. Auch hier, sozusa¬
gen in letzter Stunde, ergaben sich neue
Verluste für die Casseler Sammlung,
denn so sehr sich Robert 1814 darum
bemühte, In Paris die Herausgabe aller
dieser mitgenommenen Stücke zu errei-
22) Duncker a. a. O. S. 232.
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dien, wurden ihm zunächst doch nur 89
übergeben; ein Teil der Sendung war
angeblich „nicht über den Rhein gekom¬
men und sequestriert“ worden. Tatsäch¬
lich fanden sich Ende 1814 in Frankfurt
einige Kisten mit Bildern vor, die durch
Robert als teilweis kurfürstliches Eigen¬
tum erkannt wurden. Jedoch war nur
ein einziges Werk besserer Qualität, ein
Blumenstück von der Rachel Ruysch, da¬
bei. Wieviel im ganzen und was im ein¬
zelnen auf diese Weise dem kur¬
fürstlichen Besitz entwendet worden ist,
enjtzieht sich weiterer Feststellung, da
Robert alle unter der westfälischen
Herrschaft entstandenen Verluste in ei¬
ner Gesamtrubrik vereinigt und sie, wie
gesagt, auf 269 Stücke beziffert hat. Dar¬
unter wird man gewiß auch alles das
zu suchen haben, was bei dem Brande,
der in der Nacht vom 23. zum 24. No¬
vember 1811 etwa den dritten Teil des
landgräflichen Schlosses in Cassel ver¬
nichtete, zugrunde gegangen ist: ein.
Verlust, für den die Schuld auch die
westfälische Regierung trifft, da die
leichtfertige Anlage von Heizungsanla-
gen durch den Hofbaudirektor Grand¬
jean de Montigny den verheerenden
Brand verursacht hat. 13 )
Faßt man noch einmal zusammen,
was in den Jahren der französischen Ok¬
kupation Hessens von den Franzosen
teils auf scheinbar legalem Wege (ob¬
wohl ja auch hier jede international¬
rechtliche Grundlage fehlte), teils mit of¬
fenem Gewaltakt oder durch Veruntreu¬
ung fortgenommen und verschleudert
worden ist, so bedeutet es nicht weni¬
ger als die völlige Vernichtung der be¬
rühmten Sammlung. An Stelle der Ga¬
lerie seiner Ahnen, die sich eines ver¬
dienten Weltrufes erfreute, fand' Kur-
23) Brunner, Geschichte der Residenz¬
stadt Cassel, 1913, S. 3420.
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ENDIANA UNIVERSITY
1083 G. Gronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz.Okkupation 1084
fQrst Wilhelm I. bei seiner Rückkehr in
die Heimat Ende November 1813 nur
traurige Reste vor: die geringe Zahl von
Bildern, die Robert vor dem Verkauf be¬
wahrt hatte, und was etwa in den
Schlossern als der Mitnahme nicht wür¬
dig befunden worden war.
Der Sieg der verbündeten Armeen
über die französischen Heere regte wie
anderwärts, so in Hessen, die Hoffnung
an, daß der Moment gekommen sei, das
Verlorene wiederzuerlangen. Am 14.
April 1814 Unterzeichnete der Kurfürst
die Instruktion für den Oberhofrat und
ersten Bibliothekar Voelckel und den
Bildergalerieinspektor Robert, die
nach einem einleitenden Hinweis auf die
Verluste die beiden Beamten anwies,
sich „unverzüglich nach Paris zu bege¬
ben,* 4 ), daselbst die genauesten Nach¬
forschungen nach jenen Gegenständen
anzustellen, und falls sie dieselben auf¬
gefunden und sich von der Identität
überzeugt haben, an die Behörden sich
zu wenden, durch deren Autorität am
schnellsten und sichersten die Abliefe¬
rung bewerkstelligt werden kann“.
„Zum Beweis des Eigentumes, heißt es
in §2, haben dieselben sich nicht nur auf
die aufgenommenen glaubhaften Inven-
tarien, sondern auch, falls es nötig sein
sollte, auf diejenigen Personen zu beru¬
fen, welche bei der Ab- und Zulieferung
dieser Gegenstände gegenwärtig gewe¬
sen sind, so wie denn dieser Beweis
auch durch eine Vergleichung der er¬
wähnten Inventarien mit denen zu Paris
befindlichen Verzeichnissen wird ge¬
führt werden können.“ §3 lautet: „Über¬
haupt und besonders in den Fällen, wo
ihnen hinsichtlich des Beweises des Ei¬
gentums und der Ablieferung dieser
24) Bereits am 25. April stellte Dcnon für
Voelckel einen Erlaubnisschein zum freien
Eintritt in das Museum aus. Zeitschr. f. hess.
Gesch. a. a. O. S. 320.
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Gegenstände Schwierigkeiten in den
Weg gelegt werden sollten, haben die¬
selben sich an Unsern Geheimen Staats¬
minister Grafen von Keller zu wenden.“
Der Schluß der Instruktion empfahl Sorg¬
falt bei der Verpackung der Kunstsa¬
chen und möglichste Beschleunigung bei
der Erfüllung des Auftrags.
Bereits hier tritt ein für die deutscher¬
seits bewiesene Gesinnung charakteristi¬
sches Moment hervor — das Rechtsge¬
fühl. Für alles, was man zurückfordert,
will man die Beweise der Zugehörigkeit
erbringen. Und dies gegenüber den Vor¬
gängen, wie sie sich 1806, 1807 und 1813
abgespielt hatten! Nur Denon war mit
kaiserlicher Vollmacht aufgetreten und
hätte in rechtsverbindlicher Form die
Kunstsachen übernommen: alles andere
war ohne jede Quittung geraubt worden.
Es' ließ sich voraussehen, was für
Schwierigkeiten von den französischen
Behörden den Delegierten würden be¬
reitet werden. Um so mehr, als seitens
der Verbündeten offenbar das Bestreben
bestand, das wiederhergestellte legitime
französische Königtum in den Augen
des Volkes nicht dadurch zu schädigen,
daß man an das geheiligte Musfe Na¬
poleon Hand anlegte. Es scheint (ge¬
nauere Nachrichten Liegen nicht vor),
daß man hessischerseits sich ebenso
nachgiebig zu erweisen gesonnen war
wie seitens der preußischen Abgeordne¬
ten, die sich zu dem Zugeständnis bereit-
fanden, nur die nicht öffentlich ausge¬
stellten Gegenstände sollten zurückgege-
ben werden. 25 ) Wenigstens ging Robert
bei der Feststellung der im Museum hän¬
genden Bilder mit einer Rücksichtnahme
vor, die «ns unverständlich Ist. „Vor¬
stehende 139 Gemälde, bemerkt er zu
einer eingesandten Liste, sind nach wie-
25) Degering, Französischer Kunstraub
in Deutschland, im Oktoberheft 1916 dieser
Zeitschrift, S. 31.
Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
1085 G. Gronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1086
derholter Prüfung iund Vergleichung
des Verzeichnisses kurfürstliches Eigen¬
thum. Zehn oder elf Stücke, welche
hier nicht verzeichnet, gehören hier auch
noch dazu; diese konnte ich aber, weil
sie einestheils zu hoch hingen , zum
andern aus Klugheitsmassregel, die Ab¬
sicht der Anschauung nicht zu verrathen,
nicht so genau prüfen , weswegen ich
diese vor der Hand aufzuführen unter¬
lasse. Einige Gemälde, welche in dem
Kataloge des Pariser Museums aufge-
führt, habe nicht vorgefunden, z. B.
den Tod des Germanikus von G. Lai¬
resse, das Bohnen- oder Königsfest von
Jan Steen eto.. . „Den Zutritt in die
Gemälde Restaurationen und in die Ma¬
gazine zu erhalten, ist mir nicht ge¬
lungen, und alle angewandte Mühe ver¬
geblich gewesen mir ein Canal hier zu
eröffnen. Man versicherte mich, daß seit
der Einnahme von Paris alle diese Orte
für jedermann verschlossen wären.“
Nicht besser erging es mit der Fest¬
stellung der in Malmaison aufbewahr¬
ten Bilder. „Die Haupt Bilder, z. B. die
Claude le Lorrain, Paul Potters, D. Te-
niers’ Auszug der Schützen usw. habe in
der Galerie dieser letzteren Schlösser
nicht ansichtig werden können, obgleich
Se. Excel lenz (der Herr Staats Minister
Graf von Keller den Herrn Geheimen
Regierungs Rath und Cammer Herrn
von Lepel tages darauf als wir diese
Gallerie gesehen, versichert, daß er diese
Gemälde daselbst gesehen hätte. Nach
nachheriger eingezogener Nachricht er¬
fuhr ich, daß man diese Gemälde weg-
gestellt oder anders wohin aufgehangen
häjtte, wozu aber der Zutritt versagt
wäre. Die drey daselbst gesehenen und
in dem Verzeichniss aufgeführten, habe
nur in einem Bück und in der Eile über¬
sehen können, indem man uns durch ein an
die Gallerie stossendes Kabinet der ehema¬
ligen Kayserin Josephine gleichsam trieb.“
Unter diesen Umständen darf man
sich nicht wundem, wenn das Ergebnis
dieser Mission kaum den bescheidensten
Ansprüchen entsprach. Denn da der
Pariser Friede vom 30. Mai die uner¬
hörte Bestimmung enthielt, daß das
Pariser Museum im Besitz aller Kunst-
schätze bleiben sollte, die vor Beginn
des Krieges sein Eigentum gewesen
waren, konnten die hessischen Bevoll¬
mächtigten froh sein, daß sie nicht
mit völlig leeren Händen nach Cassel
zurückkehrten. Wenigstens gelang es
ihnen, „vom Gefolge des Exkönigs von
Westphalen die aus den Schlössern und
dem Überreste der Galerie geraubten
Stücke, die «aus der Wilhelmshöher
Bibliothek mitgenommenen Bücher, und
die Kunstgegenstände des Museums,
welche Jöröme bei seiner Flucht im Oc-
tober 1813 mitgeschleppt hatte, zum
großen Theile wieder zu erlangen“.
So trafen am 21. Juli 16 große Kisten
mit Büchern und Kupferstichwerken in
Cassel ein. 86 ) Die Anzahl von Bildern
die man. sich in Paris entschlossen hatte,
zurückzugeben — immer handelt es sich
nur um die zu guter Letzt von Jöröme
geraubten — betrug nach Roberts vor¬
läufiger Aufstellung 69 von 369, die
sein Verzeichnis als „während der Wfest-
p hä löschen Regierung weggebracht“ auf¬
führt. Im ganzen sind aber tatsächlich
davon 126 zurückgelangt, 243 verloren
gegangen.
Bei diesem gänzlich ungenügenden
Ergebnis darf man es als glücklichen
Umstand preisen, daß durch Napoleons
Rückkehr von Elba und die Herrschaft
der hundert Tage eine völlig neue Sach¬
lage geschaffen wurde. Dieses Mal
wurde der Weg betreten, der gegenüber
26) Zeitschr. d. Gesch. des hess. Vereins
a. a. O. S. 322/3. Verloren ging bei dieser
Gelegenheit der Band, der Rembrandts Ra¬
dierungen enthielt.
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INDIANA UNIVERSITY
1087 O. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1088
so gewandten Diplomaten allein zum
Ziel führen konnte, nämlich der Weg
der Gewalt. Bereits am Tage des Ein¬
zugs der preußischen Truppen zu Paris,
am 7. Juli 1815, fand sich General von
Ribbentrop bei Denon ein, um die Her¬
ausgabe des noch vorenthaltenen fran¬
zösischen Eigentums zu verlangen 2T );
wenige Wochen später, noch vor Ab¬
lauf des Mona,ts, war so gut wie alles
bereits verpackt. Hinter den Worten
und Briefen stand dieses Mal das preu¬
ßische Heer, und besser als die form¬
gewandten Billetts der Diplomaten
wirkte der kernige Stil Feldmarschall
Blüchers.
Der rasche Erfolg preußischer Tat¬
kraft machte allen anderen, die an den
französischen Staat Forderungen zu
stellen hatten, Mut; einer nach dem an¬
dern stellten sie sich ein, allen verhalf
die Energie des Generals von Müffling,
Gouverneurs von Paris, zu ihrem Recht.
Unter ihnen auch die hessischen Bevoll¬
mächtigten, an deren Spitze dieses Mal
der Geh. Rat und Kammerpräsident von
Carlshausen stand. Ihn begleiteten Ro¬
bert und der Museumsinspektor Dö¬
ring (anstelle Voelckels); später gesellte
sich auf einen seitens der preußischen
Behörden ausgesprochenen Wunsch
Jacob Grimm zu ihnen. Carlshausen war
am 4. August in Paris eingetroffen; be¬
reits vierzehn Tage später konnte mit
der Übergabe der durch Denon aus der
Casseler Galerie ausgewählten Bilder
27) VgL hier und im folgenden die An¬
gaben in dem Buche von Saunier, Les con-
quötes artistiques etc. S. 101 ff. Es ist für die
französische Auffassung dieser Dinge be-
zeichnend, daß dem Verf. für die Recht¬
mäßigkeit des Vorgehens der Alliierten jedes
Verständnis abgeht. Er stellt sich nach fast
neunzig Jahren noch völlig auf den Stand¬
punkt Denons, dessen Schmerz über die
Verniditung seines Lebenswerks man we¬
nigstens verstehen kann.
begonnen werden. Sehr wertvolle
Dienste bei deren Nach Weisung leistete
den hessischen Kommissaren der Maler
Wilhelm Unger, der als Neffe des ver¬
storbenen Galerieinspektors Tischbein
mit den ehemals in Cassel vorhandenen
Bildern genau vertraut, infolge eines
sechsjährigen Aufenthaltes in Paris auch
über deren Aufbewahrungsorte gut un¬
terrichtet war. Er hatte bereits Ende Juli
durch Vermittlung des Majors und Ad¬
jutanten des Kurfürsten, Freiherm von
Dalwigk, Zutritt zu den Pariser Samm¬
lungen erhalten können und hatte daher
der amtlichen Mission durch eigne
Nachforschungen vorgearbeitet.
Aber die hessischen Bevollmächtigten
kamen nicht eher zum Ziele, als bis auch
sie Gewalt brauchten. Denon, so be¬
richtet Grimm, betrug sich bei der Rück¬
gabeforderung wie ein Wahnsinniger
und rief aus: „Ce sont les bijoux du rau¬
ste, on ne doit pas les rendrel“ 88 ) Erst
ein ausdrücklicher Befehl des General¬
direktors im Königlichen Hausministeri-
um, Comte de Pradel, vom 16. August
machte ihnen die Bahn frei. Am 18. Au¬
gust wurde mit der Übergabe der Bil¬
der begonnen und diese Arbeit mit kur¬
zer Unterbrechung bis zum 9. September
fortgesetzt. Das an letztgenanntem Tage
übergebene Protokoll trägt die Unter¬
schrift des Generalsekretärs des Muse¬
ums Lavallte .Von den 299 durch Denon
aus Cassel entführten Bildern wurden
die 270 im Muste Napoleon bewahrten
zurückgegeben, ferner zwei im Proto-
28) Stengel, Private und amtliche Be¬
ziehungen der Brüder Grimm II, S. 399,4
Ein andrer, zuerst im Rheinischen Merkur
enthaltener Bericht eines Augenzeugen
schildert Denons Stimmung nicht minder
charakteristisch: „Als die Hessen ihre Ge¬
mälde nun wieder holten, so schloß er das
Museum und sagt: Claudite nunc pueri
rivos, sat prata biberunt* (Zeitschr. f. hess.
Gesch. a. a. O. S. 325/6).
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INDIANA UNIVERSITY
1089 G.Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1090
köll der Übernahme 1807 nicht aufge¬
führte Bilder von Steenwyck, deren Be¬
sitzrecht durch den gedruckten Casseler
Katalog nachgewiesen . werden konnte.
Es fehlten demnach zunächst an der
rechtmäßigen Ziffer noch 28 Bilder, von
denen eins bereits in Cassel gestohlen,
ein anderes angeblich nie nach Paris ge¬
kommen und ein drittes irrtümlich ei¬
nem andern Hof übergeben war, vier
während der Okkupation von St. Cloud
undCompiigne verschwunden sein soll-
ten; die übrigen 21 aber waren in öffentli¬
chen Gebäuden und Provinzialmuseen
verstreut: neun davon in Straß bürg, vier
in Lyon; andere hatte man nach Caen,
Brüssel und Toulouse gesandt, wieder
andere an die Schlösser von Ram¬
bouillet und Fontainebleau und an an¬
dere Stellen überlassen. Da sich die
Angelegenheit der Übernahme dieser
weit versprengten Bilder in die Länge
zog, bevollmächtigte Baron von Carls-
hausen vor seiner Abreise von Paris am
23. September den Maler Unger, in
seinem Namen die noch fehlenden
Stücke abzunehmen und darüber zu
quittieren. Ungers und Jacob Grimms
unermüdlichem Wirken ist es zu dan¬
ken, wenn der passive Widerstand
der verschiedenen französischen Behör¬
den schrittweise überwunden werden
konnte. „Die mannigfaltigen Schliche
und Umstände der Franzosen auf die
auszuliefemden Departementsgemählde
können sich Ew. Hochwohlgeboren
nicht genug vorstellen“, berichtete
Grimm am 28. Oktober an Carls-
hausen.» 9 ) Deswegen unterbreitete er
dem preußischen Minister von Alten-
stem den Vorschlag, behufs Sicherstel¬
lung der Forderungen möchte man der
Museumsdirektion oder der sie be¬
fehligenden Oberbehörde erklären, „man
29) Stengel a. a. O. S. 68.
Internationale Monatsschrift
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werde statt der seit länger als Monats*
frist gar nicht hergeschafften Bilder,
wenn und insofern sie nicht vor dem
Ausmarsch der preußischen Macht aus
Paris hier einträfen, eine verhältnis-
mäszige Zahl französischer Bilder mit¬
nehmen und diese so lange in einer
deutschen Stadt (etwa Frankfurt) hin¬
terlegen lassen, bis Frankreich seine
Verbindlichkeit gelöst habe“. 80 )
Am schnellsten erledigte sich die An¬
gelegenheit von drei Bildern, die in
den Schlössern von Fontainebleau —
Rubens, Triumph des Siegers — und
Rambouillet — zwei Stilleben von Mi¬
gnon — hingen. Zwar verweigerten De-
non und LavaII6e ihre Mithilfe, „weil
man sich über königliche Schlösser
keinen Befehl anmaßen dürfte“, doch
gab hier eine entsprechende Weisung
des Comte de Pradel an die Gouver¬
neure der genannten Schlösser dem
Maler Unger Gelegenheit, Mitte Oktober
die drei Bilder abnehmen und verpacken
zu lassen. 81 ) Schwierigkeiten dagegen
machte man wegen eines Rembrandt-
schen Bildes (des .Architekten“). Die¬
ses war zum Schmuck in das Hotel de
1’Empire gekommen — „oder wie es
jetzt heißt, Hotel Thölusson“ —, welches
dem Ministerium der Auswärtigen An¬
gelegenheiten unterstand; das machte
wieder besondere Schritte bei dem Mi¬
nister Herzog von Richelieu notwendig.
Endlich traf nach Wochen von diesem
die Antwort ein, „der König Ludwig habe
das Hotel nebst Ameublement der rus¬
sischen Ambassade zur Disposition ge¬
stellt, daher könne er das befragte Ge¬
mälde nicht abnehmen laßen; vielmehr
sei die Sache bei dem russischen Ge¬
sandten zu betreiben.“ So mußte sich
denn Grimm an diesen wenden, und da
er keine Antwort erhielt, abermals wie-
30) Stengel S. 78.
31) Stengel S. 37 u. 48/9.
35
Original from
INDIANA UNIVER* TY
1091 G.Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1092
der preußische Vermittlung an rufen.
Anfangs Dezember endlich wurde die
Obeigabe des Bildes möglich. 82 )
Noch schwieriger lag der Fall der
zwei an das Museum in Brüssel abge¬
gebenen Gemälde, des lebensgroßen
Porträts von Tizian und eines männ¬
lichen Bildnisses von Tintoretto. Dieses-
mal lehnten die französischen Behörden
ihre Mitwirkung ab, weil Brüssel nicht
mehr zu Frankreich gehöre. Gramm war
deshalb genötigt, sich an den niederlän¬
dischen Minister Freiherm von Gagem
zu wenden, der sich aufs dringendste
im Haag dafür zu verwenden versprach.
Der niederländische Gesandte in Paris,
Freiherr von Fagel, bewies sich gleich¬
falls entgegenkommend. 8S ) Trotzdem
zog sich die Angelegenheit bis in den
Sommer 1817 hin; erst dann trafen die
beiden Bilder wieder in Cassel ein. Zwar
behauptete Robert, daß das zurückge¬
gebene Porträt von Tintoretto nicht das
ehemalig in Cassel befindliche Bild sei,
Jedoch wurde auf Befehl des Kurfürsten
von weiteren Reklamationen Abstand
genommen. 84 )
Die Rückgabe der an Straßburg, Lyon
und andere Provinzmuseen abgegebe¬
nen Bilder zog sich gleichfalls in die
Länge. Schon war die Absendung eines
preußischen Kommissars nach Stra߬
burg beabsichtigt; auf Lavaltees Ver¬
sprechungen hin nahm man davon Ab¬
stand. „Wirklich sind gestern, meldet
Grimm am 28. Oktober, andere aus
Grenoble (für Preußen) und Toulouse
(für uns) angelangt, aber noch nichts
aus Lion.“ 85 ) Und am 7. November:
„Mit den Gemählden geht es höchst
32) Stengel S. 37, 55, 82, 88 u. 96.
33) Stengel S. 96, 97 u. 407.
34) Stengel S. 407 und Brief Roberts vom
19. (August) 1817 bei den Galerieakten. Das
Bild, ein Werk des Jacopo Bassano, trägt
letzt die Nr. 498.
35) Stengel S. 69.
langsam; vorige Woche sind endlich
drei aus Lion für uns eingetroffen ; ein
viertes eben daher soll noch nachkoftn-
men; wegen der Straßburger werden
wir, die Preuszen, Braunschweiger etc.
von einem ziu dem andern Tage ver¬
tröstet“ 86 ) In letzter Stunde trafen Amu
noch acht (statt neun) Bilder aus Stra߬
burg und das noch fehlende vierte aus
Lyon ein, dagegen nicht das Bild aus
Toulouse, das Grimm am 6. Dezember
erwartete. 87 ) Und ebenso wurden die Er¬
wartungen hinsichtlich des bedeuten¬
den, großen Gemäldes von Rubens —
Abraham und Melchisedek — getäuscht
Man hatte geglaubt daß das preußische
Militär, das sich der dortigen Braun-
Schweiger Bilder bemächtigen sollte,
auch das Rubenssche Bild mit fortschaf¬
fen würde, doch war dies aus unbekann¬
ten Gründen unterblieben: „Ich wünschte
freilich nichts mehr (so Grimm am 28.
Oktober), als daß auch unser Rubens
möchte darunter gewesen sein; habe
aber, daes nun zu spät ist, heute morgen
an Lavalfee seinetwegen ziemlich nach¬
drücklich geschrieben, weil er sich ge¬
stern gegen Unger sonderbar darüber
ausgelassen, z.B. sehr albern gefordert
hatte, wir sollten ihm erst beweisen, daß
die Preußen das Bild zu Caen gelassen
hätten, da ihm im Gegenteil der Beweis
aufliegen würde, daß sie es mitgenom¬
men. Durch alle solche einfältige Ein¬
wendungen und Schwierigkeiten suchen
die Franzosen nichts wie Zeit zu gewin¬
nen.“ 88 )
In diesem Falle glückte den franzö¬
sischen Behörden ihre Zauderpolitik in
vollstem Maße. Trotz aller Erinnerungen
Grimms und Roberts geschah seitens
der hessischen Regierung nichts weiter;
erst 1826 erinnerte sie sich des verlore¬
nen Bildes und begann neue Unter hand-
36) Stengel S. 68. 37) Stengel S. 96.
38) Stengel S. 69; vgl. S. 50,
Original frurn
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1093 O. Gronau, DieVeriuste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1094
lungen; wie es kam, daß diese zu keinem
Resultat führten, ist ein überaus lehr*
reiches Kapitel für sich.
Heute weiß man durch eine auf amt'
hohes Material gestützte französische
Darstellung, auf welche Weise das Bild
von Rubens im August 1815 den mit der
Fortnahme der Bilder in Caen beauf¬
tragten preußischen Offizieren Unterzo¬
gen wurde. Der Gewalt trat die List ge¬
genüber: der Konservator des Museums,
Elouis, ließ die mächtige Holztafel mit
Papier überkleben, und in dieser Ver¬
hüllung diente der Rubens den im Erd¬
geschoß des Museums selbst einquar¬
tierten Offizieren als — Eßtisch! Die
Wahrheit dieser Nachricht ist um so we¬
niger zu bezweifeln, als sie auf den Sohn
des Konservators selbst zurückgeht,
dem sein Vater die Geschichte oft er¬
zählt hat. 89 ) Den sehr lebhaften Rekla¬
mationen, an denen es Grimm nicht feh¬
len ließ, gegenüber bewiesen die Auto¬
ritäten in Paris ihren guten Willen; sie
sandten .wiederholt neue Anweisungen
zur Herausgabe des Bildes nach Caen.
Hier arbeiteten aber alle Instanzen in
Eintracht zusammen, die Absichten der
französischen Regierung zu durchkreu¬
zen: der Bürgermeister der Stadt hatte
die, sagen wir, Unverfrorenheit, auf ein
39) F. Engerand, Histoire du mus6e de
Caen, 1898, S. 25. Ein Teil der Dokumente
über das Rubenssche Bild ist in einem be¬
sonderen Kapitel III bU abgedruckt: „L’al-
laire du ,Melchis6dech‘ par Rubens“, das
der Verl, in letzter Stunde, wohl weil ihm
seine eigene Wahrhaftigkeit Angst machte,
unterdrückt hat: „ce chapitre a 6t6 volon-
tairement distrait de THistoire du mus6e
de Caen* et tirö sur 6preuves ä 25 exem-
plaires“ besagt das Autogramm des Verf.
auf dem für Eugöne Müntz bestimmten
Exemplar. Eine feine Ironie des Zufalls hat
es gefügt, daß ebendieses Exemplar an die
Stelle gelangt ist, für die es am wenigsten
bestimmt war: an die Bibliothek der Casse¬
ler Galerie.
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Schreiben Lavall6es vom 28. November,
worin dieser die seitens der Höfe von
Cassel und Schwerin beanspruchten Bil¬
der einforderte, zu erwidern, der Kata¬
log der Zuweisungen des Staates ent¬
hielte keine Bilder aus Cassel oder Hes¬
sen (sic!); „dies ist richtig, setzt Verf.
hinzu, denn bei den Zuweisungen des
Jahres 1811 fehlten die Provenienzan¬
gaben.“ „Dank dieser Verzögerungen
kam 1 der 6. März 1816 heran: an diesem
Tage ordnete die Regierung an, jede
Rückgabe der eingeforderten Bilder zu
suspendieren, und der Melchisedek ver¬
blieb dem Museum in Caen.“
Noch einmal, dreizehn Jahre später,
erinnerte man sich in Hessen des nicht
zurückgegebenen Bildes. Der Kurfürst
wandte sich durch seinen Gesandten an
den französischen König, der bereit war,
durch Tausch die Stadt Caen schadlos
zu halten. Wieder arbeiteten die Be¬
hörden der normannischen Stadt in be¬
merkenswerter Weise miteinander; man
wies daraufhin, daß das Gemälde der
„schönste Schmuck“ des Museums sei,
und forderte dementsprechenden Ersatz.
Mit vielem Hin- und Herschreiben ver¬
ging die Zeit; es kam die Revolution
von 1830, die eine Regierung auf den
Thron brachte, die „keineswegs die glei¬
chen Gründe, wie die vorhergehende
hatte, sich den Alliierten angenehm zu
machen: die Angelegenheit hatte keine
Folge weiter, der ,Mechisedek‘ ver¬
blieb dem Museum in Caen und Frank¬
reich, dessen legitimes Eigentum er
war“ (dont il 6tait Ja propri6t6 legitime).
So war es denn den Bemühungen von
Grimm und Unger doch endlich ge¬
glückt, von den an die Provinz abgege¬
benen 21 Gemälden 16 wiederzuerlan¬
gen, zu denen später, wie bereits aus-
geführt, die beiden Bilder aus Brüssel
kamen; nur drei wurden nicht zurückge¬
geben: außer jenem Rubens in Caen das
35*
Original fro-m
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1095 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1 QQ 6
angebliche Bildnis des Hugo Grotius
von Ravesteyn, das in Toulouse, und
eine Landschaft von Both, die in Stra߬
burg verblieb. 40 )
Demzufolge war in der Hauptsache
alles, was einst Denon aus Cassel fort¬
geführt hatte, rückerstattet worden: von
299 Bildern kehrten schließlich nur zehn
nicht an ihre alte Stelle zurück. Dage¬
gen war eine weitere Reklamation« mit
der Grimm, während er in Paris weilte,
beauftragt wurde, um so ergebnisloser.
Mit einem Male wünschte man nämlich
von Cassel aus die Rückgabe von
weiteren 18 Bildern, die aus dem
Schloß geraubt sein sollten, be¬
trieben zu sehen. Grimm war über
diesen neuen Auftrag begreiflicher¬
weise wenig entzückt: „Höchst unan¬
genehm ist es, daß die im Casseler
Schloß geraubten, jetzt erst nacbgefor-
derten Gemälde weder voriges Jahr,
noch diesmal früher zur Sprache gekom¬
men sind, ja daß man weder Quittung,
noch Angabe der wegnehmenden Auto¬
rität zu erbringen vermag.“ 41 ) Jedoch
gab er die Forderung am 26. Oktober an
Quatrem&re de Quincy, der nach dem
Rücktritt Denons von seinem Posten als
Generaldirektor des Louvre interimi¬
stisch dessen Funktionen übernommen
hatte, weiter: „Je viens de recevoir les
40) Sie ist wahrscheinlich bei dem Brand
der Straßburger Galerie 1870 mit unterge-
gangen. 41) Stengel S. 83.
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ordres les plus prgcis de ma cour, de
poursuivre la recherche de ces tableaux
ä reclamer, avec tous les moyens, qui
sont en mon pouvojr.“ **) Wiederum die
gewohnten Ausflüchte, die dieses Mal,
wo die hessischen Kommissare nicht
das offizielle Protokoll der Übernahme
vorlegen konnten, schwerer zu widerle¬
gen waren. Lavallöe behauptete, keines
der Bilder je gesehen zu haben. In dem¬
selben Sinn wie LavallGe äußerte sich
Denon. Demgegenüber konnte sich
Grimm auf die Angabe Ungers stützen,
daß er drei in der Liste ein begriffene
Werke von Ostade, sorgfältig durchge-
geführte Kompositionen in Gouache, vor
ein paar Jahren im Louvre öffentlich
ausgestellt gesehen nabe. 43 ) In einem
Entwurf, der sich offenbar auf diese An¬
gelegenheit bezieht, hat Robert ein paar
weitere Bilder zusammengestellt, Werke
von Wouwermann, Poelenburgh, von
Rubens und Breughel u.a., die nach dem
Katalog des Mus6e royal sich tatsäch¬
lich in Paris befänden. Leider ist die
Liste jener 18 Bilder im ganzen nicht
vorhanden; wahrscheinlich sind sie un¬
ter denjenigen 48 Bildern zu suchen, die
Robert als „unter dem Gouvernement
des General Lagrange fortgekommen“
bezeichnet. Zurückerhalten hat die Cas¬
seler Sammlung von diesen offenbar
nicht ein Stück. (Schluß folgt)
42) Stengel S. 79. 43) Stengel S. 80.
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1097
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
1098
Reich und Nation seit 1871.
Von Friedrich Meinecke. 1 )
So war unser Geschlecht dazu beru¬
fen, einen der größten Tage unserer Ge¬
schichte zu erleben, eine der größten Lei¬
stungen, die von unserem Volke gefor¬
dert wurden, auf sich zu nehmen. Es hat
das gehalten, was es am 4. August ver¬
sprochen hat. Was es extensiv nun lei¬
stete an Aufgebot von Streitern und Mit¬
teln, an persönlicher Kraft und an
Opfern jeder Art, gehört zu dem Äußer¬
sten, was je in der Weltgeschichte von
einem Volke geleistet worden ist. Auch
1813 und 1870 treten davor zurück. Ein
anderes ist es, über den inneren Wert,
die seelische Tiefe, die geschichtliche
Größe unserer Leistung und über die
Bedeutung, die sie im Zusammenhänge
nationaler und universaler Entwicklung
hat, zu urteilen. Zu diesem Urteile sind
die heute Lebenden und Mitwirkenden
noch nicht berufen. Allzunahe liegt die
Gefahr der Selbstbespiegelung, allzueng
ist auch der Horizont des Urteilenden,
da ihm das Morgen und Übermorgen
und das Kriterium der Endwirkungen
fehlt Und doch muß der Versuch einer
vorläufigen Deutung unserer Erlebnisse
gewagt werden, um uns klar zu werden
über das, was wir geworden sind und
werden möchten. Versuchen wir hier, ei¬
niges von dem zu fassen, 'was in dem
Iftiege und vorbereitet durch die Zeiten
vorher an Neuem und Charakteristi¬
schem in Art und Richtung unseres Na¬
tionallebens aufgetaucht ist.
Ein vergleichender Blick auf die Er¬
hebungen von 1870 und 1813 kann uns
den Weg zeigen. Wir fühlen uns in man¬
chem zurück hinter unseren Vorfah-
1) Siehe Heft 8.
ren, in manchem aber weiter. Was
1813 geschehen konnte, war frei¬
lich so singulär, so sehr an eine be¬
stimmte Entwicklungsstufe gebun¬
den, daß seine Wiederkehr so wenig
zu erwarten ist wie die Wiederholung
einer ersten wundervollen Jugendblüte.
Zum ersten Male strömten damals Geist
und Staat großartig zusammen, und der
Geist kam aus den Quellen, die Goethe
und Kant und schöpferischer Idealismus
hießen. Und er konnte sich so, wie es nie
wieder möglich war, in einzelnen Per¬
sönlichkeiten konzentrieren und in die¬
sen eine individuelle Höhe erreichen,
weil alle Lasten und Hemmnisse, die das
19. Jahrhundert dem freien, in sich selbst
ruhenden, aus seinen Tiefen schöpfen¬
den Individuum bereitet hat, noch fehl¬
ten. Dafür aber war der geistige Abstand
zwischen Führern und Massen noch sehr
groß. In patriarchalischer Treue folgten
diese dem Rufe, aber mit ungeklärten
Gesinnungen, vielfach schwerfällig aus
kurzsichtiger Philistrositüt sich empor¬
ringend — denn in durchweg kleinen
und engen Verhältnissen lebte das deut¬
sche Volk. Der gute Wille des kleinen
Mannes, alles an alles zu setzen, war da,
aber erlahmte leicht, weil er noch nicht
erzogen und .durchgebildet war durch
ein anspannendes Leben. Die wenigen
. Großen haben damals die vielen, vielen
Kleinen mit emporgerissen; ohne sie
gäbe es keine Reformzeit und kein 1813.
Auch war die Erhebung, soweit sie die
eigentlichen Volksmassen mitergriff, in
der Hauptsache beschränkt auf das ei¬
gentliche Preußen, wo staatliche und mi¬
litärische Energie durch ein Jahrhundert
schon vorgearbeitet hatte.
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1009
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
1100
Die Erhebung von 1870 umfaßte dann
schon das ganze außerösterreichische
Deutschland und hatte vor der von 1813
den klaren Anblick eines großen, posi¬
tiven Zieles im Kampfe und die einheit¬
liche und geniale Hand in der Leitung
des Kampfes voraus. Alles war länger
vorbereitet und besser organisiert, al¬
les fügte sich leichter ein in die allge¬
meine Schlachtlinie. Man pflückte die
reife Frucht der Nationalbewegung
zweier Menschenalter und der planmä¬
ßigen Politik eines Jahrzehnts. Dafür
fehlte die Frühlingsstimmung, der jüng¬
lingshafte Schmelz, der Reiz des träu¬
menden Erwachens, die Schönheit und
Mannigfaltigkeit der individuellen
Werte von 1813. Der geistige Reichtum
von damals hatte sich zur begrenzteren
geistig-politischen Kraft zusammenge-
drängt, die wohl wiederum in einigen
wenigen Persönlichkeiten überwältigend
gipfelte, aber ,auch in geringeren Dosie¬
rungen weit verbreitet war. Denn man
war vom Träumen des Unerreichbaren
zum Wollen des Erreichbaren erzogen
worden. Man hatte das Fliegen etwas
verlernt, aber das Gehen und Marschie¬
ren besser gelernt.
Noch umfassender, noch massen¬
hafter war die Erhebung von 1914.
Zum ersten Male in unserer Geschichte,
von dem Anlauf von 1848 abgesehen,
standen deutsches und österreichisches
Deutschtum gemeinsam auf. Immer wei¬
tere Wellenkreise zog also das nationale
Bewußtsein in der deutschen Volks- und
Sprachgemeinschaft. Auch die Reste par-
tikularistischer Zurückhaltung, die noch
1870 innerhalb Reichsdeutschlands vor¬
handen waren, waren jetzt ganz ver¬
schwunden. Der mächtige Strom dieser
Entwicklung wird, so muß die histori¬
sche Erfahrung urteilen, nie wieder zu¬
rück zu seinen zersplitterten Anfängen
gehen; er wird vermutlich noch stärker,
□ igitlzed by Gougle
noch umfassender werden. Und die enor¬
me quantitative Vermehrung des deut¬
schen Volkstums seit 1813 und 1870 hat
auch eine qualitative Bedeutung. Ein
Meer ist nicht ein vergrößerter Binnen¬
see, sondern etwas dem Wesen nach an¬
deres und Größeres, denn es gehört zu
den großen Gliederungen des Erdgan¬
zen. Das deutsche Volk ist allein schon
durch die Fülle seiner Menschen und
der von ihnen geleisteten Kulturarbeit
zum Weltvolke geworden, das auf die
ganze bewohnte Erde ausstrahlt Das
prügte sich darin aus, daß man den
Krieg, den es führen mußte, ebensowohl
den Deutschen Krieg wie den Weltkrieg
nennen konnte. Allein schon durch die
Weltgegnerschaft, die ihm aus allen
Erdteilen entgegentrat wurde es, mochte
es nun siegen oder geschlagen werden,
als Weltvolk, als primärer Faktor der
neuen Universalgeschichte aner kann t.
Wir empfinden die Aufgabe, uns einzu¬
reihen unter die älteren großen Welt¬
mächte, schlechthin schon als eine wirt¬
schaftliche Notwendigkeit angesichts
unseres begrenzten Raumes auf dem
Kontinente, unserer wachsenden und
überquellenden Bevölkerung, unseres
elementaren Bedürfnisses, die fehlenden
Nahrungsmittel und Rohstoffe, die uns
die übrige Welt liefern muß, aus ganz
gesicherten Gebieten und auf ganz ge¬
sicherten Wegen zu beziehen und eben¬
so sichere Wege und Gebiete auch für
den Absatz unserer Produkte zu gewin¬
nen. Wir empfinden sie ebenso dringAd
als eine politische Notwendigkeit weil
die alte gepreßte Lage im Herzen des
Kontinents unter dem Doppeldrucke
östlicher und westlicher Groß- und
Weltmächte ihre Gefahren verdoppelt
hat, seitdem diese benachbarten Welt¬
mächte sich vereinigt haben, um unsere
Entwicklung, die ihre alten Jagdgehege
in der Welt bedroht, niederzuhalteit
Original from
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1101
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
1102
Und wir empfinden sie schließlich auch
als eine Notwendigkeit unserer national
len Kultur, die nur gedeihen kann bei
wirtschaftlicher und politischer Freiheit
und Regsamkeit und die den natürlichen
Ehrgeiz hat, die ihr eigentümlichen,
Werte auszubreiten in der Welt, führend
mit einzugreifen in die geistige Gesamt¬
entwicklung der Menschheit. Wir leben
heute, so müssen wir uns sagen, in einer
weltgeschichtlichen Stunde, die darüber
entscheiden wird, ob wir zum Aufgange
oder Niedergange verurteilt sind.
Auch 1813 und 1870 mußte man die
Lage so auffassen, und die heutige ist
der von 1813 vielleicht noch ähnlicher
wie der von 1870, weil uns ein ganz be¬
stimmtes und eindeutiges Ziel fehlt, weil
wir nur kn allgemeinen wissen, was wir
wollen. Wenn es gilt, den Vernichtungs-
plan unserer Feinde zuschanden zu ma¬
chen, schließen wir uns wie ein einziger
mächtiger Stahlblock zusammen. Aber
sogleich gehen unsere Meinungen und
Wünsche auseinander, wenn es sich um
den Siegespreis und um die Mittel
und Wege handelt, unsere innere und
äußere Freiheit und Macht nun
dauernd zu begründen, und es dro¬
hen daran die alten Parteigegensätze
mit neuen Flammen wieder auf-
zulodem. Der Grand dafür, daß wir
uns nicht einigen können, liegt nicht al¬
lein darin, daß uns ein Bismarck fehlt,
der mit genialem Führertritt den besten
und gangbarsten Weg findet. Sondern
ähnlich wie 1813 lähmt uns ein Schwer¬
gewicht komplizierter Machtverhält'
nisse, die durch die geschichtliche Ent¬
wicklung geschaffen worden sind, die
unser aufstrebender Lebensdrang als
gegebene Tatsachen vorfindet. Rings¬
um sind Riegel vor den Türen, die wir
durch alle Siege unserer Waffen nicht
ganz aufstoßen können. Sollen wir un¬
sere Weltentwicklung in großen über¬
seeischen Kolonialgebieten und wach¬
sendem überseeischen Exporte suchen?
Sogleich gewahren wir die Ungunst un¬
serer maritimen Lage und den Riegel der
englischen Seeherrschaft, und unser
Stolz empört sich dagegen, von Eng¬
lands Gnade abhängig zu bleiben. Sol¬
len wir unsere Ausdehnung Und Unseren
Nahrungsspielraum mehr auf dem Kon¬
tinente suchen durch Zurückdrängung
und Schwächung Rußlands? Sogleich er¬
hebt sich da die Aufgabe, das polnische
Problem zu lösen, eine Quadratur des
Zirkels. Sollen wir den nahen Orient zu
unserer Macht- und WirtschaftsspUäre
ausbauen? Sogleich gewahren wir wie¬
der den Riegel der Balkanstaaten, der
sich davor schieben kann und uns ab¬
hängig macht von unberechenbaren po¬
litischen Schwankungen. Wir sollen und
müssen fest mit Österreich-Ungarn Zu¬
sammenhalten, um wenigstens eine
große, geschlossene mitteleuropäische
Sphäre uns zu sichern. Aber alle Ver¬
suche, eine mitteleuropäische Staats¬
und Wirtschaftsgemeinschaft ?u schaf¬
fen, stoßen auf die Schwierigkeit, daß
zwei selbständige Staatspersönlichkei¬
ten nun einmal ihren eigenen Willen und
ihre individuellen Bedürfnisse nie ganz
preisgeben und nie ganz zusammen-
schmelzen können.
Alle diese Schwierigkeiten unserer
Weltentwicklung wurden von uns wohl
vor dem Kriege schon empfunden, sind
uns aber erst durch ihn zum vol¬
len Bewußtsein gekommen. Wir sind wie
eine starke Pflanze, die durch ein Ge¬
mäuer sich emporarbeiten muß. Das äu¬
ßere Schicksal muß ihr Spalten zeigen,
die sie benutzen kann. In der Haupt¬
sache aber muß ihre eigene innere Städte
den Weg bahnen. Worin besteht sie?
Inwiefern ist sie gestiegen oder gesun¬
ken seit den Erhebungen von 1813 und
1870?
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1103
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
1104
Man muß, um die Frage zu beantwor¬
ten, alle ParteiwQnsche, alle konkreten
politischen Ideale einen Augenblick ganz
schweigen lassen und das, was im
Laufe des Jahrhunderts für oder gegen
sie geschehen ist, lediglich daraufhin
prüfen, was sie fflr die Entwicklung
des deutschen Menschen bedeuten.
Denn die Ausbildung und Steigerung
des Menschentums in der Nation ist
der eigentliche Wert, um den es sich
handelt im Auf und Ab der
Geschichte, und in ihr liegen die ei¬
gentlichen Kraftquellen für die politi¬
sche, wirtschaftliche und geistige Ge¬
sundheit und Leistungsfähigkeit der Na¬
tionen. Es ist durchaus nicht gleichgül¬
tig, unter welchen politischen Lebens¬
formen sie sich vollzieht, aber die Wir¬
kung des Staatslebens auf das Men¬
schentum ist viel zu individuell, viel zu
kompliziert und gebunden an Ort, Zeit
und Stufe der Entwicklung, als daß eine
bestimmte einzelne Staats- und Verfas¬
sungsform einen absoluten und dauern¬
den Wert für die Nation beanspruchen
dürfte. Monarchische, konservativ-auto¬
ritäre, liberale, demokratische Ein¬
richtungen sind nichts anderes als ver¬
schiedene Waffen, die der Geist der Na¬
tion je nach dem Kampfplatze und der
Fähigkeit der Kämpfenden neben- oder
nacheinander in die Hand nimmt, und
bald siegt oder unterliegt er mit der ei¬
nen, bald mit der anderen.
Hart nebeneinander stehen sie im
deutschen Staatsleben des letzten Jahr¬
hunderts, und hart nebeneinander liegen
auch ihre Wirkungen und parallelen
Charakterzüge im deutschen Menschen¬
tum des letzten Jahrhunderts. Der mon¬
archisch-autoritäre Staat hat sich uns
trotz aller Massenerhebungen gegen ihn
tief eingeprägt, und gerade diejenige
Partei, die ihn am lautesten leugnet
zeigt seines Wesens Spuren in ihrer
straffen Disziplin und Organisation. Die
Sozialdemokratie arbeitet mit den Waf¬
fen der allgemeinen Wehrpflicht, mit
ihnen arbeitet aber auch das ganze mo¬
derne Deutschland. Auf Organisation
und Disziplin beruhen in großem Um¬
fange die Leistungen unserer Wirt¬
schaft, unserer Technik, unseres Bil¬
dungswesens, durch die wir zu gefähr¬
lichen Nebenbuhlern der älteren Welt-
und Wirtschaftsmächte wurden. Denn
wir vermochten dadurch dem Großbe¬
triebscharakter des modernen Lebens
und der Notwendigkeit der Einordnung
in die großen Verbände besser gerecht
zu werden wie sie. Innere Anlage und
äußeres Schicksal haben uns, wie wir
früher bemerkten, zum Volke der Diszi¬
plin und Organisation gemacht. Nur mit
diesem Panzer vermochten wir, die
spätgeborenen und jüngsten Anwärter
auf Weltbedeutung, aus der furchtbaren
Umpressung durch die Umwelt uns
emporzuarbeiten. Die eiserne Notwen¬
digkeit zwingt uns, ihn in Zukunft eher
noch zu verstärken.
Aber die allgemeine Wehrpflicht, die
wohl die stärkste Wurzel des neu¬
deutschen Zucht- und Ordnungsgeistes
ist, war nicht nur eine autoritäre, son¬
dern auch eine demokratische Einrich¬
tung, die jedem Bürger, den sie ver¬
pflichtete, das stolze Bewußtsein geben
konnte und sollte, daß er den Staat mit
trage und erhalte, daß Wohl und Wehe
des Staates eine Angelegenheit des gan¬
zen Volkes sei Und es wuchs nun über¬
haupt durch Verbreiterung der Bildung,
durch die Erfolge der eigenen wirt¬
schaftlichen Arbeit und durch die politi¬
schen Rechte, die ihm die liberale und
nationale Bewegung verschaffte, das
Selbstbewußtsehl des kleinen Mannes in
Deutschland von Stufe zu Stufe. Er ist
ein anderer Mensch geworden im Laufe
des 19. Jahrhunderts. Man denke nur
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INDIANA UNfVERSITY
1105
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
1106
an die Typen der kleinen Leute, wie sie
die Zeitromane aus den ersten Jahrzehn¬
ten des 19. Jahrhunderts spiegeln. Das
deutsche Volk gilt nicht mehr, wie Heine
und Börne noch höhnten, als das Volk,
das die besten Bedienten hervorbringt
wohl aber (vielleicht schon als dasjenige,
das die besten und zuverlässigsten Ar¬
beiter, Werkmeister, Eisenbahnschaff¬
ner, Handiungsreisenden, Bureau beam¬
ten und Unteroffiziere hervorbringt und
den stärksten Bildungshunger der unte¬
ren Schichten aufweist. Auch der deut¬
sche Bauer hat sich gewandelt, hat die
Spuren der einstigen Unfreiheit abge¬
streift, den Schlendrian des Herkom¬
mens in seinem Betriebe überwunden
und die modernen Künste rationeller
Wirtschaft und genossenschaftlicher Or¬
ganisation gelernt. So hat sich der Un¬
terbau unseres gesellschaftlichen Sy¬
stems innerlich erneuert und den Forde¬
rungen der vorwärts drängenden Zeit
angepaßt. Ohne seine Tüchtigkeit hätte
sich unsere Macht und Wirtschaft nicht
so gesund und gleichmäßig in dem
Sturmschritt, den unsere Entwicklung
zuletzt annahm, entfalten können. Und
•man müßte das Lied vom braven Mann
.Tausenden und aber Tausenden unter
uns singen, wenn man an alle schlichte
und selbstverständliche Leistung, Auf¬
opferung und Tapferkeit im Schützen¬
graben und daheim denkt, die die Mas¬
sen unseres Volkes diesmal im Kriege
geleistet haben. Ohne sie hätten wir
uns nicht siegreich behauptet. Und sie
wurde mit helleren Augen, gewandterer
Hand und kräftigerem, bewußterem
Siirne geleistet als einst von den armen
Leinewebern, die 1813 die Litewka des
Landwehrmannes trugen. Der alte Auto¬
ritätsstaat hätte diesen Typus nicht mehr
hervorzubringen vermocht, er beruht auf
einem ganz eigenartigen, ganz spezi¬
fisch deutschen, aber erst im 19. Jahr¬
hundert möglich gewordenen Zusam¬
menwirken von Autoritäts- und Frei-
heitsgedanken im staatlichen und sozia¬
len Leben.
Wie nun aber Autorität und Freiheit
im deutschen Staatsleben wohl in gro¬
ßen Momenten, aber nicht im Gleichmaß
der Tage harmonisch zusammenklingen,
wie sie sich hier immer wieder stoßen
und reiben, so ist auch im Typus des
deutschen Menschen der unteren und
mittleren Volksschichten eine wehetu¬
ende Unausgeglichenheit entstanden, die
zwar nicht seine Leistung, aber seinen
eigenen menschlichen Wert beeinträch¬
tigt. Er hat für den Glauben der Väter
eingetauscht einen kräftigen materiellen
Egoismus, umrahmt von einer unorgani¬
schen Weltanschauung, die nur zu oft
mehr verneint als bejaht. Er hat mit der
früheren Gebundenheit auch den frühe¬
ren festen Lebensstil verloren und ei¬
nen neuen dafür noch nicht gewonnen.
Herausgewachsen aus den alten stabilen,
zwar dumpfen, aber an natürlicher
Poesie nicht armen Verhältnissen der
deutschen Kleinstadt hineingerissen in
den Wirbel des modernen großstädti¬
schen und industriellen Lebens oder in
die Fremde verschlagen, steht er in den
neuen Verhältnissen wohl zähe seinen
Mann, aber verliert nur zu leicht seine
Haltung, wenn er aus der Arbeitsstätte
in das Leben tritt. Der Erfolg seiner Ar¬
beit und das zufällige Maß der von
ihm selbst gewonnenen Lebenserfah¬
rung steigt ihm zu Kopfe, und der
laute, überhebliche, die verschlun¬
genen Rätsel des Lebens nicht
ahnende Emporkömmling ist fertig,
der bald die Heimat, bald die
Fremde entweder kritiklos überschätzt,
oder ebenso kritiklos heruntermacht
Oder er überträgt die Gewohnheiten der
Disziplin und den Ton der Kaserne auf
das übrige Leben und weckt unnötige
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INDIANA UNIVERSITY
1107
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
Reizung und Verbitterung. Unser Volks¬
leben hat damit eine unholde, ge¬
schmacklose Außenseite erhalten, die die
Meinungen des Auslandes über uns nur
zu stark bestimmt hat. Der feiner ent¬
wickelte Formensinn der älteren west¬
europäischen Gesellschaft wurde von
dem Mißverhältnis zwischen Form und
Inhalt, das der deutschen Kultur von je¬
her zu eigen war, aber nun in ganz neuen
scharfen Zügen hervortritt, um so emp¬
findlicher berührt, je gewaltiger und im¬
ponierender die Erfolge der deutschen
Arbeit wurden. Sie rächte sich damit, sie
als Sklavenarbeit und das ganze neue
Deutschland für ein einziges, seelenlo¬
ses Arbeitshaus zu erklären. Aber sie ver¬
wechselte zum Glück Kem und Schale.
Die subalternen Züge unseres moder¬
nen Volksleben liegen im ganzen doch
mehr an seiner Außenseite als in seinem
Kerne. Die Harmonie von Autorität und
Freiheit ist, so sagten wir, in diesem
lebendig vorhanden. Das alte deutsche
Ungeschick hat es in der plötzlichen
Umgestaltung des äußeren Lebens nur
eben nicht vermocht, sie auch in die¬
sem zum Ausdruck zu bringen. Blöcke
zu wälzen, fällt ihm leichter, als sie zu
behauen.
Auch die Kultur der höheren gesell¬
schaftlichen Schichten Deutschlands
hatte an den Fehlem unserer Tugenden
zu tragen. Das Ideal der ästhetischen Er¬
ziehung, das Schiller ihnen einst aufge-
Btellt hatte, schon deswegen für
den Deutschen viel schwerer zu errei¬
chen als für den Westeuropäer, weil eres
ernster, leidenschaftlicher und gründli¬
cher mit ihm nimmt, mußte im Laufe
des 19. Jahrhunderts in den Hintergrund
treten vor den sich drängenden Aufga¬
ben des schaffenden Lebens in Staat und
Wirtschaft. Aber man darf nun beinahe
sagen, daß der gebildete Deutsche der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in
1108
sillen übrigen Dingen besser erzogen
worden ist als in ästhetischen Dingen.
Bis in die sechziger Jahre hinein be¬
wahrten wir einen, allerdings schon et¬
was dünn werdenden Faden guter künst¬
lerischer Tradition, die uns mit dem fei¬
neren Geschmacke unserer klassischen
Zeit in Handwerks- und Baukunst und
in Lebenssitten verknüpfte. Er riß in der
Überflutung durch die Erzeugnisse der
Massenindustrie und nicht zum wenig¬
sten auch durch das Eindringen neuer,
traditionsloser Familien in die höheren
und führenden Schichten der Nation.
Die praktischen Berufe der Gewerbetrei¬
benden, des Kaufmanns, des Technikers
und Beamten stellten zu ihnen jetzt ei¬
nen viel höheren Prozentsatz, und die
Einheitlichkeit, die ihnen die humanisti¬
sche Schulbildung bisher gegeben hatte,
löste sich, weil die neuen Bemfe zum
Teil aus realistischer Vorbildung kanwii
und weil die humanistischen Schulen
auch selbst nicht mehr vermochten, ihre
mächtig anwachsenden, von unten her
nachdrängenden Schülermassen mit den
alten Traditionen zu durchdringen. In
dieser neuen, bunter gemischten Gesell¬
schaft vergröberten sich die Anschauun¬
gen und Interessen. Das fremde und uns
immer etwas fremdartig bleibende Ele¬
ment der Antike war unserer Bildung
zu einer Zeit tiefer eingeschmolzen wor¬
den, wo es uns am wenigsten fremd¬
artig war, zurZeit unserer Klassiker. Es
hätte sich in lebendiger Frische nur er¬
halten können, wenn es auch weiter von
einer kleinen .auserlesenen bürgerlichen
Schicht getragen worden wäre. Aber die
soziale und geistige Legierung, in der
es damals wirkte, veränderte sich ganc
wesentlich. In der neuen, bunter ge¬
mischten Gesellschaft des vergrößerten
Mittelstandes vergröberten sich die An¬
schauungen und Interessen. Die äl¬
tere humanistische Methode der Persön-
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1100
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
1110
lkhkeitsbildung, an der geschichtlichen
Welt sich emporzu ranken zu eigener gei¬
stiger Freiheit, wurde nun angeklagt
nur ein totes Wissen, nicht das leben¬
dige Können, das die moderne Zeit ver¬
lange, zu überliefern. Aber man erlebte
es nun nur zu oft daß die Verächter ge¬
schichtlicher Bildung kritiklos wurden,
von ganz groben Schlagworten und
ephemeren Zeitbewegungen sich ein fan¬
gen ließen und durch lärmende Energie
ersetzten, was ihnen an innerer Einsicht
und Bescheidenheit des Urteils fehlte.
Der Geist des Emporkömmlings drang
also auch in die gebildeten Stände ein.
Weil aber das alte Deutschland durch
seine aristokratischen, bureaukratischen
und bürgerlich-gelehrten Oberliefe-
ferungen und Einrichtungen den Empor¬
kömmlingen Schranken entgegenstellt
die in einem geschichtsarmen Lande wie
Nordamerika ganz fehlen, so war der
Ehrgeiz der Emporkömmlinge nun viel¬
fach gerade darauf gerichtet, so rasch
wie möglich in die alten regierenden
Schichten hineinzuwachsen und sich ih¬
nen anzuähneln: Der neue bürgerliche
Rittergutsbesitzer wurde zum strammen
konservativen Agrarier, die Söhne des
reich gewordenen Kaufmanns und Fa¬
brikbesitzers ließen das Geschäft ihres
Vaters in eine Aktiengesellschaft ver¬
wandeln und zogen die minder lukra¬
tive, aber sozial angesehenere Laufbahn
des höheren Verwaltungsbeamten, Of¬
fiziers oder ,akademischen Lehrers vor.
Es drang dadurch immer wieder
frisches Blut in den alten Agrar-
und Beamtenstaat ein. Hierin liegt
eine der wirksamsten Ursachen da¬
für, daß sich die konservativen
Anschauungen und Wertungen seit
den achtziger Jahren so stark wie¬
der ausbreiten und zum mindesten be¬
haupten konnten, trotz der immer wei¬
ter schreitenden Industrialisierung des
Wirtschaftslebens. Es war ein in man¬
cher Hinsicht wohltätiger Hemmschuh
gegen eine allzu rasche Demokratisie¬
rung und Nivellierung der deutschen
Bildung und Gesellschaft. Mußten auch,
wie wir bemerkten, trotzdem manche
feineren Traditionen der alten Zeit ver¬
dorren, 60 blieb doch der Stamm er¬
halten, an dem sie einst gewachsen wa¬
ren und von dem sie noch einmal wie¬
der Kraft erhalten konnten. Freilich
auch schlechte Traditionen der alten
Zeit blieben erhalten und wurden
noch schlechter durch den Konvertiten¬
eifer der Emporkömmlinge. Der alte lei¬
dige Kastengeist v und Standeshochmut
wurde von ihnen oft viel schärfer aus¬
geprägt als von den Familien mit alter
aristokratischer und patrizischer Vergan¬
genheit und verschlimmerte die schon
ohnehin so leidenschaftlichen Gegensätze
und Kämpfe der sozialen und wirtschaft¬
lichen Gruppen. Eine harte und lieblose
Gesinnung gegen die feindlichen Volks¬
genossen trat nicht selten hervor und er¬
schwerte die friedliche Verständigung
der bürgerlichen Gesellschaft mit der
sozialdemokratischen Arbeiterschaft
Und innerhalb der bürgerlichen Gesell¬
schaft selber wollte nun auch das alte
lächerliche Erbteil der gedrücktesten
und schwächlichsten Zeiten unserer Ge¬
schichte, die Sucht nach leeren Titeln,
äußerlichen Abstempelungen und gesell¬
schaftlicher* Exklusivität, noch immer
nicht verschwinden.
Aber über allen Obergangskrankhei¬
ten und vielleicht selbst dauernden Be¬
lastungen darf man die große Wirkung
dieser sozialen Umbildungen nicht ver¬
gessen. Die Nation erhielt durch sie eine
sehr viel zahlreichere, mannigfaltiger
und moderner zusammengesetzte Füh¬
rerschaft, kraftvolle Organe für jeg¬
liche Funktion des öffentlichen Lebens,
energische, durch das Leben geprüfte.
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1111
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
1112
durch Weltkenntnis geschulte Naturen
die in jede neue praktische Aufgabe
leicht hmeinwuchsen. Der große Krieg
hat sie alle aufgerufen und in den Dienst
des Vaterlandes gestellt, hat den Gewer¬
betreibenden und Beamten Dinge zuge¬
mutet, die sie früher nie getrieben hat¬
ten, hat dem Heere Massen neuer Re¬
serveoffiziere aus allen bürgerlichen Be¬
rufen zugeführt, die erst durch den Krieg
ihre Befähigung erwerben mußten und
auch erworben haben. Und so hat uns
denn doch unsere vielgeschmähte mo¬
derne Bildung mit allen ihren Mängeln
und Widersprüchen eine enorme Ein¬
schicklichkeit und Anpassungsfähigkeit
gegeben, eine geistige Elastizität, die uns
die Hoffnung gibt, daß sie durch stete
Erprobung, Selbstkritik und Arbeit an
sich auch einen Teil ihrer Mängel noch
einmal überwinden wird.
Das ist der neue Typus des organi¬
sierbaren, zu Arbeit und Kampf gleich
befähigten Menschen, den das feindliche
Ausland anfangs mit Abneigung und
Mißtrauen, dann mit Zorn und Haß bei
uns hat entstehen sehen. Es behauptet,
daß alle wahre persönliche Freiheit und
alle wahre Kultur in ihm unterginge.
Aber das können nur diejenigen behaup¬
ten, deren eigener Freiheits- und Kultur¬
begriff enger und äußerlicher ist als der
unsere, die unter Freiheit die Ellbogen¬
freiheit des Einzelmenschen und unter
Kultur die glattpolierte, bequeme Zivili¬
sation verstehen. Erinnern wir uns, daß
unser Freiheits- und Kultuiideal auf das
Ganze des menschlichen Daseins geht.
Es sieht allerdings den einzelnen um¬
woben und verstrickt in höhere, über¬
individuelle Gewalten, in die Lebensge¬
meinschaften des Staates und des Volks¬
tums, es sieht ihn als Organ und Funk¬
tion in ihrem Dienste an, aber es fordert
seine freie, aus eigener Selbstbestim¬
mung quellende Ergebung in ihren
Dienst. Denn es sieht allenthalben, in
Staat und Geistesleben, im einzelnen
wie in den großen Gesamtheiten, die
Kraft der Individualität wirksam, die
nach eigener Durchsetzung und Gestal¬
tung strebt und sie doch nur finden
kann in den großen Lebenszusammen¬
hängen, wo das Blut des einen in das
Blut des anderen hinüberfließt und der
einzelne vom Ganezn , das Ganze von
den einzelnen getragen wird. Der deut¬
sche Geist hat dieses wunderbare Neben¬
einander von Abhängigkeit und Freiheit
diese innige Verflechtung und Durch¬
wirkung von Individualität und Gemein¬
schaft, wie sie sich schließlich erweitert
zum großen Bilde des Weltalls, wo die
Himmelskräfte auf- und niedersteigen,
vielleicht doch tiefer empfunden und
erkannt als der kühlere, verstandes¬
mäßigere, egoistischere Geist der west¬
europäischen Völker. Er weiß auch sehr
wohl, daß dies ihm vorschwebende
Weltbild des organischen Zusammen¬
hanges von Ich und Welt und von Per¬
sönlichkeit, Staat und Nation immer
mehr Aufgabe und Ziel als erreichte
Wirklichkeit bedeutet und kennt genau
alle Reibungen und oft tragischen Kon¬
flikte zwischen Einzelwillen und Gel¬
samtwillen und zwischen den mannig¬
fachen Bedürfnissen und Betätigungen
des Kulturlebens. Unser Leben schien
vor dem Kriege tief zerrissen zu sein
durch all die verschiedenen rücksichts¬
los gegeneinander anstürmenden Ener¬
gien. Aber als das Schicksal uns riet
ordneten sie sich aus tiefem Instinkte
und aufatmend, vom inneren Zwiespalt
erlöst zu sein, in die große Gemein¬
schaft der Nation ein. Aus allen Lagern
kam das Geständnis, daß man sich jetzt
erst auf dem rechten Wege wisse, jetzt
erst den wahren Sinn von Staat und
Nation verstehe.
Schon vor dem Kriege war auch —
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1113
Fr. Meinecke, Reich und Nation seit 1871
1114
in mancherlei Ansätzen verstreut — ein
neuer Idealismus jm Entstehen, der das
organische WeltgefQhl des älteren deut¬
schen Idealismus und die von ihm ent*
deckten fiberindividuellen Werte mit
dem kräftigen Wirklichkeitssinne und
-dränge der modernen Menschheit zu
verknüpfen unternahm. Er bildete keine
neuen beherrschenden Systeme, ke)ine
neue allgemein verbindliche Philosophie
und Religion und keine neuen harmo¬
nisch geschlossenen Kunstideale und
Stile, denn das moderne, durch skep¬
tische Kritik geschärfte Freiheitsgeffihl
duldet auf diesen geistigst«! Gebieten
keinen Zwang und keine abschließende
Formel Aber er gab der vom Massen¬
druck bedrohten Persönlichkeit den
Trost, daß es sich auch unter ihm leben
lasse und daß die überempirische Welt
des Geistes durch keine noch so stür¬
mische Umwälzung der empirischen
Welt erschüttert werden könne, viel¬
mehr nur neue Bestätigung und neue
Auf&aben durch sie erhalte. Nicht von
der modernen Welt ab, sondern mitten
in sie hinein führte er und bildete über¬
all neue Lebenskräfte, die suchend und
strebend eine Fülle von Anregungen auf
alle Gebiete des Kultur- und Staats¬
lebens ergossen haben. Wie in die
deutsche Gesetzgebung seit den acht¬
ziger Jahren ein neuer Geist eingezogein
ist, der hastend Schritt zu halten ver¬
sucht mit dem Tempo des modernen Le¬
bens, jedem neuen Problem gern bei¬
kommen möchte, morgen verwirft, was
er gestern verfügt hat, aber unabge-
schreckt weiterprobiert und gestaltet,
— so drängte auch unser geistiges
Schaffen von Versuch zu Versuch, ohne
die Geduld, ausreifenzu lassen, was man
gestern gesät hatte, und nirgends sich
bindend für morgen, — eine durch und
durch unklassische Zeit, man möchte
sagen, von einer grundsätzlichen Un¬
fertigkeit. Darum fehlen ihr auch die
großen, allgemein anerkannten und füh¬
renden Geister — wir haben keinen
Goethe und keinen Kant und selbst
keinen Mommsen und Treitsohke unter
uns —, aber sie wimmelt dafür von
lebensvollen Talenten, starken und
trotzigen Charakteren, und jede Führer¬
natur vermochte sich innerhalb der so
gewaltig gewachsenen Menschenmassen
der Nation einen Anhang und eine Ge¬
meinde zu schaffen.. Noch nie war
Deutschland wohl so reich an individu¬
ellen Lebenskreisen, die doch nicht zu
abgeschlossenen Konventikeln entar¬
teten, sondern sich durch Propaganda
und Organisation eifrig auszudehnen
und ineinanderzugreifen suchten. Dar¬
um konnte fast jeder neue und lebens¬
fähige Gedanke darauf rechnen, Men¬
schen und Mittel zu finden, die ihn
trugen, und verbreiteten. Indem das Ge¬
flechte aller geistigen und sozialen Be¬
strebungen immer dichter und ver¬
wickelter wurde und mit ganz neuen
technischen Mitteln arbeiten konnte,
wurde unser gesamtes Weltbild immer
weiter, voller, beziehungsreicher. Es
wuchs damit aber auch die Lust, es
zu ergründen und zu verstehen, es
verfeinerte sich der Sinn für die Man¬
nigfaltigkeit und Kompliziertheit aller
menschlichen Dinge und die behende
Kunst des Einfühlens in fremdartiges
Seelenleben. Dies hatte aber zur Folge,
daß die historische Weit, die eine Zeit-
lang' schon fast entwertet zu werden
schien durch den Bruch so vieler Tradi¬
tionen, zu neuem Ansehen emporstieg.
Sie wurde nicht etwa Vorbild für uns,
aber sie wurde vielleicht zum größten
ästhetischen Werte, den unsere Zeit
heute genießt und an dem sie sich aus-
ruht in den Pausen der Arbeit, freilich
weniger lesend und nachdenkend wie
unsere Großväter, als eifrig schauend
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1115
Max Meinertz, Der‘Apostel Paulus und der Kampf
1116
und von Monument zu Monument ei¬
lend. Aber immerhin, auch die Wissen¬
schaft, obgleich sie mehr will als bloßen
ästhetischen Genuß, konnte doch von
diesem neuen In teresse und den durch sie
geweckten Fähigkeiten Nutzen ziehen.
In Zeit und Ort drang man bis zu den
äußersten Schranken. Unsere Interessen
und Kenntnisse suchen den ganzen Erd¬
ball zu umspannen, und unser geschieht-
licher Horizont hat die Perspektive fast
eines Jahrhunderttausends menschlicher
Entwicklung gewonnen. Schauen und
Schaffen war allenthalben die Losung
— und nicht nur in einem äußerlichen
Nebeneinander. Eine sonst nur dem
handelnden Menschen eigene Wil¬
lensleidenschaft durchwogte auch un¬
ser geistiges Leben, und aus diesem
strömten die Impulse in tausend Ka¬
nälen wieder hinüber in die Welt des
Handelns.
Es war wahrlich keine kleine und ge¬
ringe Zeit, die nun abgeschlossen hinter
uns liegt. Wir konnten sie nie so preisen,
wie einst die Jünger der Aufklärung die
ihrige gepriesen haben, denn wir waren
uns ihrer Unfertigkeit und Zerspaltung
immer bewußt, aber wir fühlten uns
auch nicht als müde Epigonen, denn wir
hatten keine Zeit müde zu sein. Ohne
die Sehnsucht je ganz gestillt zu haben,
die ihr eigenartiges, widerspruchsvolles
Wesen in uns immer wach erhielt, sind
wir in eine neue Zeit mit noch weiteren
und dunkleren Zielen hineingerissen
worden, wie in ein unbekanntes wogen¬
des Meer. Aber unsere Kraft mit Wind
und Wogen zu kämpfen, ist durch den
Weltkrieg erprobt worden.
Der Apostel Paulus und der Kampf.
Von Max Meinertz.
Je furchtbarer der Krieg noch immer
tobt, und je schmerzlicher die Wunden
sind, die er schlägt, um so nachhaltiger
fragt man sich allenthalben nach dem
Recht des Krieges und sucht die Ver¬
antwortung von sich abzuwälzen; gern
werden die ethischen Kriegsziele in den
Vordergrund gestellt. Haben doch un¬
sere Feinde das Schlagwort vom Kampf
um Freiheit und Gerechtigkeit gegen die
Barbarei erfunden und suchen damit die
Welt gegen uns einzunehmen. Sogar Ru¬
mänien hat es ja gewagt, seinem schmäh¬
lichen Verhalten ein sittliches Mäntel¬
chen umzuhängen, nachdem freilich der
größere romanische Bruder und Lehr¬
meister vorher schon das Wort „heilig“
in Verbindung mit seinem Verrate ent¬
weiht hatte. Doch, wie verächtlich uns
dies Gebaren auch erscheinen mag, man
betont doch, wenigstens mit Worten, die
sittliche Seite des Krieges, erkennt so¬
mit das Vorhandensein eines sittlichen
Ideals an, das durch Kampf verwirk¬
licht werden muß.
Die Tatsache ist nicht zu bestreiten,
daß ein wirklicher, echter Kampf um
geistige und sittliche Güter durch die
Menschheit hindurchgeht; insbesondere
haben sich auf religiös-sittlichem Ge¬
biete neue, weltbewegende Gedanken
ohne Kampf nicht ausbreiten, ge¬
schweige durchsetzen können. Das Chri¬
stentum ist dafür ein lebendiger Zeuge.
Schon bald nach der Geburt des Erlösers
sprach der greise Simeon von einem Zei¬
chen, dem widersprochen wird, und wies
auf das Schwert hin, das die Seele der
Mutter des Herrn durchdringen werde.
Das Drama huf Golgotha ist der erste
Höhepunkt dieses Kampfes zwischen
Licht und Finsternis.
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1117
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf
1118
Man hat in der letzten Zeit viel über
das Christentum vom Standpunkte des
Kampfes gesprochen und geschrieben;
man hat auch nach den verschiedensten
Richtungen hin die Stellung Jesu zum
irdischen Krieg und das grundsätzliche
Recht des Krieges vor dem Forum des
christlichen Gedankens untersucht. Aber
man hat dabei meist weniger auf den
großen Herold des Christentums in sei¬
nen Frühlingstagen geachtet, auf den
Apostel Paulus. Und doch gewährt es
einen großen Reiz, gerade den Völ¬
kerapostel in diesem Zusammenhang zu
betrachten. Ist er doch eine Kampfnatur
im edelsten Sinne des Wortes, die kraft¬
vollste Persönlichkeit, die das Urchri¬
stentum aufzuweisen hat. Sein ganzes
Leben ist unter dem Gesichtspunkte des
Kampfes zu verstehen, und zwar nicht
nur in dem abgeschwächten Sinne, daß
alles geistige Streben und Schaffen ein
Kämpfen und Ringen genannt wer¬
den darf: Paulus ist mit Bewußtsein
ein Kämpfer gewesen. Von seinem
Leben aus läßt sich auch' manche
lehrreiche Verbindungslinie zu unserer
heutigen kampferfüllten Zeit ziehen. 1 )
* * *
Das Christentum trat als friedliche
Geistesbewegung in die Geschichte ein;
auf seine Fahnen hatte es den Frieden
geschrieben. Das Liebesgebot in seiner
universalen Form war sein Grundgesetz:
im Gegensatz zum alttestamentlichen
Schwertliede des Lamech: „Wird sieben-
1) Aus der für diese Abhandlung — die als
Festrede bei der diesjährigen Kaiser-Ge¬
burtstagsfeier der Westfälischen Wilhelms-
Universität zu Münster diente — in Betracht
kommenden Literatur sei genannt: Maus-
bach, Kampf und Friede im äußeren und
inneren Leben, Kempten u. München 1915;
Hamack, Militia Christi, Tübingen 1905;
Windisch, Der messianische Krieg und das
Urchristentum, TObingen 1909; Weinet, Die
Stellung des Urchristentums zum Staat,
TObingen 1906.
fältig Kain gerächt, so Lamech sieben-
undsiebzigmal“ (Gn.4,24) steht im Evan¬
gelium das Wort, man solle dem Bruder
siebenzigmal siebenmal vergeben (Mt 18.
22). Das Christentum breitet sich nach
immanenten, göttlichen Kräften in der
Welt aus, wie der Sauerteig die Masse
durchsetzt wie das Senfkörnlein von
winziger Größe sich zu einer hochge¬
wachsenen Staude emporstreckt. Das
Evangelium konnte seinen Siegeslauf
antreten, da die furchtbaren Bürger¬
kriege des römischen Reiches vorüber
waren, da die Menschheit im Frieden
aufatmete und den Friedenskaiser Au-
gustus in überschwenglicher Dankbar¬
keit pries als „Vater seines Vaterlan¬
des“, als „Heiland des ganzen Men¬
schengeschlechtes“. „Denn es erfreuen
sich“, so lauten die Worte einer Ehrenin¬
schrift aus Halikamaß, „Land und Meer
des Friedens; die Städte blühen in wohl-
geordnetem Zustande, in Eintracht und
in Reichtum; jegliches Gute ist in Hülle
und Fülle vorhanden, und die Menschen
sind voll guter Hoffnung auf die Zu¬
kunft und voll guten Mutes für die Ge¬
genwart.“
Auch die Wiege des Christentums ge¬
hörte zum großen römischen Reiche.
Und doch lebte man damals inmitten
des Weltfriedens in Palästina auf vul¬
kanischem Boden. Israel fühlte sich als
das auserwählte Gottesvolk und trug die
römische Oberhoheit als vorüberge¬
hende Verdemütigung mit innerem Knir¬
schen. Hin und wieder kam es zur Explo¬
sion, wie ja auch später ein solcher vul¬
kanischer Ausbruch zu den beiden gro¬
ßen Kriegen unter Vespasianund Hadri¬
an und damit zur Zerstörung Jerusalems
und zur Vernichtung des jüdischen Ge¬
meinwesens führte. Das innere Feuer, das
in Israel stets unter der Asche weiter-
brannte, war die messianische Erwar¬
tung. Man hoffte und sehnte sich
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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kamp!
1120
nach einem messianischen Kriegshelden
aus Davids Geschlecht, der den heiligen
Krieg ansagen und die Römer aus dem
Lande hinausfegen, Israel selbst aber zu
Macht und Glanz und Siegesruhm füh-
ren werde. Diese kriegerische Stimmung
im national-religiösen Sinne leuchtet
aus der apokalyptischen Literatur des
Judentums deutlich hervor, sie be¬
rauscht sich oft an Blut und Haß, sie liest
sich vielfach so wie die leidenschaft¬
lichen Ausbrüche haßerfüllter Verblen¬
dung in französischen Schriften der Ge¬
genwart. Eine solche Schilderung in der
sog. Apokalypse Baruch (40) aus der
Zeit nach der Zerstörung Jerusalems im
Jahre 70 lautet folgendermaßen: „Der
letzte Regent, der alsdann [existiert],
wird lebendig übrigbleiben, wenn seine
großen Scharen vernichtet werden, und
wird gefesselt werden. Und sie werden
ihn auf den Berg Sion hinaufschaffen,
und mein Messias wird ihn zur Rede
stellen wegen aller seiner Freveltaten,
und er wird zusammenbringen und vor
ihn hinlegen alle die Taten seiner Scha¬
ren. Und nachher wird er ihn töten und
den Rest meines Volkes, der sich in dem
Lande, das ich erwählt habe, vorfindet,
wird er beschützen.“
Das ist der kriegerische Messianismus
der jüdischen Eschatologie, also der ei¬
gentliche Krieg im religiösen Interesse.
Als Jesus auftrat, mußte er notwendig
zu solchen Stimmungen und Strömun¬
gen irgendwie Stellung nehmen. Und er
tat es in der Weise, daß er diese Art von
Messiaswürde entschieden ablehnte. Ja,
sein Wort und sein Werk sind so wenig
messianisch in diesem kriegerisch escha-
tologischen Sinne, daß man schon die
merkwürdige Behauptung aussprechen
konnte, Jesus habe gar kein messiani-
sches Selbstbewußtsein besessen. Das
letzte Motiv einer solchen Ansicht, die
man übrigens nach einer Bemerkung
Hamacks nur dann aufrechterhalten
kann, wenn man die biblischen Quellen
aus den Angeln hebt, erinnert an eine Er¬
wägung, die wohl der unglückliche Apo¬
stel Judas angestellt haben wird, da er
den Meister verriet: Jesus kann doch
nicht der Erlöser Israels sein, den ich
bisher in ihm erblickte; sein Verhalten
entspricht so gar nicht dem messiani-
sehen Ideal, wie es in meiner Seele le¬
bendig ist.
Gewiß, Messias im kriegerisch-politi¬
schen Sinne zu sein, lehnt der Herr mit
aller Entschiedenheit ab, und es ist ein
noch gröberes Mißverständnis, wenn
Karl Kautsky ihn in die Reihe der mes¬
sianischen Revolutionäre stellt und beim
Versuch eines Aufstandes durch die po¬
litische Aufsichtsbehörde seinen Tod
finden läßt. Das ist das Extrem nach der
andern Seite hin, wie es nur unter rück¬
sichtsloser Vergewaltigung des Quellen¬
befundes aufgestellt werden kann. In
Wirklichkeit will Jesus Messias sein,
aber Erlöser im ethischen Sinn; er läu¬
tert den jüdischen Messiasbegriff, eben¬
so wie die parallele Vorstellung vom
Reiche Gottes.
Und der Apostel Paulus steht hier
ganz und gar im Bannkreise der Lehren
seines Herrn. Jesus ist ihm Erlöser von
Sünde und Schuld, sein irdisches Leben
in der Erniedrigung, vor edlem der Tod
am Kreuze, dient dazu, die Menschheit
aus den Sklavenketten der gottwidrigen
Macht zu befreien. Aber nun erwar¬
tet der Apostel die Ankunft des Aufer¬
standenen in Kraft und Herrlichkeit zum
Gericht. Dabei schildert er besonders an
einer Stelle (2 Thess. 2.8; vgl. auch
1. Kor, 15,24 ff.) das Strafgericht über
den „Menschen der Sünde“, den „Sohn
des Verderbens“, wie er den Antichrist
nennt, in Wendungen, die an die jüdi¬
sche Eschatologie erinnern: Der Herr Je¬
sus werde den Frevler „hinwegraffen
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1121
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf
1122
mit dem Hauche seines Mundes und ihn
vernichten durch den Glanz seiner An¬
kunft“. Es ist aber zuviel gesagt, daß da¬
mit für dfen Apostel der Messias der Er¬
wartung wieder f( ganz und gar der
Karapfesheld des jüdischen Messianis¬
mus“ geworden sei (W i n d i s c h 70).
Hier handelt es sich vielmehr um Bilder,
die Paulus aus seiner jüdischen Ver¬
gangenheit geläufig waren, die er ver¬
wertet, um den Ger ichtsgedanken
möglichst anschaulich und eindrucksvoll
zu gestalten, für die er übrigens in den
Zukunftsworten Jesu selbst einen An¬
knüpfungspunkt finden konnte. Wie
wenig der Apostel von eschatologischer
Kampfesstimmung beherrscht war, be¬
weist schon die Tatsache, daß solche Bil¬
der sich nur an vereinzelten Stellen
seiner Briefe finden. Und gerade im
zweiten Thessalonicherbriefewird bald
nach der Gerichtsschilderung von der
„Liebe Gottes und der Geduld Christi“
(3,5) gesprochen, während das Schrei¬
ben in dem Wunsche ausklingt: „Der
Herr des Friedens schenke euch Frieden
aller Art immerdar“ (3,16).
Es ist gewiß nicht zufällig, daß das
Wort slQijvi], der Friede, in keinem ein¬
zigen Paulinischen Briefe fehlt; auch das
kleine Schreiben an Philemon enthält es
wenigstens im Grußworte des Ein¬
ganges. Paulus ist sich wie kein zweiter
bewußt, daß das Christentum nichteine
kriegerische Bewegung sei, sondern dem
Frieden in seiner dreifachen Ausgestal¬
tung als Frieden mit Gott, mit dem eige¬
nen Ich und dem Mitmenschen dient.
In den klassischen Mahnungen der letz¬
ten Kapitel des Römerbriefes verlangt
Paulus, Frieden zu halten mit allen Men¬
schen (Röm. 12,18). Aber er leitet das
Gebot mit den Worten ein: „Wenn es
möglich ist, soweit es auf euch an¬
kommt.“ Die mit ehernem Griffel nieder¬
geschriebenen Worte der denkwürdigen
Intaraationale Monatsschrift
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Thronrede vom 1. August des Jahres
1014 lauten wie eine weltgeschicht¬
liche Erläuterung des Apostelwortes:
„In aufgedrungener Notwehr, mit
reinem Gewissen und reiner Hand er¬
greifen wir das Schwert.“
* * *
Einem Paulus als einem religi¬
ösen Genius ist der Blick auf krie¬
gerisches Getümmel ganz gewiß un¬
erfreulich gewesen, einem Christen
hätte er sicherlich niemals den Rat
gegeben, sich zum Soldaten anwer¬
ben zu lassen. Das ist für eine Zeit
um so selbstverständlicher, da das Le¬
ben im Heere des heidnischen Staates
den Christen in Gewissenskonflikte brin¬
gen konnte, da der Soldatenstand in jener
Zeit ganz gewiß nicht der sittlichen
Förderung diente, da für den einzelnen
praktisch keine Militärpflicht bestand.
Allein man darf hier nicht übertreiben.
Gerade weil solche zeitgeschichtlichen
Hemmungen wirksam waren, ist es um
so bedeutungsvoller, daß der Apostel
das römische Heerwesen aufmeiksam
beobachtete und, wie wir noch sehen
werden, in seine Gedankengänge hinein¬
zog, daß er vor allem den Staat als Trä¬
ger der Ordnung und Macht glänzend ge¬
rechtfertigt hat. Die berühmten Worte
am Anfang des 13. Kapitels de« Römer¬
briefes von der Obrigkeit, die
von Gott angeordnet sei, die das
Schwert nicht umsonst trage als Gottes
Dienerin zur Vollstreckung des Zomge-
richtes am Übeltäter, der man Gehorsam
schulde nicht nur des Zorngerichtes,
sondern auch des Gewissens willen,
diese klassischen Worte vertragen kei¬
nerlei Abschwächung. Und es bedeutet
eine Verkümmerung des Paulinischen
Gedankens, wenn man im Hintergrund
dieser Stelle die Lehre vom Satan als
Weltherrscher und seinem Abfall von
Gott erblickt und als besonderen Zweck
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1123
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf
1124
die Warnung der Christen vor der Re¬
volution angibt (Weine 1 24). Die Worte
sind gerade im Zusammenhang des Rö¬
merbriefes viel zu sehr grundsätzlicher
Natur, sie enthalten ein Stück der Pauli¬
nischen Weltanschauung, „ein Zeugnis
seines bewundernswerten Idealismus“
(Jülicher, bei J. Weiß, Die Schriften
des Neuen Test. II * 309).
An einer andern Stelle (Phil. 3, 20)
spricht Paulus den Gedanken aus:
„Unser Wandel ist im Himmel“, und er
braucht hier ein Wort — xoXCtsvfia —,
das vielfach in der Bedeutung einer Ko¬
lonie von Ausländem vorkommt, de¬
ren Organisation nach dem heimi¬
schen Staatswesen benannt ist. Legt
man diesen Wortbegriff zugrunde,
so will der Apostel dem Gedanken
plastischen Ausdruck verleihen: „Wir
haben unser Heimatsreich im Himmel
und sind hier auf Erden eine Kolo¬
nie von Bimmelsbürgern“ (Dibe-
1 i u s im Kommentar zu dieser Stelle).
Darin liegt also einfach die allge¬
mein christliche Vorstellung, daß
der Mensch hier auf Erden keine
bleibende Stätte (Hehr. 13, 14) hat, daß
sein letztes und höchstes Ziel in der
Ewigkeit gegeben ist. Wenn man dann
weiter beachtet, daß die Worte nach
dem Zusammenhang im Gegensatz zu
den „Feinden des Kreuzes Christi“ ge¬
sprochen worden sind, die niedrigen Ge¬
lüsten nachgehen, deren Sinn auf das
Irdische steht, dann sieht man, wieweit
es vom PauUndschen Gedanken abliegt,
zu schließen, es werde hiermit der
Staatsgewalt die innerliche Aner¬
kennung verweigert. Nicht „sein politi¬
sches Bekenntnis“ spricht Paulus vor
der Philippergemeinde aus, sondern ein
religiöses Bekenntnis.
Trägt die Obrigkeit aber das Schwert
zur Vollstreckung des Zomgerichtes an
dem Übeltäter, so muß sie sich im ge-
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gebenen Falle auf militärische Macht
stützen können. Diese Schlußfolgerung
ist dem weltkundigen Apostel ganz ge¬
wiß zum klaren Bewußtsein gekommen.
Und wenn wir ferner keine unmit¬
telbaren positiven Zeugnisse besitzen —
Phil. 1, 13 ist nur gesagt, daß bei
den prätorianischen Soldaten bekannt
wurde, er trage die Fesseln um
Christi willen und nicht als Verbrecher
—, so können wir doch annehmen, daß
die Erfolge seiner Mission sich auch
unter den Soldaten bemerkbar machten.
Er kann dann aber trotz der schon er¬
wähnten zeitgeschichtlichen Verhält¬
nisse nicht verlangt haben, daß der zum
Christentum bekehrte Soldat seinen
Waffenrock ausziehe. Vielmehr wird er
ähnlich wie einst Johannes der Täufer
zu den ihn aufsuchenden Kriegsleuten
gesprochen haben: „Verübt gegen nie¬
manden Gewalt oder Unrecht und seid
zufrieden mit eurem Solde 1“ (Lk. 3,14).
Und weiter konnte er auch auf diesen
Fall seinen Grundsatz anwenden:
„Jeder bleibe in dem Stande, in dem er
berufen wurde“ (1. Kor. 7, 20). Übrigens
hat schon Klemens von Alexandrien
nach diesen biblischen Gedanken zu der
Frage Stellung genommen (Har-
nack58). Und Paulus hätte sicherlich
nicht den Rigorismus eines Tertullian
gebilligt, der in seiner Schrift über den
Götzendienst (Kap. 19) behauptete: Der
Herr habe in der Entwaffnung des
Petrus jedem Soldaten den Degen abge¬
schnallt. Als die Zahl der Christen im
römischen Heere sich mehrte, waren Zu¬
sammenstöße mit der heidnischen Ge¬
walt unvermeidlich; in den Christenver-
folgungen haben die Soldaten oft ganz
besonders zu leiden gehabt, wie eine
Reihe noch erhaltener Märtyrerberichte
zeigt.
Der Begriff des Volksheeres in dem
vollendeten Sinne, wie wir es heute be-
Original from
INDIANA UNIVERSITY
1125
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf
1126
sitzen, war der alten Zeit unbekannt;die
' hohen sittlichen Kräfte, die in ihm und
in seiner Betätigung zur Verteidigung
des Vaterlandes lebendig sind, treten
in unseren Tagen jedermann mit leuch¬
tenden Farben ins Bewußtsein. Sie er¬
fahren auch vom christlichen Stand¬
punkt aus ihre verklärende Weihe. Das
ändert freilich nichts an der Tatsache,
daß die zeitgeschichtlichen Verhältnisse
einem Paulus dem Soldatenstande ge¬
genüber Zurückhaltung auferlegten. Vor
allem aber hat er dem religiösen Leben
die eigentlich kriegerische Gesinnung
der jüdischen Eschatologie ferngehalten.
* *
*
Und doch, er ist selbst ein Kämpfer
gewesen, mehr wie sonst eine hervortre¬
tende Persönlichkeit des Urchristen¬
tums. Die Kunst hat sich daran gewöhnt,
den Völkerapostel mit einem Schwerte
abzubilden. Gewiß darf man darin einen
Hinweis auf den Martertod erblicken,
den das römische Richtschwert verur¬
sacht hat. Aber man möchte darüber
hinaus das Schwert als Symbol des
Kampfes einen Wesensteil der apostoli¬
schen Persönlichkeit versinnbilden las¬
sen.
Von der ersten Zeit an, da Saulus-
Paulus unserm geistigen Auge erreich¬
bar ist, steht er als Kämpfer da.
Er gehört zu jenen Helden der Ge¬
schichte, deren Leben in zwei mit
scharfem Schnitt getrennte Hälften
auseinanderklafft. Wie verschieden
man heute auch über die Einzeler¬
klärung des Vorganges vor den Toren
von Damaskus denkt, wie sehr vor ed¬
lem die psychologische Verkettung des
Ereignisse zur Debatte steht — darüber
herrscht kein Zweifel, daß ein gewalti¬
ger Stoß den Christenverfolger innerlich
zusammen brechen ließ, und daß sich als¬
bald ein neuer Mensch wie ein Phönix
aus der Asche erhob. Ein innerer Kampf
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endete mit einem entscheidenden Sieg
auf der ganzen Linie. Es war der erste
und schwerste siegreiche Kampf, der
dem Leben einen neuen Inhalt gab,
der den erbitterten Christenfeind zum
machtvollsten Vorkämpfer des Christen¬
tums umwandelte. Paulus hat sich selbst
besiegt, oder, wie er es in bescheidener
Selbsterkenntnis empfand und aus¬
sprach: die Gnade hat den Widerstand
überwunden.
So sehr aber dieser Kampf und dieser
Sieg vor Damaskus die Richtung des
neuen Lebens unverrückbar festlegte,
es ist doch nicht zu verkennen,
wie ein ständiger Kampf mit dem
eigenen Ich das ganze Leben des
Apostels immer wieder in Spannung
hält. Es ist ein Kampf mit seinem
schwächlichen Körper, und es ist ein
Kampf mit der sinnlichen, niederen Na¬
tur, mit der wie er sich gern aus¬
drückt. Die Spuren, die dieser Kampf in
den apostolischen Briefen zurückgelas-
sen hat, sind oft ergreifender Natur. Aus
dem Selbstbekenntnis des zweiten Ko-
rintherbiiefes (12,7 f.), da er von dem
Stachel redet, der seinen Leib ver¬
wundet, fühlen wir deutlich ein gewal¬
tiges Ringen heraus. Paulus war von
Natur aus keine feste Gesundheit be-
schieden, irgendein Leiden schafft ihm
Beschwerden, so daß der eiserne Wille
nicht immer ausreicht, um den Körper
in den Dienst zu zwingen. „Dreimal habe
ich den Herrn gebeten, daß er von mir
ablasse“; es ist nicht der selbstsüchtige
Wunsch nach Wohlfahrt und Bequem¬
lichkeit, vielmehr besteht der Grund für
die Bitte in sittlichem Heldentum ohne¬
gleichen. Die Schwäche empfindet erals
Gegengewicht gegen Selbstüberhebung,
er will von ihr nur darum befreit sein,
weil er seinem Leib dann eine um
so stärkere Belastung in unermüdli¬
cher Missionsarbeit Zutrauen zu können
36*
Original from
INDIANA UNIVERSITY
1127
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf
112t
glaubt. Aber er ist auch sofort getröstet
und befriedigt, da seiner Bitte Erhörung
versagt und die Antwort zuteil wird:
„Es genügt dir meine Gnade.“ So setzt
er denn, ohne zu verzagen, den Kampf
mit seinem Körper fort, zwingt ihn zur
Ertragung unerhörter Strapazen und
ist in diesem Kampfe auf die Dauer auch
Sieger geblieben. Ja, wenn er einmal,
wie in Galatien, körperlich zusammen*
bricht, dann weih er dieser Not auch
eine lichte Seite abzugewinnen: Ist sie
doch die Ursache gewesen, daß er einen
lüngeren Aufenthalt bei den Galatern
nehmen mußte und das Wort Gottes mit
reichem Erfolge verkünden konnte, hat
sie ferner den galatischen Christen die
Möglichkeit gegeben, ihr Christentum in
Werken der Barmherzigkeit zu betätigen
und so zu festigen (Gal. 4, 13 f.).
Aufreibender und schmerzlicher war
für den Apostel der Kampf mit sich
selbst, soweit das sinnliche und sittliche
Leben in Frage stand. Wie sehr er die
sittliche Anstrengung als Kampf im
eigentlichen Sinne des Wortes auf¬
faßt, zeigen die Ausdrücke, mit denen er
sie schildert. Die Zeit, da ihm die Gnade
die siegreichen Waffen in diesem
Kampfe noch nicht in die Hand ge¬
drückt, steht ihm so lebendig vor der
Seele, daß die einstige Aufregung des
Kampfes in ihr noch nachzittert (Röm.
7, 22 f.): Der innere Geistesmensch tritt
nach dem Bilde des Römerbriefes dem
Gliedergesetze gegenüber; dieses Ge¬
setz liegt, wie er es ausdrückt, „im
Kriege mit dem Gesetze meiner Ver¬
nunft“, ja es bringt ihn in Kriegsgefan¬
genschaft in dem Gesetze der Sünde. Da
bedarf es eines starken Feldherm, der
die Fesseln sprengt; und der ist ihm in
Christus mit seiner erlösenden Gnade er¬
standen. Der Feind im eigenen Innern ist
aber noch nicht endgültig besiegt und
unschädlich gemacht; der Kampf geht
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dauernd weiter: „Mensch sein, heiß:
Kämpfer sein“, das Wort gilt auch hier:
„Wenn ihr durch den Geist die Werk
des Leibes tötet, so werdet ihr leber
(Röm. 8,13). Einmal vergleicht er siet
(1. Kor. 9,261.) mit einem Wettkämpfer ia
der Arena; der Gegner ist der sinnliche
Leib. Und da braucht er ein der Fechter¬
sprache entlehntes technisches Wort.r
zerschlage seinen Leib und knechte ihc.
um so den Sieg über ihn zu gewinne*
und des ewigen Kampfpreises nicht ver¬
lustig zu gehen. Der Kampf ist ja auch
stets aussichtsreich, da ein mächtiger
Verbündeter zur Seite steht: „In allen
sind wir siegreich durch den, der uns ge¬
liebt hat“ (Röm.8,37).
So ist das sittliche Eigenleben des
Apostels ein ständiger Kampf und
auch ein fortdauernder Sieg. Von seinen
Grundsätzen aus hätte er das Wort des
indischen Weisen — so sehr im übrigen
das christliche Ideal dem weltmüden
Buddhismus femesteht — sich zu eigen
machen können:
»Nicht wer Zehnhunderttausende von Kämp¬
fern in der Schlacht gefällt.
Wer einzig nur sich selbst besiegt, der
wahrlich ist der größte Held.* *)
Das ganze apostolische Leben und
Wirken zeigt in lebendiger Fülle, wie
weit sein hochgemuter Sinn das Herab¬
ziehende, Kleinmenschliche, Selbstsüch¬
tige überwunden und eine geschlossene,
nur dem Ideale dienende Persönlichkeit
gebildet hat. Was dieses Vorbild in der
eisernen Zeit der Gegenwart, die
* höchste sittliche Anspannung aller
Kräfte auf das eine hohe Ziel hin, Ver¬
zichtleistung auf manche Lebensge¬
wohnheit, Verbannung edler selbstsüch¬
tigen, kleinlichen Gesinnung von jedem
2) Dhammapadam 101 Zitiert bei Ber-
tholet, Religion und Krieg, in: Rellgions-
geschichtliche Volksbücher V, 20, Tübingen
1915, 26.
Original frurn
INDIANA UNIVERSITY
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf
1130
tapf 1129
Me&f einzelnen verlangt, an Kraftwirkung
föä auszuströmen vermag, benötigt nicht
c is näherer Ausführung. Nur ein Wort, das
nr? in dem herzlichen Dankesbriefe für Lie-
besgaben aus Philippi steht (PhiL4,
fE lis 11—13), darf ich in diesem Zusammen«
;r i a hange nennen, weil es als Merkwortvor-
anzuleuchten imstande ist: „Ich habe ge*
lernt, in jeder Lage genügsam zu sein,
r Ich verstehe es, mich demütigen zu las«
v sen, ich verstehe auch, Überfluß zu
haben. Mit allem und jedem bin ich ver-
traut: satt zu sein und zu hungern, Über¬
fluß zu haben und Mangel zu leiden. Al¬
les vermag ich in dem, der mich stärkt.“
* * *
Eine solche sittliche Hochspannung
ist eine der Quellen für die beispiellosen
Erfolge des apostolischen Arbeitens.
Wie sie das Ergebnis eines zähen
Kampfes mit dem eigenen Ich darstellt,
so bedeutet die Missionstätigkeit auch
ihrerseits in der Vorstellung des Apo¬
stels einen Kriegsdienst und ein sieg¬
reiches Ringen. Das Wirken des Apo¬
stels steht im Zeichen des Kampfes. Man
hat die Vermutung ausgesprochen, daß
das natürliche Verlangen, für das reli¬
giöse Ideal kämpfend zu werben, schon
den Juden Paulus zum Missionar für das
Judentum bestellt hatte: ob mit Recht,
ist jedenfalls nicht zu beweisen. Doch
so viel ist gewiß: die Berührung mit der
christlichen Bewegung in Jerusalem
löste in dem überzeugten Pharisäer eine
solche Kampfesstimmung aus, daß sie
sich in der Tat der Verfolgung austoben
mußte. Aus dieser Gesinnung heraus ist
der Kriegszug nach Damaskus gebo¬
ren. Es war religiöser Fanatismus; er
nennt sich ja selbst einmal später im
Rückblick auf jene versunkene Periode
seines Lebens einen „übertriebenen Eife¬
rer für die Überlieferungen meiner Vä¬
ter“ (Gah 1,14). Und was er im Briefe an
die römischen Christen (10,2) von sei¬
nen ehemaligen Glaubensgenossen sagt:
„sie haben Eifer für Gott, aber nicht mit
Verständnis“, galt von ihm in gleicher
Weise. Sein Fanatismus war durch und
durch ehrlicher Natur; er wußte es eben
nicht besser. „Unwissend und in Un¬
glauben“, so lautet eins seiner späteren
Selbstbekenntnisse (1. Tim. 1, 13). Man
mag an ein edles Roß denken, das wild
dahinstürmt, ehe es gebändigt worden
ist.
Als nun aber die Entscheidungsstunde
geschlagen hatte und das christliche
Ideal mit allen Fasern des Herzens er¬
griffen war, da nahm der Feuergeist den
Kampf für dieses Ideal auf und suchte
durch doppelten Eifer das wieder gutzu¬
machen, was er auf der früheren Bahn
verfehlt. Seine Missionsarbeit erscheint
ihm als Kriegsdienst Zwar hat er noch
nicht, wie es später einem Tertullian z.B.
geläufig war, Christus imperator ge¬
nannt, aber er fühlt sich und seine
Mitarbeiter doch als Soldaten. Den
Abgesandten der Philippergemeinde
Epaphroditus nennt er geradezu sei¬
nen „Mitsoldaten“ (PhiL 2, 25), eben¬
so einen gewissen Archippus in Ko-
lossä (Phm. 2). Timotheus wird mit
einem „guten Soldaten Christi Jesu“
(2. Tim. 2,3) verglichen, er soll „den gu¬
ten Kampf kämpfen“ (I. Tim. 1,18). In die¬
sen Gedankengängen begreift man es,
wenn er sein gutes Recht, als Entgelt
für die Mühen den Lebensunterhalt von
den Gemeinden beanspruchen zu dürfen,
mit dem Vergleiche beweist: „Wer tut
jemals Kriegsdienste für eigenen Sold“
(1. Kor. 9,7)? Allerdings hat er in Korinth
wie so oft auf dieses Recht verzichtet
und durch eigener Hände Arbeit sein
kärgliches Brot verdient. Dafür kann er
aber wieder den Korinthern in scherz¬
hafter Wendung erklären: „Andre Ge¬
meinden habe ich geplündert und mir
den Sold von ihnen geben lassen,um
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1131
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf
1132
euch zu dienen" (2. Kor. 11,8). Freilich
sind die Waffen, mit denen er kämpft
und die er seinen Christen in die Hand
geben will, nicht von Eisen und Stahl.
Er nennt sie in den verschiedensten
Wendungen Waffen des Lichtes (Röm.
13,12), Waffen der Gerechtigkeit (Röm.
6,13; 2. Kor. 6,7), gegenüber den Waffen
der Ungerechtigkeit (Röm. 6,13); er
spricht vom Panzer des Glaubens und
der Liebe und von der Hoffnung auf das
Heil als Helm (1. Thess.5,8). Sehr an¬
schaulich schreibt er nach Korinth (2. Kor.
10,3 ff.): „Wir wandeln zwar im Fleische,
ziehen aber nicht nach dem Fleische zu
Felde. Denn die Waffen unseres Feld¬
zuges sind nicht fleischlich, sondern
mächtig vor Gott zur Zerstörung von
Festungen, indem wir Pläne vernichten
und jedes Bollwerk, das sich gegen die
Erkenntnis Gottes erhebt." Am bekann¬
testen ist die tiefsinnige und bis ins ein¬
zelne gehende Schilderung der geist¬
lichen Waffenrüstung im Epheserbriefe
(6; 14 f.): „So stehet denn da, eure Len¬
den gegürtet mit Wahrheit, angetan mit
dem Panzer der Gerechtigkeit, beschuht
an den Füßen mit der Bereitwilligkeit
für das Evangelium des Friedens; zu al¬
ledem nehmet auf den Schild des Glau¬
bens, mit dem ihr alle feurigen Ge¬
schosse des Bösen auslöschen könnt.
Und ergreifet den Helm des Heiles und
das Schwert des Geistes, das da ist
das Wort Gottes." Die Stelle ist schon in
der patristischen Zeit wiederholt ver¬
wertet worden, ja Tertullian hat in sei¬
ner stark militärischen Sprache im Hin¬
blick auf sie gesagt, Paulus habe die Sol¬
daten, d.h. die Christen, mit Waffen
vollständig ausgerüstet (De fuga 10).
Es ist bezeichnend, daß mitten in die¬
sen ?o kriegerisch klingenden Worten
die Bereitwilligkeit für das Evangelium
des Friedens gepriesen wird. Aller
Kampf hat ja als Endzweck die Errei¬
chung des Friedens, und der Gegner, der
mit diesen Geisteswaffen als Friedens¬
störer niedergerungen werden soll, sind
für Paulus die feindlich gesinnten Gei¬
stermächte. Der Kampf geht nicht, so
sagt er, bevor die Schilderung der Waf¬
fenrüstung beginnt, „gegen Fleisch und
Blut, sondern gegen die Mächte und Ge¬
walten, die Weltherrscher dieser Fin¬
sternis, die Geisterwesen der Bosheit in
der Himmelswelt" (Eph.6,12). Der Sieg
ist trotz der Kraft des Feindes nicht all¬
zuschwer. Denn Christus selbst hat sie.
wie es an einer anderen Stelle heißt
(Kol. 2,15), bereits entwaffnet, öffentlich
zum Spotte gemacht und im Triumphe
einhergeführt
Paulus denkt hier an den Tod und die
Erhöhung des Erlösers. Das Evangelium
bietet uns aber auch Beispiele für den
Kampf und den Sieg des irdischen Je¬
sus über die feindlichen Geistermächte.
Und gerade solche evangelischen Erzäh¬
lungen sind es, die uns den guten Hirten
als „Löwen aus dem Stamme Juda" zei¬
gen, die jene übersehen, welche, wie H.
St. Chamberlain einmal klagt, „das hohe
Antlitz des Menschensohnes aller kraft¬
vollen Züge“ beraubt und das „Trugbild
einer unbeschränkten Duldsamkeit, einer
allgemein wohlwollenden Passivität uns
als Christentum hingemalt" haben. (Die
Grundlagen des neunzehnten Jahrhun¬
derts I 6 [Volksausgabe, München o. J.J
240.) Wo Paulus im Bericht der Apostel¬
geschichte diesen Spuren des Meisters
folgt, erscheint er wie ein überlegener
Feldherr, dem seine Feldhermkunst den
raschen Sieg gewiß macht Ein anschau¬
liches Beispiel dafür bietet die Befrei¬
ung einer Magd aus Philippi von ihrem
Wahrsagegeist. (Apg. 16, 16 ff.)
Aber auch wenn der Apostel in seinen
Briefen gegen Sünde und Laster eifert,
klingen seine Worte oft wie Schlachten¬
lärm; er handhabt das Wort Gottes, das
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[ND1ANA UNfVERSITY
1133
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kamp!
1134
da ist „schärfer als jedes zweischneidige
Schwert“ (Hebr.4,12). Diese machtvolle
Sprache mag der hl. Hieronymus — ne¬
ben den noch zu erwähnenden Feuer¬
blitzen, die Paulus gegen die Feinde sei¬
nes Evangeliums schleudert — beson¬
ders im Auge gehabt haben, wenn er ein¬
mal seinen Eindruck dahin zusammen¬
faßt: „So oft ich ihn (Paulus) lese,
glaube ich nicht Worte zu hören, son¬
dern den Donner“ (Ep. 48 ad Pamma-
chium; bei Migne, P. gr. XXII 502).
Wie der Apostel sich als Kämpfer ge¬
gen das eigene Ich weiß, so verlangt er
Gleiches von den Christen seiner Ge¬
meinden; die Geisteswaffen, mit denen
er sie ausgerüstet hat, sollen sie auch
anwenden. „Laß dich nicht vom Bösen
überwinden, sondern überwinde im Gu¬
ten das Bösel“ (Röm. 12,21). „DennGott
hat uns nicht einen Geist der Furcht ge¬
geben, sondern der Kraft und der Liebe
und der Besonnenheit“ (2. Tim. 1,7). „Ihr
habt im Kampfe wieder die Sünde noch
nicht bis aufs Blut Widerstand ge¬
leistet“, heißt es im Hebräerbrief (12,4).
Auch vom „Kampfe des Leidens“ wird
dort einmal gesprochen (10,32). Der Sol¬
dat muß zum Leiden und zum Opfer
stets bereit sein, und so kann an Timo¬
theus die bedeutsame Mahnung ergehen
(2.Tim.2,3—5; vgl. 1,8); „Ertrage mit (mir)
Leiden als ein guter Soldat Christi Jesu.
Keiner, der Kriegsdienste leistet, läßt sich
in die Geschäfte des Lebens ein; sonst
wird er dem Kriegsherrn nicht gefallen.“
Dann geht das Bild zum Kampf in der
Arena über, und es heißt weiter: „Aber
auch, wer im Ringkampfe auftritt, wird
nur dann gekrönt, wenn er der Ordnung
gemäß kämpft.“
Übertragen wir diese Worte einmal
aus der religiösen Sphäre, für die sie ge¬
schrieben, auf das hohe sittliche Gut des
Vaterlandes und seine Verteidigung in
der Gegenwart, dann ergeben sich über¬
raschende Beziehungen: Jeder einzelne
Deutsche hat sich heute als ein „guter
Soldat“ zu betrachten, als ein Kämpfer
an der Stelle, wo das Vaterland ihn
braucht. Daß dazu das bereitwillige
Ertragen von Leiden und Entbehrungen
gehört, muß sich die Heimat sa¬
gen, in noch viel höherem Maße aber
die Feldgrauen draußen an der Front
Der Kriegsherr — und durch ihn das
ganze Vaterland — verlangt, daß die
Geschäfte des Lebens, die Sonderbestre¬
bungen, ja, wenn es sein muß, der bür¬
gerliche Beruf hintangestellt und die
gesamten Kräfte für die große Sache ein¬
gesetzt werden. Das Kämpfen „der Ord¬
nung gemäß“, d. h. nach den Anordnun¬
gen des Feldherrn, gilt vom Soldaten
wie vom heimatlichen Arbeitsheer. Nur
wenn die Bestimmungen von allen, die
es angeht, ohne Rücksicht auf die Be¬
quemlichkeit und das eigene Besserwis-
senwollen durchgeführt werden, ist der
Sieg, ist die Krönung gewiß.
Wie sehr der Apostel seine Person für
das Ideal des Gottesreiches restlos ein¬
gesetzt hat, geht auch daraus hervor,
daß er das Bild vom Kämpfer bis zu den
letzten Konsequenzen durchgedacht und
für sich in Anspruch genommen hat: die
Bereitwilligkeit, im Kampfe das Leben
zu lassen. Er ist zwar überzeugt, daß
sein Tod ihn mit Christus in unlösbare
und unmittelbare Verbindung bringen
wird, und empfindet danach Sehn¬
sucht; „aber am Leben zu bleiben ist nö¬
tiger um euretwillen“ (PhiLl,24). Die
Sorge für seine Christen steht ihm also
in erster Reihe, und so begibt er sich auch
nicht leichtsinnig in Gefahr und sucht
sein Leben zu erhalten, solange es mög¬
lich ist. Das hindert aber nicht, die freu¬
dige Bereitwilligkeit voranzustellen:
„Und wenn ich auch mein Blut vergießen
soll zum Opfer uhd zur Weihe eures
Glaubens, so freue ich mich und freue
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INDIANA UNIVERSITY
1135
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf
1136
mich mit euch allen" (Phil. 2,17). Die
Bereitschaft hat ja schließlich in der Tat
zum Martertode geführt. Kurz bevor das
Schwert sein edles Leben beendete, hat er
in Worten, die man mit Recht sein Testa-
ment nennt, sein Lebens werft noch ein¬
mal unter dem Bilde eines Kampfes zu¬
sammengefaßt: „Ich habe den guten
Kampf gekämpft den Lauf vollendet,
den Glauben bewahrt“ (2 Tim. 4,7). Nun
sieht er vor sich den Siegeskranz der Ge¬
rechtigkeit, den er vom Herrn erhalten
wird.
Noch weitere Bilder, die dem Kriege
und dem Heerwesen entlehnt sind, finden
sich in den Paulinischen Schriften zer¬
streut, so der Trompete, die zum Kampfe
ruft (1. Kor. 14, 8), von der Schlacht¬
ordnung (Kol. 2$), vom Triumph (2. Kor.
2, 14), vom Siegespreis, der abge¬
sprochen werden kann (Kol. 2,18), von
der Kriegsgefangenschaft (Röm.7,23;
2.Kor.lO,5; Eph.4.8; Kol.4,10; Phm. 23,
2. Tim. 3,6). Alle Bilder, die Paulus ver¬
wertet, sind naturgemäß dem Milieu ent¬
nommen, in dem er gelebt hat, und ver¬
langen oft eine genaue Kenntnis dieser
Umwelt, um den Gedanken mit all sei¬
nen Feinheiten voll auszuschöpfen. Wie
man die Reden Jesu nur auf dem Hinter¬
gründe von Palästina, insbesondere dem
des gaiiläischen Volkslebens, ganz ver¬
stehen kann, so zeigt sich bei Paulus der
antike Großstädter. Je mehr durch die
zahlreichen unliterarischen Texte uns
das Volksleben des Altertums anschau¬
lich gemacht wird, um so besser dringen
wir in die Paulinische Vorstellungswelt
ein.
* • *
So viel hat sich ja gezeigt, daß der
„Militarismus" im Leben des Apostels
eine bedeutende Rolle spielt, und zwar
nicht nur als abgegriffenes Bild; Pau¬
lus führt wirklich dis Soldat Christi
einen geistlichen Kampf. Es ist nun in¬
teressant zu beobachten, wie in späterer
Zeit dieser Paulinische „Militarismus"
noch verschärft worden ist. Gegen Ende
des zweiten Jahrhunderts hat ein klein-
asiatischer Presbyter „aus Liebe zu Pau¬
lus", wie er nach dem Zeugnis Tertulli-
ans (De baptismol7) selbst gestand,
einen Paulusroman geschrieben, den wir
als Akten des Paulus noch besitzen. Dar¬
in. tritt der Apostel — ebenso wie die
übrigen Christen — wiederholt als Sol¬
dat Christi auf; noch nach seiner Hin¬
richtung erscheint er dem Kaiser Nero
und stellt sich mit den Worten vor:
„Kaiser, ich bin Paulus, der Soldat
Gottes. Ich bin nicht tot, sondern lebe.“
Wie weit der Paulus dieses Romans mi¬
litärisch denkt, ergibt sich am deutlich¬
sten aus einem Gespräch, das er nach
seiner Gefangennehmung mit Nero
führt. Der Haftbefehl ist ergangen, nach¬
dem der Mundschenk des Kaisers, Pa¬
troklus mit Namen, „Soldat jenes
Königs" geworden ist „Du Mann des
großen Königs," so herrscht ihn Nero
an, »Jetzt mein Gefangener, was fiel dir
ein, in das römische Reich einzudringen
und Leute aus meiner Herrschaft anzu¬
werben I“ Paulus aber wurde vom heili¬
gen Geiste erfüllt und sprach vor allen:
„Kaiser, nicht nur aus deiner Herrschaft
werben wir an, sondern auch aus der
ganzen WeltL Denn das ist uns aufge¬
tragen, niemanden auszuschließen, der
meinem König Kriegsdienste leisten will.
Und wenn es dir selbst beliebt sein
Krieger zu werden — nicht der Reich¬
tum oder deine glänzende Stellung im
Leben werden dich retten, sondern wenn
du dich unterwirfst und ihn annifst
wirst du gerettet werden. Denn an einem
Tagewirderdie Welt bekriegen." Später
erklärt der Apostel vor der Hinrichtung
dann noch einmal von sich selbst: „Ich
bin nicht ein entlaufener Sklave Christi,
sondern ein treuer Soldat des leben-
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
1137
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf
1138
digen Gottes,“ (Der Text in deutscher
Übersetzung bei Hennecke, Neutesta-
mentliche Apokryphen, Tübingen und
Leipzig 1904, 381 f.)
Die Worte klingen freimütig, wenn
auch nicht gerade „fast aufrührerisch“
(Hamack 22). Sie tragen die Farben
stark auf, bewegen sich aber im wesent¬
lichen in dem Vorstellungskreis, der uns
beim geschichtlichen Paulus entgegen¬
tritt. Das Bild vom Heeresdienst ist in
seinen Einzelheiten weiter ausgemalt.
Eine Ähnliche Verschärfung des Pau¬
linischen Gedankens findet sich gele¬
gentlich in der altlateinischen Über¬
setzung. Jede Übersetzung einer Schrift
ist deren erster Kommentar. Es begreift
sich ja leicht daß der Übersetzer von
der Umgebung abhängig ist in der er
lebt, daß er sich willkürlich oder un¬
willkürlich von Stimmungen und Ge¬
danken leiten läßt die seiner Auf¬
fassung entsprechen, und daß er sie in
den zu bearbeitenden Text hineinträgt
So ist es ja bekannt, daß im Heliand
Christus als der Sachsen Heiland er¬
scheint der allwaltende Herrscher der
Völker, dessen Wiege in der Burg von
Bethlehem stand, der von seinen ge¬
treuen Schwertdegen umgeben ist. Um¬
gekehrt soll Ulfiias nach der Ansicht
des eunomiamschen Kirchenhistorikers
Philostorgius aus dem 4. Jahrhundert
die Übersetzung der alttestamentü-
chen Königsbücher unterlassen ha¬
ben, weil darin zuviel von Kriegen
erzählt werde und die Goten ein
kriegslustiges Volk gewesen seien, das
eher einen Zügel als einen Antrieb sei¬
ner Kriegslust brauchte. Diese Moti¬
vierung gehört ja zweifellos ins Reich
der Fabel (Vgl. Streitberg bei Paul,
Grundriß der germanischen Philologie
11,1,Straßburg 1901— 09,22; A.Schulz,
Die sittliche Wertung des Krieges im
Alten Testament, in: Bibi. Zeitfragen
VII, 10, Münster i. W. 1915,3f.) allein be¬
zeichnend bleibt die antimilitaristische
Auffassung dessen, der sie ausgeklügelt
Es ließe sich leicht an Einzelbeispielen
zeigen, wie stark die Übersetzer aller
Sprachen dem Bibelworte ihren Geist
aufgeprägt haben. Uns interessiert hier
vor allem ein Paulinisches Beispiel. Im
Römerbriefe (6,23) verwertet der Apo¬
stel das packende Bild von der Sünde,
die ihren Anhängern als Kriegslöhnung
den Tod darbietet: „Der Sold der Sünde
ist der Tod, die Gnadengabe (%<£pt0pa)
Gottes aber ist ewiges Leben in Christus
Jesus unserem Herrn.“ Der Satz ist nur
in seinem ersten Teile durch das mili¬
tärische Bild bestimmt, die zweite Hälfte
spricht allgemein vom ewigen Leben als
einer Gnadengabe Gottes. Da hat nun
aber die altlateinische Übersetzung, wie
sie uns bei Tertullian vorliegt, das
Wort „die Gnadengabe“ mit donativum
wiedergegeben. Und wir wissen aus man¬
chen Belegen, wie sie sich z. B. noch im
römischen Recht erhalten haben (Digest
49,16,10,1; bei Roensch, Das N.T.Ter-
tullians, Leipzig 1871,666 f.), daß dona¬
tivum das kaiserliche Gnadengeschenk
an die Soldaten bedeutete, während Sti¬
pendium der ihnen rechtlich zustehende
Sold war. So ist durch den Gebrauch
dieses Wortes auch die zweite Hälfte
des Paulinischen Satzes militarisiert
und, wie man anerkennen muß, das an¬
schauliche Bild plastisch verstärkt wor¬
den: Der Sünder erhält von seiner
Dienstherrin, der Sünde, den ihm recht¬
lich gebührenden Sold, nämlich den
Tod. Aber Gott gibt seinen Kriegsleuten
in voller Freiheit und Freigebigkeit das
überreiche Gnadengeschenk. (Weitere
Beispiele bei P.Corssen, Zwei neue
Fragmente der Weingartner Propheten¬
handschrift, Berlin 1899,50. Vgl. Har-
nack 36f.).
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1139
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kamp!
1140
Der vorhin schon erwähnte Gedanke
von den Waffen zur Zerstörung der Fe¬
stungen, zur Vernichtung feindlicher
Pläne und Bollwerke(2.Kor. 10,3!.) ist ge¬
genüber einer Richtung im apostolischen
Zeitalter ausgesprochen worden, die
dem hl. Paulus das Leben sauer machte.
Der Apostel hatte nicht nur den Kampf
gegen die feindlichen Geistesmächte, ge¬
gen Sünde und Ungerechtigkeit zu füh¬
ren und zu organisieren, er mußte viel¬
mehr seine Waffen auch gegen feindlich
gesinnte Menschen wenden, vor allem
gegen die sog. Judaisten, d. h. die eng¬
herzigen Judenchristen, und gegen das
ungläubige Judentum. Paulus stand dem
Volke, aus dem er hervorgegangen, in¬
nerlich auch als Völkerapostel sehr nahe ;
er liebte sein Volk mit der ganzen Glut
seines großen Herzens, es schmerzte ihn
bitter, daß er Israel in seiner Mehrzahl
auf Wegen wandeln sah, die nach seiner
Erkenntnis ins Verderben führten, er
spricht einmal die geradezu heroisch
klingende Bereitwilligkeit aus, für seine
Stammesbrüder von Christus, seiner
ganzen Lebenskraft, verbannt zu sein,
wenn er ihnen dadurch nützen könnte
(Röm. 9,3).
Paulus hat keine Gegenliebe gefun¬
den; er galt als verächtlicher Renegat,
gegen den die Schleusen des Hasses of¬
fen stehen durften. Wenn irgendwo, so
gilt hier das Wort von „Leidenskämp¬
fen“, das der Hebräerbrief (10,32) ge¬
prägt hat. Die verschiedenartigsten Ver¬
suche wurden von jüdischer Seite ange¬
stellt, um die Erfolge der Paulinischen
Tätigkeit zu vereiteln. Im pisidischen
Antiochien wiegelten sie die vornehmen
Frauen auf, um durch sie die maßgeben¬
den Männer der Stadt gegen den Apo¬
stel in Bewegung zu bringen (Apg. 13,
50). In Thessalonich bestachen sie den
Pöbel von der Straße, machten mit ihm
einen Auflauf und brachten die Stadt
in Aufregung (Apg. 17,5), — übrigens ist
es besonders artig, daß gerade hier der
Pöbel durch Bestechung revolutioniert
wird, wenn man bedenkt daß das alte
Thessalonich mit dem heutigen Saloni¬
ki identisch ist. In Korinth wurde der
Versuch gemacht den römischen Statt¬
halter Gallio, den Bruder des Philoso¬
phen Seneka, gegen Paulus, einzuneh¬
men, freilich ohne Erfolg (Apg.
18, 12 ff.)
Es ist überhaupt bezeichnend, daß der
Apostel mit den römischen Behörden
und dem römischen Militär im allge¬
meinen gute Erfahrungen gemacht hat.
Die Apostelgeschichte nimmt durch die
Art ihrer Berichterstattung auf diese
Tatsache offenkundig Rücksicht. Als die
Juden in Jerusalem die Wut gegen Pau¬
lus wegen der angeblichen Verletzung
eines ihrer zäh hochgehaltenen Privile¬
gien zur Siedehitze gebracht hatten und
der im Aufruhr Ergriffene in Gefahr
stand, von der erregten Menge gelyncht
zu werden, griff das römische Wacht-
kommando ein und rettete so dem Apo¬
stel das Leben. (Apg. 21, 27 ff.) Vor al¬
lem war die Gefangenschaft in Rom so
milder Art, daß er trotz der Haft seinen
apostolischen Beruf mit Erfolg ausüben
konnte; und auch die Briefe, die dieser
Gefangenschaft entstammen, atmenden
Geist des werbenden Kampfes für
das christliche Ideal.
Gewiß ist das Verhalten der staatli¬
chen und städtischen Behörden nicht im¬
mer zuvorkommend gewesen. In der lan¬
gen Aufzählung seiner Leiden im zwei¬
ten Korintherbriefe (11,23ff.) —Worte,
die zum Ergreifendsten gehören, was der
Apostel geschrieben — steckt auch man¬
ches Ungemach, das von dieser Seite
ausging. Einmal berichtet er von sich
selbst (l.Kor. 15,23), er habe in Ephesus
mit wilden Tieren zu kämpfen gehabt
Wenn man diese Aussage im wörtlichen
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1141
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf
1142
Sinne versteht, so enthält sie den Gedan¬
ken, daß dem Apostel sogar dieser
schmähliche Kampf in der Arena vom
Richter auferlegt worden ist. In neuerer
Zeit mehren sich die Stimmen, die diese
buchstäbliche Erklärung der Aussage
verteidigen, sei es, daß Paulus zum Tier¬
kampf nur verurteilt, dann aber begna¬
digt worden wäre, sei es, daß er wirk¬
lich in der Arena gestanden habe. Es
gibt auch eine alte Legende, die davon
berichtet, wie ein gewaltiger Löwe auf
den Apostel eindrang, wie er sich dann
aber schmeichelnd zu seinen Füßen
legte. Ich halte diese ganze Auffassung
aus mehreren Gründen für verfehlt; die
„wilden Tiere“, von denen der erste
Korintherbrief redet, sind böse, feind¬
selig gesinnte Menschen. Immerhin ist
es bezeichnend, daß Paulus seine Stel¬
lung zu ihnen mit dem Bilde eines Tier¬
kampfes veranschaulicht. In welchem
Geiste er aber solche Leiden ertrug, das
hat er in den hochgemuten Worten
selbst gesagt: „Es ist mir wohl in
Schwachheit, Mißhandlungen, Nöten,
Verfolgungen, Bedrängnissen um Christi
willen. Denn wenn ich schwach bin, bin
ich stark“ (2. Kor. 12, 10).
In der schon erwähnten Liste der Lei¬
den aus dem zweiten Korintherbriefe
findet sich auch der Satz: „Gefahren un¬
ter falschen Brüdern.“ Er meint damit an
erster Stelle jene Richtung der Juden¬
christen, die ihm in Korinth selbst, aber
schon vorher in Galatien, in Antiochien
und Jerusalem so arg zugesetzt hatten.
Der Judaismus war die Hauptgefahr, die
dem Paulinischen Werke drohte. Ihm ge¬
genüber fühlte der Apostel sich im stärk¬
sten Sinne des Wortes als Kämpfer, ja
man darf hier fast von einem heiligen
Kriege sprechen. Das gilt vor allem we¬
gen der grundsätzlichen Bedeutung der
Frage für eine großzügige Heidenmis¬
sion; doch hat sich an die grundsätzliche
Seite auch viel Persönliches, kleinlich
Unerquickliches angeschlossen, das dem
Apostel das Leben verbitterte. Und ihm
ist dieser Kampf gegen die „falschen
Brüder“ oft schmerzlich genug gewesen,
er hat es dann als Trost empfunden,
wenn seine Christen ihm treu blieben
und sich fest um ihn scharten. Es ist ja
überhaupt das Los überragender Per¬
sönlichkeiten, die mitten im Geistes¬
kampfe stehen, die Menschen zu zwin¬
gen, sich für oder gegen sie zu entschei¬
den. Und es ist ein Zeugnis für ihre Be¬
deutung, wenn man erkennt, daß diese
Entscheidung sich in leidenschaftlicher
Feindschaft oder in unbegrenzter An¬
hänglichkeit äußert.
Eine Entscheidungsschlacht wurde
dem Judaismus auf dem sogenannten
Apostelkonzil geliefert; Paulus wußte,
was für die große Sache auf dem Spiele
stand. Man hatte gehofft, als äußere Be¬
stätigung des gesetzesfreundlichen
Standpunktes die Beschneidung des hei¬
denchristlichen Paulusschülers Titus er¬
zwingen zu können. Allein so sehr der
Apostel in kleinen Dingen nachzugeben
bereit war, so sehr er sich bemühte, den
Juden ein Jude, den Griechen ein Grie¬
che zu sein, um alle zu gewinnen —
wenn es sich um einen wichtigen Grund¬
satz handelte, dann blieb er stahlhart.
Und so kämpfte er für sein gesetzes¬
freies Evangelium wie ein Feldherr um
die entscheidende Stellung; als Erfolg
blühte ihm der Sieg in vollem Maße.
Der geschlagene Feind wagte von da
an den offenen Kampf mit dem überle¬
genen Führer nicht wieder aufzuneh¬
men, um so mehr suchte er die Wirk¬
samkeit des Apostels auf Schleichwegen
zu hemmen. Zu den Mitteln, die ange¬
wendet wurden, gehörte auch die Herab¬
setzung der apostolischen Würde, die
Verächtlichmachung seiner Person, ja
man scheute sich nicht vor Verleumdun-
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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kamp!
1144
gen: er betreibe die Geldsammlung für
die Muttergemeinde in Jerusalem zu
selbstsüchtigen Zwecken, er beute
die Christen listig aus (2. Kor. 12,
16). Einmal, allerdings unter ganz
andern Verhältnissen, hat er sogar
vor einem Briefe, den man auf
seinen Namen gefälscht, warnen müs¬
sen (2. Thess. 22 ).
Paulus ist in das lichtscheue Treiben
mit dem Schwerte seines Wortes dazwi¬
schen gefahren. Es sind die schärfsten
Wendungen, die sich überhaupt in sei¬
nen Briefen finden, mit denen er die ju-
daistischen Verführer straft. Er heifit sie
Lügenapostel, trügerische Arbeiter, die
nur die Maske von Aposteln Christi tra¬
gen (2. Kor. 11, 13); er nennt sie „Zer¬
schneidung“ in ätzender Umdeutung des
Begriffes der Beschneidung, auf die sie
so stolz sind (Phil. 3,2); „sie mögen sich
selbst verstümmeln, die euch aufwie¬
geln,“ ruft er ihnen schroff entgegen
(Gal. 5,12) und anderes mehr. (Vgl. Gal.
l,8f.; 2Kor. 11,20; Röm.16,18; Phil.
3, ia)
Die Worte klingen hart, aber sie sind
nicht der Widerhall persönlicher Belei¬
digungen, sondern sie entringen sich der
empörten Seele, die Gefahr für die
Sache des Evangeliums erblickt. Es sind
Worte des Kampfes um die heilige
Sache. Sittliche Entrüstung muß man
heraushören, wenn er denen ein Ana¬
thema zuruft, die das Evangelium
Christi verfälschen (Gal. 1,8 f.); aber es
ist zuviel gesagt, wenn man von „aufge¬
regter Wildheit“ spricht. Vollends un¬
gerecht und geradezu verständnislos ur¬
teilt Fr. Nietzsche, der dem Apostel ge¬
meinen Racheinstinkt der Enterbten und
versteckten Haß vorwirft. Gerechter
Zorn verhält sich zu niedriger Rache wie
heldenmütiger Kampf fürs Vaterland zu
Morden und Sengen. Wie wenig der zor¬
nige Kampf seine Seele umdüstert und
in die Sphäre des Hasses hinabgezo¬
gen hat, erkennt man deutlich daran, daß
er, man möchte sagen: im gleichen
Atemzuge mit den Kampfesworten sein
liebevolles Herz ausschüttet Im Galater¬
brief lösen die rollenden Donnerworte
zarte und feine Töne ab,‘in denen sich
geradezu mütterlich liebendes Empfin¬
den für die Christen offenbart (Gal. 4,
13 ff 19). Vielleicht-nirgendwo fällt die¬
ser Gegensatz von Stimmung und Ton
so stark auf wie im Schreiben an die
Phiüpper: der intime, gütige und gemüt¬
volle Grundton des Briefes und dazwi¬
schen das Strafgericht über die Juda¬
isten, Wer sich in die leidenschaftlich
große Seele des Apostels nicht hinein¬
zudenken vermochte, ist sogar zu der
Meinung gekommen, daß solche Gegen¬
sätze die literarische Einheit des Briefes
sprengten.
Paulus hat nie das umfassende Lie-
besgebot des Meisters aus dem Auge
verloren; ja er hat im Römerbrief
(12,14 ff.), wie man sich mit Recht aus¬
gedrückt hat, den ältesten Kommentar
zu den Worten Jesu geschrieben. Frei¬
lich ist die christliche Liebe nicht jenes
schwächliche Pflänzchen, das die frische
Luft nicht vertragen kann; auch sie ist
eine Kämpferin: „Die Liebe sei rückhalt¬
los: Habt Haß gegen das Böse, Anhäng¬
lichkeit an das Gute" (Röm. 12,9). Wenn
es sich wirklich um rein persönliche
Kränkung handelt, bei der die große
Sache nicht in Mitleidenschaft gezogen
ist, dann weiß der Apostel schnell und
aufrichtig zu verzeihen. Wie fein
schließt er sich mit den korinthischen
Christen (2. Kor. 2,10) zu einer Einheit zu¬
sammen in dem Falle, den manche auf
eine unmittelbare Kränkung durch ein
Gemeindemitglied beziehen: „Wem ihr
aber vergebt, dem vergebeichauch. Denn
was ich auch meinerseits vergeben habe,
wenn ich überhaupt etwas zu vergeben
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Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kampf
1146
hatte, habe ich euretwegen im Ange-
gesichte Christi getan.“ Nach dem Phi¬
lipperbrief muß er beobachten, daß
einige seine Gefangenschaft benutzen,
um „aus Neid oder Streitsucht“ das
Evangelium zu verkündigen. Aber er trö¬
stet sich rasch; das Motiv trifft nur seine
Person, und sie steht zurück, der Sache
wird ein Dienst geleistet: „wenn nur
Christus gepredigt wird“ (Phil. 1,18).
* * *
Haß und niedere Rachgier finden im
Herzen des Apostels keinen Raum. Aber
dem Kampf für sein Evangelium ist er
niemals ausgewichen, wo er ihn für not¬
wendig erachtete. Dann aber kannte er
kein Ansehen der Person, er tritt auch
dort fest und zielbewußt auf, wo sein
Gegner ihm nahestand. Unter diesem Ge¬
sichtswinkel darf man die Gesamtheit
der Paulinischen Bemühungen um die
religiös-sittliche Hebung seiner Gemein¬
den verstehen. Jeder einzelne Christ ist
ihm ein geliebtes Kind im Herrn, aber
gerade darum scheut er nicht davor zu¬
rück — erbraucht selbst einmal das Bild
(1. Kor. 4,21) —, gelegentlich auch mit der
Zuchtrute zu drohen. Es sind ernste
und scharfe Worte, die er der korinthi¬
schen Gemeinde sagen muß; doch wie
sehr er gerade für sie besorgt ist, zeigen
seine unermüdlichen Anstrengungen
durch persönliche Besuche, durch Sen¬
dung vertrauter Schüler, durch Briefe.
Ja, einer dieser Briefe, den wir nicht
mehr besitzen, dessen Existenz aber mit
einiger Wahrscheinlichkeit aus dem ka¬
nonischen zweiten Korintherbriefe er¬
schlossen werden kann, muß so bittere
Wahrheiten enthalten haben, daß er die
Leser im tiefsten Innern getroffen hat;
es ist schon die Vermutung ausgespro¬
chen worden (Deißmann, Paulus, Tü¬
bingen 1911,48), er sei uns deswegen
nicht mehr erhalten, weil die Korinther
ihn im ersten Zorn zerrissen haben. Aber
wie fein weiß er den strengen Worten den
Stachel zu nehmen und ihnen eine ethi¬
sche Weihe zu geben. „Aus großer Not
und Herzensangst“, so erklärt er,
„schrieb ich euch unter vielen Tränen,
nicht damit ihr betrübt würdet, sondern
damit ihr die Liebe erkennet, die ich für
euch in reichem Maße besitze“ (2. Kor.
2,4). Und noch feiner heißt es an einer
späteren Stelle in scheinbarem, geistvol¬
lem Widerspruche weiter: „Wenn ich
euch auch mit meinem Briefe betrübt
habe, so reut es mich nicht. War es mir
auch leid — denn ich sehe ja, daß jener
Brief euch, wenn auch nur für den Au¬
genblick betrübte —, so freue ich mich
jetzt, nicht weil ihr betrübt wurdet, son¬
dern weil ihr betrübt wurdet zur Reue“
2. Kor. 7, 8 f.)
Also nicht aus Lust an der Fehde
schlägt Paulus Wunden, sondern um zu
heilen. Je näher die Gemeinde ihm steht,
um so mehr brennt die Wunde, aber
nicht nur im Herzen des einzelnen Chri¬
sten, sondern auch in der eigenen Seele.
„Die Liebe ist rückhaltlos.“ Wenn es der
Förderung der Sache dient, scheut der
Apostel auch nicht davor zurück, sich
von seinen treuen Mitarbeitern zu tren¬
nen. Auf der ersten Missionsreise hatte
Johannes Markus in schwächlicher Ge¬
sinnung die beiden Missionare Paulus
und Barnabas vorzeitig verlassen. Pau¬
lus befürchtet daher, als er sich zu einer
zweiten großen Reise mit Barnabas zu¬
sammen anschickt, von einer erneuten
Teilnahme des Markus, in seinen weit¬
gehenden Plänen behindert zu werden.
So weigert er sich, Markus mitzuneh¬
men, obwohl Barnabas auf der Anwe¬
senheit seines Verwandten bestand. Pau¬
lus läßt es aber lieber zum Streit und
zum Bruche kommen, verzichtet also
auch auf die Gemeinschaft mit seinem
alten Gefährten und Freunde Barnabas
(Apg. 15,37 ff.). Es ist nicht Rechthaberei
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1148
Max Meinertz, Der Apostel Paulus und der Kamp!
und Unverträglichkeit, sondern Hintan¬
setzung aller andern Rücksichten hinter
der Erwögung: Wie richte ich den Mis¬
sionsfeldzug am meisten fruchtbringend
ein ? Ein anhaltender Groll gegen Markus
ist keineswegs zurückgeblieben. Als er
später mehr gereift und gefestigt war, hat
der Apostel ihn gern wieder herangezogen.
Von größerer Bedeutung war ein
Strauß, den Paulus mit dem Apo¬
stel Petrus in Antiochien auszu¬
fechten hatte (Gal. 2, 11 f.), der die
ganze Größe der apostolischen Kraft
und des apostolischen Freimutes auch
einer „Säule“ — er nennt ihn selbst so
(Gal. 2,9) — gegenüber in helles Licht
stellt. Es handelt sich um eine Frage, die
mit dem Paulinischen Kampf gegen die
Judaisten eng zusammenhängt. Petrus
hatte in Jerusalem mit den beiden ande¬
ren „Häuptern“ Jakobus und Johannes
zusammen dem Apostel die „Rechte der
Gemeinschaft“'gegeben und so das ge¬
setzesfreie Paulinische Evangelium an¬
erkannt. Dementsprechend pflegte er bei
einem Besuche in Antiochien, einer
Hauptwirkungsstätte des Apostel Pau¬
lus, ungezwungen den Verkehr und auch
die Tischgemeinschaft mit den Heiden¬
christen. Als aber von judenchristlicher
Seite dagegen Bedenken geltend ge¬
macht wurden, zog er sich wieder
von den Heidenchristen zurück. Und
nun erhob sich die Gefahr, daß
bei den Christen Verwirrung ent¬
stehen, daß die volle Ebenbürtigkeit
der Heidenchristen wieder in Frage
gestellt werden konnte. Petrus hat
hier eine Schwäche gezeigt, indem er
sich einschüchtem ließ und die Trag¬
weite seines Schrittes nicht bedachte;
von seinem Standpunkte aus mag er ge¬
meint haben, aus Gründen der Zweck¬
mäßigkeit klug zu handeln, um sich nicht
den Einfluß bei den Judenchristen und
damit die Möglichkeit einer fruchtbaren
Mission zu verscherzen. Aber Paulus
blickte weiter und erkannte, daß das
Verhalten des Apostels bei seinem ho¬
hen Ansehen grundsätzlich gewertet
werden konnte und dann seiner eigenen
großzügigen Wirksamkeit unter den
Heiden schwere Hemmnisse bereiten
mußte. Darum scheute er sich nicht, dem
hl. Petrus in öffentlicher Versammlung
„ins Angesicht zu widerstehen“ und ihm
sein schwankendes Verhalten vorzuwer¬
fen. Über den weiteren Verlauf des
Streites sind wir nicht mehr unterrichtet;
da er nicht grundsätzlicher Natur war,
kann eine dauernde Verstimmung bei
den großen Aposteln, die nur der Sache
Christi dienen wollten, nicht die Folge
gewesen sein.
Die Einheit im kirchlichen Leben hat
er dadurch nicht geschädigt; im Ge¬
genteil: der Kampf diente auch hier nur
der positiven Förderung, indem er die
Keime möglicher Zwietracht im Entste¬
hen bereits unschädlich machte. Nie¬
mand ist ja so machtvoll für Einheit und
Einigkeit aufgetreten als gerade Paulus.
Der Epheserbrief ist das hohe Lied die¬
ser Einheit, und im ersten Korinther¬
briefe bildet der Kampf gegen zer-
set^nde Bestrebungen den Inhalt eines
wichtigen Teiles. Wie sehr ihm dabei die
eigene Person hinter der Sache zurück¬
trat, beweist die Tatsache, daß er die
Berufung auf seinen Namen als Losung
einer Partei ebenso verurteilte wie den
parteiischen Anschluß an Petrus oder
Apollos (1. Kor. 1, 12f.).
* * *
Einheit und Eintracht verlangt auch
das vaterländische Interesse in der gegen¬
wärtigen ernsten Stunde und über die
augenblickliche Zeit des Werdens hin¬
aus für die Zukunftseritwickelung des
Deutschen Reiches. Gewiß ist Einheit
nicht Einerleiheit. Und auch dem Apo¬
stel ist diese Tatsache vom Standpunkte
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Nachrichten und Mitteilungen
1150
des Gottesreiches aus gegenwärtig ge- düng ausgesprochen: „Hieronymus be-
wesen, .wenn er z.B. gleichzeitig mit dem findet sich hier in derselben Lage wie
Lobpreis der „Einheit des Geistes 44 im viele, bei welchen der Eifer für das
Epheserbrief (4,1 ff.) auf die Mannigfal- Wahre und Gute größer ist als die Ein-
tigkeit der Geistesgaben „nach dem sicht in das, was wahr und gut ist. Möch-
Maße de Gabe Christi 44 hinweist. Ge- ten diese in Hieronymus ein warnendes
gensätze bleiben auch im neuen Deutsch- Beispiel vor schneller Verdächtigung
land zurück, ja es wäre nicht einmal finden und lernen, was es heiße: nur der
wünschenswert, wenn die auseinander- Geistige weiß, was des Geistes ist; Au¬
sgehenden Interessen auf den mannig- gustins Vorbild aber belehre die un¬
faltigen Gebieten des Lebens künstlich schuldig Angegriffenen, daß der gute
niedergehalten würdÄi. Der Kampf für einfältige Wille zu ehren sei, auch
das als richtig erkannte Ideal wird stets wenn er irrt 41 . (Gesammelte Schriften
sein Recht behalten. Allein es braucht und Aufsätze I[Regensburg 1839] 14.) Es
kein Kampf verbunden mit der Ver- machen sich ja in der Gegenwart schon
nichtungsabsicht zu sein, es braucht namentlich auf dem Gebiete der Ernäh-
beim Gegner nicht böser Wille vor- rungsfragen sowie dem der Erörterung
ausgesetzt zu werden; ebenso wie unserer Kriegsziele manche Gegensätze
kleinliche Empfindlichkeit ist jede bemerkbar, die nicht mehr im Geiste
zersetzende Kritik vom Übel. Zumal eines gesunden Ausgleiches der Kräfte
dann, wenn sie vom Mißtrauen eingege- vertreten werden. Aber wir wollen der
ben ist und aus unberufenem Munde frohen Erwartung leben, daß das nur
stammt, wirkt sie verbitternd. Der be- Wellen sind, die die Oberfläche des
kannte Möhler hat einmal in einem fein- Meeres kräuseln, und daß der in harter
sinnigen Aufsatz über einen höchst Kriegszeit gewaltig vertiefte vaterländi-
lehrreichen Streit der beiden abendlän- sehe Gedanke alle auseinanderstreben-
dischen Kirchenlehrer Hieronymus und den Kräfte doch schließlich in einer
Augustinus, der sich um das Verstand- Richtung zusammenhält: in der Liebe
nis des vorhin erwähnten Zusammen- zum gemeinsamen Vaterland und der
Stoßes zwischen Petrus und Paulus Förderung seiner Macht und Größe,
dreht, die beachtenswerte Nutzanwen-
Nachrichten und Mitteilungen.
Rudolf Kjettens neuestes Buch. lesen, so steht Kjelten heute als historisch-
Als kurz vor Ausbruch des Krieges das politischer Betrachter und Denker, bemüht
Buch: „Die Großmächte der Gegenwart“ bei um überschauend eindringende Erkenntnis
Teubner erschien, war der Name des Ver- der gewaltigen Wehen, die unsere Welt
fassers — Professor damals in Gotenburg, durchschütteln, im Ausland an vorderster
heute an der Universität Upsala — in Stelle. Zu Ende des nächsten Jahres brachte
Deutschland nur seinen nächsten Fachge- die Hirzelsche Sammlung „Zwischen Krieg
nossen vertraut. Wie aber wohl jeder, der und Frieden“ Betrachtungen über „Die
in sich aufgenommen hatte, was hier an Ideen von 1914“, die Frage beantwortend:
reicher Belehrung auf mäßigem Raum in „Welche geistigen Werte •kann uns 1914
einer sehr glücklich gewählten festen und schenken statt der gepriesenen von 1789,
deutlichen Gliederung des Stoffes geboten die es uns entreißen will?“ In einer in
wird, im stillen sich sagte: Was von die- Inhalt und Form an Carlyle erinnernden
sem Manne noch zukünftig in deutscher Darstellung wird die historische Bedingt-
Sprache herauskommt, das wirst du alles heit, somit auch die Vergänglichkeit jener
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Nachrichten und Mitteilungen
1152
so vielen doch heutigentags noch teuren
Ideale gezeigt und werden an Stelle der ver-
drängten Freiheits- und Gleichheitsideen die
der sozialen Ordnung und Gerechtigkeit un¬
serer Zukunft als Leitsterne gewiesen. Die
1916 bei Teubner erschienene, an Bedeutung
jener ersten gleichwertige Schrift: »Die poli¬
tischen Probleme des Weltkrieges" knüpft an
die dort gewonnenen Erkenntnisse an, auch
an das Schema der Stoffteilung, und nutzt
zugleich die bisherigen Erfahrungen des
Krieges, um womöglich »Faden für Faden
den Ursachenknäuel zu entwirren, aus dem
er hervorging“.
Wiederum mit beiden Vorgängern gene¬
tisch eng verbunden ist das jetzt bei S.Hirzel
herausgegebene Buch: »Der Staat als Lebens¬
form". Auf das Fundament der in ihnen nie-
dergelegten Empirie errichtet, bringt es das
»System der Politik“ des Verfassers. Daß
wir damit im Bereich des Ziels und Gipfels
all seiner bisher in dieser Richtung unter¬
nommenen Arbeit angelangt sind, sagt das
Vorwort ausdrücklich; es war auch schon
in den „Politischen Problemen“ wie in den
„Großmächten“ mehr oder weniger deutlich
angezeigt worden. Am Eingang zu den
„Problemen“ sagte derVerfasser: „Wenn ich
hier von der Staatswissenschaft spreche, so
geschieht das natürlich nicht in der be¬
schränkten Bedeutung einer Staatsverfas-
sungskunde, die unsere akademische Orga¬
nisation so lange beherrscht hat Mit dieser
Anschauung habe ich meine endgültige
wissenschaftliche Abrechnung in öffent¬
lichen Vorlesungen über den Staat als Le¬
bensform (Herbstsemester 1908) gehalten....
Nach diesem Verfahren werden die Staaten
nicht als wandelnde Verfassungsschemata
oder Rechtssubjekte angesehen, sondern als
große Lebewesen, als überindividuelle Per¬
sönlichkeiten, die im Guten und Schlechten
von Lebenstrieben erfüllt sind; .stolz, ehr-
liebend und egoistisch sind sie alle, aber
keiner dabei gleich dem andern' (Meinecke);
jeder ist an Daseinsbedingungen gebunden»
wie sie aus der Entwicklung und der äuße¬
ren Umgebung erwachsen sind.“
Es ist die von dem weitblickendsten un¬
serer Historiker für die Staatswissenschaft
gewonnene Erkenntnis, die hier Kjellön, wie
er weiß und hervorhebt (S. 34 f.), zur Grund¬
lage seiner Staatsauffassung gemacht hat
In Treitschkes „Politik“ wird sie als Selbst¬
verständlichkeit hingestellt und behandelt;
als zuerst von Ranke in ihrer ganzen
Prägnanz erfaßte und für seine historio-
graphische Praxis fruchtbar gemachte An¬
schauung haben sie Lenz und Meinecke wie¬
der aufgezeigt (vgl. diesen noch in »Deutsch¬
land und der Weltkrieg“ 2. A. S. 769H.)
Diese biologische Auffassung, die den
Staat vor allem als lebendige individuelle
Macht begreift, für deren Handeln die
»politische Zweckmäßigkeit, der Nutzen
und die Notwendigkeit“ das zentrale Mo¬
tiv, „das moralische Prinzip“ sind (S. 39),
hat es so auch vor allem mit dem terri¬
torialen und dem ethnischen Element sei¬
nes Bestandes zu tun, die daher schon in
den „Großmächten“ und den „Problemen“
von Kjellön immer an erster Stelle erörtert
sind. Sie sind die sinnliche Seite dieses
sinnlich - vernünftigen Wesens Staat, das
zuallererst eine Interessen- und Macht-
sphäre, nicht eine Rechtssphäre ist (S. 222).
Seine Kulturelemente, deren Ausbildung
der Wirtschaftspolitik,' der „Soziopolltik“
und der Politik des Staates als Rechts¬
subjekt und herrschender Gewalt im Innern
obliegt, treten in der Kjellönschen Be¬
trachtung hinter jene beiden „spezifischen
Naturelemente“ zurück. Nur die „inneren
Verbindungskanäle, durch welche die Natur¬
faktoren auch auf sie Einfluß ausüben“, will
er beleuchten. Aber auch hier noch gibt er
auf knappem Raum unverhältnismäßig viel
des Beachtenswerten, so seine Kritik des
allgemeinen Stimmrechts S. 189B.
Diese Skizze kann den reichen Inhalt des
Buches nur andeuten. So kann auch auf
den ästhetischen Wert der wie immer bei
Kjellön von einer Fülle treffender Bilder
und Vergleiche belebten Darstellung hier
nur hingewiesen werden. Sie erregt den
Wunsch, seine Werke mit vollem Verständ¬
nis in ihrer Originalsprache aufnehmen zu
können. M. C.
FOr die SduttUeltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlceltus, Berlin W 30, LaltpoldstraSe 4.
Druck von B.O.Teubner in Leipzig.
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INDIANA UNIVERSITY
INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
11. JAHRGANG HEFT 10 1. JULI 1917
Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen
U nterrichts Verwaltung.
Von Arnold Sachse.
Vom ersten Tage der Mobilmachung
an ist die preußische Unterrichtsverwal¬
tung wie alle anderen deutschen Staats¬
verwaltungen bestrebt gewesen, die ihr
unterstellten Einrichtungen unter tun¬
lichster Aufrechterhaltung ihres Betrie¬
bes in den Ebenst des Kriegswesens zu
stellen. Ihre erste Sorge aber galt den
von ihr Abschiednehmenden, ins Heer
eintretenden Schülern und Studieren¬
den. Die Schuleinrichtungen selbst wer¬
den zur Kriegswirtschaft nicht gerech¬
net; sie treten daher hinter den Erfor¬
dernissen der eigentlichen Kriegswirt¬
schaft zurück. Zahlreiche Unterrichts¬
räume der Hochschulen und der anderen
Schulen wurden den Truppen zur Ver¬
fügung gestellt; sehr viele wurden in
Lazarette umgewandelt. Namentlich
wurden die großen Säle und die Turn¬
hallen zu verschiedenen militärischen
Zwecken gebraucht. Die Einziehung ei¬
nes großen Teiles der Lehrerschaft, die
sich zunächst noch unter Beachtung der
im Frieden nach den Bedürfnissen der
Unterrichtsanstalten aufgestellten Unab¬
kömmlichkeitslisten vollzog, brachte
eine empfindliche Störung des Unter¬
richtsbetriebes mit sich. Die Unterrichts¬
verwaltung war bemüht, diesem Mangel
an Räumen und Personen durch eine
Reihe von Maßnahmen auf dem Ge¬
biete des inneren Unterrichtsbetriebes zu
begegnen durch Zusammenlegung von
Klassen, Auflösung kleiner Klassen,
Verringerung der Wochenstundenzahl
der Schüler und Erhöhung der Pflicht¬
stundenzahl der Lehrpersonen. Sie trat
dann an die Ergänzung des Lehrperso¬
nals heran, die sich zunächst infolge
des Überangebots weiblicher Lehrkräfte
noch leidlich bewirken ließ, im Verlauf
des Krieges aber aus verschiedenen Ur¬
sachen immer schwieriger gestaltete.
Während die Heeresverwaltung die Be¬
soldung der eingezogenen Lehrer nach
den im Frieden auf Grund des
Reichsmilitärgesetzes getroffenen, der
großen Menge bisher ganz unbekannt
gebliebenen, z. T. auch geheim gehal¬
tenen Bestimmungen übernahm, sah sich
die Unterrichtsverwaltung bald vor die
Aufgabe gestellt, für die Aufbringung der
Kosten der Stellvertretung und für die
zurückgebliebenen Familienangehö¬
rigen zu sorgen. Hier ergab sich eine
Reihe von Fragen, deren Erledigung na¬
mentlich auf dem Volksschulgebiete we¬
gen der gesetzlichen Schulunterhal¬
tungspflicht der Gemeinden und der le¬
diglich subsidiarischen Beitragsver¬
pflichtung des Staates sich besonders
schwierig gestaltete. Der innere Unter¬
richtsbetrieb wurde den Verhältnissen
und Erfordernissen des Krieges ange¬
paßt. Die erziehliche Aufgabe der
Schule trat bei dem durch den Krieg be¬
dingten häufigen Versagen der Familie
in den Vordergrund. Darüber hinaus
aber wurde die Schule benutzt, um die
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Original frarn
INDIANA UNIVERSITY
1155 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1156
Hilfe der Kinder teils unmittelbar Hee-
reszwedken dienstbar 2 U machen, teils
um durch ihre Vermittlung auf die so
am leichtesten zugänglichen Familien
einzuwirken. Die Hauptrolle spielte da¬
bei das Gebiet der Volksemährung. Das
Berechtigutigswesen machte in Rück¬
sicht auf die in das Heer eingetretenen
Schüler und Studierenden besondere
Maßnahmen für die Gegenwart und für
di? Zukunft der Kriegsteilnehmer not¬
wendig: Trotz der Fülle dieser Kriegs¬
aufgaben und wenn auch organisato¬
rische Maßnahmen größeren Stils natur¬
gemäß wegen des Fehiens der erfor¬
derlichen Geldmittel und der zur Aus¬
führung nötigen Personen unterbleiben
mußten, hat die natürliche Entwick¬
lung des Unterrichtswesens doch nicht
stillgestanden. Sie Ist an den Stellen, wo
sie trotz des Krieges fortschieiten mußte,
auch gefördert worden, oft in überra¬
schender Weise.
Im folgenden soll ein kurzer Bericht
darüber erstattet Werden, welche Ma߬
nahmen die preußische UnteTrichtsver-
Waltung gegenüber der Fülle der in der
Einleitung bezeichneten Aufgaben ge¬
troffen hat. Sie hat sich dabei, zuweilen
Unter Verzichtleistung auf erst ergriffene
Mittel, den jeweiligen Kriegsverhältnis¬
sen angepaßt und wird dies auch weiter
tun, wenn die lange Dauer des Krieges
ihr noch härtere Bedingungen auferie-
gen sollte als bisher. Nur das Wesent¬
liche kann hervorgehoben werden; auch
können die in die Beamtenverhältnisse
eingreifenden allgemeinen Anordnungen
der Heeresverwaltung, zu deren Ausfüh¬
rung die Unterrichtsverwaltung für ihren
Dienstbereich berufen ist, hur gestreift
werden.
I. Die Erhaltung der Schulen.
Mit gerechtem Stolz hat der preußi¬
sche Unterrichtsminister im Frühjahr
1015 darauf hingewiesen, daß es bis da*
hiil fast überall gelungen war, den Unter¬
richtsbetrieb, auch in den Volksschulen,
aufrechtzuerhalten und ernste Schulstö¬
rungen zu verhüten. Es ist klar, daß,
je länger der Krieg dauert, desto mehr
das Schulwesen mit aller anderen Ar¬
beit hinter der Front leidet, und daß es
hier, wie bei aller dieser Arbeit, nur der
hingebenden und aufopfernden Tätig¬
keit der Beamten und Lehrer gelingt,
gegenüber den steigenden Ansprüchen
der Kriegführung die Leistungen der
Schulen auf unterrichtlichem und er¬
ziehlichem Gebiet aufrechtzuerhalteh.
Als ein Trost darf gegenüber den gro¬
ßen Lücken, die das Erkennen und Wissen
der Schüler und der Studierenden auf¬
weisen muß, gelten, daß die große Zeit
mit ihren gewaltigen Eindrücken um
so nachhaltiger andere Seiten des See¬
lenlebens fördert, daß sie erhebende
Gefühle weckt und das Willensleben
so stärkt, daß die Mähgel der EHtennt-
nis damit ausgeglichen, wenn nicht
überholt werden.
Der Ausbruch des Krieges veränderte
das Bild der Schulen. Die Lehrerschaft
des Deutsch«! Reiches hat mit den
übrigen Ständen gewetteifert, dem Rufe
des Kaisers zur Verteidigung des Va¬
terlandes gegen einen ruchlosen Ober*
fall Folge zu leisten. Willig strömten
die Einberufenen zu den Fahnen und
mit ihnen zahlreiche Kriegsfreiwillige;
Teils mit, teis ohne Genehmigung ih¬
rer Vorgesetzten bewarben sie sich um
die Einstellung in den Heeresdienst, so
daß die nächsten Behörden, besorgt hm
die Entvölkerung der Schulen, zu ver¬
hindern suchten, daß die Lehrer ohne
Rücksicht auf den doch fortzusetzen¬
den Dienst an der Schute in das Heer
eintraten. Da mußte der Uhterrichtsmi-
nister eingreifen und er untersagte den
Behörden, ehemaligen Offizieren und
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
1157 A. Sachse, Die Kriegsmaftaahmen der
UnterrkbtsverwaKung } 158
Offizieren des Beurlaubtenstandes
und «och gedienten Unteroffizieren die
Erlaubnis zum Wiedereintritt in das
Heer zu verweigern. Denselben Eifer
wie die Lehrer bewiesen die Studie¬
renden und die Schaler. Zu Tausenden
traten sie freiwillig in das Heer ein.
Die Hochschulen behielten kaum ein
Viertel ihrer froheren Hörerzahl. Die
oberen Klassen der höheren Knaben¬
schulen, die Seminare und selbst die
Pifiparandenanstalten leerten sich.
Wenn auch dadurch an den Hochschu¬
len einige Vorlesungen entbehrlich
wurden, an den höheren Schulen einige
Klassen sich auflösten, so galt es doch,
für die Zurackbleibenden einen geord¬
neten, zum Ziel fahrenden Unterrichts¬
gang aufrechtzuerhalten. Die Klassen
der Mittel- und Volksschulen blieben
vollzählig. An allen Unterrichtsanstal¬
ten wies das Lehrpersonal bald nach
Ausbruch des Krieges große Lücken
auf. Aber der Mangel war damals
doch noch im wesentlichen auf die
durch die Unabkömmlichkeitslisten im
Frieden vorgesehenen Lücken be¬
schränkt Natürlich wurden die an deut¬
schen Schulen unterrichtenden Ange¬
hörigen der gegen Deutschland Krieg
fahrenden Staaten von der Fortsetzung
ihrer Lehrtätigkeit ausgeschlossen.
Es galt nun, die Lachen, so gut es
ging, zu decken und den Unterricht
tunlichst im alten Umfange foi*tzuset¬
zen. An manchen Anstalten war dies
allerdings schon aus räumlichen Grün¬
den unmöglich, weil das Heer Schul-
raume in Anspruch genommen hatte.
Dem Übereifer von Vereinen, die sich
Kriegswohlfahrtszwecke zum Ziel ge¬
setzt hatten und für diese ohne weiteres
Schulräume verlangten, wußte die Un-
terrichtsVerwaltung aber zu wehren.
Männliche Aushilfe stand nur spärlich
zu Gebote. Pensionierte Lehrer traten,
□ igitized by Gougle
wenn auch nur in geringer Zahl, wieder
in den Schuldienst ein. Vielmehr hielt
die Unterrichtsverwaltung zahlreiche
Lehrer, die nach Erschöpfung ihrer
Kräfte gern in den Ruhestand ge¬
treten wären, zurück! Selbstverständ¬
lich wurden die nicht in das Heer ein-
tretenden Seminar- und Probekandkia-
ten alsbald zu vollem Unterricht heran-
gezogen. An den Seminar-Übung*-
schulen wurde den Seminaristen der
zweiten Klasse der Unterricht unver¬
traut. Aus dem feindlichen Ausland
vertriebene Deutsche, Lehrer und son¬
stige gebildete Personen, wenn sie die
französische oder englische Sprache be¬
herrschten, wurden auch ohne vor¬
schriftsmäßige Prüfung zum fremd¬
sprachlichen Unterricht zage Lassen. Die
Hilfe der Geistlichen wurde dankend
angenommen. In der Hauptsache aber
wurden die Lücken ausgefüllt durch
geprüfte Lehrerinnen. Sie meldeten sich
in vaterländischer Opferfreudigkeit
scharenweise zu unentgeltlicher Aus¬
hilfe in der im Anfang des Krieges
allgemein verbreiteten Auffassung,
daß es darauf ankäme, an allen öffent¬
lichen Stellen zugunsten der Krieg¬
führung Ersparnisse zu machen!. Die
Magistrate wurden ermächtigt, selb¬
ständig Lehrerinnen anzunehmen, und
sie machten größtenteils gern von dem
Anerbieten unentgeltlicher Unterrichts-
erteilung Gebrauch. Aber schon nach
wenigen Wochen schritt die einsich¬
tigere Unterrichtsverwaltung ein und
ordnete an, daß die Lehrerinnen, wie
alle anderen Kriegsarbeiter, zu entschä¬
digen seien. Man darf annehmen, daß
dies vom Oktober 1014 ab 'allgemein
geschehen ist.
Der Lehrermangel wuchs aber. Nach¬
dem erst die jüngeren Lehrer und die
gedienten Leute eingezogen waren, setzte
sich die Einziehung jahrgangsweise
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
1159 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1160
fort. Die auf Grund eines Kriegsgeset¬
zes angeordnete Nachuntersuchung der
bisher als dauernd invalide entlassenen
Militärpersonen und der Dienstuntaug¬
lichen veranlaßte die Einziehung neuer
Scharen von Lehrern, zunächst nur
der Kriegsverwendungsfähigen. Es
mußten aber bald neue Unabkömmlich¬
keitslisten auch für die nur Garnison-
und Arbeitsverwendungsfähigen aufge¬
stellt werden. Endlich steht auch die
Einziehung aller wehrpflichtigen Leh¬
rer bevor, während die vaterländische
Hilfsdienstpflicht die im öffentlichen
Schuldienst befindliche Lehrerschaft
frei läßt. So sind im Laufe des Krieges
die Lücken in der Lehrerschaft immer
größer geworden, und die Verwaltung
mußte auf neue Mittel zu ihrer Stop¬
fung bedacht sein, ln immer stärke¬
rem Maße wurden Lehrerinnen herange¬
zogen. Abweichend von der Friedens¬
regel wurden sie auch an den unteren
Klassen der höheren Knabenschulen, an
den oberen Knabenklassen mehrklassi-
ger Volksschulen und selbst an einklas-
sigen Volksschulen verwendet Auch
die Grenzen der konfessionellen Schule
konnten nicht mehr eingehalten wer¬
den. Es war unvermeidlich, den großen
Überfluß an katholischen Lehrerinnen in
manchen Gegenden nutzbar zu machen.
Die bisher meist an Zwergschulen tä¬
tigen jüdischen Lehrer wurden zur Aus¬
hilfe an überfüllten christlichen Schu¬
len herangezogen. Neben den wissen¬
schaftlichen Lehrerinnen wurde die
große Zahl der vorhandenen techni¬
schen Lehrerinnen (für Turnen, Zeich¬
nen, Handarbeiten, Hauswirtschaft
usw.) zu wissenschaftlichem Unterricht
herangezogen, und sie haben sich, wie
bezeugt wird, gut bewährt Kleinkinder¬
lehrerinnen und Kindergärtnerinnen
wurde Unterricht auf der Unterstufe
von Volksschulen übergeben. Krieger¬
witwen, die vor ihrer Verheiratung be¬
reits als Lehrerinnen tätig gewesen wa¬
ren oder die Lehrerinnenprüfung ab¬
gelegt hatten, wurden darauf aufmerk¬
sam gemacht daß sie schon nach den
bisherigen Bestimmungen bei der Be¬
setzung von Stellen berücksichtigt wer¬
den konnten.
Der Lehrermangel traf die Gemein¬
den sehr ungleich. Damit wirkte auch
die finanzielle Last ganz ungleich. Na¬
mentlich hatten die rasch herangewach¬
senen, kinderreichen Industriegemein-
den, deren Lehrerschaft infolge dieser
Umstände auch verhältnismäßig jung
war und darum zahlreich in das Heer
eingereiht wurde, viel schwerer zu lei¬
den als ältere und kinderarme Ge¬
meinden mit ölte rer Lehrerschaft. Die Be¬
hebung oder Milderung des Lehrerman¬
gels erwies sich als abhängig von der
Möglichkeit des Ausgleichs unter den ein¬
zelnen Schulsystemen und, wo innerhalb
der Gemeinde die Möglichkeiten des
Ausgleichs erschöpft waren, von Ge¬
meinde zu Gemeinde. Zweckmäßige
Ausgleichsmaßregeln unterblieben in
zahlreichen Fällen, anfänglich dann
und wann auch aus weichherzigen
Rücksichten der Unterrichtsbehörden
gegenüber Lehrern und Gemeinden,
hauptsächlich aber, weil die verschie¬
denartige Unterhaltungspflicht der ein¬
zelnen Schulen hinderlich war. Es er¬
wies sich als verhängnisvoll, daß der
Staat zwar das Recht der Aufsicht und
Anordung im Schulwesen besitzt
aber die Pflicht der Schulunterhaltung
für zahlreiche höhere Schulen und im
gesamten Volksschulwesen in erster
Linie der Gemeinde obliegt. Der Krieg
hat gezeigt, daß hier nur die Unterhal¬
tung der Schulen durch den Staat den
gerechten Lastenausgleich herbeiführen
kann. Aber die Unterrichtsverwaltung
hat doch gesucht, Ausgleiche vorzu-
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
1161 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1162
nehmen; sowohl durch Gewährung
staatlicher Unterstützungen, durch die
zweckmäßige Verwendung der Ergän¬
zungszuschüsse bei den Volksschulen,
wie durch allgemeine Maßnahmen zur
Herbeiführung von Verschiebungendes
Lehrpersonals. Auf dem Gebiete des
höheren Unterrichtswesens ist dies
hauptsächlich geschehen durch Abord¬
nung der dem Provinzialschulkollegium
zur Verfügung stehenden Kandidaten
des höheren Lehramts. Preußen hat mit
anfänglichem Oberfluß an solchen gro߬
herzig auch kleineren deutschen Staaten
ausgeholfen.
Auf dem Gebiet des Volksschulwesens
kam der Unterrichtsverwaltung ein kürz¬
lich ergangenes Oberverwaltungsge¬
richtserkenntnis zu Hilfe, nach dem es
mit dem geltenden Rechte nicht in Wi¬
derspruch steht wenn ein Lehrer, ohne
aus seinem bisherigen Amte entlassen
zu werden, in einem anderen Schulver¬
band zu Vertretungen verwendet wird
und das Einkommen seiner Stelle von
dem Verband, in dem er angestellt ist
unverkürzt weiter bezieht. Zahlreiche
Volksschullehrer wurden so aus den
Städten auf die verwaisten Landschu¬
len vertretungsweise unter Gewährung
besonderer Entschädigungen für den
Dienst am fremden Orte abgeordnet Es
wurde auch die Möglichkeit geschaf¬
fen, Lehrer von mittleren Schulen an
auswärtigen Landschulen zu verwenden.
Für solche Fälle aber wurde bestimmt
daß diese Lehrer ihr Diensteinkommen
in der Höhe, in der es von der Anstel¬
lungsgemeinde zu zahlen ist, zurückzu¬
lassen haben und die Unterhaltungs¬
pflichtigen derjenigen Schule, an der der
Lehrer beschäftigt wird, das zurückge¬
lassene Gehalt neben der etwaigen Ver¬
tretungsentschädigung aufzubringen ha¬
ben.
Als auch diese Maßnahmen noch nicht
ausreichten, die Lücken zu decken,
ging die Unterrichtsverwaltung dazu
über, den Schülerinnen der Seminarklas¬
sen der Lehrerinnenbildungsanstalten die
Vergünstigung zu gewähren, unter Be¬
freiung von der Prüfung vorzeitig das
Lehrbefähigungszeugnis, jedoch unter
Ausschluß der Zulassung zum Uni¬
versitätsstudium, zu erlangen, wenn
sie sich mindestens bis nach Been¬
digung des Krieges für den Volks¬
schuldienst zur Verfügung stellten«
Dann trat der Rückstrom der kriegsbe-
schädigten Lehrer und Schulamtsbewer¬
ber ein. Die Unterrichtsverwaltung sah
es nicht nur als eine Nützlichkeitsma߬
nahme, sondern auch als eine Ehren¬
pflicht an, denjenigen unter ihnen, die
nach ihrer Heilung aus dem Heeres¬
dienst entlassen werden mußten, wieder
ein Unterkommen im Schuldienst zu ge¬
währen. Sie nahm ausdrücklich ihnen
gegenüber Abstand von den Forderun¬
gen, die sie sonst in gesundheitlicher Be¬
ziehung an die Lehrer stellt, und förderte
auf jede Weise die Wahl der Geprüften,
lehnte aber einen Erlaß noch nicht ab¬
gelegter Prüfungen ab, sagte nur dem zu
Prüfenden wohlwollende Behandlung
zu. Schließlich hat die Notwendigkeit,
den Lehrermangel tunlichst zu beseiti¬
gen, zur Ausfüllung einer alten Lücke
in der preußischen Schulverfassung;
geführt. Es fehlte nämlich eine Bestim¬
mung über die zahlenmäßige Zusam¬
mensetzung der Lehrkörper im Volks¬
schulwesen aus männlichen und weib¬
lichen Lehrkräften. Sie war im wesent¬
lichen der Willkür der Schulunterhal¬
tungspflichtigen und der Schulaufsichts¬
behörden überlassen. Im höheren Kna¬
benschulwesen war bis zum Kriege
überhaupt kein Raum für die Betäti¬
gung weiblicher Lehrkräfte gegeben;
im höheren Mädchenschulwesen sind
durch die Neuordnung von 1906 zahlen-
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INDIANA UNIVERSITY
1163 A. Sachse, Die Kriegsmagnahmen 4er Preußischen Unterrichtsverwaltung 1164
mäßige Bestimmungen erlassen. Nun-
mehr sind 1916 auch für das Volksschul¬
wesen Bestimmungen über die Durch¬
setzung der Lehrerschaft mit Lehrerin¬
nen getroffen. Sie gehen davon aus, daß
die Lücken, die der Krieg in die Reihen
der preußischen Lehrerschaft gerissen
hat, so groß sind, daß der vorhandene
Nachwuchs männlicher Lehrkräfte zu
ihrer baldigen Ausfüllung nicht aus¬
reicht. Es sei daher darauf Bedacht zu
nehmen, anderen geeigneten Ersatz zu
beschaffen und dabei seien noch der Be¬
friedigung harrende Bedürfnisse der
Volksschule nach der erziehlichen und
unterrichtlichen Seite zu berücksichti¬
gen. Der Minister erkennt, daß der Ein¬
fluß der Frau bei der Erziehung der
weiblichen Jugend vielerorts noch nicht
oder nicht ausreichend zur Geltung ge¬
kommen sei. Es werde daher nicht bloß
der Not der Zeit, sondern einem Bedürf¬
nis der Volksschule Rechnung getragen,
wenn eine Durchsetzung der Lehrer¬
schaft mit Lehrerinnen in dem Umfange
herbeigeführt werde, daß Lehrerinnen an
einer Mädchenschule etwa für */s der
Stellen, an gemischten Schulen je nach
der Zahl der Klassen in bestimmtem
Verhältnis, etwa mit 1:2 der männlichen
Lehrkräfte, angestellt würden, an reinen
Knabenschulen für die Unterstufe zuge¬
lassen würden. Diese Gesichtspunkte sind
bei Neuerrichtung von Schulstellen und
bei Erledigungen von den Schulaufsichts¬
behörden zur Richtschnur zu nehmen.
Alle diese vorbezedchneten Maßnahmen
hatten naturgemäß einen beständigen
Wechsel des Lehrpersonals in den einzel¬
nen Schulen im Gefolge, je nach Eintritt
neuer Einstellungen in das Heer. Dieser
Wechsel hat die Schulen vorschwere Auf¬
gaben gestellt. Den Direktoren der höhe¬
ren Schulen brachteer die beständigeAus-
arbeitung neuer Stundenpläne, wobei
sonst unbedingt zu erfüllende Voraus¬
setzungen für die Übertragung des Unter*
richte an dazu wirklich befähigte Lek*
rer sehr häufig unerfüllt bleiben muß*
ten. Manche Fächer, namentlidi die
technischen, mußten ganz ausfallen
weil die nur einzeln an den Anstalten
vorhandenen Fachlehrer fehlten und
nicht ersetzbar waren. Der Wunsch der
Unterrichtsverwaltung, daß der für die
Heeresvorbildung der Jugend nicht un¬
wichtige Zeichenunterricht tunlichst
nicht ausfallen soll, hat sich selbst an
Realanstalten nicht überall erfüllen las¬
sen. Der Turnunterricht mußte an zahl¬
reichen Anstalten ausfallen, nicht bloß
wegen des fehlenden Lehrpersonals,
sondern wegen der anderweitigen Ver¬
wendung der Turnhallen.
Das Fehlen so vieler Lehrkräfte hat
an die Leistungsfähigkeit der zurückge¬
bliebenen die höchsten Anforderungen
gestellt. Nicht nur mußten ihre Wochen¬
stundenzahlen vielfach erhöht werden,
sondern sie sind auch genötigt, sich in
ihnen bisher fremde Gebiete einzuar*
beiten. Das gilt sowohl für die Hoch¬
schulen wie für alle anderen Schulen.
Dazu kam erschwerend, daß die Staats¬
verwaltung die Mehrleistungen aus zu¬
nächst berechtigter Sparsamkeit unent¬
geltlich in Anspruch nahm, ein Stand¬
punkt, den sie bei der langen Dauer des
Krieges allerdings nicht in aller Strenge
aufnechterhalten konnte.
11. Sorge für die Lehrer und ihre
Zukunft.
Die Zahlung des Zivildiensteinkom-
mens an die ins Heer eingetreteneo
Volksschullehrer, die Anwendung der
Bestimmungen des Reichsmilitärgeset-
zes und der Kriegsbesoldungsordnung
brachten der Unterrichtsverwaltung die¬
selbe Aufgabe wie allen anderen Zi*
vilverwaltungen, insoweit es sich um
Universitätslehrer und Lehrer Staat*
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INDIANA UNIVERSITY
1165 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung hqo
lieber höherer Lehranstalten und end¬
gültig oder einstweilig angestellte
Volksschullehrer handelte. Die auftre¬
tenden Schwierigkeiten wurden im we¬
sentlichen durch den Finanzminister und
den Minister des Innern gelöst. Dem Un¬
terrichtsminister lag es lediglich ob, die
von jenen getroffenen Entscheidungen
auf seinen Dienstbereich zu übertragen.
Diejenigen Beamten und Lehrer, die
nicht die Besoldung eines Offiziers oder
oberen Beamten der Militärverwaltung
erhalten, beziehen danach ihr Zivil-
diensteinkommen unverkürzt weiter.
Den Offizieren und oberen Beamten der
Militärverwaltung werden 7 /io ihrer
Kriegsbesoldung auf ihr Zivildienst¬
einkommen angerechnet, aber nur
dann und soweit als das Zivil-
diensteinkommen und 7 / 10 der Kriegs¬
besoldung zusammen den Jahresbetreg
von 3600 M. übersteigen. Die beson¬
deren Schwierigkeiten für die Unter¬
richtsverwaltung entstehen erst bei den
auftragsweise beschäftigten Lehrern
und bei der Stellvertretung hinsicht¬
lich der Aufbringung der doppelt erfor¬
derlichen Mittel für den Stelleninhaber
und den Vertreter wegen der primären
Schulunterhaltungspflicht der Schul¬
verbände für das Volksschulwesen.
Die grundsätzliche Bestimmung ist
zwar getroffen, daß den auftrags¬
weise beschäftigten Lehrern die Be¬
soldung während der Zeit der Einberu¬
fung zum Heeresdienst fortzugewähren
ist, wenn sie eine erledigte Stelle oder
eine Stelle, deren Diensteinkommen ver¬
fügbar ist, verwalten und eine fixierte
monatliche Besoldung erhalten, sofern
nicht ihr Auftrag nur vorübergehend,
<L h. von vornherein oder durch beson¬
dere Umstände bis zu einer bestimmten
Zeit begrenzt ist. In der Praxis aber er¬
gibt sich aus der verschiedenartigen
Auslegung dieser Bestimmung in zahl¬
reichen Fällen eine Benachteiligung der¬
jenigen Schulamtsbewerber, welche noch
nicht die Anstellung erlangt batten, weil
sie infolge ihrer militärischen Brauch¬
barkeit zu ihr noch nicht zugelassen
waren, gegenüber solchen Schulamtsbe¬
werbern, die infolge ihrer militärischen
Unbrauchbarkeit den sicheren Hafen der
Anstellung vor Kriegsausbruch bereits
erreicht hatten. Mindestens sind der er-
steren Gruppe viel Kampf um ihre Be¬
soldung und Sorgen um ihre Bezüge
aus ihier Lage erwachsen. Die Schul¬
verbände glaubten häufig zur Fortzah¬
lung des Diensteinkommens nicht ver¬
pflichtet zu sein, weil der Lehrauftrag
auf einen bestimmten Zeitpunkt festge¬
legt sei. Die Schulaufsichtsbehörden
sahen sich daher veranlaßt, sich
alle Fälle vortragen zu lassen, in
denen ein Schulverband die Fortzahlung
verweigern zu dürfen glaubte. Für Fälle,
in denen die Schulaufsichtsbehörde den
Schulverband zur Fortzahlung nicht ver¬
anlassen konnte und die Verweigerung
eine Härte bedeutete, stellte der Mi¬
nister die Benutzung der Ergänzungs¬
zuschüsse zur Verfügung. Der Krieg hat
deutlich gezeigt, zu welcher Ungerech¬
tigkeit das bisherige Verfahren der An¬
stellung junger Volksschullehrer gegen¬
über den Militärtauglichen geführt hat,
und es wird hoffentlich zu einer grund¬
sätzlichen Änderung dieses Verfahrens
nach dem Vorbilde anderer Beamtenka¬
tegorien führen. Wenn auch die Unter¬
richtsverwaltung den Grundsatz auf ge¬
stellt hat, daß die im Felde stehenden
Schulamtsbewerber nicht durch Anstel¬
lung der nicht im Kriegsdienst befind¬
lichen benachteiligt werden sollten, so
wurde doch gleich im Anfang des Krie¬
ges gestattet, daß Lehrer, die bereits bis
zum 1. 10. 14 gewählt waren, auch an¬
gestellt werden durften. Und weiter
macht die Länge des Krieges im Schul-
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INDIANA UNIVERSITY
1167 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1168
interesse Abweichungen von dem Grund¬
sätze erforderlich, wie auch der auf glei¬
chen Gesichtspunkten beruhende Grund¬
satz, daß die höheren Stellen während
des Krieges nicht endgültig besetzt
werden sollten, nicht streng durchge¬
führt werden konnte.
Die Unterrichtsverwaltung hat ange-
ordinet, daß die Schulaufsichtsbehörde
vor der Gestattung der Ausschreibung
freier Schulstellen durch wahlberech¬
tigte Schulverbände stets zu prüfen hat,
ob eine baldige Wiederbesetzung un¬
bedingt geboten sei oder ob nicht nur auf¬
tragsweise Verwaltung ausreichend sei.
Nicht nur die Interessen der im Felde
stehenden Lehrer, sondern auch die an¬
derer Lehrer, welche auf ihren zeitigen
Stellen unabkömmlich sind und nicht
aus ihnen entlassen werden könnten,
seien dabei zu berücksichtigen. Trotz
der den Kriegsteilnehmern günstigen
grundsätzlichen Stellungnahme der Un¬
terrichtsverwaltung sind doch Befürch¬
tungen aus den Reihen jener laut ge¬
worden, daß nicht alles geschehe, um
sie vor Benachteiligungen zu schützen.
Darum hat der Unterrichtsmüii^ter an
die ihm unterstellten Schulbehörden
eine Umfrage ergehen lassen über die
tatsächliche Lage. Dabei hat er aus¬
drücklich erklärt, daß er die Wahl und
Bestätigung von Kriegsteilnehmern für
die gehobenen Stellen noch während der
Dauer der Einberufung nicht nur für zu¬
lässig, sondern auch für sehr erwünscht
erachte. Für das Volksschulgebfet ist
nur bedauerlich, daß die Regelung des
Anstellungsrechts, wie sie im Volks¬
schulunterhaltungsgesetz zugunsten der
größeren und bevorrechteten Städte für
die große Mehrzahl der gehobenen Stel¬
len vorgenommen ist, dem Staate die
Macht, seinen Wünschen Nachdruck zu
geben, entzogen hat. Audi hier hat der
Krieg die Lehre gegeben, daß nur die
Staatsvolksschule trotz sonstiger schwer¬
wiegender Bedenken gegen ihre Ein¬
richtung fähig ist, die jetzt bestehenden
aus dem Gemeindeprinzip folgenden
Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Dero
Staate muß neben der Tragung der
Lasten auch größere Machtvollkom¬
menheit auf dem Sdhulgebiet, dem des
höheren wie der Volksschule, gewährt
werden.
Den Lehrern, welche mit dem Kriegs¬
dienst zugleich ihrer aktiven Dienst¬
pflicht genügten, wurde ein Anspruch
auf ihre Dienstbezüge aberkannt Und
denjenigen jungen Lehrern, welche,
ohne aktiv gedient zu haben, freiwillig
eintraten, wurden die Dienstbezüge nur
soweit gewährt, als sie nicht zur Dek-
kung von Stellvertretungskosten ge¬
braucht wurden. Jedoch sollten die frei¬
willig zum Landsturm eingetretenen
Lehrer ihr volles Diensteinkommen wei¬
ter erhalten. Besondere Regelung mußte
die Diensteinkommensgewährung an
die vielen anfänglich zur freiwilligen
Krankenpflege eingetretenen Lehrerund
Lehrerinnen erfahren. Soweit eine An¬
rechnung der Kriegsbesoldung auf das
Zivildiensteinkommen von Lehrern er¬
folgt, verbleibt der einbehaltene Be¬
trag des Zivildiensteinkommens den
sonst Zahlungspflichtigen, also dem
Schulverband bzw. der Alterszulage¬
kasse. Damit ist eine sehr ungleiche, zum
Teil auf Zufälligkeiten beruhende Un¬
gleichheit der Behandlung der Schulver¬
bände geschaffen worden. Den Vorteil
hatten die größeren städtischen Gemein¬
den, aus denen schon in Friedenszeitea
zahlreiche Lehrer dem Offiziersstande
angehörten.
Die Besetzung Ostpreußens durch die
Russen machte im Jahre 1914 vorüberge¬
hend besondere Maßnahmen notwendig,
um die Auszahlung der Gehälter der
Volksschullehrer aus den besetzten Ge-
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INDIANA UNIVERSITY
1169 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1170
bieten sowie der Ruhegehälter, Witwen-
und Waisengeider zu sichern. Für die
höheren Schulen bedurfte es solcher
nicht, weil hier überall die Staatskasse
eintrat. Es blieb für das Volksschulwe¬
sen nichts anderes übrig, als unter Ein¬
stellung aller Zuschußzahlungen aus der
Staatskasse alle fälligen Beträge vorbe¬
haltlich späterer Abrechnung auf die
Staatskasse zu übernehmen. Die Regie¬
rungshauptkasse in Danzig wurde zur
Auskunftstelle über alle einschlägigen
Verhältnisse der Gemeinden bestimmt.
Hinsichtlich der Anrechnung des
Kriegsdienstes auf das Dienstalter gel¬
ten allgemein die vom Staatsministerium
dafür aufgestellten Grundsätze für die
Staatsbeamten. Danach wird allen Beam¬
ten, bei denen die Bestimmung des
Dienstalters von dem Bestehen einer
Prüfung oder der Verleihung der An¬
stellungsbefähigung abhängt, die Zeit
ihres Kriegsdienstes insoweit angerech¬
net, als sie nachweislich infolge des
Kriegsdienstes die Prüfung erst später
abgelegt oder die Anstellungsbefähi¬
gung erst später erlangt haben.
III. Sorge für die Familien der
Lehrer.
Die Fürsorge für die Hinterbliebenen
gefallener Lehrer und für die im Zivil¬
dienst Zurückgebliebenen aus Anlaß der
durch den Krieg bedingten Gestaltung
auf dem Markte der notwendigsten Be¬
darfsgegenstände ist für die Angehöri¬
gen der Unterrichtsverwaltung nach den¬
selben Grundsätzen geregelt wie für die
übrigen Staatsbeamten, jedoch mit ver¬
schiedener Wirkung für die unmittel¬
baren und mittelbaren Staatsbeamten.
Bei beiden Gruppen sind unter der
Wucht der erst allmählich der Staats-
regierungzum Bewußtsein gekommenem
ebenso bedauerlichen wie bedrohlichen
Abnahme des Geburlenzuwachses die
Kriegs- und Teuerungszulagen nach den
Gesichtspunkten der Bevölkerungspoli¬
tik bemessen worden. Bei dem Emst und
Eifer, mit dem während des Krieges Re¬
gierungen und Parlamente an die Hei¬
lung des Schadens herangetreten sind,
unterliegt es keinem Zweifel, daß diese
Gesichtspunkte auch ngch dem Kriege
bei der Regelung der Beamtenbesoldun¬
gen überhaupt zur Richtschnur werden
genommen werden.
Die Gewährung an Kriegsbeihilfen hat
mit dem 1. Oktober 1915 begonnen und
hat seitdem beständig Erweiterung be¬
züglich des Kreises der einbezogenen
Personen und Erhöhung bezüglich der
gewährten Monatssätze erfahren. Ur¬
sprünglich handelte es sich nur um gering
besoldete oder ständig gegen Entgelt
beschäftigte Beamten mit einem Dienst¬
einkommen bis zu 2100 Mm die ein oder
mehrere Kinder unter 15 Jahren zu un¬
terhalten haben. Die monatliche Kriegs¬
beihilfe betrug für ein oder zwei Kinder
6 M„ für jedes weitere Kind 3 M. mehr.
Die Beihilfen waren aus der Staatskasse
zu zahlen, auch für Volksschullehrer.
Die Unterrichtsverwaltung ging dabei
davon aus, daß es zwar an sich Aufgabe
der Schulverbände, denen die Besol¬
dung der Volksschullehrer obliegt, sei,
diesen nötigenfalls auch Kriegsbeihilfen
zukommen zu lassen. Aber da,es sich vor¬
aussichtlich nur um Lehrer kleinerier,
in ihrer Leistungsfähigkeit beschränk¬
ter Schulverbände handle, die schon
durch Kriegsausgaben finanziell stark in
Anspruch genommen seien, so sei bei
dem vorübergehenden Charakter der
Maßnahme von einer Heranziehung
der Schulverbände abzusehen. Die
Kriegsbeihilfe wurde jedoch ausgestal¬
tet. Vom 1. 4. 16 ab wurde die Besol¬
dungsgrenze auf 2400 M. heraufgesetzt,
und die Sätze wurden erhöht. Darauf
traf die Unterrichtsverwaltung die ein-
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1171 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung H72
schränkende Anordnung» daß die Zah-
lung aus der Staatskasse an Volksschul¬
lehrer da einzustellen sei, wo Schulver-
bände aus Anlaß der Kriegsteuerung be¬
sondere, staatlichen Kriegszulagen ähn¬
liche Zulagen gewähren. Auch da, wo
Gemeinden die Lehrer von den zugun¬
sten der Kommunalbeamten getroffenen
Maßnahmen ausschließen, um das Ein¬
greifen mit staatlicher Beihilfe herbeizu-
führen, sei gleicherweise zu verfahren.
Dieser Grundsatz gegenüber den Volks-
schullehrem ist festgehalten worden,
auch nach dem vom 1.7.16 und abermals
vom 1. 2. 17 ab wieder eine günstigere
Gestaltung der Kriegsbeihilfen, vom 1.
7. 16 ab unter Ausdehnung auf verheira¬
tete Beamte ohne Kinder, eingetreten
war. Von den Schul am ts be we rbe m wur¬
den die gegen feste monatliche Ent¬
schädigung beschäftigten ein bezogen,
ebenso Volksschullehrerinnen für Kinder
aus einer geschiedenen oder durch den
Tod getrennten Ehe.
Seit dem 1. 12. 16 werden den Staats¬
beamten neben der laufenden Kriegsbei¬
hilfe einmalige Kriegsteuerungszulagen
gewährt. Sie sind nach immer wohlwol¬
lenderen Bestimmungen neuerdings aus-
gestaltet worden. Vom 1. 4. 17 ab erhal¬
ten die unmittelbaren Staatsbeamten bis
zu 7800 M. Diensteinkommen in dreifa¬
cher, nach der Höhe des Diensteinkom¬
mens bemessener fallender Abstufung
Kriegsteuerungszulagen in steigender
Höhe je nach der übrigens nicht
beschränkten Kinderzahl. Die Volks¬
schullehrer sollten zwar nach dem
Wunsche des Landtages wie der Staats¬
regierung die gleichen Beihilfen und
Teuerungszulagen wie die unmittelba¬
ren Staatsbeamten erhalten; da aber die
Volksschulunterhaltungspflicht in erster
Linie den Gemeinden bzw. Schulverbän¬
den obliegt, so erwartete der Staat, daß
die leistungsfähigen Gemeinden diese
Zuwendungen aus eigenen Mitteln ge
währen. Der Staat wollte freiwillig
eintreten, wenn er die Leistungsun¬
fähigkeit der Gemeinden anerkannte
und in gewissen anderen von der Unter¬
richtsverwaltung festgelegten Fällen.
Schützte die Gemeinde aber nach Ansicht
der Unterrichts Verwaltung nur die Lei¬
stungsunfähigkeit vor, oder hatte sie zu
Unrecht ihre Lehrer hinter ihre Beamten
zurückgesetzt, oder traten gewisse an¬
dere Fälle ein, so wollte der Staat für
die Volksschullehrer nicht eintreten und
letztere sollten leer ausgehen. So kam es,
daß einTeil derVolksschullehrer gar keine
oder unzureichende, hinter den Sätzen
der unmittelbaren Staatsbeamten zu¬
rückbleibende Beihilfen und Teue¬
rungszulagen erhielt. Diese zwar folge¬
richtig aus der gesetzlichen Lage der
Volksschulunteriialtungspflicht abgelei¬
tete, aber den Volksschullehrer mehroder
weniger dem Zufall und der Willkür der
Gemeinden ausliefemde Stellungnah¬
me der Staatsregierung erwies sich als
unhaltbar. Beschwerden im Abgeordne-
tenhause führten zu der Bestimmung,
daß vom 1. 4. 1917 ab die laufenden
Kriegsbeihilfen den Volksschullehrper¬
sonen — unabhängig von der Frage der
Leistungsfähigkeit des Schulverbandes
— auch da aus der Staatskasse zu
zahlen sind, wo die Schulverbände keine
Kriegsbeihilfen gewähren, und daß die
von den Schulverhänden bewilligten
Kriegsbeihilfen auf die staatlichen Bei¬
hilfen auch da angerechnet werden, wo
die Schulverbände leistungsfähig sind.
Auch wenn infolgedessen leistungsfähige
Schulverbände dazu übergehen sollten,
die Zahlung der Kriegsbeihilfen an die
Lehrpersonen einzustellen, hat vom Zeit¬
punkt der Einstellung ab der Staat ein¬
zutreten. Eine Erstattung der von de»
Gemeinden und Schulverbänden bereits
gezahlten Kriegsbeihilfen findet nicht
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1173 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1174
statt. Danach gelangen die Volksschul¬
lehrpersonen sämtlich in den Genuß der
staatlichen Kriegsbeihilfen und Kriegs¬
teuerungszulagen bis zur Höhe der den
unmittelbaren Staatsbeamten gewährten
Sätze. Eine Königliche Verordnung hat
diese Kriegsbeihiifen und Kriegsteue¬
rungszulagen kürzlich von Staats- und
Gemeindesteuern freigestellt.
Die Kriegsteuerung hat dazu gezwun¬
gen, von dem bisherigen Grundsatz des
Staates, Pensionäre und Hinterblie¬
bene an Beamtenbesoldungserhöhun¬
gen nicht teilnehmen zu lassen, abzu¬
gehen. Im Beginn dieses Jahres sind be¬
dürftigen, im Ruhestand lebenden Beam¬
ten und bedürftigen Hinterbliebenen von
Beamten Unterstützungen für das Jahr
1916 im Betrage von 100 Mark, wenn der
Pensionär weniger als 2500 Mark, die
Witwe ohne Waisengeld weniger als
1200 Mark Einnahme hat, gewährt wor¬
den. Die Königl. Regierungen sind er¬
mächtigt worden, den Volksschullehrem
und ihren Hinterbliebenen die gleichen
Unterstützungen zu zahlen, dagegen
bleiben die Lehrer an den Mittelschulen
und die der nichtstaatlichen höheren
Lehranstalten benachteiligt, indem sich
der Staat hier begnügt haj, den die Mit¬
telschulen unterhaltenden Gemeinden
bzw. den Patronaten zu empfehlen, die
Unterstützungen auch an ihren Anstal¬
ten zur Durchführung zu bringen.
Der notleidenden Privatmusiklehrer
und -lehrerinnen nahm sich der Unter-
richtsminister an, indem er den vollbe¬
schäftigten Lehrern und Lehrerinnen an
öffentlichen Schulen Zurückhaltung hin¬
sichtlich der Annahme von Privatmusik¬
unterricht auferlegte.
IV. Unterricht und Erziehung.
Der notleidenden Privatmusiklehrer
erfuhr durch den Ausbruch d& Krie¬
ges in allen Unterrichtsanstalten eine
jähe Unterbrechung. Nicht nur die durch
die anderweitige Inanspruchnahme dar
Schulräume und den Lehrermangel viel¬
fach bedingte Herabsetzung der Wochen¬
stundenzahl, die jedoch auch unter
schwierigen Verhältnissen nicht unter
12 herabgehen sollte, macht die Errei¬
chung der Stoffziele unmöglich, die Ge¬
danken von Lehrern und Schülern wen¬
den sich auch mit Macht den Tageser¬
eignissen zu. So war es von vornherein
klar, daß es auf die Einhaltung der
Stoffpläne nicht mehr ankam, vielmehr
Sichtung und Einschränkung geboten
war. Es galt, das Verständnis der Ju¬
gend für die große Gegenwart zu wek-
ken. Diesem Gedanken wurde in Erlassen
der Unterrichtsbehörde Ausdruck gege¬
ben. Die Lehrer wurden aufgefordert,
in der Schule, namentlich im Geschichts¬
unterricht, aber auch in anderen Unter¬
richtsfächern Gegenwartsbeziehungen zu
suchen und durch belehrende Vorträge
die Eltern, namentlich auf dem Lande,
über die Ursachen des Krieges aufzu¬
klären. Die Lehraufgaben sollen zu den
großen kriegerischen Ereignissen in le¬
bendige, vaterländische Begeisterung
erweckende Beziehung gesetzt werden.
In einem ausführlichen Erlaß hat der
Unterrichtsminister Bestimmungen dar¬
über getroffen, wie der Stoff der älteren
Geschichte zusammenzudrängen und
Raum für die gründliche Behandlung
der neuesten Geschichte zu schaffen sei
Das ging besonders die höheren Schu¬
len an. Schon in den unteren Klassen
sollen die Schüler fortan die preußisch¬
deutsche Geschichte bis zur Gegenwart
in ihren Grundzügen kennen lernen. Der
Lehrstoff der Oberprima hat mit der
Zeit nach dem Tode Friedrichs des Gro¬
ßen zu beginnen, während der Unter¬
prima die Zeit von 1648—1786 zugeteilt
wird. Die mündliche Reifeprüfung soll
sich beschränken auf die Zeit von der
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1175 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung H76
Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Ge¬
genwart. Vermißt wird in diesen Be¬
stimmungen der Gedanke von der Not¬
wendigkeit der Politisierung der deut¬
schen Jugend. Seine Ausführung ist ver¬
mutlich absichtlich der Zeit nach dem
Kriege Vorbehalten worden. Auf die
Festhaltung der den Ort berührenden Er¬
eignisse des Weltkrieges in denSchulchro-
niken ist hingewiesen worden. In jeder
Schule soll eine Gedächtnistafel zum eh¬
renden Andenken der gefallenen Lehrer
und Schüler angebracht werden. Die
Bildnisse der gefallenen Lehrer sollen
in den Schulstuben aufgehängt werden.
Der Krieg hat Anlaß gegeben zur Fest¬
stellung eines einheitlichen Textes für
„Die Wacht am Rhein“ und des Liedes
„O Deutschland hoch in Ehren“.
Der Krieg hat die Verfügung des Un¬
terrichtsministers veranlaßt, daß unaus¬
gesetzt und nachhaltig dahin gewirkt
werden soll, daß im Unterricht alle
fremdsprachlichen Ausdrücke und Rede¬
wendungen vermieden werden, für wel¬
che die Muttersprache deutsche Wen¬
dungen bietet. Der Minister ist darin
selbst mit gutem Beispiel vorangegan¬
gen ; so hat er „Patronat“ durch „Schutz¬
herrschaft“, „ Prüfungskommission“
durch „Prüfungsamt“ ersetzt. Für die Be¬
dürfnisse des täglichen Lebens, der Spei¬
sen und Getränke, für Spiele und Übun¬
gen usw.sind im Gegensatz zu den bisher
beliebten fremdländischen Bezeichnun¬
gen deutsche Benennungen zu verwenden
und heimisch zu machen. Bei der Be¬
schaffung von Lehr- und Lernmitteln,
insbesondere von Stahlfedern und Näh¬
maschinen, ist die Bevorzugung inländi¬
scher Erzeugnisse während des Krieges
von neuem eingeschärft worden. Statt
der französischen und englischen Origi¬
nalausgaben sollen nur noch deutsche
Schulausgaben der Schriftsteller benutzt
werden.
Das Verlangen der Unterrichtsver¬
waltung, daß der Schulunterricht über¬
all, wenn auch unter Beschränkungen
fortgesetzt werde, damit die Jugend
nicht müßig gehe, hat sich leider nicht
immer durchführen lassen. Ganz abge¬
sehen von den langen Beurlaubungen
und Ferien der ländlichen Schuljugend
während der Bestell- und Erntezeit, in
der die Jugend aber keineswegs müßig
gewesen ist, hat die Kohlennot im
letzten Winter viele und lange unlieb¬
same Unterbrechungen im Schulbe¬
suche verursacht. Die ganze Unregelmä¬
ßigkeit des Unterrichtsbetriebes machie
die Anordnung notwendig, daß bei den
Versetzungen in gebührender Weise
darauf Rücksicht zu nehmen sei, nament¬
lich in Fällen, in denen die Schüler in¬
folge der Kriegsereignisse und schwerer
Verluste in der Familie erheblichen Hem¬
mungen in ihren Arbeitsleistungen un¬
terlegen gewesen sind. Hauptsächlich
sollte es darauf ankommen, ob die Schü¬
ler die Gewähr boten, daß sie dem Unter¬
richt in der folgenden Klasse mit Erfolg
würden folgen können. Unter dem Ge¬
sichtspunkte der vom Reichskanzler aus¬
gegebenen Losung: Freie Bahn für alle
Tüchtigen sind im Sommer vorigen Jah¬
res neue Bestimmungen über die Auf¬
nahme von Schülern in die unterste
Klasse der höheren Lehranstalten erlas¬
sen worden. Die den gymnasialen Zu¬
schnitt der Vorbildung auf die höheren
Lehranstalten begünstigenden Aufnah¬
mebestimmungen vom Jahre 1837 wur¬
den endlich aufgehoben, und es wurden
neue Anforderungen formuliert, die sich
mehr den im Volksschulunterricht
erreichbaren Zielen anschließen. Uber
diese Anforderungen darf bei der Auf¬
nahme der aus Volks- und Mittelschulen
und aus Privatunterricht kommenden
Schülef* nicht hinausgegangen werden.
Auch die Vorschulen haben sich danach
1177 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen 1 Unterrichtsverwaltung 1178
zu richten und den danach zu beschrän¬
kenden Lehrstoff auf ihre drei Klassen
zu verteilen.
Einen ganz neuen Unterrichtszweig
für alle Schüler vom 16. Lebensjahre ab
hat der Krieg gebracht, .nämlich die mi¬
litärische Vorbildung der Jugend oder,
wie es in Bayern kürzer heißt, dieHeeres-
Vorbildung der Jugend. Gemeinsame Er¬
lasse des Unterrichtsministers, des
Kriegsministers und des Ministers des
Innern haben diesen Unterricht gleich
zu Anfang des Krieges ins Leben geru¬
fen. Der Jugend vom 16. Lebensjahre
an wird es zur Ehrenpflicht gemacht,
sich militärisch vorbilden zu lassen. Die
Teilnahme soll einstweilen freiwillig
sein. Die Leitung soll während des Krie¬
ges in militärischer Hand liegen. Es wird
erwartet, daß die Bezirks-, Kreis- und
Ortsausschüsse für Jugendpflege sich
der Sache annehmen werden. Richt¬
linien für die Einrichtung sind ausge¬
geben. Gegenüber der hier und da auf¬
getretenen Zusammenschließung der Ju¬
gend einzelner höherer Schulen zu be¬
sonderen Jugendkompagnien hat der
Unterrichtsminister den Eintritt der
Schüler der höheren Lehranstalten in die
allgemeinen Jugendkompagnien der Orte
empfohlen. Die ganze Einrichtung wird
erst nach dem Kriege auf festeren Boden
gestellt werden können. Den eigentlichen
Turnunterricht der Schule kann die mi¬
litärische Vorbereitung der Jugend je¬
doch nicht ersetzen. Er muß lehrplan-
mäßigals Pflichtfach fortgesetzt werden.
Ganz besondere Aufgaben erwuchsen
der Lehrerschaft gegenüber den Fami¬
lien. Die nicht zu den Fahnen einberufe-
nen Lehrer wurden von der Unterrichts¬
verwaltung aufgefordert, ratend und
helfend in den Fällen einzutreten, in
denen die Schuljugend und die schul¬
entlassene Jugend der erziehlichen Lei¬
tung des einberufenen Vaters entbehren
mußte und die Einwirkung der Mutter
durch die vermehrte Sorge um den Un¬
terhalt der Familie beeinträchtigt war.
Bei Beginn des Krieges war es nötig, die
Schuljugend auf die Gefahren der Stö¬
rung des Automobilverkehrs aufmerk¬
sam zu machen. Zur Erntezeit wurde
sie eindringlich vor Unvorsichtigkeit mit
Feuer gewarnt, damit nicht durch Feu¬
ersbrünste wertvolle Bestände vernich¬
tet würden. Die aus der Schule zu
Ostern entlassenen Schüler bedurften
besonders der Berufsberatung. Falls
sie keine geeignete Arbeits- oder Aus¬
bildungsgelegenheit gefunden hatten,
wurde ihnen das Verbleiben in der
Volksschule gestattet. Die Einrichtung
von Kinderhorten, in denen die schul¬
pflichtigen Knaben und Mädchen von 10
bis 13 Jahren, denen das Elternhaus in
der Kriegszeit keinen geeigneten Aufent¬
haltsraum gewährte, gesammelt und un¬
ter Mitarbeit älterer Schüler und Schü¬
lerinnen höherer Lehranstalten beschäf¬
tigt werden sollten, wurde empfohlen.
Für die höheren Schulen wurde auf die
schon in den Direktorendienstanweisun¬
gen angeordneten, vielfach aber nicht
ins Leben getretenen Elternsprechstun¬
den hingewiesen. Es soll ein bestimmter
Sprechstundenplan entworfen und aus¬
gehängt werden, damit die Eltern regel¬
mäßig Gelegenheit zur Aussprache mit
den Lehrern haben. Für die Großstadt¬
jugend wurden Ferienwanderungen und
Ferienspiele zur Förderung der Gesund¬
heit empfohlen, ein schöner Gedanke,
der durch die Eisenbahnbetriebs Schwie¬
rigkeiten später Abbruch ‘erfahren hat.
V. Die Benutzung der Schule
im Dienste der Sparsamkeit.
Die Knappheit an Lebensmitteln und
anderen Bedarfsgegenständen führte
zu besonderen Maßnahmen der Unter¬
richtsverwaltung, um die Jugend auf die
1179 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen UnterriditsverwaHnng 1180
Ihr zukommenden Pflichten hinzuwei-
sen. Das Bewußtsein der Pflicht jedes
Deutschen, durch tapferes Ertragen und
Überwinden der durch den Krieg her¬
beigeführten Schwierigkeiten zur sieg¬
reichen Durchführung des Kampfes um
Deutschlands Zukunft beizutragen, soll
bei der Schuljugend und der schulent¬
lassenen Jugend lebendig gehalten und
gekräftigt werden. Die Not des Krieges
und die zu erwartende imgünstige wirt¬
schaftliche Lage nach dem Kriege ver¬
langen gebieterisch, daß jeder Haushalt
bemüht ist, sich seinen Bedarf auf dem
billigsten Wege zu beschaffen. Die Un-
terrichtsverwaltung hat für diesen
Zweck besondere Unterweisungskurse
eingerichtet Sie hat auch die weibliche
Jugend darüber belehren lassen, daß die
herrschende Mode im Bekleidungsge¬
werbe der gebotenen Sparsamkeit nicht
entspreche.
In immer steigendem Maße ist die
Schule in den Dienst der Volksemäh-
rung gestellt worden mit dem Ziele der
Erhöhung der Produktion und der
Schaffung von Ersatzmitteln. Es han¬
delte sich dabei in erster Linie um die
Heranziehung der Schuljugend zu den
landwirtschaftlichen Arbeiten, die ohne
dies bei dem Fehlen der rüstigen Män¬
ner nicht bewältigt werden konnten. Die
Unterrichts Verwaltung hat eine Reihe
aufeinanderfolgender Erlasse herausge¬
geben, in denen sie darauf hingewiesen
hat, daß es unerläßlich sei, ältere Schul¬
kinder zur Hilfeleistung bei landwirt¬
schaftlichen Arbeiten und bei der Gart en-
beste llung zu beurlauben. Die empfind¬
liche Störung, die der Unterricht hier¬
durch erleide, müsse im Hinblick auf
die Notwendigkeit, zur Sicherung der
Volksemäh rung namentlich auch die
kleinen Wirtschaften zu erhalten, getra¬
gen werden. Die Urlaubserteilung von
Schulkindern wurde daher in jeder
Weise erleichtert Den um Urlaub bitten¬
den, ohnehin mit Arbeit überhäuften El¬
tern sollte die Gewährung ohne Weit¬
läufigkeit zuteil werden. Die Schulvor¬
stände wurden ermächtigt, die älteren
Schulkinder, aueh ganze Klassen, zu den
Emtearbeiten zu beurlauben. Nament¬
lich für die Herbstfrucht- und die Kar¬
toffelernte, aber auch zur Obsternte,
seien die Schulkinder zu beurlauben. Als
im vorigen Jahre die Kartoffeln zur
Fäulnis neigten und gegen Frostschäden
geschützt werden mußten, wurde das
Durchsammeln der Kartoffelbestände
durch Schulkinder angeregt und hierzu
überall nachBedürfnisUrlaub erteil LAuch
zur Unkrautvertilgung und zur Beseiti¬
gung von Obst- und Gemüseschädlin-
gen, wie zum Ährenlesen, selbst zum
Viehhüten wurden Schulkinder wieder
zur Verfügung gestellt Der Ertrag des
Ährenlesens ist zu erheblichem Teil dem
Roten Kreuz zugute gekommen.
Die Schwierigkeit auswärtigen Kin¬
dern während der Mittagszeit Brot
mitzugeben, wirkten mit zu der Gestat¬
tung der zusammengelegten Unterrichts¬
zeit. Die Zivilbehörden wurden ermäch¬
tigt, auch bei plötzlich eintretenden land¬
wirtschaftlichen Bedürfnissen die Schule
schon früh amTage zu schließen. Die Lage
der Ferien sollte lediglich nach den land¬
wirtschaftlichen Bedürfnissen eingerich¬
tet werden. Sie sind auf die Zeiten zu le¬
gen, in denen die Heranziehung der
Schuljugend besonders dringlich ist. In
der Erntezeit reicht die Hilfe der Kinder
vom Lande häufig nicht aus. Die recht¬
zeitige Einbringung der Ernte war schon
im vorigen Jahre von solcher Bedeu¬
tung, daß auch die höheren Schulen ein¬
schließlich der Lehrerbildungsanstalten,
ermahnt wurden, sich der Mitwirkung;
wo sie gewünscht werde und nützl/ch
sein könne, nicht zu entziehen. Die
Schüler der oberen und mittleren KLas-
Original frorn
INDIANA UNIVERSIT7
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1181 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung f 162
sen, soweit sie dazu bereit und körper¬
lich befähigt seien, seien auf Wunsch ih¬
rer Eltern für die Körner- und Kartoffel¬
ernte je nach Bedürfnis zu beurlauben.
In einzelnen Provinzen, namentlich in
Pommern und Schleswig-Holstein, auch
in Westfeien sind mit solchen Schüler¬
kommandos, die zum Teil unter Leitung
von Jugendkompagnieführem standen,
die besten Erfahrungen gemacht wor¬
den. Sie sollten die Landwirte ermun¬
tern, auch in diesem Jahre von dem
Angebot höherer Schulen zur Stellung
landwirtschaftlicher Hjilfsarbeitskrüfte
Gebrauch zu machen. Die Kriegswirt-
schaftsämter haben in großem Maßstab
die Organisation solcher Arbeitshilfe in
die Hand genommen, auch Kurse zur Un¬
terweisung der Schüler im Gebrauche
der landwirtschaftliehen Maschinen ein¬
gerichtet, und es ist dafür gesorgt,
daß ein Ausgleich zwischen Ange¬
bot und Nachfrage stattfindet. Keine
Scholle Erde darf imbebaut bleiben. Die
Unterrichtsverwaltung hat angeordnet,
daß auch die Schulgärten und Schul¬
grundstücke der Stellen, deren Inhaber
gefallen oder einberufen sind, von den
Schulvorständen bebaut werdeh.
Weiter wurde die Schule zur Mitwir¬
kung aufgerufen bei der Beschaffung
von Ersatz- und Ergänzungsmitteln zur
bisher üblichen Nahrung. So wurde
nachdrücklich auf den Wert der bisher
vernachlässigten, aber billig zu be¬
schaffenden Pilznahrung hingewiesen.
Es sollten Wanderungen unter Leitung
Pilzkunddger veranstaltet werden, um
die Teilnehmer mit den Fundstätten
und den Kennzeichen der einzelnen Pilz-
arteh bekanntzumachen. Dabei sollten
auch gute Pilztafeln verwendet werden.
Die Schulkinder wurden zur Sammlung
von Beeren und Wildgemüsen für die
menschliche Nahrung an gehalten. Aus
den Weißdomfrüchten soll einKaffeeer-
ersatzmittel gewonnen werden. Einhei¬
mische Teesorten sollen gesammelt wer¬
den, um den asiatischen Tee zu ersetzen.
Es kommen namentlich junge getrocknete
und alsdann zerkleinerte Blätter der Erd¬
beere und Brombeere in Betracht, dane¬
ben auch viele andere einheimische Pflan¬
zen. Eicheln, Buchein und Roßkastanien
sollen zur Erleichterung der Viehhaltung
und zur Milderung des Olmangels ge¬
sammelt werden. Dazu ist die Beteili¬
gung der Kinder unentbehrlich. Eine
Reihe von Sparsamkeitsmaßregeln so¬
wohl bezüglich der Nahrungsstoffe wie
anderer Bedarfsartikel wurde den Schul¬
kindern und durch ihre Vermittlung den
Eltern ans Herz gelegt. Das Flugblatt
des Präsidenten des Kriegsernährungs¬
amtes an die deutschen Hausfrauen, in
dem sie auf die vaterländische Pflicht
hingewiesen wurden, sorgsam zu wirt¬
schaften und durch freiwillige Abgabe al¬
ler irgend entbehrlichen Lebensmittel die
Ernährung desHeeres und der Großstädte
sicherzustellen, wurde mit Hilfe der
Schulen verbreitet. Ebenso geschah es mit
dem Flugblatt über die Notgemüse und
die Kriegsgemüse. Durch Vermittelung
der Kinder wurde die Bevölkerung er¬
mahnt, die Kartoffeln in der Schale zu
kochen und so Vergeudung von Nähr¬
stoffen zu verhüten. Die Lehrer wurden
aufgefordert, die Bevölkerung vom Ver¬
füttern des Getreides abzuhalten und mit
dem Brot sparsam umzugehen. Bei der
Regelung des Verbrauchs der Nahrungs¬
mittelvorräte, der Feststellung der Zahl
der einzelnen Haushalte und der vor¬
handenen Vorräte bediente man sich
wieder der Hilfe der Lehrer. Die Schul¬
küchen in den Städten wurden benutzt,
um dort Vorträge und Besprechungen
über empfehlenswerte Nahrungsmittel,
ihren Wert und ihre beste, sparsamste
Verwendung im Haushalt zu veranstal¬
ten. Auch wurden dort Speise anstalten
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INDIANA UNfVERSITY
1183 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung U84
für Vereine und für die Allgemeinheit
eingerichtet. Für die Hauswirtschafts¬
lehrerinnen wurden im vorigen Jahre
Kurse eingerichtet, um sie mit all den
Verfahrungsweisen zur Erhaltung der
Obsternte vertraut zu machen. Es han¬
delte sich vornehmlich darum, die Be¬
völkerung auf diesem Wege darüber
aufzuklären, wie Obst ohne Zucker ein¬
gemacht und erhalten werden kann. Die
Nützlichkeit und Notwendigkeit des
hauswirtschaftlichen Unterrichts der
Mädchen aller Volkskreise war zwar
auch vor dem Kriege schon von der
Unterrichtsverwaltung erkannt worden,
aber in Ermangelung ausreichender Mit¬
tel war die Einrichtung solchen Unter¬
richts doch im wesentlichen den grö¬
ßeren und mittleren Städten überlassen
worden. Der Krieg hat dazu geführt,
daß die Unterrichts Verwaltung auch
Maßnahmen angegeben hat zur Einfüh¬
rung haus wirtschaftlichen Unterrichts
in kleinstädtischen und ländlichen Ver¬
hältnissen. Sie werden nach dem Kriege
hoffentlich dazu helfen, dieses volks¬
wirtschaftlich so außerordentlich wich¬
tige Fach zur allgemeinen Einführung
zu bringen.
Der Ernährung der Schuljugend wen¬
dete die Unterrichtsverwaltung ernste
Aufmerksamkeit zu. Sie stützte sich da¬
bei auf einen Bericht des Reichsgesund¬
heitsamtes, in dem Maßregeln vorge¬
schlagen werden, um die Unterernäh¬
rung der Jugend bei dem Fett- und
Fleischmangel zu verhüten und trotz der
gegenwärtigen schweren Zeit eine ge¬
sunde körperliche Entwicklung der Ju¬
gend zu sichern. Im Vordergründe steht
dabei die Verbringung der gefährdeten
Kinder in gesündere Verhältnisse, wie
Ferienkolonien, Kinderheilstätten, See¬
hospize, aufs Land, daneben aber auch
regelmäßige Schülerspeisungen, wie sie
in einer Reihe von Städten eingerichtet
sind. Schon im Jahre 1916 sind auf Ver¬
anlassung des Unterrichtsministers rund
60000 Kinder der städtischen und Indu¬
striebevölkerung in ländlichen Familien
untergebracht worden. In diesem Jahre
ist die Aufnahme in großzügiger Weise
unter Herausgabe von Richtlinien in An¬
griff genommen worden. Für die Be¬
schulung der aufs Land zu verbringen¬
den Kinder sind besondere Maßnahmen
vorgesehen. Es wird gehofft, daß da¬
mit Hunderttausende von Kindern ge¬
sundheitlich gefördert und die Schwie¬
rigkeiten der Volksemährung in den
Städten und Industrieorten erheblich ge¬
mindert werden.
Eine Reihe von Ersparnismaßregeln
sind von der Unterrichtsverwaltung ge¬
troffen worden. Um den Eltern die An¬
schaffung des immer teurer werdenden
Lederschuhwerks zu sparen, wurde er¬
klärt, daß das Verbot für die Kinder, bar¬
fuß zur Schule zu kommen, nicht mehr
gerechtfertigt sei. Das Tragen von Schuh¬
werk mit Holzsohlen wurde empfohlen.
Daneben wurden Gummisammlungen in
den Schulen veranstaltet. Für die
Zwecke der harzverbrauchenden Indu¬
strien, insbesondere für die Papierindu¬
strie, wurden Schulkinder beurlaubt um
in den Staatsforsten Harz zu sammeln.
Nachdrücklich wurde auf Papiererspar¬
nis hingewirkt. Neue Schulbücher und
Lehrmittel, deren Gebrauch nicht unbe¬
dingt notwendig ist, sollen nicht einge¬
führt und angeschafft werden, um den
Eltern während der Kriegszeit unnötige
Ausgaben zu sparen und auch unter dem
Gesichtspunkte der Papierersparnis.
Darum wurde auch die Einführung von
Kriegslesebüchern nicht gestattet. Druck¬
aufträge dürfen von den Universitäten
nur erteilt werden, insoweit es unbedingt
geboten ist. Festschriften, Einladungs¬
schreiben u. dgl. müssen fortfallen, we¬
nigstens dürfen Staatsmittel dazu nicht
1185 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1186
verwendet werden, auch nicht zu Chro¬
niken. Gleicherweise sind die Druck¬
schriften der höheren Lehranstalten
eingeschränkt worden. Der F^etro-
leummangel zwang zu äußerster Ein¬
schränkung des Verbrauchs in den Schu¬
len und zu schleuniger Anlegung von
Gas- und elektrischer Beleuchtung, bis
der Kohlenmangel auch hier äußerste
Sparsamkeit auferlegte und auf volle
Ausnutzung des Tageslichtes hinwies.
Der Ersparnis von Beleuchtungsmitteln
auch in den Unterrichtsanstalten dient
die Einführung der Sommerzeit: die
gesetzliche Zeit wurde gegenüber der
mitteleuropäischen vom 1. Mai bis 30.
Oktober 1916 um eine Stunde vorverlegt.
Im Sommer begann also die Schule vie¬
lerorts nach mitteleuropäischer Zeit
schon um 6 Uhr. Es sind damit je nach
den Gegenden verschiedenartige Erfah¬
rungen gemacht worden. Die Lichterspar¬
nis ist unbestreitbar, und so ist 1917 auch
wieder die^ommerzeit in Kraft getreten,
jedoch ist, um der beklagten Übermü¬
dung der Schuljugend vorzubeugen, ge¬
stattet worden, da, wo es angezeigt er¬
scheint, den Unterricht im Sommer zur
gleichen Stunde wie im Winter nach der
mitteleuropäischen Zeit zu beginnen.
Mit großer Freude haben sich die
Schulen in den Dienst der Goldsamm¬
lung gestellt. Ihre Tätigkeit auf diesem
Gebiete der Volkswirtschaft ist aufs
wärmste anerkannt und ihre Fortsetzung
immer wieder angeregt worden. Im
Herbst 1915 hatten die preußischen
Schulen bereits 65 Millionen Mark Gold
gesammelt, Mitte 1916 konnte ein weite¬
rer Zuwachs von 15 Millionen gemeldet
werden. Außerdem haben die Schulen
entbehrliche Gold- und Silbergegen¬
stände, Platinbrennstifte und kleine Ge¬
genstände aus Sparmetallen mit sam¬
meln helfen. Ebenso haben sie zur wirt¬
schaftlichen Kräftigung Deutschlands
Internationale Monatsschrift
durch die von ihnen und durch ihre Ver¬
mittlung bewirkten Zeichnungen der
Kriegsanleihen wesentlich beigetragen.
Der bargeldlose Verkehr ist auch durch
Belehrung in den Schulen gefördert wor¬
den. Die Einsammlung des Schulgeldes in
den Schulen, in denen sie noch Sitte
war, wurde abgestellt, und damit wur¬
den die Eltern auf den Übenveisungs-
und Scheckverkehr hingewiesen, der
ihnen auch dadurch geläufig werden
soll. Zur sozialen Tätigkeit der Schüler
gehört auch die gleich bei Beginn des
Krieges eingeleitete Anfertigung von
Liebesgaben für die Krieger in den
Schulen und die Einrichtung von
Schreibstuben durch die Lehrer für die
Angehörigen der Krieger, in denen An¬
leitung zur Adressierung und Verpak-
kung der Feldpostsendungen und Hilfe
bei der Abfassung der Feldpostbriefe
gewährt wurde. Eine weniger durch
Sparsamkeit als durch den Arbeiter- und
Materialmangel gebotene Maßregel der
Unterrichtsverwaltung war das im
Herbst vorigen Jahres erlassene Verbot
der Ausführung von Schulbauten, so¬
weit nicht die Ausführung im unauf¬
schiebbaren Schulinteresse lag.
VI. Sorge für die Zukunft der
Schüler.
Neben den gewaltigen Aufgaben der
Gegenwart galt esfürdieUnterrichtsver-
tung die Zukunft der ihrem Dienst¬
bereich angehörenden Kriegsteilnehmer
zu sichern. Hier standen sich zwei Er¬
wägungen gegenüber: der Schaden, den
der einzelne durch seine Teilnahme am
Kriege erleiden mußte gegenüber dem
Nichtteilnehmer, sollte ausgeglichen
oder tunlichst herabgemindert werden,
anderseits durften im allgemeinen
Staatsinteresse die Anforderungen hin¬
sichtlich der wissenschaftlichen und
praktischen Ausbildung nicht unter ein
38
1187 A. Sachse, Die Kriegsma&nahttien der Preußischen UnterrichtsverwaKung H86
gewisses Mindestmaß herabsinken.
Hier die richtige Grenze zu finden, ist
sehr schwer, Und es hat nicht an Mei¬
nungsverschiedenheiten unter den bun¬
desstaatlichen Regierungen, die jede für
sich auf dem Gebiete des Unterrichtswe¬
sens bis auf wenige einschränkende, für
das Reich geltende Bestimmungen selb¬
ständig sind, gefehlt Den Tüchtigen wird
auch dadurch freie Bahn gewährt, daß
den Untüchtigen staatlicherseits Grenzen
gezogen werden. Es handelte sich für
die Unterrichtsverwaltung um Personen,
welche die wissenschaftliche Befähigung
zum einjährig-freiwilligen Dienst, wei¬
ter um Schüler der höheren Lehranstal¬
ten, welche bestimmte Versetzungen und
die Erlangung des Reifezeugnisses er¬
strebten, endlich um die Studierenden,
welche sich für Staatsprüfungen vorbe¬
reiteten.
Unter den durch den Krieg geschaffe¬
nen Verhältnissen war es nicht mehr mög¬
lich, die in der Wehrordnung vorgesehe¬
nen Prüfungen für den einjährig-frei¬
willigen Dienst abzuhalten. Die Kom¬
missionen stellten alsbald ihre Tätigkeit
ein. Die jungen Leute, welche die wis¬
senschaftliche Befähigung für den ein¬
jährig-freiwilligen Dienst nachweisen
wollten, wurden höheren Lehranstalten
zur Prüfung zugewiesen. Es wurden Not¬
prüfungen in den höheren Lehranstalten
und den militärberechtigten Privatanstal-
ten eingerichtet Zu ihnen wurden auch
junge Leute zugelassen, die eine neun¬
jährige Mittelschule erfolgreich durch¬
gemacht hatten oder durch Privatunter¬
richt vorbereitet waren. Nach den für
das Reich geltenden Bestimmungen war
die Erteilung des Befähigungszeugnisses
an die Zöglinge der Lehrerseminare vor
Ablegung der Entlassungsprüfung nicht
zulässig. Die Unterrichtsverwaltung
glaubte diesen Standpunkt festhalten
zu sollen, gab ihn aber doch später
auf. Mit allerhöchster Ermächtigung
wurde den Zöglingen der Lehrersemi¬
nare von der Klassenstufe ab, für die
nach den maßgebenden Aufnahme¬
bestimmungen in der Regel die Vollen¬
dung des 17. Lebensjahres gefordert
wird, das Zeugnis über die wissenschaft¬
liche Befähigung für den einjährig-frei¬
willigen Dienst ausnahmsweise vor Er¬
langung eines zum Lehramt an Volks¬
schulen befähigenden Zeugnisses erteilt,
soweit diese Schüler während des Krie¬
ges bereits in den Heeresdienst ein getre¬
ten waren und beim Eintritt das 17. Le¬
bensjahr vollendet haben. Später wurde
auch diese Altersbeschränkung aufgege-
ben. In ähnlicher Weise konnte auch
Schülern der Obertertia, die Herbst 1914
die Reife für die Untersekunda erwor-
ten und voraussichtlich beim Jahres-
Schluß die Reife für Obersekunda er¬
langt hätten, das Zeugnis der Befähi¬
gung für den einjährig-freiwillen Dienst
erteilt werden. Während in Friedenszei¬
ten erst der auf Grund des Befähigungs¬
zeugnisses ausgestellte Berechtigungs¬
schein den Eintritt in den einjährig-frei¬
willigen Dienst eröffnete, OFdnete das
Kriegsministerium im Laufe des Krieges
zur Beseitigung der mancherlei Schwie-
keiten, welche sich auch fürältereLeute
aus der gesetzlichen Unmöglichkeit, sich
den Berechtigungsschein noch zu ver¬
schaffen, ergab, an, daß das Zeugnis der
wissenschaftlichen Befähigung, auch
wenn der Berechtigungsschein nicht er¬
teilt ist, für die Zulassung zur Ausbildung
als Reserve- und Landwehroffizier als
Ausweis anzuerkennen sei. Damit ist
zahlreichen Volksschullehrem, denen
nachträglich auf Grund der Bestimmun¬
gen der Unterrichtsverwaltung die wis¬
senschaftliche Befähigung zum einjäh¬
rig-freiwilligen Dienst zugesprochen
worden ist, die Beförderung zum Offi¬
zier eröffnet worden.
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INDIANA UNIVERSITY
1189 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung ngo
Für die Schüler höherer Lehranstal¬
ten wurden sofort nach Kriegsausbruch
Notprüfungen eingerichtet. Alle Ober¬
primaner, die in das Heer eintraten, wur¬
den zur Reifeprüfung zugelassen, die,
welche sich im zweiten Halbjahre der
Oberprima befanden, unter Erlaß der
schriftlichen Prüfung. In ähnlicher
Weise wurden Reifezeugnisse fürhöhere
Klassen an Schüler niederer Klassen er¬
teilt. Unterprimanern wurde die Fähn¬
richsprüfung erlassen, Obersekundaner
wurden zu ihr zugelassen. Die Zöglinge
der I. Seminarklasse wurden wie die
Oberprimaner behandelt. Sehr bald
wurde allgemein der Grundsatz aufge¬
stellt und er ist im Verlauf des Krieges
im allgemeinen festgehalten worden,
daß die den Schülern vorzeitig ausge¬
stellten Zeugnisse der Reife für eine hö¬
here Klasse nur für den Fall Gültigkeit
haben sollten, daß die Schüler tatsächlich
in das Heer eintreten. Sie verlieren ihre
Gültigkeit, wenn der Eintritt in das Heer
oder in den Etappendienst tatsächlich
nicht geschehen ist. Treten die Schüler
infolge von Verwundung oder Krankheit
vorzeitig aus, so wird für die verschie¬
denen Fälle bestimmt, in welche Klasse
sie dann einzutreten haben. Sie sollen
eben eine tunlichst vollständige Vorbil¬
dung für die nächste Klasse erreichen.
Denen, die die Notreifeprüfung bestan¬
den haben, ist das Zeugnis sofort auszu¬
händigen. Notreifeprüfungen in Präpa-
randenanstalten wurden nicht zugelas¬
sen. Während in der ersten Zeit des Krie¬
ges der freiwillige Eintritt in dasHeer, ins¬
besondere der als Fahnenjunker, für die
Zulassung zu Notprüfungen ausreichte,
wurde später nur die Einberufung auf
Grund gesetzlicher Verpflichtung gelten
gelassen, insbesondere durfte Sekunda¬
nern, die als Fahnenjunker eintreten woll¬
ten, die Reife für die höhere Klasse nicht
mehr vorzeitig erteilt werden. Neue Be¬
stimmungen machte das Gesetz über
den vaterländischen Hilfsdienst in die¬
sem Jahre notwendig. Die Schüler, wel¬
che durch Vermittlung ihrer Direktoren
in den vaterländischen Hilfsdienst ein¬
treten, erhalten die Versetzung in die
nächsthöhere Klasse zu demselben Zeit¬
punkte, an dem sie sde bei weiterem Besu¬
che der Anstalt erreicht hätten, unter der
Voraussetzung, daß sie nachweislich bis
dahin im vaterländischen Hilfsdienst ge-
I blieben sind. Unter der gleichen Voraus¬
setzung sind dieSchüler, welche zuOstern
1917 die Versetzung nach Oberprima er¬
reichen, zur Notreifeprüfung zugelassen.
Trifft die Voraussetzung nicht zu, so
müssen die Schüler behufs Erlangung
der Versetzung oder des Reifezeugnisses
zur Schule zurückkehren. Das Reife¬
zeugnis wird bei Eintritt in den Heeres¬
dienst aber ausgehändigt. Zwischen dem
auf Grund einer Notreifeprüfung ausge¬
stellten Reifezeugnis und sonstigen Reife¬
zeugnissen besteht kein Unterschied.
Das gilt auch für die Immatrikulation.
Die Frage der Kriegsprimaner, d. h.
derjenigen Primaner, welche ohne die
Reifeprüfung abgelegt zu haben, in den
Krieg gezogen sind, hat in jüngster Zeit
die Öffentlichkeit lebhaft beschäftigt.
Die preußische Unterrichtsverwaltung
hatte schon im Jahre 1915 in Aussicht
genommen, nach Beendigung des Krie¬
ges für Schüler höherer Lehranstalten,
die am Kriege teilgenommen haben,
Lehrgänge zur Vorbereitung auf die Rei¬
feprüfung einzurichten und eine beson¬
dere Reifeprüfungsordnung für sie zu
erlassen. Inzwischen aber mehrten sich
die Fälle, daß junge Leute als Kriegs¬
beschädigte zurückkehrten und ihre
Schulbildung zum Abschluß zu bringen
wünschten. Darum erschien es billig, für
sie alsbald eine geordnete Vorbereitung
einzurichten und die Bestimmungen der
erleichterten Reifeprüfung auf sie anzu-
38*
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Original frern
[ND1ANA UNfVERSITY
1101 A. Sachse, Die KriegsmaBnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung HQ2
wenden. Bayern und Württemberg woll¬
ten weitergehen und allen nach Prima
versetzten Kriegsteilnehmern bei der
Heimkehr ohne weiteres das Reifezeug¬
nis gewähren, ein Verfahren, mit dem die
Bestimmungen der reichsgesetztichen
Ordnungen der ärztlichen, zahnärzt¬
lichen und pharmazeutischen Prüfung
kaum in Einklang zu bringen waren.
Preußen schlug eine Vereinbairung der
Bundesregierungen über die gegensei¬
tige Anerkennung der nach der in Preu¬
ßen entworfenen „Ordnung der Reifeprü¬
fung für Kriegsteilnehmer“ erteilten Rei¬
fezeugnisse vor und hat kürzlich die
Zustimmung sämtlicher Bundesstaaten
zu dieser Vereinbarung erreicht Zu die¬
ser Reifeprüfung sollen Kriegsteilneh¬
mer, welche auf einer höheren Lehran¬
stalt die Versetzung nach Untersekunda,
Obersekunda, Unterprima erreicht hat¬
ten, nach 1 V*-, 1-, V* jährigem Besuch be¬
sonderer Vorbereitungsklassen zugelas¬
sen werden. Für diese Sonderklassen
sind besondere Lehrpläne und Lehrauf¬
gaben aufgestellt
Die Studierenden, die im Felde stehen
oder im Dienst der freiwilligen
Krankenpflege tätig sind, sah die Unter¬
richtsverwaltung von Beginn des Krie¬
ges an als beurlaubt an; sie durften nicht
wegen Nichtannahme von Vorlesungen
aus den Listen gestrichen werden. Da¬
gegen gestattete sie in erster Zeit die
Immatrikulation der aus der Schule ins
Herr eintretenden jungen Leute nicht,
weil sie das Studium tatsächlich nicht be¬
ginnen konnten. Jedoch hat sie später
diesen Standpunkt gemildert. Es er¬
wies sich als notwendig, erleichtern¬
de Bestimmungen über die Zulassung
zu den Prüfungen, welche Universi-
täts- und Hochschulstudium abschlie¬
ßen oder den Zugang zu staatlichen
oder höheren gewerblichen Berufen
eröffnen, zu treffen. Je nachdem, ob
die Prüfungsordnungen von Reichs
oder Staats wegen erlassen waren, trafen
der Reichskanzler (für den ärztlichen,
zahnärztlichen, für tierärztlichen und
pharmazeutischen Beruf) oder der Unter¬
richtsminister die Anordungen. Es ist be¬
reits eine große Anzahl von Verfügungen,
namentlich hinsichtlich der Anrechnung
der Kriegszeit auf die Ausbildungsdauer
getroffen worden, und es ist vorauszu-
sehen, daß die Länge des Krieges hier
noch mancherlei Abänderungen und
Ausgleichungen zwischen der Dauer der
wissenschaftlichen und praktischen Vor¬
bildung bringen wird. Es ist nicht mög¬
lich, die verschiedenen Berufe nach glei¬
chen Grundsätzen zu behandeln, weil
sich in dem einen Berufe Mängel der
wissenschaftlichen Vorbildung in der
Praxis des Amtes allenfalls ausgleichen
lassen, in dem anderen aber der Eintritt
ohne die wissenschaftlichen Grundlagen
sich von selbst verbietet
Die Studierenden der Medizin und der
Zahnheilkunde, der Tierheilkunde und
der Pharmazie wurden bei Beginn des
Krieges sofort zu einer abgekürzten Prü¬
fung zugelassen, wenn sie nur wenig¬
stens im letzten Semester standen. Das
praktische Jahr wurde ihnen erlassen.
Sie erhielten bei Bestehen der Prüfung
sofort die Approbation. Später wurde
der Kriegsdienst bis zur Dauer eines hal¬
ben Jahres angerechnet, sowohl für die
Vorprüfung wie für die Hauptprüfung.
Bei der Anrechnung von Kriegsdienst ist
eine medizinische Betätigung nicht zu
fordern, vielmehr gilt jede Art von
Dienst im Heere und in der Marine, mit
oder ohne Waffe, im Feld oder in der
Heimat als Kriegsdienst. Sechs Monate
Kriegsdienst können als ein Studiense¬
mester angerechnet werden, jedoch ist
die Anrechnung auf die vier klinischen
Semester nur aus besonderen Gründen
zulässig.
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Original fram
INDIANA UNIVERSITY
1103 A. Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung 1194
Die Kandidaten des höheren Schul¬
amts, ebenso die Volksschullehrer, wel¬
che die Prüfung zur endgültigen Anstel¬
lung ablegen wollten, wurden bei Be¬
ginn des Krieges sofort zur erleichterten
mündlichen Prüfung zugelassen, wenn
sie die schriftlichen Arbeiten bereits ab¬
gegeben hatten. Zu einer ebensolchen
erleichterten Prüfung sind auch wei¬
terhin die im Kriegsdienst stehen¬
den Volksschullehrer zugelassen wor¬
den, wenn sie vorher zwei Jahre an
Schulen vollbeschäftigt gewesen waren.
Die Vorbereitungszeit (Seminar und
Probejahr) der Kandidaten des höheren
Lehramts, die mindestens ein Jahr im
Kriegsdienst gestanden haben, ist auf ein
Jahr zu beschränken, wenn ihre unter-
richtlichen Leistungen genügen. Die an-
stellungsfähigen Kandidaten des höhe¬
ren Lehramts sind für den Fall ihrer Be¬
schäftigung als Hilfslehrer mit einer
etatsmäßig fes tgesetzten Stundenzahl als
ständig gegen Entgelt beschäftigte
Staatsbeamten anerkannt worden. Die
Studierenden der technischen Hochschu¬
len wurden bei Beginn des Krieges bei
einer Studiendauer von 4 Semestern zu
einer abgekürzten Diplom-Vorprüfung,
bei 8 Semestern zu einer solchen Haupt-
Prüfung zugelassen, wenn die schriftli¬
chen Arbeiten angefertigt und als ausrei¬
chend erachtet waren.
VII. Fortsetzung der friedlichen
Tätigkeit
Wenn auch die preußische Unter¬
richtsverwaltung aus Anlaß des Krieges
unter dem Druck seiner Anforderungen
auf manche geplante Förderung des Un-
terrichtswesens hat verzichten müssen,
so hat doch ihre friedliche Tätigkeit ne¬
ben der Befriedigung der Kriegsbedürf¬
nisse nicht geruht. Neben dem Abschluß
verschiedener Vereinbarungen mit an¬
deren deutschen Staaten über die gegen¬
seitige Anerkennung von Prüfungszeug¬
nissen und neben dem Erlaß neuer Prü¬
fungsordnungen f ürTum- undSchwimm-
lehrer und -lehrerinnen sowie für
Sprachlehrerinnen mögen hier nur zwei
wichtige Fortschritte aus dem Be¬
tätigungsgebiete der preußischen Unter-
richtsverwaltung genannt werden, die
sich trotz des Kriegszustandes bewirken
ließen. Im Frühjahr 1915 ist das
Zentralinstitut für Erziehung und Unter¬
richt in Berlin mit den beiden Sonder¬
ausstellungen „Schule und Krieg“ und
„Biologische Schularbeit“ sowie die dem
Zentralinstitut eingegliederte Zentral¬
stelle für den naturwissenschaftlichen
Unterricht eröffnet worden. Damit ist
eine zentrale Sammel-, Auskunft- und
Arbeitstätte für das weitverzweigte Ge¬
biet des Erziehungs- und Unterrichtswe¬
sens mitten im Kriege geschaffen wor¬
den. Und im vorigen Jahre ist die Kö¬
nigliche Bergakademie in Berlin mit der
Technischen Hochschule-daselbst ver¬
einigt worden; sie wurde ihr als sechste
Fachabteilung für Bergbau eingegliedert.
Der Krieg dauert an. Niemand weiß,
wann er enden wird. Aber das erscheint
sicher, daß er seinen Höhepunkt über¬
schritten hat. Nachdem auch das Hilfs-
dienstgesetz ins Leben getreten ist, wer¬
den wesentlich neue Probleme an die
Unterrichtsverwaltung nicht mehr her¬
antreten. Die Grundlagen für ihre Stel¬
lungnahme zu den Kriegsforderungen
sind gelegt. Das rechtfertigt die Abfas¬
sung dieser Arbeit zu jetziger Zeit Es
handelt sich nur noch um den Ausbau
einzelner Kriegsmaßnahmen und ihre
Ergänzung an einzelnen Stellen. Ohne
Schaden kann das Unterrichtswesen aus
einer so gewaltigen Umwälzung nicht
hervorgehen. Aber es wird aus der
vorhergehenden Darstellung einleuch-
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INDIANA UNIVERSIT
1105 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1196
ten, daß die preußische Unterrichtsver-
waltung getan hat, was in ihren Kräften
stand, um den Schaden zu mindern. Man
darf das Zutrauen zu der deutschen Ju¬
gend, die sich im Kriege so herrlich be¬
währt hat, haben, daß sie nach siegrei¬
cher Heimkehr auch an ihrem Teile be¬
strebt sein wird, den Schaden wettzu¬
machen. Dazu sprießen Keime zukünf-
ger Entwicklung des Unterrichtswesens
empor und eröffnen einen fröhlichen
Ausblick in die kommenden Zeiten.
Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der
französischen Okkupation 1806—1813.
Von Georg Gronau.*)
Ebenso gering war schließlich der Er¬
folg, der allen Bemühungen der hessi¬
schen Bevollmächtigten behufs Wieder¬
erlangung der „Malmaison- Bilder“ be-
schieden war. Es handelte sich hier um
die 48 Bilder, die, wie eingangs erzählt
Kurfürst Wilhelm I. im Oktober 1806 zu
retten versucht hatte, die aber gleich
nach der Okkupation Hessens dem Ge¬
neral Lagrange in die Hände gefallen
und nach Mainz transportiert worden
waren. Napoleon hatte sie seiner Ge¬
mahlin Josephine zum Geschenk ge¬
macht; sie bildeten bis 1815 die Haupt-
zierde von Schloß Malmaison. Denon
hatte sich eifrig bemüht, auch die 36 Bil¬
der, welche Josephine tatsächlich er¬
halten hatte — „tous ä la vferitfe fort
beaux“, sagt Denon—, dem Musfee Na¬
poleon zu sichern :„Ilsdevinrentun objet
de discussion, terminfee par le silence de
l’empereur, ce qui a pu faire croire ä
rimpferatrice Josfephine que ces tableaux
lui appartenaient et ce qui m’a empfe-
chfe de les comprendre dans le catalogue
du musfee.“ 45 ) Eine Bestätigung dieser
Angabe liefert eine Mitteilung in den
hessischen Akten: die Nachforschungen
der Museumsdirektion hätten aufhö¬
ren müssen, als Napoleon auf ihre An¬
zeige von der Weigerung der Kaiserin
*) Siehe Heft 9.
43) Saunier a. a. O. S. 78.
zur Herausgabe die Entscheidung er¬
teilte: eile ne serait pas Impferatrice si
eile agissoit autrement. 44 ) Und als sich
Denon 1814 im Auftrag des Ministers
Comte de Blacas an die Erben Jose-
phinens wandte, antworteten diese: J1
parait que S. M. les avait tellement oon-
sidferfes comme sa proprifetfe personelle,
qu’elle a disposfe d’un assez grand
nombre et qu’avec sa dfelicatesse tres
connue, eile n’eüt certainement pas pris
sur eile de le faire, s’il y avait pu avoir
le moindre doute.“ Sie beriefen sich
darauf, daß man bei der Scheidung
alles, was als Eigentum der Krone gel¬
ten konnte, selbst die Wäsche, der Kai¬
serin abgefordert hätte, nicht dagegen
diese Bilder: „Si des tableaux avaient
fegalement pu fetre considferfes sous ce
rapport, on eüt de mfeme exigfe la
remise.“ So waren die Bilder als
Eigentum der Familie Beauhamais im
Schloß Malmaison verblieben.
Wie oben mitgeteilt, war es Robert
bei seinem ersten Pariser Aufenthalt
nicht gelungen, die Hauptbilder im
Schloß zu Gesicht zu bekommen. Nur
drei davon hatte er bei flüchtigem
Durchgetriebenwerden als tatsächlich
vorhanden feststellen können. War
schon damals insgeheim jenes Abkom¬
men getroffen worden, das den recht-
44) Stengel S. 399.
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l'NDIANA UNIVERSITY
1197 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1198
mäßigen Besitzer ein für alle Male
seiner kostbarsten Stücke berauben
sollte ? Man könnte die Worte in der
eben zitierten Antwort der Erben Jose-
phinens, die während der Verhand¬
lungen, am Tage vor Abschluß des
Pariser Friedens, verstarb (29. Mai 1814),
in diesem Sinne deuten.
Daß tatsächlich seit einer gewissen
Zeit die Absicht bestand, die Malmai-
son-Bilder zu verkaufen, geht aus den
Mitteilungen eines Engländers, der im
damaligen Kunsthandel eine Rolle
spielte, Buchanan, unzweifelhaft her¬
vor. Er teilt mit. daß es einen Augen¬
blick, nach dem Einrücken der aliierten
Truppen in Paris, möglich gewesen sei,
siß zu dem mäßigen Pre is von 10 000 L.
zu erwerben, doch scheute er das damit
verbundene Risiko; und kaum war der
erste Alarm vorüber, so stiegen die Ob¬
jekte rasch wieder im Wert. Seine wei¬
teren Absichten durchkreuzte der in¬
zwischen vollzogene Verkauf an den
russischen Kaiser. 45 )
Die hessischen Unterhändler erfuhren
bei ihrer Rückkehr nach Paris zu ihrer
peinlichen Überraschung, daß „die Ge¬
mälde von Sr. Maj. dem Kaiser von
Ruszland infolge älterer Unterhand¬
lungen gekauft und dem Fürsten von
Wolkonsky seit dem Einmarsch der ali¬
ierten Armeen in Paris übergeben wor¬
den seyen“. 46 ) Über die näheren Um¬
stände dieses Kaufs ist man nicht ge¬
nau unterrichtet; Grimm berichtete
später (15. Oktober) darüber, wie ihm
vertraut eröffnet worden', sei Pozzo di
Borgo, der russische Gesandte, gegen
die Akquisition gewesen, Wolkonsky
und Nesselrode aber dafür; „des erste-
ren (Wolkonsky) Frau, mit der Königin
Hortensia oder einer ihrer Damen genau
45) Buchanan, Memoirs of painting... II,
London 1824, S. 296.
46) Stengel S. 401.
bekannt, habe lebhaft intrigiert und so
sei die Sache endlich dabei geblieben“. 47 )
Der bevollmächtigte Vertreter der Fami¬
lie Beauharnais, ein Chevalier Soulange,
hatte die Stirn, jede Kenntnis von der
Gemäldesammlung überhaupt abzuleug-
nen. 48 ) Später (in einem Schreiben vom
4. Oktober) gab er wenigstens die Tat¬
sache des Verkaufs „en vertu d’an-
ciennes conventions d’achat“ zu. 49 ) Zu¬
nächst scheint Grimm den ordnungsge¬
mäßen diplomatischen Weg versucht zu
haben, aber derStaatsminister Graf Nes¬
selrode und Fürst Wolkonsky antwor¬
teten nicht, ebenso machte es Fürst Har¬
denberg; ein Versuch letzteren zu spre¬
chen mißlang. 50 ) So entschloß sich
Grimm einem ihm erteilten Rat zu fol¬
gen und „den einzigen hier überbleiben¬
den, vielleicht noch fruchtenden Schritt
einer unmittelbaren, die Gefühle, welche
Recht und Wahrheit eingeben müssen,
unverhüllenden Vorstellung an den Kai¬
ser selbst zu tun“. Dies geschah in einer
langen Eingabe an Alexander I. vom 29.
September, in der er die Angelegenheit
so darstellt, als ob der Kaiser seitens der
Familie Beauharnais über die Herkunft
der Gemälde nicht unterrichtet worden
sei. 51 ) Da der Monarch inzwischen be¬
reits Paris verlassen hatte, gab er das
Schreiben einer „sicheren österreichi¬
schen Gelegenheit nach Dijon“ mit; er
sprach allerdings später die Besorgnis
aus, es möchte dem Kaiser erst in Ber¬
lin zukommen, da jener Kurier eine an¬
dere Route hatte nehmen müssen. Zwei¬
felhaft ist, ob das Schreiben je in die
Hände Alexanders gelangt ist; wenn es
der Fall war, so hatte es jedenfalls kei¬
nerlei Erfolg.
Inzwischen hatte Grimm durch einen
47) Stengel S. 51. 48) Stengel S. 29.
49) Stengel S. 46. Vgl. auch die wichtige
Darlegung Carlshausens ebendort S. 400 ff.
50) Stengel S. 23/4. 51) Stengel S. 27 ff.
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[ND1ANA UNfVERSITY
1100 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1200
Vertrauensmann, den in Paris ansässi¬
gen Hanauer Kaufmann Toussaint, er¬
fahren, daß die Bilder „wirklich einge¬
packt und auf der Reise nach Rußland
wären:“ 51 ) Auf demselben Wege ging
ihm die Nachricht zu, „daß 38 StQck Ge¬
mälde aus Malmaison für den ruß. Kai¬
ser eingepackt worden und in diesem
Augenblick bereits zu Havre befindlich
seien" 5S ), ferner daß „ein russischer Ge¬
neral voriges Jahr auf seine eigene Hand
vier Stück mitgenommen". Irgendwelche
Angaben, welche Bilder der Kaiser wirk¬
lich gekauft, und wie hoch sich der
Kaufpreis belief, waren nicht zu erlan¬
gen. Später erfuhr man, daß der russi¬
sche Hof für die Gemälde eine halbe
Million Franken bezahlt habe. 54 )
So mußte man sich begnügen, auf die
wenigen in Malmaison zurückgebliebe¬
nen hessischen Gemälde die Hand zu
legen. Man hatte das Vorhandensein von
vier Stücken festgestellt; daß es von al¬
len die geringwertigsten waren,wirdmie-
manden erstaunen; nämlich zwei dem
Poussin zugeschriebene Bilder (Galerie
Nr. 460, das andere im Depot), eine Ma¬
ria angeblich von Guido Reni (Galerie
Nr 574) und eine Landschaft von Ber¬
eitem. Wieder scheint es der Mitwirkung
des preußischen Militärs zu verdanken
gewesen zu 6ein, daß die ersten drei
endlich in den Besitz der hessischen Au¬
toritäten gelangten. Das vierte jedoch,
der Berchem, war verschwunden, als sie
die andern fortnehmen ließen; von dem
Chevalier Soulange war nichts zu erhal¬
ten, außer einer Erklärung, „daß sich
keines der 45 Bilder in dem Gewahrsam
des Prinzen Eugen (Beauharnais) gegen-
52) Stengel S. 2$. 53) Stengel S. 50.
54) Waagen, Die Gemäldesammlung in
der kaiserlichen Eremitage zu St Peters¬
burg 1864, S. 20, gibt als Kaufpreis für die
Malmaisonbilder nebst 3 Statuen Canovas
400000 Rubel an.
wärtig hier befinde*'. 66 ) So mußten sie
denn auch dieses Stück preisgeben. Der
Vertreter der Beauhainais aber hatte ih¬
nen wiederum bewußt die Unwahrheit
gesagt; das Bild von Berchem war tat¬
sächlich im Besitz der Erben Josephi-
nens verblieben. Es ist so gut wie sicher
identisch mit Nr. 132 der Galerie Leuch¬
tenberg, ein Bild, das Waagen als ein
Werk „ersten Ranges von diesem so un¬
gleichen Meister“ 66 ) hervoihebt.
Aber mindestens noch zwei weitere
Bilder waren im Besitz des Prinzen Eu¬
gen Beauharnais vorhanden und wur¬
den 1815 unterschlagen. Ein als „der
Heuwagen“ bekanntes Werk von Wou¬
we rman ist schon 1829 als Bestandteil
der Leuch tenbergschen Galerie (damals
in München) beschrieben und hat sich
noch vor wenigen Jahren in der berühm¬
ten Petersburger Sammlung befun¬
den 51 ). Ebenso war auch ein Slingeland
in Malmaison verblieben, der wenige
Jahre später bei König Maximilian in
München auftaucht, um bei der Verstei¬
gerung nach dessen Tod in den Besitz
des englischen Königs überzugehen. 58 )
Heute, wo die großen, mit aller wün¬
schenswerten Sorgfalt gearbeiteten Ka¬
taloge der kaiserlichen Sammlung in Pe¬
tersburg vorliegen, ist es nicht schwer
festzustellen, welche Gemälde der Cas¬
seler Sammlung tatsächlich 1815 aus
Malmaison nach Petersburg gelangt
sind. Mit Ausnahme von einer einzigen
Nummer findet man sie alle, 37 an der
Zahl, in Somoffs großem Katalog, zu
dem für die französischen Bilder Waa-
gens Angaben als Ergänzung treten, ver-
55) Stengel S. 87.
56) Waagen a. a. O. S. 386.
57) Smith, Catalogue I, S. 354, Nr. 521;
Hofstede de Groot II, S. 561, Nr. 948.
58) Die Provenienz ist durch die Angaben
von Waagen, Kunstwerke und Künstler 0,
S. 164, sichergestellt.
* Google
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INDIANA UNtVERSITY
1201 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1202
zeichnet. Von diesen 37 Bildern haben
sich aber 16 niemals in Cassel befunden
und müssen eine andere, uns unbe¬
kannte* Herrschaft haben. 59 ) Es bleiben
demnach nur 21 Bilder (vielleicht 22,
wenn man die nicht nachgewiesene Nr.
38 des Ankaufs hinzuzurechnen hat)
übrig, deren Provenienz aus Cassel un¬
zweifelhaft gesichert ist. Es sind dies
nach Somoffs Katalog die folgenden
Stücke:
Band I.
Nr. 251. Dolci, Mater dolorosa.
Nr. 24. Andrea del Sarto, Heilige Familie.
Band II.
Nr. 1075. Berchem, Bergige Landschaft.
Nr. 904. Dou, Die Heringsverkäuferin.
Nr. 905. Dou, Die Heringsverkäuferin.
Nr. 1086. K. du Jardin, Vieh auf der Weide. 80 )
Nr. 1206. J. van der Heijde, Ansicht von
Köln.
Nr. 1211. J. van der Heijde, Amsterdamer
Ansicht.
Nr. 880. Metsu, Das Austernfrühstück.
Nr. 1198. Neefs, Inneres einer gotischen
Kirche.
Nr. 1051. Potter, Der Meierhof.
Nr. 1052. Potter, Das Leben des Jägers.
Nr. 880. Rembrandt, Die Kreuzabnahme.
Nr. 672. Teniers, Die Antwerpener Schüt¬
zengilde.
Nr. 673. Teniers, Die Wachtstube.
Nr. 699. Teniers, Die Affenküche.
Nr. 983. v. d. Werff, Die Austreibung aus
dem Paradies.
ferner:
Nr. 1428—1431. Claude Lorrain, Die sog-
Vier Tageszeiten. 61 )
59) Es sind die folgenden Bilder nach
Somoffs Katalog: Bd. I, Nr. 245 Biliverti,
194 Canlassi, 254 Dolci, 72 Luini, 185 Reni,
42 Santi (Kopie), 272 Schiavone, 108 Tizian
(Kopie). Bd. II, Nr. 1070, Berchem, 1207 v.
d. Heijde, 491 Lombard, 1055 Potter, 546
Rubens, 870 Terborch, 987 v. d. Werff. Fer¬
ner 1439 Claude Lorrain.
60) Das Bild trug auf Grund einer fal¬
schen Bezeichnung in Kassel den Namen
Potter.
61) Die Angabe bei Waagen S. 293/4
(ebenso Smith, Catalogue VIII, S. 274), wo¬
nach noch ein weiteres Bild von Claude
Sucht man diese 21 Bilder in der
Liste der 1806/7 geraubten Stücke auf,
so stellt man fest, daß sie nicht alle in
die Gruppe der 48 Bilder gehören, die
durch General Lagrange abgefangen
und nach Mainz geschafft worden wa¬
ren; nur auf 16 trifft dies zu. Dage¬
gen gehören die Bilder von Dujardin,
Metsu, Teniers (die Affenküche) und van
der Werff in die Rubrik der Bilder, die
Robert als „unter dem Gouvernement
von Lagrange fortgekommen 44 bezeich¬
net; eines, das Kirchenbild des Neeffs,
waren von Denon für den Louvre
ausgesucht worden und ist in der Liste
der Übergabe dieser Bilder 1815 mit dem
Vermerk versehen worden: „ce tableau
ne s’est pas trouvG et a probablemen.t
remis ä une autre cour. 44 Es ist also ge¬
nau nur ein Dritteil jener 48 Bilder über
Malmaison in die Eremitage gekommen.
Wie erklärt sich dieses, und was ist aus
den übrigen geworden? Wie oben mit-
geteilt, hatte Josephine stets erklärt, nur
36 Bilder erhalten zu haben; Grimm
glaubte selbst, daß nicht alle 48 Bilder
jemals zusammen in Malmaison gewe¬
sen wären, und sprach unter Hinweis
auf den Umstand, daß sich niemand er¬
innere, die Caritas von Leonardo je wie¬
dergesehen zu haben, weder in Malmai¬
son noch anderswo, den Verdacht der
Veruntreuung durch Lagrange oder
Martelliere aus. Gesichert sind also die
Schicksale von im ganzen 22 Bildern: 3
kamen an ihren rechtmäßigen Besitzer
zurück, 3 verblieben bei den Beauharnais,
16 gelangten in die Eremitage; demnach
weiß man nichts von 26 der 1806 geraub¬
ten oder von 14, die Josephine erhalten
hatte. Daß vier durch einen russischen
General aus Malmaison mitgenommen
worden seien, hatte Grimm in Paris ge¬
rüchtweise erfahren. Möglich feiner, daß
Nr. 1439 in der Kasseler Galerie sich be¬
funden habe, entspricht nicht den Tatsachen.
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INDIANA UNfVERSITY
1203 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der f ranz. Okkupation 12Q4
die vier Bilder von Dujardin, Metsu,
Teniers und van der Werff, die zweifel¬
los auch aus Malmaison in die Eremi¬
tage gekommen sind, von Lagrange be¬
reits 1806 gegen eine entsprechende Zahl
der anderen Bilder vertauscht wurden.
Immer bleibt ein stattlicher Rest, dessen
Schicksale unaufgeklärt sind. Vielleicht
haben manche als Geschenkgaben der
Kaiserin sich verloren 61 *; wenigstens zwölf
aber waren gewiß von Lagrange bei¬
seite gebracht worden.
Wer die Listen jener fehlenden Bilder
überprüft, wird finden, daß sich die
Mehrzahl heute noch nachweisen läßt,
und daß bei vielen die Spuren in den
Kunsthandel der ersten Hälfte des vori-
rigen Jahrhunderts zurückführen. Wir
stellen hier den jetzigen Bewahrungs-
ort der Bilder zusammen, soweit er
durch die Literatur bekannt ist:
1. London, National Gallery Nr. 862
Teniers, Die Überraschung. Versteige¬
rung Varoc 1822, seit 1826 Sammlung
R. Peel, mit dieser 1871 erworben.
2. London, Wallace Sammlung Nr.
114 Claude Lorrain, Felsige Landschaft
mit Hirten und Herde. 1846 erworben,
zuvor in der Sammlung Talleyrand (dort
schon 1824 nachweisbar).
3.... Nr. 170 Dou, Der Einsiedler.
Seit 1859 in der Sammlung; zuvor viel¬
leicht Sammlung Förier, Paris.
4. London, Buckingham-Palace. Rem-
brandt, Noli me tangere. 1816 von
Georg IV. erworben.
5. . . . Dou 62 ), Frau mit Kind und
61a) In einem Fall laßt sich ein solches
Geschenk nachweisen. Wie aus dem bei
den Akten der Galerie befindlichen Briefe
des Londoner Kunsthändlers Buchanan aus
dem Jahre 1828 hervorgeht, hatte die Kai¬
serin das eine Casseler Bild von Claude
Lorrain dem Prinzen Talleyrand geschenkt.
Es ist die weiter unten folgende Nummer 2.
62) Hieß in Kassel Slingeland. Unter
diesem Namen noch bei Smith, Catalogue I,
S. 56, Nr. 24.
Wiege. War 1826 in London in der
British Gallery ausgestellt
6.... Slingeland, Spitzenklöpplerin.
Als „Dou" im Besitz des Königs Maxi¬
milian von Bayern, 1826 weiterverkauft
7.Wouwerman, Der Pferdemarkt
Schon 1842 dort vorhanden.
8. . . . v. d. Werff, Lot mit seinen
Töchtern. Die Identität nicht völlig ge¬
sichert, falls die Angaben bei Smith
(Catalogue IV, S. 197, Nr. 55) über die
Herkunft stimmen.
9. New (York, Metropolitan Museum
V 28—7 van Dyck, Bildnis des Lucas
vanUffel. Nach Smith, Catalogue SuppL
S. 373, Nr. 21 war das Bild 1836 bei
einem Händler in Paris (später Duke of
Sutherland, London, und Benj. Altman,
New York).
10. Montpellier, Musöe Nr. 678. Dou,
Die Mausefalle. 1829 Sammlung Vale-
dau, Paris (von dort 1890 als Vermächt¬
nis nach Montpellier).
11. Neuwied, Fürst zu Wied. Leo¬
nardo da Vinci zugeschrieben (in Wahr¬
heit von Giampietrino), Leda mit ihren
Kindern. Schon 1835 im Besitz des
Prinzen von Oranien auf Schloß Ter-
vuren bei Brüssel (1850 Versteigerung
König Wilhelms II. von Holland, von
dessen Tochter Fürstin zu Wied er¬
worben). 63 )
12/13. Haiton Manor (England), bei
Baron A. de Rothschild. Rembrandt (in
Wahrheit von Ferd. Bol), Bildnisse
eines Herrn und einer Dame. 1837 in
der Sammlung des Lord Ashburton in
London (Waagen, Kunstwerke und
Künstler II, S. 86); nach Angabe von
63) Die Identität dieses Bildes mit der
Kasseler „Caritas“ ist neuerdings von
Fr. Marx, Über die Caritas des Leonardo
da Vinci. Sächs. Ges. d. Wissenschaften.
XXXIV. Bd. der Abhandlungen, Nr. II, 1916.
bestritten worden; doch scheinen seine
Grande nicht stichhaltig.
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1205 G. Gronau, Die Verluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1206
Smith (Catalogue VII, S. 179, Nr. 562)
1831 von Mr. Buchanan erworben.
14. Brüssel, Sammlung Halot. Wou-
werman, Plünderung einer Stadt. 1816
aus Malmaison verkauft, 1826 in Paris
(diese Angaben nach Smith, Catalogue I,
S. 272, Nr. 257).
15/16. London, Lord Ashburton (noch
jetzt?), van Huysum, Zwei Blumen¬
stücke. 1836 von Smith in der Samm¬
lung Baring beschrieben, die Her¬
kunft aus Cassel ausdrücklich ange¬
geben (Catalogue VI, S. 473, Nr. 41/2. 64 )
17/18. Früher Paris, Comte Pourtales.
van Huysum, Zwei Frucht- und Blumen¬
stücke- Nach Smith (a. a. O. S. 478)
1826 durch ihn aus der angegebenen
Sammlung erworben; später in eng¬
lischem Privatbesitz!. Auch hier die
Herkunft aus Cassel bezeugt
Damit wären denn die Schicksale von
insgesamt 40 der durch Lagrange ge¬
raubten Bilder festgestellt. Etwas un¬
bestimmtere Angaben lassen sich noch
für einige andere gewinnen. Randbe¬
merkungen zufolge, die sich, von einem
offenbar wohlunterrichteten Mann nie-
dergeschrieben, in einem Exemplar des
Katalogs von 1799 65 ) finden, bot der
Kunsthändler Artaria in Mannheim die
schon aufgeführte „Caritas“ von Leo¬
nardo, eine „heilige Familie“ desselben
Meisters und die „Kartenspieler“ von
Schalcken im Oktober 1821 zum Kauf
an ; außerdem den Teniers (jetzt Lon¬
don ; obige Nr. 1), den Wouwerman
(Nr. 14), den Slingeland (Nr. 6) und eine
Madonna von Raphael. Nur bei dem
64) Mit der Provenienz aus Kassel steht
die Angabe von Smith, „Collection of M.
Tolozan 1801“ in direktem Widerspruch,
den aufzuklären ich nicht in der Lage bin.
65) Im Besitz von Frl. Friderike Justi in
Bonn. Die betreffenden Bemerkungen ab¬
gedruckt in der zitierten Schrift von Marx
S. 92/93. Ich vermute, daß sie von Robert
herrühren.
letztgenannten Bilde findet sich die
Randbemerkung „Paris“ als weiterer
Hinweis; daß auch die übrigen sich
ebendort befanden, läßt sich zwar ver¬
muten, aber nicht schlüssig erweisen.
Aus diesen Angaben geht mit hoher
Wahrscheinlichkeit hervor, daß ein be¬
trächtlicher Teil jener kostbaren Bilder
sich 1815 tatsächlich in Paris befunden
haben muß. Einiges war bei den Beau¬
harnais noch nach dem Verkauf der
Malmaison-Bilder an Alexander I. ver¬
blieben, das meiste war, dürfen wir ver¬
muten, bei General Lagrange, der aber
seine Spuren so gut zu verwischen
wußte, daß, wie wir oben sahen, die
hessischen Bevollmächtigten nicht ein¬
mal seine Wohnung in Erfahrung zu
bringen wußten. In einem Falle wenig¬
stens läßt es sich fast sicher erweisen,
daß er der Besitzer eines der geraubten
Stücke gewesen ist. Unter diesen hatte
sich eine dem Raffael zugeschriebene
Madonna befunden — dieselbe, die
Artaria 1821 in Cassel zum Verkauf an-
bot Der hohe Preis von 80000 Francs,
der gefordert wurde, läßt darauf schlie¬
ßen, daß man das Bild als Original
des Meisters ansah,. Von diesem Bild
tauchte in neuerer Zeit nochmals eine
Spur auf. „Noch vor wenigen Jahren,
so weiß der Galerie-Inspektor Friedrich
Müller zu berichten 66 ), wurde von
einem Neffen dieses längst verstorbenen
Generals in Cassel angefragt, ob sich
nicht jemand einer kleinen heiligen Fa¬
milie von Raffael erinnere, welche sich
im Residenzschlosse befunden und vom
Kaiser seinem Onkel geschenkt (!) sei.
Es sollte durch die Antwort die Iden¬
tität des Bildes nachgewiesen werden.“
Dazu bemerkt Eisenmann ergänzend,
das Bild sei „aus der Erbschaft des
Generals Lagrange in den Besitz einer
66) Zeitschr. f. bild. Kunst VI, 1871, S. 189.
1207 G. Gronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz.Okkupation 1208
römischen Adelsfamilie übergegangen,
die es nach neueren Nachrichten in
ihrem Palaste zu Rom bewahrt“. 67 )
Lagrange wartete offenbar so lange,
bis er jede Gefahr erfolgreicher Rekla¬
mation beschworen glaubte; dann
brachte er vorsichtig die einzelnen
Stücke in den Handel — außer seinem
Beuteanteil an den 48 Bildern noch die
weiteren 48 Stüde, die am Schluß seines
Gouvernements aus den Casseler Samm¬
lungen verschwunden waren. Auch für
einige von diesen läßt sich nadiweisen,
daß sie später in Paris im Handel ge-
gewesen sind. 68 ) So wurden vier davon
1820 durch den Casseler Rogge-Ludwig
nebst 14 anderen, unter JGrömes Herr¬
schaft verschwundenen für zusammen
80000 Francs, die der damalige Besitzer,
ein Monsieur Drivet de Lille in Paris
darauf geliehen hatte, angeboten. Noch
von einigen weiteren Bildern kennt man
die Schicksale, die hier kurz zusammen¬
gestellt seien.
1. London, Sammlung Otto Beit.
Ostade, Anbetung der Hirten. Nach An¬
gabe von Smith (Catalogue I, S. 164,
Nr. 203) befand sich auch dieses Bild
in Malmaison und wurde von dort
durch einen Monsieur Delahante er¬
worben ; später (1823) bei Chev. Erard
in Paris.
2. London, Buckingham-Palaoe. Te-
niers, Bergige Landschaft mit Reisen¬
den. Nach Smith (Catalogue III, S. 358,
Nr.371) schon 1827 daselbst vorhanden.
3. ... Fr.Mierisd.Ä. Herr und Dame
(angeblich der Maler und seine Frau).
Nach Smith (Catalogue I, SL 63, Nr. 4)
67) Katalog der Kgl. Gemäldegalerie Cas¬
sel 1888, S. XIX.
68) Vier Bilder davon sind, wie oben
nachgewiesen wurde, inMalmaison gewesen
und von dort in die Ermitage gelangt;
ein weiteres, ein kleines Bild von Brueghel,
war später in der Galerie Leuchtenberg
(Nr. 137).
bereits 1826 dort Die Identität mit dem
verlorenen Casseler Bild wahrschein¬
lich, doch nicht völlig gesichert-
4. London, Sammlung Alfred von
Rothschild. Wouverman, Aufbruch zur
Falkenjagd. 1826 im englischen Handel ,
(Smith, Catalogue I, S. 299, Nr. 348).
Die Identität mit dem Casseler Bild
durch die genaue Übereinstimmung der
Maße so gut wie gesichert 69 )
5. Paris, Sammlung HeugeL Ostade.
Bauemgesellschaft im Wirtshaus. Nach
Smiths Angabe (Catalogue, Suppl. S. 96,
Nr. 52) 1829 in der Sammlung Th.
Emmersonj. Die Maße stimmen fast
genau mit dem ehemaligen Casseler
Bild.
6. Pjaris,Sammlung Marquise d'Aoust
Schalcken, Das Gleichnis vom ver¬
lorenen Grosdien. Die Identität mit dem
Casseler Bild von H. de Groot (Verzeich¬
nis V, S, 333, Nr. 30 u. 30a) vermutet
7. Paris, Kunsthandel um 1840. G. Co-
ques, Familienstück mit 8 Personen.
Das von Smith (Catalogue SuppL S. 584,
Nr. 6) sehr bewunderte Stück wurde da¬
mals in Paris angeboten.
8. London, Sammlung Oswald Smitb
1842. Slingeland, Die Spitzenklöpplerin
(Smith, Catalogue Suppl. S. 29, Nr. 14).
Die Identität dieses Bildes, dessen ge¬
genwärtiger Besitzer nicht bekannt ist
vermutet schon (und wohl mit Recht)
Hl de Groot (Verzeichnis II, S. 457,
Nr. 40).
Den hessischen Bevollmächtigten
bzw. Vertrauensmännern — Grimm, Ro¬
bert und Unger — waren diese Ver¬
stecke während ihres Pariser Aufenthal¬
tes alle verborgen geblieben. Das Mi߬
trauen, das sie gegen die Erben Joseph!-
69) Allerdings stimmen die von de Groot
(Verzeichnis II, S. 412, Nr. 537) Qbernomme-
nen Provenienzangaben von Smith nicht
denn das Kasseler Bild gehörte seit 1731
van Röver.
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[ND1ANA UNfVERSITY
1209 G.Gronau, DieVerluste der Casseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1210
«ens hegten, die Sicherheit, daß ein Teil
der kostbaren Beute noch im Besitz von
JLagrange sich befinden müßte, boten
keine genügende Handhabe, um entspre¬
chend vorgehen zu können. Erst Jahre
danach, durch die Angebote von Artaria
1820, von Rogge-Ludwig 1821, begann
sich der Schleier des Geheimnisses eini¬
germaßen zu lüften, aber der überaus
sparsame Kurfürst Wilhelm I. war nicht
gewillt, sein ihm durch Raub entwende¬
tes Gut für beträchtliche Summen zu¬
rückzuerwerben: er hat alle entspre¬
chenden Anträge abschlägig beschie¬
ßen. Robert hat doch nach und nach den
Verbleib mancher Bilder in Erfahrung
gebracht, hat z. B. auch gewußt, daß
einige in die Sammlung des englischen
Königs gelangt waren; eine von seiner
Hand geschriebene, unter den Akten der
Galerie bewahrte Liste führt 50 Bilder
auf mit Angabe ihrer Besitzer und gibt
die teilweis sehr beträchtlichen Preise
an, zu denen sie verkauft worden waren.
Man darf vermuten, daß ein mit dem
Kunsthandel genau vertrauter Mann, et¬
wa Artaria, ihm diese Informationen
verschafft hat.
Was hätten die Vertreter der hessi¬
schen Interessen, in diesem Falle also
der chargö d'affaires Grimm, tun könn-
nen? Er hat den einzigen Schritt ver¬
sucht, der nach Recht und Billigkeit zu
tun war, indem er nämlich auf Kom¬
pensationen drang. „Ich entwarf ein Me¬
moria, heißt es in seinem Bericht vom
7. November, um darzutun, daß Deutsch¬
land diesen Verlust (das bezieht sich auf
die namentlich den Rheinlanden entwen¬
deten Kunst- und wissenschaftlichen
Gegenstände) nicht, wie den so vieler
anderer Dinge verschmerzen, sondern
auf eine Kompensation, nicht in Geld,
sondern gleichartigen Gegenständen
dringen müsse. Es kam darauf an, den
Plan dieser Kompensation festzusetzen
und die Abtretung eigener Bücher,
Handschriften usw. den Franzosen so
annehmlich als möglich darzusteilen.
Übrigens habe ich vorbedächtlich in die¬
sem Memoire allgemein und nicht bloß
von Preußen gesprochen, sondern Hes¬
sen und Braunschweig als Länder, die
sich damit in gleichem Fall befinden,
ausdrücklich erwähnt. Sobald man nun
französischerseits das Prinzip der Kom¬
pensation einmal zugestanden haben
würde, warmeine Absicht, darauf zu fu¬
ßen und auch für so viele aus Hessen
entführte und verlorene Kunstgegen¬
stände irgendeinen ähnlichen Ersatz zu
begehren, wiewohl in den dreien hier
in Betracht kommenden Verzeichnissen
(l.dem der45Malmaisoner Bilder, 2. der
18 aus dem Schloß geraubten, 3. der 2
Kisten mit Kostbarkeiten) stets beson¬
dere unangenehme Umstände eintreten,
nämlich nicht das französische Gouver¬
nement unmittelbar als einzuhaften
schuldig betrachtet werden kann, son¬
dern bekanntlich die Familie Beauhar¬
nais und der General Lagrange dazwi¬
schenstehen. Dies ist bei den preußi¬
schen Kompensationsgegenständennidht
der Fall.
Auch versteht es sich von selbst, daß
nicht auf vollständigen oder nur zu ver¬
gleichenden Ersatz gedrungen werden,
sondern nur eine dadurch begründete
und weitere Schritte in der Hauptsache
nicht gerade abschneidende französische
Gegengabe bezweckt werden sollt
Obiges Memoire ging nun bereits am
7. Oktober, mit einem Schreiben des Min.
Altenstein an den Grafen Vaublanc be¬
gleitet, ab und wurde, als die Antwort
ausblieb, moniert; darauf erfolgte
eine bloß dilatorische, und es wurde vor
einigen Tagen preußischerseits wieder¬
holt auf Entscheidung gedrungen.
So stehet die ganze Sache, d. h. nicht
günstig und wenn der Frieden und die
1211 G. Gronau, DieVerluste derCasseler Galerie in der Zeit der franz. Okkupation 1212
Abreise erfolgt, ehe sich Min. Vaublanc
auf den Grundsatz der Kompensation
bejahend einläßt, so dürfte aus dem
Ganzen nichts werden und spätere
Nachverhandlungen wenig fruchten. Um
wenigstens für Hessen nichts zu versäu¬
men, setzte ich abschriftlich angeschlos¬
senen Brief cm Vaublanc auf und über¬
reichte ihn dem Min. Altenstein mittels
Schreiben zur unterstützenden Empfeh¬
lung, da mich ohnedem Vaublanc nicht
anzuerkennen braucht Min. Altenstein
hat mich indessen ersucht, das Schrei¬
ben dermalen noch nicht abgehen zu
lassen, weil durch eine neue, so ansehn¬
liche Nachforderung unserseits Frank»
reich von Anerkennung des principe de
la compensation abgeschreckt werden
dürfte. Dringt Preußen nicht durch, so
werden wir gewiß auch nichts ausrich-
ten; läßt sich Frankreich darauf ein, so
treten wir Hessen ebenfalls auf, und es
ist, wie erwähnt, im Aufsatz vorläufig
darauf hingewiesen.“ 70 )
In dem abschriftlich beigefügten, aber
nicht abgesandten Memoire an Vaublanc
faßt Grimm seine Forderungen in die
Worte zusammen: „Le soussign6 a re-
qu l’ordre de sa cour de rfeclamer au-
prfes de V. E. pour au tan t d’objects pr6-
tieux et presqu’ ingvaluables, dont notre
pays se voit priv6 maintenant, les
niemes compensations et indemnit&s,
que la Prusse obtiendra en pareil
cas." T1 )
Mit Recht aber äußerte er seine Be¬
sorgnis, daß alle Forderungen unberück¬
sichtigt bleiben würden, wenn man nidht
mehr die bewaffnete Macht zur Verfü¬
gung hätte, ihnen den nötigen Nach¬
druck zu verleihen: „In dieser Rücksicht
ist die über alles Erwarten sich verzö¬
gernde Abschließung des Friedens von
Vorteil, weil die alliierten Behörden dar-
70) Stengel S. 85 ff. 71) Stengel S.91.
um länger zu Paris weilen. Allein die
Zeit der kräftigen Maßregeln ist längst
vorüber und der Abzug der Preußen aus
hiesiger Stad*! ... «dem ganzen Reklama¬
tionswesen nachteilig!.“ 7S ) Grimm sollte
nur zu sehr recht behalten. Kaum war
die Befürchtung weiterer energischer
Repressalien geschwunden, als Vau¬
blanc am 5w März 1816 alle früheren
Weisungen bezüglich eventueller Rück¬
gabe aufhoh. 73 ) Keine der Forderungen
der Alliierten, weder der Preußens be¬
züglich der rheinischen Kostbarkeiten
noch der hessischen ist erfüllt worden.
Die übergroße Rücksichtnahme auf die
Stimmung des französischen Volkes gab
den Ausschlag, und so bestätigte sich,
was ein Franzose, Quatrerafere de Quin-
cy, treffend bemerkt hatte: „Er sagte, so
berichtet Grimm, was vollkommen
wahr ist, wir schämten uns mehr bei
Zurückforderung des Raubes, als seine
Nation bei der Wegnahme desselben ge¬
tan hätte.“ 7 *)
Von allen aus Cassel entführten Bil¬
dern kamen demnach nur 289 aus der
Zahl derer, die Denon fortgenommen
hatte, und 3 aus Malmaison an die alte
Stelle zurück. Trotzdem empfand man
daheim große Freude über die geret¬
teten Schätze; die Verluste zu übersehen
waren wohl nur wenige imstande. Rin
rührender Empfang wurde den An¬
kömmlingen bereitet „An einem Herbst¬
tag des Jahres 1815, so berichtete viele
Jahrzehnte später Friedrich Müller aus
seiner Erinnerung 7Ä ), strömten Tau¬
sende aus dem südlichen Tore der Stadt
Cassel, welches von hier nach Frankfurt
führt, um die Wagen ankommen zu
72) Stengel S. 82.
73) Engerand a. a. O. S. 36.
74) Stengel S. 83.
75) Zeitschr. f. bild. Kunst a. a. O. S. 191.
Es war nach anderer Angabe der 1. No¬
vember.
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INDIANA UNIVERSITY
1213
Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte
1214
sehen, welche die so lange schmerz¬
lich entbehrten Schätze wieder zurück¬
brachten, Fuhrwerk und Pferde waren
mit Blumengirlanden und Sträußen
festlich geschmückt, begleitet von den
berittenen Komissären,.die einen wah¬
ren Triumphzug feierten. Jedermann
drängte sich izu ihnen freudig heran
und drückte ihnen dankend die Hand;
selbst der ebenfalls zum Empfang ent¬
gegengefahrene alte Kurfürst konnte die
Rührung nicht unterdrücken.* 4 Und ähn¬
lich schrieb Wilhelm Grimm im „Rheini¬
schen Merkur“ 76 ): „Unsere Kunstwerke
sind nun angekommen und mit allge¬
meiner Freude empfangen, selbst von
solchen, die nur das Zeichen des besieg¬
ten Feindes darin erblicken und in die¬
sem Sinne einige Wagen vor dem Tore
mit Bändern geschmückt haben, damit .
sie gleichsam im Triumphe hereinge¬
führt würden. Alles ist wohlbehalten,
wird nun ausgepackt und aufgestellt,
und es soll dann jeder freien Zutritt ha¬
ben . .. Der Zahl nach der größte Teil
76) Vom 6. Dezember 1815. Abgedruckt
in den Kleineren Schriften, hrsg. von Hin-
richs, Berlin 1881, I, S. 556.
der Bildergalerie ist ausgeliefert, allein,
so klingt sein Bericht mit verhaltenem
Schmerz aus, hier werden berühmte
Stücke von erstem Rang: die vier Ta¬
geszeiten von Claude Lorrain, eine hei¬
lige Familie von da Vinci, die wunder¬
herrliche Caritas, die Kuh von Pot-
ter u. a. vermißt. 44
Faßt man Wiedergewonnenes und
dauernd Verlorenes ziffernmäßig zu¬
sammen, obwohl in diesem Falle Zah¬
len weniger beweisen als sonst, so ka¬
men alles in allem 418 Bilder 77 ) 1814
und 1815 nach Cassel zurück, in der
Hauptsache die Stücke, auf die sich der
heutige Ruf der Casseler Galerie grün¬
det Nicht weniger als 382 aber sind in
den Jahren der französischen Okkupa¬
tion der kurfürstlichen Sammlung wi¬
derrechtlich entzogen worden und ihr
für immer verloren gegangen.
77) Lavaltee gibt in seiner Zusammen¬
stellung der aus dem Mus6e royal zurück-
gegebenen Bilder (Saunier S. 161) die Zahl
der Bilder für Cassel auf 421 an. Diese
Angabe kann nicht stimmen. In obiger Zahl
sind auch die Bilder einbegriffen, die J6röme
1813 zusammengerafft hatte.
Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte.
Von Heinrich Scholz.
Wir haben es im Verlauf dieses Krie¬
ges erleben müssen, daß die Natur des
Deutschen der Natur des Menschen ge¬
genübergestellt worden ist. Diese Ge¬
genüberstellung sollte eine ungeheure
Zurücksetzung des deutschen Geistes be¬
deuten; sie sollte ihn gleichsam in die
Klasse der bösen Geister versetzen und
mit dem Zeichen intellektueller und sitt¬
licher Minderwertigkeit versehen. Wir
sollen fortan nicht mehr berechtigt sein,
uns als Menschen zu fühlen, und auf die
Rücksichten zu rechnen, die Menschen
einander schuldig sind, auch wenn sie
in schweren Konflikten Zusammenstö¬
ßen. Das Band zwischen uns und der
übrigen Menschheit soll fortan zerschnit¬
ten sein.
Wir nehmen die Gefühle nicht leicht,
die hinter dieser Herausforderung ste¬
hen; und wenn der Krieg, wie wir nicht
mehr bezweifeln, auch für unsere Gei¬
stesgeschichte einen tiefen Einschnitt be¬
deutet, so wird die Wirkung dieser Zä¬
sur nicht zuletzt an der Schärfe erkenn¬
bar sein, mit der wir die Unter-
IINDIANA UNIVERSITY
1215
Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschidite
1216
schiede empfinden, die uns tatsächlich
von den übrigen Kulturvölkern tren¬
nen und für diese zum Gegenstand einer
aus Ratlosigkeit und Mißbehagen zu¬
sammengesetzten Verwunderung ma¬
chen. Von diesen Unterschieden ist hier
nicht zu reden; seit dem Ausbruch des
Krieges ist ein reiches Material zu ih¬
rer Erleuchtung herangeschafft worden,
und es ist zu hoffen, daß, wenn
diese Arbeit fortgesetzt und mit gan¬
zem Ernst zu Ende geführt wird, aus
dem Unterschiedsbewußtsein ein neues
Gefühl für die Eigenart unseres Wesens
aufquillt, das uns den dunklen Weg er¬
leuchtet, auf dem wir der Zukunft ent¬
gegengehen.
Aber indem wir jene Herausforderung
annehmen, dürfen wir sie im Blick auf
das, was der Krieg in uns teils hervorge¬
rufen, teils beschleunigt und zu einer
Art von Abschluß gebracht hat, in einem
Sinne auf uns beziehen, der zwar den
Unterschied in seiner vollen Bedeutung
bestehen läßt, ihn aber zugleich in eine
ganz andere Richtung verlegt. Im Ge¬
gensatz zu den westlichen Nationen sind
wir durch diesen Krieg, wie durch jedes
große, an die Wurzeln unseres Daseins
greifende Ereignis, das sich bisher in un¬
serer Geschichte zugetragen hat, um so
tiefer in uns selbst zurückgeführt wor¬
den. Schon heute ist die Zahl der „Be¬
sinnungen“, die der Krieg unter uns her¬
vorgerufen hat, nur mit Mühe zu über¬
sehen; so mächtig ist das Bedürfnis in
uns, in allen kritischen Augenblicken uns
von uns selber Rechenschaft zu geben.
Wir machen für uns keine „Tugend“ dar¬
aus, denn das, was hier wirkt, ist unsere
Natur; aber mit um so besserem Grunde
dürfen wir behaupten, daß keines der
mit uns im Konflikt liegenden Völker
uns in dieser Hin sidht erreicht, oder auch
nur das Bedürfnis fühlt, sich so in sich
selbst zu vertiefen wie wir.
I.
Unter den „Besinnungen", die in dies?
Klasse gehören, verdienen die Studien
zur deutschen Geistesgeschichte, die
Emst Cassirer unter dem Haupttite!
„Freiheit und Form“ veröffentlicht hat
ganz besonders hervorgehoben zu wer¬
den. x ) Sie sind durch den Krieg zwar
nicht erst angeregt, sondern langst vor
Ausbruch des Krieges begonnen worden
Sie tragen daher auch nirgend die Spu¬
ren einer gewaltsam beschleunigten Ab¬
fassung wie etwa Max Schelers „Genius
des Krieges“, dessen Gehalt unter dein
Druck der Abfassungsverhältnisse nicht
unerheblich gelitten hat. Im Gegensatz
hierzu sindCassirersUntersuchungen völ¬
lig abgerundet, und es ist auch nicht eine
Spur von erzwungener Vollendung in ih¬
nen zu entdecken. Mein darf sie in
schriftstellerischer Hinsicht wohl als ein
Meisterwerk bezeichnen. Die große, un¬
gewöhnliche Kunst, mit der der Verfas¬
ser es verstanden hat, die schwierigste .
Probleme gefällig zu entwickeln und
gleichsam voraussetzungslos zu behan¬
deln, ohne ihrer Tiefe Abbruch zu tun.
wird erst klar, wenn man versucht, sie
in dem Sinne, in welchem er sie entwik-
kelt hat, aus eigenen Kräften nachzuge¬
stalten. Vieles, was beim Lesen zunächst
als selbstverständlicher Ausdruck er¬
scheint, erweist sich bei einem solchen
Versuch als das glückliche Ergebnis ei¬
ner ungewöhnlichen Darstellungskunst-
Aber wenn der Krieg auch in keiner
Weise störend in den Gang dieses Wer
kes eingegriffen hat so hat er doch den
äußeren Abschluß beschleunigt; und so
wenig es zu den Erzeugnisse« der
Kriegsliteratur im gewöhnlichen Sinne
des Wortes gehört, so sehr ist es unter
1) Emst Cassirer, Freiheit und Form
Studien zur deutschen Geistesgeschichte
Berlin 1916. Verlag von Bruno Cassirer
XIX u. 575 Seiten. Groß Oktav.
INDIANA UNIVERSITY
1217
Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte
1218
den geistigen Erscheinungen des Krieges
auszuzeichnen. Denn das, was den Ge¬
genstand der Betrachtungen bildet, die
in diesem Werke zusammengefaßt sind,
ist nichts Geringeres als die Entstehung
des deutschen Geisteslebens, also die
Entstehung der geistigen Werte, deren
Erhaltung für uns das letzte Ziel dieses
weltumspannenden Krieges ist. Die Ent¬
stehung des deutschen Geisteslebens
wird in abgerundeten Bildern durch die
vier großen Gebiete der Religion, der
Philosophie, der Dichtung und des
Staatsgedankens hindurchgeführt. Alles
nur zeitgeschichtlich Bedeutsame ist mit
einer Konsequenz, die nur bei Goethe
mit Absicht durchbrochen wird, aus die¬
sem Gemälde ausgeschaltet; die Vergan¬
genheit ist gleichsam unter dem Ge¬
sichtspunkt der Gegenwart gesehen und
damit in gewissem Sinne unter jenen
fruchtbaren geschichtsphilosophischen
Gesichtspunkt gestellt, der, ohne der Ge¬
schichte selbst Abbruch zu tun, das Pro¬
duktive aus dem Historischen heraus¬
hebt, um seine an sich isolierten Mo¬
mente in einer Kurve zusammenzufas¬
sen. Es versteht sich, daß für ein solches
Unternehmen nur die repräsentativen Er¬
scheinungen des deutschen Geistes in
Frage kommen; alle sekundären Geister
müssen aus einer solchen Darstellung
ausscheiden.
Diesen Voraussetzungen gemäß voll¬
zieht sich der Aufbau des deutschen Gei¬
stes in sechs Kapiteln und einer Einlei¬
tung. die wegen ihrer sachlichen Be¬
deutung als siebentes Kapitel bezeichnet
werden kann. Sie enthält nämlich, außer
dem Überblick über die Entwicklung des
Persönlichkeitsbegriffs in der italie¬
nischen, französischen und deutschen
Renaissance, die zwar knapp, aber au¬
ßerordentlich belehrend gefaßten Grund¬
züge des Lutherischen Idealismus und
damit zugleich die Elemente der religiö-
Internationale Monatsschrift
sein Struktur des deutschen Geistes, von
denen hernach nur noch andeutungs¬
weise die Rede ist. Das erste Kapitel
hatLeibniz zum Gegenstände; es ist viel¬
leicht das bedeutendste und neben dem
über Schiller das gelungenste Kapitel
des ganzen Werkes. An das Leibnizbild
schließt sich im zweiten Kapitel ein Über¬
blick über das Erbe der deutsdhenMänner,
die an der Entdeckung der ästhetischen
Formwelt einen grundlegenden und bis
zum heutigen Tage fortwirkenden An¬
teil gehabt haben. Lessing, Hamann,
Herder und Winckelmann stehen hier im
Vordergründe; und zwar so, daß alles’
Licht der Darstellung sich unwillkürlich
auf Lessing konzentriert, während da¬
gegen Winckelmann, trotz der erleuch¬
tenden Nachweisungen über den Zusam¬
menhang seiner Kunstanschauung mit
der Plotinischen Metaphysik, verhältnis¬
mäßig im Schatten bleibt Nicht völlig
auf der Höhe des Leibnizbildes scheint
mir die Darstellung Kants zu stehen, die
das dritte Kapitel ausfüllt. Das überzeit¬
lich Bedeutende an Kant kommt zwar
immer noch eindrucksvoll genug, aber
nicht so unzweifelhaft hell zur Erschei¬
nung wie bei Leibniz: man wird sich
diesen Umstand aus der Tatsache er¬
klären dürfen, daß diese Darstellung die
dritte ist, die der Verfasser von Kant
zu entwerfen gehabt hat und daß die
Kraft, mit der er die übrigen Stoffe be¬
wältigt hat, hier durch eine gewisse Er¬
müdung an ihrer vollen Entwicklung ge¬
hindert worden ist.
Dagegen liegt die ganze Frische einer
ersten gewaltigen Kraftanspannung über
dem vierten Kapitel, das Goethe behan¬
delt. Es ist das umfangreichste von al¬
len und in seiner Geschlossenheit eigent¬
lich ein Buch für sich. Mit souveräner
Beherrschung des Stoffes geschrieben
und eine persönliche Hingabe verratend,
die sich unwillkürlich dem Leser mit-
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Original from
SNDIANA UNtVERSITY
1210
Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Oeistesgesdiichte
1220
teilt, sucht es das Ganze des Goethe-
schen Wesens auf die Höhe zu heben,
auf deres in den d'rei,großen Manifestati¬
onen: seines Lebens seiner Lyrik und sei-
nerNaturanschauung als der konsequente
unteilbare Ausdruck eines Lebens- und
Weltgefühls erscheint, dem alles Äußere
zum Symbol eines inneren, in seiner Her¬
kunft unerforschfichen, in seinen Wir¬
kungen unermeßlichen „Bildungstriebes“
wird. Das Wesentliche an dieser Sym¬
bolik ist dies, daß sie nicht etwa erst
nachträglich durch Reflexion in diesen
Zusammenhang hineingedeutet ist, son¬
dern die Art und Weise ausdrückt, wie
dieser Zusammenhang an sich für Goethe
besteht, und sich ihm zunächst in der
Form der „Dumpfheit“, hernach, seit
der italienischen Reise, in immer helle¬
rer Klarheit erschließt, ohne je ganz den
Charakter des Geheimnisvollen undUn-
erforschlichen zu verlieren.
In scharfem Gegensatz zu der
nächstliegenden Auffassung, die die
Wandlungen in Goethes Leben auf
äußere Veränderungen zurückführt oder
wenigstens zu diesen in enge, unaufheb¬
bare Beziehungen setzt wird Goethes
menschliche und geistige Entwicklung
hier als das Ergebnis eines inneren
Wachstums gedeutet, für welches äußere
Bedingungen höchstens als begleitende,
nicht als erzeugende, kaum als anre¬
gende Momente in Betracht kommen.
Die äußeren Umstände sollen gleichsam
nur die selbstgeschaffenen Symbole und
selbstgesuchten Koeffizienten einer in¬
nerlich determinierten Entwicklung von
unvergleichlicher Konsequenz und Not¬
wendigkeit sein. Das idealistische Mo¬
ment, das in dieser Anschauung durch¬
bricht, ist zweifellos ein berechtigtes Er¬
kenntnismotiv gegenüber dem groben
Realismus, der die gangbare, von philo¬
logischer Seite unterstützte Auffassung
Goethes noch immer beherrscht. Goethe
hat selbst dieser Anschauung vorgebaut,
wenn er den Charakter als die Fähigkeit
bezeichnet, demjenigen eine stete Folge
zu geben, dessen man sich fähig fühlt.
Es ist offenbar, daß diese Worte in
höchst bezeichnender Weise den „Cha¬
rakter“ seines eigenen Lebens enthüllen.
Sie sprechen ein Bewußtsein aus, wel¬
ches sich in der Überzeugung wieder¬
holt, daß „keine Zeit und keine Macht zer¬
stückelt geprägte Form, die lebend sich
entwickelt“. Goethe hat in gewissem
Sinne wirklich immer nur das gesucht
oder auf sich wirken lassen, was der
produktiven Entfaltung der inneren
Energien seines Lebens diente; wo dieser
Zusammenhang sich lösten wie nach der
italienischen Reise in dem Verhältnis zu
Frau v. Stein, hat er den Fortgang sol¬
cher Wirkungen sogar durch entschie¬
dene Gegenwirkungen aufgehoben. Der
„Egoismus“, der hierin zu liegen scheint
verschwindet indessen bei Betrachtung
der merkwürdigen Unbefangenheit mit
welcher Goethe, allen Regeln einer äuße¬
ren Kontinuität zum Trotz, in allen Pe¬
rioden seines Lebens produziert hat was
der augenblicklich erreichten Stufe sei¬
nes Wesens gemäß war — ohne Rück¬
sicht auf die „Folgen“. Hier sieht man
tief in die innere Notwendigkeit seines
Lebensprozesses hinein. Man versteht
in welchem außerordentlichen Sinne er
Eckermann gegenüber sein Wirken als
symbolisch bezeichnen und von der
eigentümlichen Gleichgültigkeit spre¬
chen konnte, mit der er dem Inhalt sei¬
nes Tuns gegenüberstehe. Man sieht
aber auch, wie der Schein des Egoismus
hier vor der Erscheinung einer Natur-
kraft zerrinnt, die Goethes eigene Über¬
zeugung bewahrheitet, daß große Men¬
schen aus der Moralität heraustreten
und zuletzt wie Naturkräfte wirken.
Mit demselben Rechte könnte man die
Leibnizische Monade, dieses Urbild aller
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Original frorn
INDIANA UNIVERSITY
1221
Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte
1222
Entwicklung von innen, mit dem Vor¬
wurf des Egoismus zu treffen meinen.
So wenig hieran zu denken ist, so wenig
kann von einem solchen „Defekt“ Goethe
gegenüber die Rede sein.
Dennoch hatte diese monadologische
Auffassung ihre feste Schranke an den
Bedingungen, denen jede, auch die
größte Individualität unterliegt, und von
denen man sie nicht losreißen kann, ohne
ihre Struktur zu verletzen und der le¬
bendigen Erscheinung ein konstruiertes
Wesen unterzuschieben. Auch Goethe
scheint hiervon keine Ausnahme zu ma¬
chen. Die unvergleichliche Innenhaftig-
keit seiner Entwicklung hebt die Bedeu¬
tung der „Umstände“ nicht auf, die von
„außen“ her in den Gang seines Lebens
eingegriffen haben. Goethe selbst hat
den Anteil, den sie am Aufbau seines
Lebens gehabt hatten, nie bestritten,
vielmehr mit der ihm eigentümlichen
Dankbarkeit, um nicht zu sagen: Ge¬
nauigkeit festgestefit, die in dem schö¬
nen Wort von der frei gefühlten Ab¬
hängigkeit vielleicht ihren reinsten Aus¬
druck gefunden hat. Es liegt also keine
Veranlassung vor, diese Umstände aus-
zuschließen und die Tatsache zu unter¬
drücken, daß auch Goethe in seiner Art
das, was er war und für uns bedeutet,
andern schuldig geworden ist. Der Ver¬
such, ihn dennoch zu isolieren, den Gun-
dolf in seinem jüngst erschienenen
Goethebuch gemacht hat, hat sich als
undurchführbar erwiesen. Auch Cassirer
ist nicht imstande gewesen, ihn über den
Ansatz hinauszuführen.
Indessen, wenn diese idealistische
Methode auch nicht als Erkenntnis¬
prinzip zu gebrauchen ist, so bedeu¬
tet sie doch als Erkenntnismotiv eine
wesentliche Vertiefung der Mittel, die
für die Erschließung Goethes in Betracht
kommen. Sie bedeutet eine Verinnerli¬
chung des Erkenntnisproblems, das in
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Goethes Leben an uns herantritt, und
eine Verschärfung der Erkenntnisan¬
sprüche, die an die Auslegung Goethes
zu stellen sind. So wenig es gelingen
wird, die Welt um Goethe in ihrer selb¬
ständigen Bedeutung für den Gang sei¬
nes Lebens auszuschalten, so vielver¬
sprechend ist der Versuch, ihn unter Zu-
rückdrängung dieser Momente aus sieb
selbst heraus zu verstehen und den An¬
teil seines „Selbstwesens“ an dem Auf¬
bau seines Lebens in konsequenter Ent¬
wicklung festzustellen. Zu einer solchen
Entwicklung hat freilich auch Cassirer
zunächst nur einige Bausteine geliefert;
aber auch diese sind wertvoll genug, um
das Interesse anzuregen, und vor allem
ist der Gesichtspunkt^ unter dem sie ge¬
wonnen sind, in den angezeigten Gren¬
zen einer erhöhten Aufmerksamkeit
würdig.
Daß Goethes Dichtung kein Außen¬
werk ist, das „neben" seinem Leben
steht, sondern dieses Leben selbst, in
seiner Entäußerung erscheinend und zu
einer Folge von Konfessionen verdich¬
tet, ist zwar, seit Goethe selbst zu dieser
Auffassung den entscheidenden Grund
gelegt hat, oft genug betont worden;
indessen der eigentümliche Nachdruck
und die methodische Konsequenz, mit
der es in diesem Werke geschieht,
macht diese Anschauung erst zu dem,
was sie sein kann, nämlich nicht nur zu
einem Schlüssel für die Eigenart, son¬
dern zu einem Beurteilungsprinzip für
den Grundsinn seiner Dichtung, die erst
durch diesen Bezug in der ganzen Größe
ihres „inkalkulablen“ Charakters er¬
scheint. Man braucht der Bestimmtheit
mit der der „konfessionelle" Charakter
der Goetheschen Dichtung hier durch-
geführt ist, durchaus nicht bedingungs¬
los zuzustimmen, man kann auch hier
mit Spielräumen rechnen, die in dieser
Deutung nicht vorgesehen sind; aber
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Original frum
INDIANA UN1VERSITY
1223
Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte
1224
das Prinzip und die Energie, mit der es
der Auslegung dienstbar gemacht wird,
sind Hebel, deren Ansetzung das Goethe-
Problem in eine neue Erkenntnisschicht
hebt. Und selbst wer auch hier noch Be¬
denken trägt, dem Verfasser auf seinem
Wege zu folgen, wird wenigstens das
schöne Wort, das den Zusammenhang
von Goethes Leben und Dichtung er¬
leuchtet, in seiner Erinnerung aufbe¬
wahren. Man kann diesen Zusammen¬
hang nicht treffender aussprechen, als
es durch Cassirer geschieht, wenn er
sagt: „Die Dichtung erst deckt den inne¬
ren Prozeß auf, von dem das Leben nur
Resultat ist.“
Der symbolischen Beziehung, die
Goethe selbst seiner Dichtung auf das
Innere seines Lebens und „Bildungs-
triebes" gegeben hat, entspricht die
Symbolik seiner Naturanschauung. Auch
diese Symbolik ist in ihren GrundzQgen
bekannt. Sie drückt sich in jener Auf¬
fassung aus, die die Erscheinungen der
Natur als die konsequent und kontinu¬
ierlich verknüpften Äußerungen identi¬
scher Energien betrachtet, ohne die
Phänomene selbslt in jener Individualität
und Bestimmtheit anzutasten, durch die
sie für uns zu Erscheinungen werden.
In festen Umrissen begegnet uns diese
Symbolik zum ersten Male in dem Frag¬
ment über die Natur, das um 1780 ent¬
standen ist. Schon hier hat die in tau¬
send Gestalten sich ausarbeitende Na¬
tur sowohl den Gott, der von außen
stößt, wie die st irren substantiellen
Formen in ihre schöpferische Innerlich¬
keit und Unruhe hineingezogen, und die
große Idee des Gesetzes leuchtet schon
hier über dem Lebensprozeß, in dem sie
sich durchgestaltet und auslebt; aber es
bedurfte einer gewaltigen Arbeit, ehe
aus der Fülle dieser dichterischen An¬
schauung die weltanschaulichen Über¬
zeugungen hervorgehen konnten, die
Goethe gewonnen hatte, als der Kanzler
v. Müller ihm jenes Fragment im Jahre
1828 nach anderthalb Menschenaltern
wieder vorlegen konnte. Der Kompara¬
tiv von 1780 hatte sich inzwischen in
einen Superlativ verwandelt, und zwar
durch das Medium ernstester Betrach¬
tung und immer tiefer schürfenden
Denkens.
Diesen Prozeß hat Cassirer mit großer
Sorgfalt und erleuchtender Eindrück-
lichkeit aufgeklärt. Ausgehend von der
grundlegenden Beobachtung, daß Goethe
sich nicht, wie die Mystiker und in ge¬
wissem Sinne auch noch Herder, mit
der Zurückverlegung der Spannungen in
den göttlichen Lebensgrund begnügt
hat, zeigt er in scharfer Zergliederung
die entscheidenden Gesichtspunkte und
Denkmittel auf, durch welche Goethe das
Problem dieser Spannungen einer imma¬
nenten Lösung entgegengeführt hat
Soll die Individualität der Erscheinun¬
gen auf die Einheit der bildenden Kraft
zurückdeuten, und soll die Einheit der
bildenden Kraft die Individualität der
Erscheinungen nicht aufheben, so muß
die Erscheinung unter Gesichtspunkte
gerückt werden, die diese Verknüpfung
anschaulich machen. Goethe hat diese Ge¬
sichtspunkte gefunden, indem er das Mo¬
ment der Individualität in die fertige
Gestalt, das Moment der Einheit hin¬
gegen in das Prinzip der Bildung ver¬
legt. Der Weg von der Individualität zur
Einheit ist der Aufstieg vom Gewordenen
zum Quell des Werdens. Nicht durch
Verdünnung der Individualität wird die
GoethischeEinheit erreicht,sondern durch
die Unterscheidung ihres bildenden
Prinzips von ihrer ausgebildeten Da¬
seinsform. Demgemäß ist die Goethische
Einheit nicht ein Abstraktions-, sondern
ein Funktionsbegriff, und nicht durch
das Verhältnis des Allgemeinen zum Be¬
sonderen, sondern durch das Verhalt-
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1225
Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte
1226
nis der Regel zum Einzelfall mit der In¬
dividualität der Erscheinung verknüpft.
In dem Begriff der Metamorphose faßt
sich das Ergebnis dieser Überlegungen
zusammen; die Schritte, die Goethe nach
der Entdeckung dieses grundlegenden
Begriffes getan hat, sind nicht mehr prin¬
zipieller, sondern mehr materieller Na¬
tur. Von tiefer greifender Bedeutung ist
lediglich die erkenntnistheoretische Ein¬
sicht die ihn, unter dem Einfluß Schillers,
der idealistischen Philosophie und ei¬
genen fortgesetzten Nachdenkens, mehr
und mehr von der statischen zur dynami¬
schen Auffassung der Erscheinungsquel¬
len, von den „Urbildern“ zu den Ener¬
gien hinübergedrängt hat.
Indessen, der Verfasser bleibt hier
nicht stehen; er gräbt noch tiefer und
zeigt an einem Selbstbekenntnis, das Dil-
they zuerst herangezogen hat, wie die
Funktion der Goethischen Phantasie ge¬
nau die Forderungen erfüllt die in dem
Begriff der Metamorphose enthalten
sind. Wenn Goethe sich bei geschlosse¬
nem Auge eine Blume dachte — und
er hatte die merkwürdige Fähigkeit, sol¬
che Bilder selbsttätig hervorrufen zu
können —, so „verharrte sie nicht einen
Augenblick in ihrer ersten Gestalt, son¬
dern sie legte sich auseinander und aus
ihrem Innern entfalteten sich wieder neue
Blumen__ keine natürlichen.son¬
dern phantastische, jedoch regelmäßig
wie die Rosetten der Bildhauer.“ Hier
löst sich, genau wie in Goethes Natur-
anschauung, die Einheit der grundlegen¬
den Bildgestalt im Moment ihres Er¬
scheinens in eine immerfort zunehmende
Mannigfaltigkeit individueller Neuge¬
staltungen auf, die, unter sich und von
ihrem Quellpunkt verschieden, dennoch
mit diesem durch die Konsequenz ihrer
Erzeugungsregel unlöslich verknüpft
sind. So findet Goethes Naturanschau¬
ung in den letzten Elementen seiner ei¬
genen Natur ihr adäquates Gegen¬
bild; und nun erst wird klar, inwiefern
diese Naturanschauung, die in bewußter
Loslösung von der Subjektivität durch
konsequente Hingabe an die Erscheinun¬
gen gewonnen ist, doch zugleich als Aus¬
druck und Folge seiner persönlichen Le¬
bensverfassung gelten kann. Es wird
klar, inwiefern der Begriff der Meta¬
morphose, nachdem er sich einmal in
Goethes Bewußtsein als anschaulich-be¬
griffliches Symbol für die wunderbare
und bewunderungswürdige „Technik“
der Natur fixiert hatte, ihm als der höch¬
ste Begriff erscheinen konnte, den der
sittliche Denker wie der tätige Mann,
der Dichter wie der Forscher zu erringen
vermöge; ist es doch der Grundbegriff,
der die Art und Weise angibt, wie sich das
Leben in allen seinen Daseinsformen, bis
zur höchsten hinauf, die wir selber zu
führen haben, als der zwar individuelle
und insofern durchaus „lebendige“, aber
zugleich auch konsequente und erst hier¬
durch charaktervolle Ausdruck der in¬
nerhalb wie außerhalb der menschlichen
Natur am Werk befindlichen Schaffens¬
kräfte aufbaut. Es wird endlich klar, in
welcher Tiefe der Strukturzusammen¬
hang wurzelt, den Goethe andeutet,
wenn er, den Dualisten zum Trotz, den
Kern der Natur in das menschliche Herz
verlegt, und auf welchem Grunde die
merkwürdige Einheit ruht, die sein Le¬
bensgefühl mit seinem dichterischen
Schaffen und seiner Naturanschauung zu
einem unteilbaren Ganzen verbindet.
Fein hat Cassirer die Wechselwirkun¬
gen betont, die demgemäß zwischen
Goethes ästhetischen Prinzipien und dem
gleichzeitigen Stand seiner Naturan-
schauung bestehen. Sie sind gleichsam
die Probe auf das Exempel und der
Prüfstein für die Richtigkeit des er¬
schlossenen Zusammenhanges. „Wie
Goethe in Italien entdeckt zu haben
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Original fron A
INDIANA UN1VERSITY
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
1229
Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte
1230
sehen Charakter bemerkenswerte Amyn-
tor-Elegie aus der Zeit der dritten
Schweizerreise genannt werden können,
die schon Lichtenberger in seinem Buch
Ober Richard Wagner für die eigentüm¬
liche Art von Goethes Symbolik mit
Recht in Anspruch genommen hat. Die
Art, wie der efeuumrankte Apfelbaum
mit seinen Kraftverlusten und Glücks-
empfindungen ihm zum unmittelbar-an-
schaulichen Symbol seines Verhältnisses
zu Christiane Vulpius wird, ist beson¬
ders geeignet, die Wesenhaftigkeit des
Zusammenhang^ von Natur und Seele,
Welt und Geist in Goethes Dichtung
aufzudecken und den Irrtum zu zerstö¬
ren, der in der Auffassung solcher Be¬
ziehungen als geistreicher Reflexions-
Produkte liegt. In Goethes Sinne werden
hier überhaupt nicht zwei an sich ge¬
trennte Phänomene aufeinander bezogen
— das wäre die schlechte und gekün¬
stelte Symbolik der un poetischen Alle-
goristen —, sondern die Poesie kommt
vielmehr umgekehrt dadurch zustande,
daß der an sich vorhandene geheime Be¬
zug in dem glücklichen Augenblick syn-
. thetischer Anschauung in das Bewußt¬
sein des Dichters eintritt
Man wird aus diesem Oberblick, der
nur die Hauptpunkte andeuten konnte,
eine Vorstellung von der Tragweite der
Erkenntnisse gewinnen, die in dieser Er¬
leuchtung Goethes nach und nach zutage
treten, und nicht ohne ein Gefühl der
Bewunderung auf die Förderung blicken,
die die Einsicht in Goethe durch die ein-
dringenden Forschungen Cassirers er¬
fahren hat. Wenn wir dennoch dieses
Kapitel nicht zu den bestgelungenen zäh¬
len, so liegt der Grund für dieses Ur¬
teil in einer doppelten Erwägung. Ein¬
mal fehlt ihm der strenge Bezug auf die
Struktur des deutschen Geistes, die doch
das Thema des Ganzen sein soll. Die
Vertiefung geht zu sehr ins einzelne und
hält sich namentlich bei den naturan¬
schaulichen Problemen in einer Weise
aut die den Rhythmus des Ganzen ins
Stocken bringt und, vom Standpunkt der
beherrschenden Idee aus gesehen, als
Digression erscheinen muß. So sehr es an
sich zu billigen ist daß hier einmal ernst¬
lich der Versuch gemacht wird, die Er¬
hebung des deutschen Geistes in Goethe
für die Erkenntnis der Struktur dieses
Geistes zu gewinnen, so sehr ist die Aus¬
führung in Bahnen geraten, die von die¬
sem Endziel abführen, indem sie sich an
Probleme klammert die lediglich die Er¬
kenntnis Goethes betreffen. Wenn die
symbolische Apperzeption, das Aus*
druckserlebnis und die Ausdrucksforde¬
rung auf der Grundlage einer ebenso
allgegenwärtigen wie grenzenlos ge¬
dachten Innerlichkeit ein Grundzug des
deutschen Wesens ist der sich in der
deutschen Geistesgeschichte immer kla¬
rer herausarbeitet so mußte es in die¬
sem Zusammenhänge genügen, die All¬
seitigkeit ins Licht zu rücken, durch die
jene Apperzeption in Goethe zu ih¬
rer höchsten Erscheinung und Produkti¬
vität gelangt ist; nicht aber durfte das
Goetheproblem um dieses Nachweises
willeu isoliert und gleichsam von der
Hauptfrage losgerissen werden.
Die zweite Einschränkung, die wir zu
machen haben, bezieht sich auf die Dar¬
stellungsart. Das Kapitel über Goethe ist
meisterhaft geschrieben; aber es hat
einen Fehler, der nicht unbemerkt blei¬
ben kann, weil er die Wirkung eigentüm¬
lich beschränkt: es liest sich zu leicht
und behält sich zu schwer. Wenn man
die acht Abschnitte, in die es zerlegt ist,
gelesen hat, so stößt man bei dem Ver¬
such, ihren Gehalt auszusprechen, auf
unverhältnismäßige Schwierigkeiten.
Diese Schwierigkeiten haben nicht nur
in der Materie ihren Grund, sie liegen
vielmehr in erster Linie in der eigen-
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
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Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte
1232
tOmlichen Struktur der Darstellung, die
es mit einer gewissen Absichtlichkeit
vermeidet, Stützpunkte iür die Über¬
sicht einzuschalten, die entscheidenden
Erkenntnisse herauszuheben und den Er¬
trag der einzelnen Untersuchungen kon¬
struktiv zusammenzufassen. Es ist eine
Folge dieser Unterlassungen, daß man
bei aller Klarheit im einzelnen die Prä¬
zision im ganzen vermißt, wie sie z. B.
in Bouckes Werk über Goethes Weltan¬
schauung erreicht ist.
Um so vorzüglicher ist in dieser Hin¬
sicht das folgende Kapitel über Schiller
gelungen. Hier ist nicht nur der Be¬
zug auf die deutsche Geistesgeschichte
in allen Punkten innegehalten, sondern
der Aufbau selbst so durchsichtig, daß er
sich leicht dem Gedächtnis ein prägt und
aus eigener Kraft im Bewußtsein haftet.
Eine glänzende Einschaltung über die
Struktur des Fichteschen Idealismus in
seiner ersten Epoche, die zu dem Besten
gehört, was über Fichte gesagt ist, er¬
höht die Bedeutung dieses Kapitels und
macht es zu einem Probestück gründ¬
licher deutscher Geistesforschung. Sehr
schön und eindringend ist auch der Ge¬
gensatz von Schiller und Goethe zum
Ausdruck gebracht. „Die Analogie zwi¬
schen künstlerischer Gestaltung und or¬
ganisch-lebendiger Gestaltung ist für
beide entscheidend geworden.“ Der Un¬
terschied aber liegt in folgenden Mo¬
menten. „Für Schiller erschließt sich das
Wesen des Organischen, indem er es
unter dem allgemeinen Gedanken der
Autonomie begreift, indem er es sich als
Sinnbild der Freiheit deutet. Die Welt
des Lebens wird für ihn zum Spiegel,
aus dem ihm der höchste Sinn der sitt¬
lichen Forderung rein und unverfälscht
zurückstrahlt.“ Für Goethe hingegen gilt
der umgekehrte Weg. Er sieht in der
Freiheit, im Sittlichen das höchste Er¬
gebnis des allgemeinen „Bildungstrie¬
bes“ der durch die Natur hindurchgeht.
„Wenn Schiller bis in die Dynamik des
Lebens hinein den Gehalt des Autono-
mieprinzips wiederfindet, so bedeutet
für Goethe die Autonomie, wie sie sich
im Künstlerischen und Sittlichen aus¬
prägt, nur die natürliche Fortsetzung
dieser Dynamik des Lebens selbst.“ Und
wenn für Schiller die Freiheit der Ober¬
begriff ist, unter den er die Gesamtheit
aller Form und Bildung befaßt, so ist
für Goethe umgekehrt die „Bildung“ das
allgemeinste Prinzip, von dem aus er
sich das Sittliche und somit die Freiheit
selbst noch als eine besondere Energie
zu deuten sucht.
Wenn die Probleme der fünf ersten
Kapitel ganz auf geistesgeschichtlichem
Boden stehen, so ragt das letzte Kapitel
mit seinem Gegenstände in die poli¬
tische Sphäre hinein. Die Entwicklung
des politischen Freiheitsbegriffs von
Leibniz bis Hegel macht seinen Gehalt
aus. Diese Entwicklung vollzieht sich in
der fortschreitenden Auseinanderset¬
zung des persönlichen Freiheitsbewußt¬
seins mit dem modernen Staatsbegriff,
der in zunehmendem Umfange in die
Sphäre dieses Bewußtseins eingreift und
sie durch seine Forderungen beschränkt.
Der Ausgleich, der auf deutscher Seite
um so dringender gefordert war, als hier
die geschichtlichen Hintergründe fehl¬
ten, die dem modernen Staatsbegriff erst
den vollen, gefühlsmäßigen Nachdruck
verleihen, liegt in der wachsenden Er¬
kenntnis der Funktionen, durch die der
Staat dem einzelnen erst zur wahren
Kultur der Freiheit verhilft, und die die
Hingabe des einzelnen an die Zwecke
des Staates als Gegenwirkung zur Folge
haben. Die Komposition ist auch in die¬
sem Kapitel sehr klar. Als Höhepunkte
der Darstellung heben sich Kant und He¬
gel heraus, während Fichte nicht ganz
in seiner Bedeutung erscheint und Sehe!-
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
1233
Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte
1234
lings Anteil an der Begründung des ro¬
mantischen Staatsbegriffs, auch durch
den Hinweis auf Adam Müller — das in
diesem Zusammenhang wichtige Univer¬
sitätsstiftungsprogramm von Steffens
scheint Cassirer entgangen zu sein —
nicht völlig befriedigend aufgeklärt
wird. Um so lehrreicher ist dafür die
das Kapitel eröffnende Schilderung des
unpolitischen Idealismus, der als Kon¬
sequenz einer dreihundertjährigen ge*
waltsam nach innen gedrängten Ent¬
wicklung gerade im Augenblick des poli¬
tischen Zusammenbruches seinen Höhe¬
punkt erreicht, und in dem Schiller-
schen Fragment, das Bernhard Suphan
unter dem Titel „Deutsche Größe“ ver¬
öffentlicht hat, einen in jeder Hinsicht
klassischen Ausdruck gefunden hat.
hätten beeinträchtigen können, in glück¬
lichster Weise vermieden sind. Dennoch
wird man fragen dürfen, ob der gänz¬
liche Verzicht auf eine abschließende Be¬
stimmung durch das Interesse an der
Freiheit der Darstellung gefordert war.
Es ist nicht ersichtlich, warum der Ver¬
fasser sich dieser Aufgabe völlig ent¬
zogen hat. Er hätte die vermißten Auf¬
schlüsse an das Ende der Darstellung
rücken und als Ertrag des Ganzen hin¬
stellen können, ohne die Arbeit selbst
auch nur im geringsten anders zu ge¬
stalten, als sie jetzt gestaltet ist. Ein ab¬
schließender Überblick über das Ergeb¬
nis seiner umfangreichen und eindrin¬
genden Arbeit würde die Struktur seines
Werkes verdichtet, die einzelnen Kapi¬
tel fester zusammengefaßt und dem Le¬
ser eine Anstrengung erspart haben, der
er sich nicht entziehen kann, wenn er
das Werk im Sinn des Verfassers als
einen in sich geschlossenen Beitrag zur
Erleuchtung der deutschen Geistesge¬
schichte auf sich wirken lassen will.
Bei dem Versuch, dieses Fazit zu zie¬
hen, muß, der Weisung des Titels gemäß
und den Akzenten der Untersuchung ent¬
sprechend, der Begriff der Freiheit vor¬
anstehen. Er ist auf den Gegenbegriff
der Form durch das Moment der Inner¬
lichkeit bezogen und tritt durch dieses
vermittelnde Moment zu ihm in das dop¬
pelte Verhältnis der Antithese und der
Kombination. Hierzu ist freilich zu be¬
merken, daß die Innerlichkeit in ihrer
Bedeutung für die Entwicklung des Ver¬
hältnisses von Freiheit und Form nicht
so nachdrücklich ausgezeichnet ist, wie
sie es ihrer Funktion nach verdient hätte.
Sie tritt allerdings in der Würdigung
Leibnizens, in der Einschätzung seiner
Monadenlehre für die Struktur des deut¬
schen Geistes, und besonders des klassi¬
schen Zeitalters unserer deutschen Gei¬
stesgeschichte, wenigstens einmal sehr
II.
Diese Untersuchungen zur deutschen
Geistesgeschichte sind nun durch den
Obertitel „Freiheit und Form“ zu einem
Ganzen zusammengefaßt, das der Er¬
leuchtung des deutschen Geistes zu die¬
nen bestimmt ist. Fragt man, was diese
konstituierenden Begriffe von Freiheit
und Form zu bedeuten haben, und wie
sie auszulegen sind, so muß man das
Werk als Ganzes zu Rate ziehen. Man
muß versuchen, aus den einzelnen Mo¬
menten, die im Lauf der Darstellung her¬
vortreten, ein in sich geschlossenes Be¬
griffsbild zu formen; denn der Verfasser
hat es mit Absicht unterlassen, selbst ein
solches Bild zu entwerfen. Er wollte die
Begriffe von Freiheit und Form nicht
wie ein Netzwerk über die Darstellung
ausspannen, sondern aus dieser selbst in
dem Reichtum und der Mannigfaltigkeit
ihrer Modalitäten hervorgehen lassen.
Dieses Verhalten ist sicherlich insofern
zu billigen, als dadurch alle Konstruk¬
tionen, die die Darstellung hätten bela¬
sten oder in der Form von Tendenzen
1235
1236
Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte
schön hervor; aber ihrer vollen Bedeu¬
tung entsprechend wird sie durch diese
eine Hervorhebung nicht gewürdigt. Es
fällt aut daß sie in der Zentralität, mit
der sie die metaphysischen Systeme der
großen Nachkantianer beherrscht, über¬
haupt nicht zur Geltung kommt, wie es
auch auffällt, daß diese Systeme ledig¬
lich unter dem Gesichtspunkt ihres Ver¬
hältnisses zur Idee des Staates und der
politischen Freiheit gewürdigt sind. Die
eigentümlich deutsche Metaphysik, die
uns in ihnen entgegen tritt, ist aus der
Darstellung ausgefallen.
Dennoch wird der Verfasser es bil¬
ligen, wenn das Verhältnis von Freiheit
und Form in dem von ihm gedachten
Sinne durch den Bezug auf die Innerlich¬
keit bestimmt wird. Als Grundmotiv der
deutschen Geistesgeschichte hat die Frei¬
heit für uns einen doppelten Sinn. Sie
bedeutet einmal die Selbsterlösung von
allen Denk- und Lebensformen, die der
Innerlichkeit widersprechen. Als solche
tritt sie mit der Reformation in die Er¬
scheinung und führt von hier aus im
Kampf mit der Form unter dem Einsatz
aller geistigen und sittlichen Kräfte
den Selbstvertiefungsprozeß allmählich
durch alle Gebiete des Geistes hindurch.
Was Luther für die Religion geleistet
hat hat Leibniz für die Wissenschaft
Kant für die sittliche Lebensverfassung,
Goethe für die Kunst geleistet. Überall
setzt der deutsche Geist wo er zu welt¬
geschichtlicher Wirkung gelangt mit der
Kritik der Formen ein, die den Durch¬
bruch der Innerlichkeit hemmen, und ruht
nicht eher, als bis diese Formen zer¬
trümmert sind und die Innerlichkeit sich
frei ausströmen kann.
Aber pus der Zertrümmerung der
Form entsteht der Innerlichkeit eineneue
Gefahr. Es ist der Zustand der Anarchie,
der Formlosigkeit und Zerflossenheit
des gestaltlosen Zerrinnens im Unbe¬
stimmten. Die deutsche Mystik vor Lu¬
ther ist dieser Gefahr in beträchtlichem
Umfange erlegen; und es ist in dieser
Hinsicht sehr lehrreich, bei Cassirer zu
lesen, wie sich die neue lutherische
Freiheit von dem mittelalterlichen Frei¬
heitsideal der deutschen Mystiker unter¬
scheidet. Gerade im gegenwärtigen Au¬
genblick, wo Walther Lehmann bei Eu¬
gen Diederichs in einem an sich sehr
feinen Buche die Stimmen deutscher Got-
tesfreunde von Eckhart bis auf die Ge¬
genwart gesammelt hat, aber in einer
fast unbegreiflichen Weise an Luther mit
der Bemerkung vorübergeht, daß er der
Freiheit im deutschen Sinne durch die
Bekämpfung der Spiritualisten die Wege
gesperrt habe, werden die erleuchtenden
Bemerkungen Cassirers der Aufklärung
des wirklichen Sachverhaltes dienen
können. Um die Erlösung der Innerlich¬
keit handelt es sich in beiden Fällen;
es ist Luther mit dieser Erlösung so
ernst wie den konsequentesten Spiritua¬
listen. Aber indem er Formen zertrüm¬
mert, die diese ertragen zu können mein¬
ten und jedenfalls nicht zerschlagen ha¬
ben, hat er auch stärker als sie edle die
Verantwortung für das Schicksal der er¬
worbenen Freiheit in sich empfunden.
Für ihn und die großen deutschen Gei¬
ster, die auf dem Grunde, den er gelegt
hat, fortgebaut haben, bedeutet Freiheit
zugleich die Erlösung der Innerlichkeit
aus dem Zustande formloser Anarchie
durch Prägung neuer Ausdrucksformen.
Es steht dahinter die Überzeugung, der
Goethe den vollkommensten Ausdruck
geliehen. ha,t: daß alles, was unse¬
ren Geist befreit ohne uns die Herr¬
schaft über uns selbst zu geben, verderb¬
lich sei. So erzeugt die im Konflikt mit
der Form errungene Freiheit aus sich ei¬
nen neuen Willen zur Form und tritt als
solcher in die Erscheinung. Auf allen Ge¬
bieten des geistigen Lebens ist auf den
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1237
1238
Heinrich Scholz, Der Sinn der deutschen Geistesgeschichte
Loslösungsvorgang der Gestaltungspro¬
zeß mit innerer Konsequenz gefolgt, und
man kann sagen, daß die deutsche Gei-
stesgeschichte in der Abfolge und Ver¬
knüpfung dieser beiden Momente ihren
eigentümlichsten Ausdruck gefunden,
ihren innersten Sinn und Gehalt offen¬
bart hat. Auch der Kampf um die Staats-
idee hat sich in dieser Richtung vollzo¬
gen. „Die Entwicklung des Staatsge¬
dankens zeigt von der Reformation
an überall den gleichen charakteristi¬
schen Zug, ... daß die Kräfte,die zu¬
nächst gegen den Staat aufgerufen
werden, in dem Kampf, den sie gegen
ihn führen, vielmehr die immer weiter
gehende ideelle Vertiefung des Inhalts
des Staatsbegriffs selbst vollziehen hel¬
fen.“
Außer dem doppelten Bezug auf die
Freiheit hat aber die Form noch eine
selbständige Bedeutung. Sie dient dem
Verfasser als ein freilich nicht völlig zu¬
reichender, aber kaum durch einen bes¬
seren zu ersetzender Ausdruck für eine
Eigentümlichkeit, die der deutsche Idea¬
lismus in der Auseinandersetzung mit
einem anders gearteten, materiellen Ge¬
sichtspunkten unterworfenen Idealismus
aus sich heraus gearbeitet hat Unter
dem materiellen Idealismus ist ein sol¬
cher zu verstehen, der die Idealität auf
bestimmte Gegenstände bezieht und von
der Hingabe an diese abhängig macht.
Im Gegensatz zu dieser gegenständli¬
chen Denkart hat der deutsche Idealis¬
mus den Geist und die Gesinnung des
lebendigen Subjekts als den einzigen
und entscheidenden Prüfstein echter und
vollkommener Idealität auf allen Gebie¬
ten zum Siege geführt. Er hat der Ge¬
genstandskultur des materiellen Idealis¬
mus eine Kultur des Geistes und der
Gesinnung entgegengesetzt, die ihre Be¬
glaubigung nicht von den Gegenständen
empfängt, sondern diesen vielmehr erst
erteilt Es gibt für das deutsche Bewußt¬
sein keinen Gegenstand, der als solcher
mit dem Idealismus verknüpft ist wije
es umgekehrt für ihn keinen Gegenstand
gibt, der nicht unter dem Einfluß ideali¬
stischer Gesinnung aus der Materialität
herausgehoben werden könnte. Für Lu¬
ther ist nicht wie für die Mystiker vor
ihm, ein bestimmter Komplex von Hand¬
lungen „gut“, etwa die Werke der Barm¬
herzigkeit sondern was diese und alle
übrigen „Werke“ allein zu „guten“ Wer¬
ken macht ist die Gesinnung des „Werk¬
meisters“, der sie vollbringt. Bei Kant
wiederholt sich derselbe Gedanke in ei¬
ner Zuspitzung, die Cassirer zu der Be¬
merkung veranlaßt, daß die Freiheit des
Willens im Kantischen Sinne mit seiner
Unabhängigkeit von materiellen Ge¬
sichtspunkten Zusammenfalle. Den Be¬
griff der Wissenschaft hat Leibniz zu¬
erst gegen Desoartes, Spinoza und Hob-
bes in seiner vollen methodischen Rein¬
heit, als Ausdruck und Folge einer be¬
stimmten Denkart und nicht der Bezie¬
hung auf eine bevorzugte Klasse von
Gegenständen, erfaßt. Auf ästhetischem
Gebiet ist es Lessing gewesen, der ge¬
genüber den Schweizern mit ihrer Aus¬
zeichnung des Wunderbaren als des
Poetischen den Begriff der Poesie auf
den des Genies, also den der schöpfe¬
rischen Kraft im Gegensatz zu dem einer
bestimmten Gruppe von an sich poeti-,
sehen Gegenständen, zurückgeführt hat.
„Auch hier handelt es sich zuletzt um
die Entscheidung darüber, ob die Regel,
die für die künstlerische Gestaltung gilt,
vom Gebilde oder vom Prozeß des Bil¬
dens, von fertigen Musterwerken oder
vom Genie als dem Ausdruck und Inbe¬
griff der schöpferisch-ästhetischen. Kräf¬
te herzuleiten ist.“
In allen diesen Fällen hat der deutsche
Geist den Idealismus der Innerlichkeit
und Gesinnung gegenüber dem Idealis-
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1230
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
1240
mus der Gegenstandsbetonung als den
ihm gemäßen und sachlich überlegenen
durchgesetzt. In dieser Leistung tritt mit
der selbständigen Bedeutung des Form'
prinzips zugleich der Ertrag des Konflik¬
tes von Freiheit und Form und desWiilens
der Freiheit zur Form in die Erschei¬
nung. Der Sinn der deutschen Geistes-
gesdiichte ist damit soweit aufgeklärt
wie es nach Anleitung dieses Werkes
geschehen kann. Man kann es bedauern,
daß der Verfasser das 19. Jahrhundert
in seine Untersuchungen nicht einbezo-
gen hat. Man kann auch im einzelnen
manches beanstanden, wie die Konstruk¬
tionen des Mittelalters und der Renais¬
sance, die das Werk, nicht zu seinem
VorteikmitStücken eröffnen, dieschwer-
lich so zu behaupten sein werden. Man
kann aber nicht auf das Ganze blicken,
ohne ein starkes Gefühl davon zu gewin¬
nen, daß es dem Verfasser gelungen ist,
tief in den Sinn der deutschen Geistesge-
schichte mit seinen Untersuchungen hin¬
einzuleuchten, und diese Geschichte so
aufzubauen, daß alle denkenden Wesen
Ursache haben, an ihrer Entwicklung
teilzunehmen.
Französische Geistesart und ihre Formen
Von Eduard Wechssler.
L
Seit nahezu achthundert Jahren be¬
ansprucht Frankreich den Vorrang im
geistigen Leben Europas. Ein Minne¬
singer und Meister des Ritterromans,
Christian aus Troyes in der Champagne,
verkündete im Vorwort seines „Cligös“
(kurz vor 1164), daß Wissenschaft und Rit¬
tertum von den Griechen an die Römer
und von diesen an die Franzosen ge¬
kommen seien. Und seitdem rühmen
sich diese mit Stolz der Erbschaft und
Nachfolgerschaft der alten Hellenen und
Römer. Zweimal hat Frankreich diesen
Anspruch verwirklicht: erstmals im zwölf¬
ten und dreizehnten, dann nochmals im
siebzehnten und achtzehnten Jahrhun¬
dert. Das eine Mal geschah es im weite¬
sten Umkreis gedanklichen und künst¬
lerischen Schaffens und mit kühner, nicht
wieder erreichter Schöpferkraft. Damals
war Frankreich in der Tat die Vormacht
Europas und vollbrachte Werke von un¬
vergänglicher Leuchtkraft und Gedie¬
genheit. Aus zahllosen benannten oder
namenlosen Gestalten ragt Bernhard von
Clairvaux hervor, ein Urbild der neuen
Frömmigkeit; Abälard als gefeierter Hoch¬
schullehrer und Theologe; die Dichter
der Sagen von Artus und Guenievre,
Tristan und Parzival; als größte viel¬
leicht die Baumeister der gotischen Städte,
Abteien und Burgen. Vier Jahrhunderte
später gab der vierzehnte Ludwig das
Vorbild eines unbeschränkten König¬
tums und eines durch Regeln be¬
schränkten Kunstschaffens im straff zu¬
sammengeschlossenen Staat. Noch zu
seinen Lebzeiten begann die gedankliche
Auflösung und Zersetzung der mittelal¬
terlich-ständischen Gesellschaftsordnung
und Weltauffassung; bis schließlich ein
riesenhafter Einsturz das eigene Staats-
gebäude und die fremden der Nach¬
barländer in jähe Trümmer riß. Damals
rühmte sich Frankreich lauter denn zu¬
vor seiner gottgewollten Sendung, die
von ihm entdeckten Menschenrechte
allen Völkern Europas zu verkündigen.
Ein glückliches Zusammentreffen viel¬
facher treibender Kräfte hat diese zwei¬
malige Vormachtstellung ermöglicht Vor¬
ab ein meist wohnbares Ländergebiei
zwischen zwei Meeren und drei Grenz-
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1241
1242
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
gebirgen, das durch die bequemen Was¬
serstraßen fruchtbarer Beckenlandschaf-
ten und durch leichte Landrücken, die
mehr verbanden als trennten, zum Ein¬
heitsstaat vorherbestimmt erscheint; dann
seit 600 v. Chr. an der Pforte zum Mit¬
telmeer die ionische Pflanzstadt Massalia,
die weithin ihre friedlichen Siedlungen
und Warenlager vortrieb; um dieselbe
Zeit als Besitzer des alten Ligurerlandes
das Kriegervolk der Gallier, mächtig
durch das erstmals eiserne Schwert,
flink und geweckt, fähig und willig’zur
Bildung, damals schon das kflnftige Volk
der Intelligence und des 6lan vital, aber
nicht minder zugänglich jähem Wahn
und selbstgewollter Verblendung 1 ); her¬
nach die römische Verwaltung, die nüch¬
tern und zweckvoll die Kräfte des Lan¬
des und der Bewohner zusammenfaßt,
ausgleicht und einem einheitlichen Staats¬
gefüge einordnet; das Christentum, des¬
sen erste Bekenner inmitten einer be¬
haglich genießenden Bevölkerung die
opferwillige Hingabe des Leibes an die
Güter der Seele lehren und selber be¬
tätigen; die Bischöfe als Fürsten der
christlichen Staatskirche, und hernach
in den Völkerwirren Erhalter und Neu¬
gründer römischer Staatseinheit und
Gesittung; die Saalfranken Chlodwigs
und die Rheinfranken Pipins und Karls,
die Erretter aus der allgemeinen Auf¬
lösung und Neugründer eines fränki¬
schen Weltreichs germanischer und ro¬
manischer Völker; bis endlich aus die¬
sem vergänglichen größeren Ganzen ein
Königreich Franzien mit der alten Kai-
1) Verfasser erlaubt sich hier zur Er¬
gänzung und Begründung des oben Be¬
merkten auf seinen Aufsatz über »Franzö¬
sische Volksart“ (Deutsche Politik 9. Juni
1916) hinzuweisen, worin er zu zeigen ver¬
sucht, wie einige schon bei den Galliern
festgestellte Anlagen des Gemüts und Gei¬
stes sich bis heute erhalten und in der Ge¬
schichte entscheidend nachgewirkt haben.
serstadt Paris unter dem Geschlecht der
ursprünglich rheinfränkischen Kapetinger
klein, aber kraftvoll hervorgeht
So geschah dieser älteste Bildungs¬
gang der französischen Volks- und Staats¬
einheit in immer neuen konzentrischen
Kreisen, die alle, ob sie die schöpfe¬
rische Freiheit oder eine straffe Zusam¬
menfassung förderten, die zur Ein¬
heit drängende Gesittung und Volks¬
erziehung immer aufs neue verdichteten
und verstärkten. Das Ergebnis, das seit
dem elften Jahrhundert mehr und mehr
hervortrat, war schließlich eine, von
Zwischenspielen und Störungen abge¬
sehen, merkwürdig gleichmäßige und
bis auf diesen Tag unzerstörbare Ziel¬
richtung französischen Denkens, Glau¬
bens und Wertens.
Zwar scheint der typische Franzose —
und ein solches Urbild gibt es wenig¬
stens bei dieser Nation — von fern als
eine Sammlung innerer Widersprüche.
Zugleich leidenschaftlich und besonnen,
kindlich harmlos und klug berechnend,
bald gesellig und liebenswürdig, bald
roh und grausam, von scharfem Denken
und zur Selbsttäuschung geneigt, in den
Anschauungen ursprünglicher Völker be¬
fangen und Schrittmacher des jeweils
Neuesten, voller Vorurteile und Träger
der Aufklärung, unduldsam und Prediger
der Toleranz, Dogmatiker und Skeptiker,
Nationalist und Kosmopolit, mit dem
Gefühl der Oberreife, und doch schneller
Verjüngung fähig: lauter tiefe innere
Gegensätze, die sich auflösen, sobald
wir die Lebensinhalte, die zusammen
diesem Einheitsvolk die Richtung gaben,
auseinanderlegen und daraus begreifen
lernen, wie sie geworden sind und auf¬
einander gewirkt haben.
Nirgends im Westreich der römischen
Kaiser kamen so wie in Gallien die
Schulen der Rhetoren zur Blüte. Zwei
Menschenalter, nachdem Julius Cäsar
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1243
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
1244
die Gallier unterworfen hatte, wurden
dort die meisten der griechischen und
römischen Lehrer von einheimischen
Lehrkräften abgelöst. Die Nachkommen
alter Druidengeschlechter drängten sich
zu diesem neuen Beruf, der wie kein
anderer damals Gewinn und Ansehen
versprach. Seit im zweiten Jahrhundert
v. Chr. die auf Zweck und Nutzen vor
allem bedachten Römer den schon im
alten Athen heftig entbrannten Streit
zwischen Philosophen und Rhetoren für
diese letzteren entschieden hatten, galt
die Rede- und Woitkunst als höchster
geistiger Besitz des gebildeten Mannes.
Das Bildungsideal Platons war durch
ein Stilideal verdrängt Rhetorik öffnete
den Zugang zu den höheren Staats¬
ämtern und Würden; Rhetorik wurde
von den Söhnen vornehmer Gallier in
den Hochschulstädten Massalia und Bur-
digala, in der Äduerhauptstadt Augusto-
dunum, in Reims und Trier, in Toulouse
und Narbonne, mit sichtlicher Befähigung
Und Neigung erlernt. Damals durch¬
setzte oder verdrängte die Redekunst
Poesie und Philosophie, Rechtskunde
und Naturforschung. Zwar hatte in dem
einheitlich verwalteten Beamtenstaat der
Cäsaren die große Beredsamkeit der
Volksversammlung keine Stätte mehr.
Um so mehr gesucht und geschätzt war
der Anwalt im Prozeß und später der
Kanzelredner.
Und so ist es auf gallischem Boden
noch heute. Nichts geht dem Franzosen
über Wort und Wortkraft in Rede und
Schrift Für nichts kann er die Freiheit
so wenig entbehren wie für das Wort
und die Presse. Nichts anderes ersehnt
er so lebhaft für sich selbst wie das an¬
erkennende Wort und einen gefeierten
Namen, dem Lebenden als Ansporn,
dem Toten als ehrendes Gedächtnis.
Und nichts ist ihm so wie das Wort
ein Gegenstand zärtlicher Liebe und
Sorgfalt, ja fast der Verehrung. Über¬
zeugende Wortkunst verlangt er von
jedem, der es unternimmt, Volk und
Staat zu leiten und zu beraten. Staats¬
mann und Schulmann, Dichter und
Tagesschriftsteifer, Anwalt und Philo¬
soph, Geschichtschreiber und. Naturfor¬
scher, alle wollen und sollen sich zum
Redner und icrivain, zum Sprach- und
Stilkünstler bilden. Wo dieser höchste
geistige Besitz des französischen Wesens
bedroht erscheint, da dünkt ihnen das
Vaterland in Gefahr.
Mit der Rhetorik wurde im griechisch-
römischen Gallien und wird noch im
heutigen Frankreich die Dialektik als
die Kunst der Wechselrede in Leben
und Unterricht vor allem andern bevor¬
zugt Seit alters beginnt dort der übliche
Lehrgang mit der Grammatik, verweilt
am längsten bei der Rhetorik und voll¬
endet sich in der Dialektik, d. h. der an¬
gewandten formalen Logik. Aus dem
weiten und Weitblick erzeugenden Be¬
reich althellenischer Welt- und Lebens¬
weisheit hatte nur diese Schöpfung des
Aristoteles vor dem römischen NQtzlich-
keitssinn Gnade gefunden. Neben der
Kunst des Oberredens bedurfte man
der Kunst des Niederredens, der Wort¬
fechterkunst In den Disputationen der
späteren Akademie, und wieder in der
französischen Scholastik, zuletzt noch
in den Doktorpromotionen, wurde der
Streit um das pro und contra philoso¬
phischer oder theologischer Fragen aus¬
giebig gepflegt Nicht um die Sache
ging es dabei, nicht um Recht oder Un¬
recht, Wahr oder Unwahr, sondern um
die Schlagfertigkeit in Angriff und Ab¬
wehr. Ein dichterischer Niederschlag die¬
ser Denk- und Sprechübungen wurden
die Minnekanzonen der Troubadours und
die Minnegespräche in den französischen
und provenzalischen Ritterromanen.
Mit Recht gilt jeder Franzose, bei dem
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1245
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
1246
sich Anlage und Ausbildung zusammen-
gefunden haben, als geborener Anwalt
und Rechtskenner. Es ist kein Zufall,
daß Pierre Corneille, dem ersten Napo¬
leon und vielen Franzosen noch heute
ihr größter Dichter, den Beruf eines
Anwalts ausübte und im „Cid“ und Ho-
race, im „Cinna“ und „Polyeucte“ jedes¬
mal einen berühmten Rechtsfall auf der
Schaubühne zum Austrag brachte. Es ist
ebensowenig bloßer Zufall, daß Stendhal-
Beyle, wenn er sein Stilgefühl von ver¬
alteten Formeln freimachen wollte, als
Sprachmuster das eben darin vorbild¬
liche Gesetzbuch Napoleons I. zu Rate
zog. Und so kann es in Frankreich ge¬
schehen, daß ein berühmter Verteidiger,
wie der kürzlich verstorbene Labori, sei¬
nen Landsleuten zum Helden des Teiges
wird, und daß ein spannender Prozeß,
der die höchsten Kreise bloßstellt und
aufregende Tagesfragen betrifft, die
ernsthafte Teilnahme aller Volksschich-
• ten auf sich vereinigt So wird es auch
begreiflich, daß drüben ein redegewand¬
ter Advokat zum führenden Staatsmann,
Kriegs- und Marineminister oder zum
Leiter des Flugwesens und anderer mili¬
tärisch-technischer Betriebe sogar wäh¬
rend eines Krieges aufsteigen kann. Be¬
denklicher war es für das Land, daß
in den letzten Jahren vor dem Kriege
eine Reihe schlagfertiger und leicht¬
fertiger Advokaten sich der Bühne des
staatlichen Lebens bemächtigte und die
Männer mit Gewissen und Sachkenntnis
in den Hintergrund drängte. Und wie¬
der ist es bedeutsam, daß dabei die Süd-
franzosen auch an Zahl so stark über-
wiegen. Man hat berechnet, daß in der
gegenwärtigen Volksvertretung der Nor¬
den, der 77 vom Hundert des Volks¬
vermögens und 61 vom Hundert der Be¬
völkerung aufweist, an Abgeordneten
nur 23 vom Hundert zu stellen vermag.
Zur Kunst des Vortrags und der Wech¬
selrede gehört das Mienenspiel, die an¬
gemessene Haltung, die wohlabgestimmte
Gebärde (la tenue, l'attitude, le geste),
kurz alles, das wir Schaustellung nennen.
Die Wortsprache verlangt, um Ausdruck
und Eindruck zu erreichen, die Hilfe
ihrer älteren Schwestern. Auch hier, so
scheint es, kam den griechischen und
römischen Lehrmeistern eine ererbte
Anlage des gallisch-ligurischen Misch¬
volks entgegen. Nach den Wirren und
Zerstörungen der Merowingerzeit waren
die Frauenhöfe südfranzösischer Lehens¬
herrschaften der erste Ort, wo diese älte¬
sten Ausdrucksmittel des Menschen im
Kreise von Laien wieder in bewußte
Pflege genommen wurden. Denn diese
Art Ausbildung war in die neue höfische
Bildung, die cortezia, mit einbezogen.
Der Trobador pries im Minnelied die
gefeierte fürstliche Herrin ob ihres ho¬
heitvollen Auftretens und ihres ge¬
winnenden Lächelns und Anblickens;
der Romanerzähler gab mit seinen Ge¬
stalten künstlerische Vorbilder; der
Lehrdichter zählte mit schulmäßiger
Ernsthaftigkeit die Pflichten feiner Um¬
gangsformen auf. Erst sehr viel später
stellte dann der vierzehnte Ludwig, nach
Blut und Wesen übrigens mehr Spanier
als Franzose, das dauernde Muster der
würdigen Haltung und Gebärde dar, für
jede Lebenslage und. jeden Lebenskreis,,
fein abgetönt nach Person, Rang, Alter
und Gelegenheit. In Kürze dann unter
der Regentschaft folgte die leicht an¬
mutige Haltung und die kleine Ge¬
bärde des Rokoko mit ihrem reiz¬
vollen Schillern und Flimmern. Bewun¬
dernswert in fester Haltung und mit
gemessenem Schritt, als ginge es zu
einem höfischen Menuett, bestiegen die
verurteilten Adligen und Edelfrauen das
Schafott. Und bis heute, auch im repu¬
blikanischen Frankreich, ist die ein¬
drucksvolle Gebärde und Schaustellung
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[NDIANA UN1VERSITY '
1247
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
1248
eine Großmacht des öffentlichen Lebens
geblieben.
Mit diesen vorspringenden Lebens¬
äußerungen innerlich verwachsen, wur¬
zelt in der Lebenstiefe des französischen
Geistes eine starke Begabung und Vor¬
liebe für Zahl und Maß und Begriff.
Seit alters beherrscht der Franzose die
selbstgewissen Denkformen der Mathe¬
matik und der Logik. Vernunft ist ihm,
wie der Stoa, nicht die eigentlich
schöpferische Geisteskraft, vielmehr die
Fähigkeit, Begriffe zu bilden, Urteile zu
fällen, durch Schlüsse zu beweisen und
zu widerlegen. Alles Erkennbare in
Weltall und Menschenseele will der
französische Geist messen und wägen,
berechnen und bestimmen. Er lebt des
Glaubens, die Welt und der Mensch
seien faßbar als ein großer, wohl über¬
sehbarer Zusammenhang von Begriffen
und Zahlen, als ein pangeometrisches
Gedankensystem. Ein Descartes gefällt
sich in der Täuschung, daß ein Denken,
das folgerichtig vom Einfach-Evidenten
zum Verwickelt-Schwierigen fortschreite,
auch das Dunkle und scheinbar Unfa߬
liche klar und deutlich aufhellen könne.
Jeder echte Franzose hält es für selbst¬
verständlich, daß sein Scharfsinn (esprit)
alles begreifen, bemeistern und beherr¬
schen werde. Mit Richtblei, Winkelmaß
und Zirkel wagt er sich auch an das
künstlerische Schaffen, da wo er ausübt
oder beurteilt. So entwirft mit dem glei¬
chen Verfahren Mansard ein Fürsten¬
schloß, Le Nötre einen architektonischen
Garten, Corneille eine Heldentat in fünf
Aufzügen, Rousseau eine Verfassung für
Polen und Korsika. So schmeichelt sich
französische Welt- und Lebensweisheit
mit dem Anspruch, alles Vorhandene als
eine unmittelbar gegebene Wirklichkeit
zu erfassen und festzuhalten: sei es im
Begriffsrealismus der Scholastik, sei es
im Rationalismus eines Deseartes, sei es
im Sensualismus eines Gassand und
Voltaire, sei es in dem echt französischen
Positivismus, den Auguste Comte nicht
entdeckt, nur vollendet hat, oder endlich
in der modischen Intuitionsphilosophie
von Henri Bergson. 1 ) Die Wege des
Nachdenkens über das Weltganze haben
sich gewandelt: in sich gleich geblieben
ist stets das vom starken inneren Drang
vorgeschriebene Ziel.
Dort aber, wo die Erfahrung der Sinne
versagt, sträubt sich der Franzose, eine
Wirklichkeit anzuerkennen. Was er nicht
ergründen, erforschen und berechnen
kann, das möchte er gern als bloße Ein¬
bildung abtun. Sein Zweifel verleugnet
die Welt dessen, was nicht ist. sondern
gilt: also das ganze Reich der rein geisti¬
gen, überindividuellen Werte; verleugnet
die Welt des Unbewußten und Unterbe¬
wußten, der dunklen Ahnungen und
des verborgenen Werdens. Sein Zweifel
überläßt gern die höchsten und letzten
Fragen, so die nach Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit, der Verantwortung des
Theologen und Metaphysikers und be¬
gnügt sich mit der lächelnden Gegen¬
frage: „Que sais-je? u
Dabei sei es dahingestellt, ob sich
dem Zweifel des einzelnen überlegene
Selbstzufriedenheit oder ängstliche Zu¬
rückhaltung beigesellt: vielleicht beides
zugleich. Man gefällt sich darin, den ent¬
gegenstehenden Meinungen und Lehr¬
sätzen aufmerksam nachzugehen, hält
vorsichtig mit der eigenen Entscheidung
zurück und läßt mit nachsichtigem
Lächeln die Eiferer gewähren. Männer
wie Montaigne, Renan und France zei-
1) Ich verdanke diese Beurteilung der
Philosophie Bergsons dem ganz vortreff¬
lichen kleinen Buche von Leopold Zieg¬
ler: „Der deutsche Mensch*. Hier wird die
deutsche Wesensart an dem Gegensatz zur
französischen mit tiefster Sachkenntnis und
sicherem Geschmack herausgearbeitet.
1249
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
1250
gen die reinste Ausprägung dieses grund¬
sätzlichen Verhaltens. Es nennt sich
Skeptizismus oder mit feiner Selbstironie
Dilettantismus. Und seiner rühmt sich
seit der Renaissance der bildungstolze
Franzose am liebsten.
Ein Leben in Wort und Schaustellung,
in Maß und Begriff verlangt nichts so
# sehr wie die Gelegenheit, sich auszu¬
sprechen. 1 ) In Athen und Rom, den
Stadtrepubliken, war die Volksgemeinde
auf dem Markt, war die Ratsversamm¬
lung die Stelle der Betätigung gewesen.
Nachdem sich unter den Kaisern die
Besten des Reichs von der freien staat¬
lichen Mitarbeit hatten zurückziehen
müssen, nachdem auch die Entscheidung
vor Gericht der Beamtenschaft über¬
lassen worden war, zog sich der unent¬
behrliche Austausch der Gedanken und
Ausdrucksformen ins Haus und in die
häusliche Geselligkeit zurück. Lateini¬
sche Dichter auf gallischem Boden, Au-
sonius und andere, bezeugen uns den
allenthalben und auch in Gallien einge-
tretenen Wa ndel. Und nach den Wirren
1) Meine Ausführungen berühren sich
mehrfach mit dem in dieser Zeitschrift
(1. November 1916) erschienenen Aufsatz
meines Kollegen Richard Hamann «Ober
französische Kultur und Kunst*. Es ist das
Eigentümliche dieser an neuen und an¬
regenden Ausblicken überaus reichen Ar¬
beit, daß sie die wesentlichen Merkmale
des Franzosentums alle aus der geselligen
Bindung abzuleiten oder doch aus diesem
Zusammenhang zu erklären sucht, insbe¬
sondere auch die mittelalterlichen Kloster-
gemeinschaften in diese Reihe einzuglie-
dem sich bemüht, und schließlich alles,
was uns von den Franzosen unterscheidet,
auf den inneren Gegensatz von „Sachkul-
tur* und »Personalkultur“ hinausführt. Wer
Hamanns Gedankenreihen aus seinen Vor¬
lesungen und anderen Äußerungen genauer
kennt, als er sie im engen Rahmen jenes
Aufsatzes vortragen konnte, erwartet ge¬
spannt eine bevorstehende ausführliche Be¬
handlung dieser kulturphilosophischen Auf¬
gabe.
Internationale Monatsschrift
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der Völkerwanderung boten zum ersten
Male die provenzalischen Minnehöfe auf
den Burgen feudaler Grafen, Vizgrafen
und Freiherren das Bild einer festlichen
Geselligkeit, die mit den Reizen häus¬
lichen Empfangs das Bewußtsein krie¬
gerisch-staatlicher Macht und die Schön¬
heit erhöhender Kunstpflege glücklich
vereinte. 1 ) Als die Albigenserkriege dem
weltfreudigen Treiben ein frühes und
jähes Ende bereiteten, flüchtete sich
diese feine höfische Gesittung nach
Italien. Dort folgte dem Minneritter und
Trobador der Cortlgiano. Land und
Menschen, Geld und Gut fielen den
bürgerlich veranlagten, sparsamen und
nüchternen Kapetingem zu, diesen älte¬
sten Typen des französischen bourgeois.
Erst unter dem dreizehnten Ludwig ge¬
langte jene feine höfische Geselligkeit
aus Italien nach Paris. Damals ließ die
Marquise von Rambouillet, Tochter der
Römerin Julia Savelli, das Haus ihres Gat¬
ten für die neuen Zwecke umbauen. Dort
entstand die große Neuheit, der salon:
Ding und Wort nach italienischem Vor¬
bild. Dort wurde sogar das Schlafzimmer
der Hausfrau zum festlichen Empfangs¬
raum für bevorzugte Gäste eingerichtet
Wie einst zur Zeit der Minnesinger gab
die Herrin des Hauses Sitte und Gesetz.
Und diese höfische Geselligkeit wurde
der sichtbare Mittelpunkt des französi¬
schen Staates, seit der vierzehnte Lud¬
wig den Salon nach Versailles übernahm
und hier den entrechteten Hochadel im
Hofdienst durch Vergnügungen festhielt.
Alle nährenden und arbeitenden Kräfte
des Landes strömten hier zusammen;
alle geistigen und künstlerischen An-
1) In seinem Buche über das Kultur-
Problem des Minnesangs, Band 1: Minne«
sang und Christentum (Halle 1909, Nie¬
meyer) hat der Verfasser versucht, die be¬
deutungsvolle Erscheinung des Minnesangs
in die weltgeschichtliche Entwickelung ein-
zureihen.
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1251
1252
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
regungen strahlten von hier nach ganz
Europa aus: Saalbau und Gartenkunst,
Bahnenspiel und Musik, Tänze und
Wasserkünste, Kanzelrede und Wort¬
spiel. Diese Geselligkeit hat den Fran¬
zosen zu dem vollendeten Weltmann
erzogen, den die Geschichte kennt. Diese
Geselligkeit hat den Gesellschaftswillen
zur Geltung gebracht, der bald ein ge¬
heiligtes Herkommen beharrlich festhält,
bald einer verblüffenden Modelaune
nachgibt, immer aber willige Unterwer¬
fung fordert und findet Seitdem gelten
in Frankreich die Sätze: Erlaubt ist was
gefällt, und Vorschrift, was sich schickt.
Damals hat sich dort ein einheitlicher
Stil für Leben und Kunst gebildet da¬
mals eine geschlossene Form für alle
Betätigungen eines Daseins, das man
sich nur noch in festlich gestimmter Ge¬
selligkeit denken konnte. Unzählige Zeug¬
nisse Einheimischer und Fremder lassen
uns heute den geheimnisvollen Zauber
nur ahnen, der damals im goldenen
Zeitalter Frankreichs, und nachmals in
den Kreisen der Aufklärung, die ersten
Männer und Frauen an das Leben im
Salon gefesselt hat. Eine Art Ersatz ge¬
währen uns noch jene lebensvollen
und liebenswürdigen literarischen und
künstlerischen Schöpfungen, worin sich
das Ineinanderwirken fein zugespitzter
Gefühlserlebnisse und scharfsinniger Ge¬
dankenarbeit so überzeugend gespiegelt
hat.
Diese höfische Geselligkeit gewann
seit Anbeginn ihre innere Bedeutung
und lebendige Kraft aus der französi¬
schen Sprach- und Bildungseinheit als
einer Gemeinschaft des Denkens und
der Gesittung. Als um die Wende zum
zwölften Jahrhundert die fränkisdi-nor-
männische Ritterschaft von französischer,
d. h. nach Wesen und Ursprung Pariser
Sprache, Jerusalem eroberte und die
überlegenen Kunst- und Lebensformen
von Byzanz und dem Morgenlande ent¬
deckte, lernte sie sich mit der abendlän¬
dischen Geistlichkeit und den dienenden
Volksgenossen als eine sieghafte und
ruhmreiche Gemeinschaft fühlen. Zu¬
sammengehalten wurde diese Gemein¬
schaft weder durch die Bande des Blutes
und der Abstammung noch durch einen
größeren staatlichen Verband in der durch
feudale Fehden zerrissenen Heimat, auch
nicht durch die bloße Sprache. Diese
Gemeinschaft war in der feindlichen
Fremde zu einem starken Ganzen er¬
wachsen edlein durch das erhebende Be¬
wußtsein einer die christliche Welt um¬
spannenden neuen und selbständigen
Geistesbildung und Gesittung. Ein fran¬
zösisches Nationalgefühl war entstanden.
Sein Träger war zunächst der Ritter¬
stand. Erst ein Jahrhundert später bahnte
sich der durch die beharrliche Klugheit
Philipps II. August erstarkte Beamten¬
staat mit der altrömischen Kernstadt
Paris über die durch Heirat einverleibten
südfranzösischen Grafschaften den Weg
ans Mittelmeer, und machte sich damit
zum Erben und rechtmäßigen Inhaber
jener ritterlich-französischen Geistesge-
meinschaft. Der Bildungsverband wan'
delte sich mit geschichtlicher Notwendig¬
keit in einen Zweckverband und ver¬
doppelte damit seine Kräfte. Damit war
dem französischen Einheitsstaat auf lange
hinaus jene freie und glückliche Ent¬
wickelung gesichert, die ernstlich nie¬
mals von einem feindlichen Nachbarn,
öfter von der unruhigen Gemütsart der
Untertanen oder durch die Unfähigkeit der
Herrscher gestört worden ist Richelieu
und Ludwig der Vierzehnte vollzogen
mit zielbewußtem Blick nur Abschluß
und Krönung an einem Gebäude, für
das Natur und Geschichte selber gear¬
beitet hatten. Seitdem empfängt dort aus
der nationalen Größe das kleinste Sonett
oder Madrigal, der geringste Spottvers,
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Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
1254
das flüchtigste Wortspiel geheime Be¬
deutung und wirksamen Wert.
Und noch immer erweist der Ruhm
des gefeierten französischen Namens
seine erstaunliche Anziehungs- und Wer-
bekraft bis in ferne Länder und Zeiten.
Dem tat keinen Eintrag, daß die Revo¬
lution mit dem König und der Königin
auch dem Königshof und der höfischen
Geselligkeit ein Ende bereitet hatte. Die
Volksheere der Revolution, das Welt¬
kaisertum des Korsen als Nachfolgers
des „Franzosenkaisers“ Karl, neue Er¬
oberungskriege, zuletzt das Kolonial¬
reich der dritten Republik gewannen
dem nationalen Ruhm neue Leuchtkraft.
Paris strahlt noch immer als Mittelpunkt
einer vergeistigten Bildungsgemeinschaft,
ln diesem Sinne konnte noch kürzlich
Maurice Barrös die spirltualiti seines
Volkes rühmen, konnte auch Bazalgette,
der strenge Beurteiler, von dessen id6a-
lisme sprechen, konnte unser Lands¬
mann Oskar Schmitz bekennen: „Nir¬
gends wie in Frankreich fühlt man so
das Leben der Ideen.“ Und da auch der
bescheidenste Bürger und schlichteste
Arbeiter das verfassungsmäßige Recht
hat, sich für seine Person als Inhaber
der Volkssouveränität zu fühlen, nimmt
jeder den leidenschaftlichsten Anteil cm
allem, was den Ruhm und das Ansehen
(la gloire et le prestige) seiner Nation
fördert oder gefährdet. „Der ärmste
Pariser sogar achtet in sich selbst die
Idee seiner Nation.“ (Karl Scheffler.)
Die Nation als sichtbare und in der Ge¬
sellschaft gipfelnde Geistesgemeinschaft,
worin die abgeschiedenen Geschlechter
über die lebenden den künftigen die
Hand reichen, überdauert den Wechsel
der Staatsformen und der Regierenden;
sie ist dem echten Franzosen sein Ein
und Alles; sie gilt ihm als die religiöse
und metaphysische Macht, die ihm die
Welt des Unendlichen und ewig Un¬
sichtbaren ersetzt; sie wird auch dem
ungläubigsten Franzosen das Heilige
schlechthin. 1 )Wer immer dieses anspruchs¬
volle Ehrgefühl verkennt, der wird im
Verkehr der Völker und von Mensch zu
Mensch Fehler über Fehler begehen;
wer es aber vorsichtig schont oder ihm
gar entgegenkommt, der erreicht von
ihm alles.
Im Dienste dieser ursprünglich höfi¬
schen Geselligkeit und dieser ehrwürdi¬
gen nationalen Geistesgemeinschaft ent¬
stand als erste nationale Literatur des
neueren Abendlands ein Schrifttum, das
aus beiden Quellen seine Kraft und Fülle
ziehen konnte. Und noch einmal fällt
hier die Übereinstimmung mit dem rö¬
mischen Hellenismus ins Auge. So man¬
nigfaltig die literarischen Erzeugnisse
Frankreichs zunächst erscheinen, sind
doch zwei Arten von Sinnesart und
Geisteshaltung (zweierlei deutlich
erkennbar, die seit bald 2000 Jahren, ob
auch mehrfach abgetönt, sich darin immer
wieder erneuern. Als erster, soviel ich
sehe, hat Karl Hillebrand, dem französi¬
sches Wesen so wenig verhüllt geblieben
ist wie das seiner deutschen Landsleute,
die Bemerkung niedergeschrieben, daß
der französische Geist sich vorzugsweise
in der rhetorisch-pathetischen und in der
witzig-verspottenden Haltung gefalle.
Und es ist schwerlich ein Zufall, daß ge¬
rade die größten und am höchsten ge-
4) VorzOglich hat Karl Nötzel (Der
deutsche und der französische Geist S. 29)
bezeichnet, „was denn eigentlich dein
Franzosen seine Nation ist: tatsächlich
sein Gott im Diesseits und Jenseits, der
lebendige Inbegriff alles dessen, was ihn
den Schrecken vor den drohenden Ge¬
heimnissen der Ewigkeit vergessen läßt
auf dem kurzen Wege von einer Unend¬
lichkeit zur andern, was ihn seine Neigun¬
gen als gerechtfertigt, seine Hoffnungen als
begründet und seine Befürchtungen als
wesenlos erleben läßt. . . .“
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1255
Willibald Klatt, Pädagogik und Politik
1256
achteten Geister Frankreichs diesen bei¬
den Grundrichtungen angehören, wie
weit sie sonst nach Zielen und Wegen
auseinandergehen mögen. Wir gewah¬
ren auf der einen Seite Seneca, Cor¬
neille, Bossuet, Rousseau, Chateaubriand,
Victor Hugo; auf der anderen Lukian,
die Meister des Fable!, Rabelais und Mon¬
taigne, Molifere und La Bruyöre, Montes¬
quieu und Voltaire, Bfcranger und
Anatole France. Dort die große er¬
habene Form des Lebens und der Kunst,
der leidenschaftliche Hochflug zu ein¬
drucksvoller Menschheitsbildung und ver¬
edelter Lebensgestaltung. Dort auch die
große Gebärde und der »tragische“, d. h.
erhabene Stil. Hier dagegen wird der
Mensch seiner Würde entkleidet und
in allem, was klein und schwach, leer
und hohl an ihm ist, einem schallenden
Gelächter oder ironischen Lächeln preis¬
gegeben; hierher gehört auch die kleine
Gebärde und der „komische“, d. h. nie¬
dere Stil. Die besonnene Schlichtheit
eines Descartes und Racine, die kühle
Sachlichkeit eines M6rim6e, Flaubert und
Maupassant haben behutsam die Farben
gedämpft. Aber doch vermag auch keiner
von ihnen auf die Dauer zu verbergen,
wo seine Wesensart wurzelt, ob im rhe¬
torisch-pathetischen oder im witzig-spöt¬
tischen Lebensgefühl. (Schluß folgt)
Pädagogik und Politik.
Von Willibald Klatt
I.
Mein verehrter Lehrer Professor
Rein (Jena) hat zu wiederholten Ma¬
len, 1 ) zuletzt im „Tag“voml2.AprU1916,
die Forderung der nationalen Einheits¬
schule als ein Gebot richtiger Staatspäd¬
agogik zu erweisen gesucht. Er hat da¬
bei vorausgesetzt daß eine weise Staats¬
pädagogik ihre Maßnahmen ohne Rück¬
sicht auf parteipolitische Sonderwünsche
trifft, und er hat mit Recht die gleiche
Unabhängigkeit von aller Parteipolitik
für jede echt wissenschaftliche Pädago-
Diese Arbeit ist vor den Einheits-
schulkämpfen des Winters 1916 ab¬
geliefert worden. Daher konnten
weder diese noch der Vorschulerlaß
des Preußischen Unterrichtsmini'
sters darin berücksichtigt werden.
1) Vgl. W. Rein, Deutsche Schulerziehung
Bd. 1 (München, Lehmann, 1907). W. Rein,
Die nationale Einheitsschule (Osterwieck,
Zickfeldt, 1913) und die Leitsätze im Jahr¬
buch 1914 des Vereins für wissenschaftliche
Pädagogik (Dresden-Blasewitz, Bleyl und
♦ Kaemmerer, 1914).
gik in Anspruch genommen. Er weih na¬
türlich besser als ich, daß viele Ver¬
fechter der Einheitsschulbestrebungen
auch starke politische Wünsche mit
ihren Forderungen verquicken. Wenn er
trotzdem die Ausschaltung aller poli¬
tischen Parteirücksichten für möglich
hält, wenn er sich bewußt ist, mit seinen
Gedanken über den politischen Par¬
teien zu stehen, so hat er auch zu ver¬
langen, daß seine Gedanken ohne Be¬
zugnahme auf etwaige politische Folgen
geprüft und, wenn nötig, mit rein päda¬
gogischen Gedankengängen widerlegt
werden.
Zweifellos ist es — so sagen die Ein¬
heitsschulfreunde — ein berechtigter
Grundsatz jeder wahren Kulturpädago¬
gik, daß alle geistigen Kräfte des Volkes
zu möglichst weitgehender Entwicklung
kommen müssen, und man wird daher ein
Schulsystem verdammen dürfen, das
durch seinen ganzen Aufbau diese För¬
derung aller vorhandenen Talente aus¬
schließt. Von einer idealen Kulturschule
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1257
Willibald Klatt, Pädagogik und Politik
1258
werde also zu fordern sein, daß sie allen
begabten Schülern ohne Rücksicht auf
ihre soziale Herkunft die nötige Ausbil¬
dung gewährleiste, und daß sie andrer¬
seits — wenn nicht aus Gründen der Ge¬
rechtigkeit, so doch aus Gründen natio¬
naler Sparsamkeit — unbegabten Köp¬
fen die mühsame Aufpäppelung zur Er¬
reichung fragwürdiger Erfolge versage.
Die nationale Einheitsschule soll diese
beiden Möglichkeiten bieten. Die Staf¬
felung von der allgemeinen Volksschule
zur Mittelschule und zur höheren Schule
soll derartig sein, daß der begabte Knabe
(dasselbe gilt innerhalb gewisser Gren¬
zen auch vom Mädchen) je nach dem
Grade seiner Begabung zur rechten Zeit
in die Mittelschule oder die höhere
Schule übertreten kann. Faßt man die
Schule als reine Staatsangelegenheitund
als ihr Ziel die bestmögliche Ausbildung
aller Talente, so muß masn in dem vo¬
rigen Satze an die Stelle des Könnens
das Müssen setzen und somit dem Staate
die Verpflichtung !zuschieben, die Kosten
für die Förderung aller unbemittelten Ta¬
lente bis zu den höchsten Ausbildungs¬
möglichkeiten hinauf zu tragen. Dies aus¬
sprechen, heißt nicht, die ganze Ange¬
legenheit „mit Fragen belasten, die die
Hauptsache nur verwirren und verdun¬
keln können“, vielmehr liegt es genau
in der geraden Linie der Voraus¬
setzungen, die in dem Satze „dem Ta¬
lente freie Bahn!“ gegeben sind. Wer mit
diesem Satze Emst macht, muß dem
Staate auch diese Aufgabe zumuten,
sonst denkt er den in ihm liegenden Ge¬
danken eben nicht bis zum Ende durch.
Ja, er müßte eigentlich noch weiter gehen
und dem Staate das Recht einräumen,
besonders Begabte auch gegen den Wil¬
len der Eltern zu höherer Ausbildung
zu zwingen.
Für die wissenschaftliche Pädagogik,
die sich um die für die Verwirklichung
ihrer Gedanken notwendigen Kosten
micht zu kümmern braucht, bestände also
nur die Aufgabe der Prüfung, ob die von
Professor Reim angenommene Staffe¬
lung die richtigen Übergangsmöglich¬
keiten bietet.
Da ist nun zunächst festzustellen, daß
die vielen höheren Schulen angeglie¬
derte Vorschule auf die Dauer kein
Hindernis für den Übertritt von Volks¬
schülern in die höhere Schule bleiben
darf. Ich bin aus Gründen, die hier nicht
hergehören, weil sie mehr sozialer als
pädagogischer Art sind, ein Anhänger
der Vorschule, nicht aber der Vorschule
in der bestehenden Form. Da die Vor¬
schule ihre Schüler ohne Rücksicht auf
ihre Begabung aufnimmt (schon weil sie
über diese Begabung noch gar nichts
aussagen kann), so ist es eine Ungerech¬
tigkeit, wenn sie ihren Lehrplan so ein¬
richtet, daß auch begabte Volksschüler
gleich bei ihrem Übertritt in die höhere
Schule mit einem Minus an Kenntnissen
ankommen, falls sie nicht noch schnell
einen Förderungs- oder Vorbereitungs¬
kursus durchgemacht haben, in dem sie
auf den Standpunkt der nach Sexta ver¬
setzten Vorschüler gedrillt worden sind.
Und da niemand die unbegabten Vor¬
schüler bei ihrer Versetzung aus der
obersten Vorschulklasse zwingt, der hö¬
heren Schule den Rücken zu kehren, so
müßte die Sexta ihre Aufmahmebedbv
gungen derart ermäßigen, daß begabte
Volksschüler ohne besondere Veranstal¬
tung diesen Bedingungen genügen kön¬
nen. Sie könnte dies leicht, wenn sie
der Vorschule nicht die Aufgabe zu¬
wiese, ihre Schüler für die „besonderen
Bedürfnisse der höheren Schule“ zu¬
rechtzumachen; diese bestehen nämlich
zur Zeit hauptsächlich in einem stär¬
keren Rechendrill und einem unerträg¬
lichen Einfuchsen von grammatischen
Fertigkeiten, wobei nach den beson-
1259
Willibald Klatt, Pädagogik und Politik
1260
deren Bedürfnissen des Kindesalters
gar rficht gefragt wird.
Die Frage der Vorschule und ihrer
Daseinsberechtigung scheidet aber, ge¬
nau genommen, für die Einheitsschul-
mänoer im Sinne Professor Reins aus
der Betrachtung aus. Denn für sie be¬
ginnt künftig die höhere Schule gar
nicht mit Sexta, sondern erst mit Tertia.
Die Einheitsschule zwingt ja jeden
Schüler zum sechsjährigen Besuche der
allgemeinen Volksschule, und erst dann
wird über seine Begabung für die Mittel¬
schule einerseits, die höhere Schule an¬
drerseits entschieden.
Wir Verfechter der Sonderziele der
höheren Schule sind uns nun durchaus
bewußt, daß wir ebenfalls nur von
Grundsätzen wissenschaftlicher Päd¬
agogik, nicht von sozialen oder gar poli¬
tischen Vorurteilen geleitet werden,
wenn wir diesen sechsjährigen Besuch
einer allgemeinen Volksschule ablehnen.
Ich mache mir dabei nicht die Gründe
zu eigen, die etwa aus einer minderwer¬
tigen Vorbildung der an den Volks¬
schulen wirkenden Lehrer abgeleitet
werden. Denn da Professor Rein und mit
ihm die Volksschullehrer eine streng
wissenschaftliche Vorbildung jedes
Volksschullehrers fordern, so fiele
in Zukunft dieser Einwand fort. Außer¬
dem wird kein Sehender behaupten wol¬
len, daß alle akademisch gebildeten Leh¬
rer ihren Unterricht wirklich in muster¬
gültiger Weise erteilen. Aber selbst wenn
wir annehmen, daß künftig an allen
Volksschulen wissenschaftlich durchge¬
bildete Lehrer arbeiten werden, so müs¬
sen wir doch aus zwei Gründen gegen die
sechsklassige Grundschule sein: Erstens
kann die höhere Schule — ganz gleich, ob
sie humanistisch oder realistisch ist —
den Betrieb der Fremdspraclien nicht so¬
weit hinausschieben. Die Frische des Ge¬
dächtnisses, die Bereitwilligkeit zum
Auswendiglernen von Vokabeln und For¬
men ist vom neunten bis zum zwölften
Jahre weit größer als nachdem zwölften,
wo sich bereits die Vorboten der Ge¬
schlechtsreife zeigen;es ist einfach nicht
richtig, daß durch das größere Verständ¬
nis und die größere allgemeine Reife die
geringere Lernfreudigkeit dieses Alters
wettgemacht wird. Zweitens aber wird,
wenn erst bei dem Zwölf jährigen über die
Begabung entschieden werden soll, hin¬
sichtlich der Fremdsprachen nichts ge¬
wonnen. Die Begabung für fremde Spra¬
chen kann doch erst erkannt werden,
wenn der Schüler sie treibt, nicht vor¬
her; es wäre also damit zu rechnen, daß
auch bei so später Entscheidung doch
noch zahlreiche Mißgriffe vorkämen und
Schüler, die iein, zwei Jahre fremde
Sprachen getrieben haben, von der
höheren Schule wieder abgeschoben
werden müßten. Da ist es doch besser,
man schiebt heute den Quintaner ab als
künftig den Tertianer, denn dieser
würde sich noch viel schwerer in die ent¬
sprechende Klassenstufe der Volks- oder
Mittelschule wiedereinpassen lassen als
jener. Daß auch Professor Rein die Not¬
wendigkeit, frühzeitig eine Probe in be¬
zug auf die fremdsprachliche Begabung
zu machen, selbst empfindet, zeigt sein
anderwärts gemachter Vorschlag, schon
in der Grundschule (im vierten Schul¬
jahr) wenigstens wahlfreies Französisch
einzuführen. 2 ) Nun könnte man aller¬
dings einwenden: wer bis zu seinem
zwölften Jahre in der Grundschule ent¬
schiedene Begabung gezeigt hat, wird
diese Begabung gewiß auch den frem¬
den Sprachen gegenüber nicht vermis-
2) Vgl. dazu die Bemerkungen von Schul¬
rat Dr. Reu kauf bei Gelegenheit der Ver¬
handlungen des Vereins für wissenschaft¬
liche Pädagogik über die Reinschen Leit¬
sätze zur nationalen Einheitsschule (Dresden-
Blasewitz, Bleyl u. Kaemmerer, 1917, S. 7).
1261
Willibald Klatt, Pädagogik und Politik
1262
sen lassen. Selbst wenn dies im all¬
gemeinen stimmen sollte und die höhere
Schule bereit wäre, den Lehrern der
Grundschule die Fähigkeit, die Be¬
gabung für höhere Schulen zu beurtei¬
len, ein für allemal zuzugestehen, so
wäre doch noch zu beachten, daß die
Zeit der beginnenden Geschlechtsreife
die unglücklichste Zeit für Begabungs-
Prognosen ist. Entschiedene Begabung
tut sich oft erst nach der Geschlechts¬
reife kund, während die Zeit der wer¬
denden Geschlechtsreife oft geradezu
eine Art Stillstand der intellektuellen
Kräfte vortäuscht.
Nimmt man jedoch an, alle diese Ein¬
wände wären nicht stichhaltig, so muß
doch auch noch von andern Gesichts¬
punkten aus manches gegen die mit der
Einheitsschulidee verbundene Zwangs¬
staffelung der Bildungswege gesagt
werden. Zunächst liegt in ihr doch das
Vorurteil, daß die höhere Schule auch
immer und für jedermann die bessere
„Bildung“ biete. Das trifft aber für eine
große Fülle von Talenten nicht zu, die
ich die praktischen Talente nennen
möchte. Wir alle haben zahllose Schüler
gekannt, die keineswegs unfähig waren
für das, was die höhere Schule lehrt, die
sogar Gutes hätten leisten können, wenn
sie nur Lust gehabt hätten. An dieser
Lust fehlte es, aber nicht aus Intel-
lektmangel, sondern aus der Richtungih-
rer ganzen Natur; sie gingen aus der Ter¬
tia oder—wenn’s hoch kam—mit dem
Einjährigenschein ab, und zwar „ins
praktische Leben“. Sie wurden dann,
vielleicht nach einigen Umwegen, eben
wegen ihrer praktischen Begabung, sehr
brauchbare, tüchtige Männer. Andere —
ich denke an Naturen mit frühzeitig her¬
vortretender künstlerischer Begabung —
zeigten eine unüberwindliche Abnei¬
gung gegen jeden geordneten Schulbe¬
trieb, nicht etwa bloß gegen fremde
Sprachen oder Mathematik. Sie waren
der Schrecken ihrer Lehrer, sie haßten
die Schule; später, nachdem sie ihren
Weg gemacht hatten, empfanden sie
selbst die Lücken ihrer Bildung und
holten auf eigne Faust durch Lektüre
vieles nach. Ihre geistige Entwicklung
unterlag offenbar besonderen Gesetzen,
die keine Schule (es sei denn die Kunst¬
schule) berücksichtigen konnte, und die
intellektuellen Bedürfnisse, *an die sich
die Schule notwendig immer vorwie¬
gend wenden wird, traten bei ihnen
augenscheinlich erst viel später auf. Fer¬
ner gibt es viele Talente, die auf der hö¬
heren Schule spielend fortkommen, de¬
nen auch auf der Universität das
Wissen nur so „zufliegt“, und die doch
verbummeln, und zwar gerade deswe¬
gen, weil es das Schicksal mit ihnen zu
gut gemeint hat, weil sie nicht ge¬
nug Schwierigkeiten hatten, keine
Kämpfe, keine Opfer nötig hatten.
Diese Typen sollen nur daran erin¬
nern, daß auch bei der schönsten und
psychologisch bestbegründeten Staffe¬
lung die geistige Entwickelung beson¬
ders der einseitig Begabten durchaus
nicht so geradlinig und ohne Sprünge
verläuft, wie wir Lehrer es wünschen
möchten. Vor allem aber sollen sie dar¬
auf hin weisen — und zwar mit großem
Nachdrude —, daß es für die meisten
Menschen ein Unglück wäre, wenn sich
ihnen die Bildungswege gleichsam von
selbst ebneten. Ich möchte die Schwierig¬
keiten, die sich meinem Bildungsgang
in den Weg stellten, nicht missen, am
allerwenigsten die äußeren, die pekuni¬
ären. Natürlich, wenn ein Hochbegabter
ganz und gar vergeblich an der Kette
seiner Armut zerren muß, das ist tief
bedauerlich und sollte in einem Kultur¬
staate möglichst selten oder nie Vorkom¬
men. Aber die Statistik zeigt, daß schon
jetzt der kleine Mittelstand, ja selbst der
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INDIANA UNfVERSITY
1263
Willibald Klatt, Pädagogik und Politik
1264
Arbeiterstand Kinder zur höheren Schule
schickt, und wenn dem letzteren nicht
gepredigt würde, daß Sparen unsittlich
sei, so wäre er vielleicht noch viel öfter
in der Lage dazu als etwa die kleinen
Beamten oder Kaufleute. Vor die Tu¬
gend haben nun einmal die Götter den
Schweiß gesetzt; und wenn man auch
gewiß dafür eintreten muß, daß in be¬
sonderen Fällen neue, reichere Hilfs¬
quellen eröffnet werden, so tut man aus
volkserzieherisctien, also staatspädago¬
gischen Gründen nicht gut, den „An¬
spruch“ auf unentgeltliche Förderung je¬
des Talents großzuziehen.
Ebenso wie Eltern oft dem Lehrer un¬
recht geben werden, der über die Gabe
ihres Kindes aburteilt, weil sie auf
Grund tausendfacher Beobachtung es
doch besser zu kennen sich bewußt
sind, ebenso sollte man auch den El¬
tern nicht die Hauptsorge und die
Hauptlast der Berufsvorbildung abneh¬
men. Diejenigen, die „es sich leisten kön¬
nen“, würden sich doch nie hindern las¬
sen, ihr Kind privatim ausbilden zu las¬
sen, wenn die öffentliche höhere Schule
es als unfähig abweist. Ebenso sollte die
Schule es sich zehnmal überlegen, ehe
sie Kinder der niederen Stände in die
höheren Schulen hineinnötigt. Ob die Be¬
gabungsprognose stichhaltig bleibt, dar¬
über entscheidet eben nicht bloß der In¬
tellekt (der übrigens auch viele Überra¬
schungen bereitet), sondern auch der
Charakter (dessen Entwicklung nie¬
mand Voraussagen kann). Und die
Verantwortung für die Zukunft und die
Berufswahl müssen auch in Zukunft die
Eltern und späterhin die Zöglinge selbst
tragen, wenn auch die Schule ihren Rat
nie verweigern wird.
II.
Nun aber wird gerade von manchen
Anhängern der .Einheitsschule den El-
tem die Fähigkeit und damit das Recht,
über Bildungsgang und Erziehung ihrer
Kinder die Entscheidung zu treffen, ab¬
gesprochen. 3 ) Und wenn es richtig ist,
daß der Staat um seiner selbst willen die
Aufgabe hat, alle Talente zu ermitteln
und ihnen die höchste nur irgend mög¬
liche Förderung angedeihen zu lassen,
dann gilt, was ich schon oben ange¬
deutet habe: dann hat der Staat
das Recht, ja die Pflicht, auch gegen den
Willen der Eltern die begabten Köpfe
zur höchsten Entfaltung ihrer Gaben zu
zwingen, und er darf andrerseits die un¬
begabten in bestimmte Bildungsschran¬
ken zurückweisen. Auch Professor Rein
sagt jaUnsre innere Politik ist darauf
gerichtet, aus pmserm Volk einen Orga¬
nismus herzustellen, der sein Ideal in
der höchsten denkbaren Kultur sieht und
ihrer allmählichen Verwirklichung nach¬
eifert.“
Hier muß ich nun aber — auf die Ge¬
fahr hin, für sehr rückständig erklärt zu
werden — den eigentlichen Hauptein¬
wand erheben, und hier erst wird sich
zeigen, warum ich diese Arbeit „Päd¬
agogik und Politik“ überschrieben habe.
(Ich hätte auch „Schulpädagogik und
Staatspädagogik“ sagen können.)
Ich behaupte nämlich — und gerade
Professor Rein als Anwalt der „Erzie¬
hungsschule“ müßte mir eigentlich bei¬
pflichten — folgendes: Der Staat hat
durchaus nichtein unbedingtes Interesse
daran, daß alle Talente zur höchsten
Entfaltung kommen, aus dem einfachen
Grunde, weil er keinerlei Gew’ähr dafür
hat, daß diese Talente nicht zum
Teil auch in einem den Zwecken des
3) Der Sozialpädagoge P. Berge mann
fordert z. B., daß den zur Erziehung un¬
fähigen Eltern ohne Rücksicht auf den Stand
die Kinder fortgenommen werden sollen,
und A. Döhring will sogar den Eingriff
des Staates „von Anbeginn des Lebens“.
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INDIANA UNIVERSITY
1265
Willibald Klatt, Pädagogik und Politik
1266
Staates durchaus feindlichen Sinne Ver¬
wendung finden werden. Wenn ich dies
sage, so liegt darin nicht etwa eine ver¬
blümte Befürwortung des „beschränkten
Untertanenverstandes“, noch weniger
die Befürchtung, daß dieser oder jener,
der durch Eröffnung aller Bildungsmittel
sich in eine höhere soziale Schicht erhebt,
in dieser Schicht notwendig als Fremd¬
körper erscheinen und eine zersetzende
Wirkung ausüben müsse. Es ist vielmehr
der auch von Kerschensteiner mit Nach¬
druck ausgesprochene Gedanke, den er
auf viele peinliche Wahrnehmungen im
Münchner Schulwesen stützt, daß die in
Frage stehende Staffelung zur Ver¬
ödung der oberen Klassen der Volks¬
schulen führt und die Mittelschulen fast
ganz überflüssig macht. Alles drängt,
wie Kerschensteiner sich ausdrückt, zur
Staatskrippe, und die Volksschule behält
auf ihrer Oberstufe nur die schlechteren
Köpfe. Das ist aber ein großer Unsegen
für das Handwerk, dessen Förderung be¬
kanntlich Kerschensteiner seine großzü¬
gigen Fortbildungsbestrebungen gewid¬
met hat. Der Staat hat nicht daran ein
Interesse, daß möglichst viele Talente
diejenige höhere Bildung erlangen,
deren sie fähig sind, sondern daß in a 1-
len Schichten, also auch in der Arbeiter¬
schicht, möglichst viel Intelligenz vor¬
handen sei und daß diese der jeweiligen
Schicht zugute komme. Kerschensteiner
hat vortrefflich nachgewiesen, daß das
Grundübel, an dem unser Volk — beson¬
ders im seinen arbeitenden Ständen —
krankt, nicht der Mangel an Verstandes¬
bildung, sondern das Fehlen der „staats¬
bürgerlichen Gesinnung“ ist. Und auch
der Süvernsche Schulgesetzentwurf von
1819, den die Einheitsschulfreunde so
gern als das erste große Programm der
Einheitsschule hinstellen, hat —wie Pro¬
fessor Seibt kürzlich im „Deutschen
Philologenblatt“ ausgeführt hat — zwar
Übergangsmöglichkeiten von der niede¬
ren zur mittleren und höheren Schule
ins Auge gefaßt, aber ausdrücklich be¬
tont, daß die höhere Schule ihre Eigen¬
art den andern Schulen nicht anpassen
könne, sondern daß allenfalls das Um¬
gekehrte zu geschehen habe. Das Große
an den Bestrebungen Süverns war viel¬
mehr der Gedanke, das gesamte Schul¬
wesen der Erziehung der Staatsge-
sinnung dienstbar zu machen, und das
ist auch die Aufgabe, die neuerdings
wieder ein Mann, der in vielem auf
Fichtes Schultern steht, der Inhaber des
Lehrstuhls für Pädagogik an der Univer¬
sität Berlin, Ferd. Jak. Schmidt, als
die einzige gemeinsame Aufgabe aller
Schulen bezeichnet. Nicht möglichst
weitgehende Gleichheit der Bildung,
sondern Gleichheit und Einheit der Er¬
ziehung muß nach Schmidt das Ziel
aller Schulen werden. „Das segensreiche
Gedeihen der Natiorialgemeinschaft be¬
ruht gerade darauf, daß ihr geistiges
Volksleben von der Idee einer mannig¬
faltigen und kraftvollen Gliederung,
nicht aber von der Doktrin der soziali¬
stischen Gleichmacherei beherrscht
wircL“ Gewaltpädagogik nennt er die
Eimheitsschulbestrebungen, und er er¬
wartet von ihnen „Förderung der schein¬
baren auf Kosten der wahren Talente“,
weil er überzeugt ist, daß viele, die in
der Grundschule als hochbegabt erschei¬
nen, später — bei den gänzlich anders¬
artigen Anforderungen des höheren
Schulbetriebs — versagen werden. „Alle
Schüler aller Schularten müssen zu per¬
sönlichen Vertretern des einen, gleichen
Nationalethos erzogen werden“, und
„nur die sittliche, nicht die intellektu¬
elle Bildung kann ein ganzes Staatsvolk
zu einer nationalen Geistesgemeinschaft
verbinden. 4 )
4) F. J. Schmidt, Das Problem der natio
Original from
INDIANA UNIVERSUM
1207
H. Oldenberg, Eine indisch-französische Dichtung
1268
Es wäre ja gewiß sehr angenehm, wenn
sich ein Aufbau des Schulwesens finden
ließe, hei dem jeder Schüler in Dorf und
Stadt jederzeit in die Bildungsanstalt
übergehen könnte, die seiner besondem
Begabung und seinen Neigungen oder
seinem Berufsziele entspräche. Aber ab¬
gesehen davon, daß das bei der Mannig¬
faltigkeit und Verschiedenheit der Be¬
gabungen niemals auch nur annähernd
durchführbar wäre (von den Kosten zu
schweigen), so würden Volks- und Mit¬
telschule in ihrer Eigenart schwer leiden,
wenn sie immer nach der nächsthöheren
Schule hinüberschielen und ihre begab¬
testen Zöglinge an sie abgeben müßten,
während andrerseits die höhere Schule
ihrem Zwecke nicht mehr gerecht wer¬
den könnte, wenn sie ihren Lehrplan
nicht nach eignem Bedarf aufbauen, ihre
erzieherische Aufgabe nicht von der
Kindheit an an ihren Schülern mit den
auf ihrem eigenen Kulturwege“ liegen¬
den Mitteln verfolgen könnte.
nalen Einheitsschule. (Vorträge und Auf¬
sätze aus der Comenius-Gesellschaft XXV 1.
Jena, Diederichs, 1916.)
Die Vertreter der „Erziehungsschule“,
als deren eifrigster Führer Professor
Rein sich seit Jahrzehnten betätigt hat.
hätten eine fruchtbarere und aussichtsrei-
chereAufgabe, als sie die Einheitsschulbe¬
strebungen versprechen: nämlich die hö¬
here Schule immer wieder daran zu erin¬
nern, daß auch sie in erster Linie eine
Erziehungsschule sein soll, und ihr
zu zeigen, wie sie sich davon befreien
kann, eine Fachschule oder vielmehr eine
Anhäufung mehrerer Fachschulen auf
einmal zu sein. Kann und soll sie
zugleich Fach- und Erziehungsschule
sein? Wieweit darf sie sich ins Fach¬
schulwesen verlieren, ohne das höchste
Ziel aller Schulen, das der Erziehung zur
sittlichen Persönlichkeit und zum be¬
wußten Gliede der nationalen Gesamt¬
heit, zum deutschen Staatsbürger, preis¬
zugeben? Diese Fragen waren auch für
Fichte, Humboldt und Süvem wohl
wichtiger als die der mechanischen Staf¬
felung der deutschen Bildungsanstalten.
In ihnen berühren sich Pädagogik und
Politik.
Eine indisch-französische Dichtung.
Von H. Oldenberg.
Deutsche Truppen in Saint-Quentin:
dort ist die unvergleichliche Sammlung
La Tourscher Porträts. Und ein kunst-
geschichtliches Prachtwerk entsteht, das
dem französischen Meister huldigt, her-
ausgegeben von — einem deutschen Re¬
servekorps.
Ganz im kleinen möchte ich hier et¬
was Ähnliches tun, wie man es dort in
so viel größerem Maßstab ausgeführt
hat: von einer französischen Dichtung
erzählen, die mir auf weit abliegenden
Wegen philologischer Forschung be- !
J gegnet ist. Ein Zufall machte mich
darauf aufmerksam — natürlich bean¬
spruche ich nicht, das zuerst gesehen
zu haben —, daß ein von mir unter¬
suchter altindistfier Text eins* das
Interesse eines großen Dichters der
feindlichen Nätion erregt hat und einer
seiner Schöpfungen zugrunde liegt, in
denen seine Eigenart sich mächtig aus¬
spricht.
Von diesem Gedicht und seiner in¬
dischen Quelle will ich berichten.
Der alte Textisteine Upanlshad —
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1269
H. Oldenberg, Eine indisch-französische Dichtung
1270
einer der theosophischen Traktate, die
zur Literatur der Veden gehören. Der
Dichter aber ist Victor Hugo.
In der Meer- und Felseneinsamkeit von
Guernsey — der rechten Umgebung —
afliegen ihm jene Visionen auf, die er
in den ersten Teilen der Legende des
stecles verkörpert hat: das grandiose
Bild der ganzen Menschheit „in einer
einzigen, unermeßlichen Bewegung des
Aufsteigens zum Licht", über jene Wei¬
ten von Raum und Zeit hin,
.wo Indien sich in Deutschland hat ver¬
wandelt“ —
grenzenlose Pfade, dunkel und lichtum-
strömt, beschritten von Göttern und
Halbgöttern, von den kolossalen Mäch¬
ten der Natur, von Tyrannen, Helden,
Duldern. In Götterwelten liegen die
Tore, durch die der Eingang in die
Reiche der Menschheit führt. Auf der
einen Seite sieht man Jehova, Kain,
Jesus. Auf der andern hellenische Ge¬
stalten: so Phtos den Titanen, der in
die Abgründe der Unendlichkeit hinab-
geschaut und in den ungeheuren Fin¬
sternissen ein Auge entdeckt hat; nun
ruft er furchtbar in die lachende Heiter¬
keit der Olympier hinein: „GötterI Es
ist ein Gott!“
Zwischen Biblischem und Griechi¬
schem steht ein kurzes Stück in der
Mitte. Es ist überschrieben Suprema¬
tie. In welches Land es führt, sagen die
Namen der Götter, die dort auftreten:
Vayu, Agni, Indra. Das sind indische
Götter — nicht die allbekannten des
heutigen Indien, wie Vishnu und Shi-
va, sondern Götter des hohen indischen
Altertums, der Veden. Jene drei, er¬
zählt der Dichter, haben die Dämonen
und Ungeheuer bezwungen. In der Höhe
haben sie sich hingesetzt, und jeder von
ihnen am Haupte mit einem Stern ge¬
schmückt haben sie gesprochen: „Wer
ist Gott? Wir allein!“
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Da plötzlich erhebt sich in den Fin¬
sternissen vor ihnen ein Licht wie“ ein
Mondstrahl in Waldesgründen oder wie
der Schein eines Leuchtturms auf einem
Riff — schweben dem Dichter nicht die
Leuchtfeuer vor, die überall auf den
Klippen um Guernsey den Schiffer lei¬
ten und warnen? Die Götter erstaunen:
was ist jenes Licht? Vayu, der Wind,
wird es erforschen. Er geht auf die Er¬
scheinung los:„Wer bist du?“ „Wer bist
du selbst?“ fragt jene. „Ich bin Vayu,
der Wind,“ „Und was kannst du?“ „Ich
kann die Eichen beugen, jede Kette zer¬
brechen, die Erde durch die Sterne hin¬
wehen, so leicht wie man Spinngewebe
zerreißt!“ Da legt das Phantom einen
Strohhalm vor ihm nieder: „So wehe
dies hinweg!“ Mächtige Verse malen,
wie da vor Vayus Stürmen das Univer¬
sum erbebt. Aber
.der Strohhalm ihm zu Füßen rührt sich
nicht“.
Vayu kehrt um, er hat das Geheimnis
nicht ergründet. Nun versucht es Agni,
der Gott des Feuers. Das rätselhafte
Licht befiehlt ihm, den Strohhalm zu
verbrennen. Agni läßt seine ganze Flam¬
menglut auflodem: so kocht der Vesuv,
der Hekla. Aber der Strohhalm bleibt un¬
versehrt. Nicht einmal der Rauch jenes
Weltenbrandes hat ihn berühren kön¬
nen. Nun ist die Reihe an Indra, dem
Gott des Raumes. „Was ist deine Kraft,
o Gott?“ „Die Unendlichkeiten durch¬
schaue ich! Ich weiß alles! Ich sehe al¬
les! Wäre ein Wesen mir unsichtbar,
wäre jenes der Gott, nicht ich.“ „Siehst
du diesen Strohhalm?“ „ Ich sehe ihn,
du Licht! Mein Blick umfaßt das All.
Vor ihm kannst selbst du nicht ver¬
schwinden !“
.So sprach der Gott Da war das Licht
verschwunden.“ —
Und nun schreiten wir über ei¬
nen Zeitraum von wohl mehr als dritt-
Original from
INDIANA UNIVERSITY
1271
H. Oldenberg, Eine indisch-französische Dichtung
1272
halb Jahrtausenden hinüber, von der
nördlichen Felseninsel zum Ganges, von
der Lügende des siedes zur alten Upa-
nishad.
Die Upanishaden sind, wie bekannt,
der Verherrlichung des Brahma gewid¬
met, des all-einen Wesens, das die Spe¬
kulation der Brahmanen über, hinter
der bunten Götterwelt der alten Opfer¬
hymnen entdeckt hatte. Das Brahma ist
der ungesehene Seher, der ungehörte
Hörer, der unerkannte Erkenner — das
„Nein, Nein“, von dem doch zur Men¬
schenseele gesprochen wird: Tat tvam
asi — „das bist du“. Die Kena Upa-
nishad, mit der wir es zu tun haben,
sagt vom Brahma:
„Nur wer es nicht denkt, hat’s gedacht;
Wer es denkt, der erkennt es nicht:
Unverstehbar Verstehendem,
Verständlich dem, der nicht versteht.“
Zwischen solchen Worten, die das Brah¬
ma in die letzten Tiefen des Unfaßbaren
verlegen, gibt nun die Upanishad eine
Erzählung, in der das Gestaltlose zwar
rätselhafte Gestalt, aber doch immerhin
Gestalt angenommen hat.
Das Brahma hat für die Götter den
Sieg über die bösen Geister gewonnen.
Die Götter aber brüsten sich, als hätten
sie selbst gesiegt. „Da zeigte das Brah¬
ma sich ihnen. Und sie erkannten es
nicht: „Was ist das für ein Wunder¬
ding?“ Sie sprachen zu Agni: „Wesen¬
kenner, erforsche du, was das für ein
Wunderding is>t.“ Er sagte: „Das will
icn tun“, und lief darauf los. Da sprach
jenes z)u ihm: „Wer bist du?“ „Agni bin
iah“, erwiderte er, ,,der Wesenkenner bin
ich.“ „Wenn du der bist, was für eine
Kraft hast du?“ „Ich kann alles verbren¬
nen, was auf Erdenist“ Da legte ihm das
Brahma einen Grashalm hin und sprach:
„Verbrenne dem“ Da ging er darauf
los mit allem Ungestüm, aber er konnte
ihn nicht verbrennen* Und er kehrte
um: „Ich habe nicht erforschen können.
was das für ein Wunderding ist.“ Nun
wiederholt sich dieselbe Szene mit Va-
yu. Der kann alles fortreißen, was auf
Erden ist. Aber vor dem Grashalm ver¬
sagt er. Zuletzt folgt Indra. „Er lief dar¬
auf los. Da verschwand es vor ihm/ 4
Indra begegnet einem schönen Weibe
Uma, der Tochter des Himalayaberges.)
Von ihr hört er, daß jenes Wunder¬
ding das Brahma gewesen ist. Darum
sind jene drei Götter, und vor allem In¬
dra, über die andern Götter erhaben.
Denn sie hatten das Brahma am näch¬
sten berührt und zuerst erkannt, daß es
das Brahma ist.
Dies die Erzählung der Kena Upani-
shad. Irre ich nicht, so hat der theolo¬
gische Verfasser hier — es wäre nicht
der einzige derartige Fall — ein altes
Märchenmotiv seinen Spekulationen an¬
gepaßt Man weiß ja, wie viele solcher
Motive jede Grenze der Länder, der Kul¬
turen, der Jahrtausende überspringend
eine Art Allgegenwart auf Erden besitzen.
So kehrt überall wieder, was man „das
Märchen von den Menschen mit den
wunderbaren Eigenschaften“ genannt
hat: eine Anzahl starker oder kunstrei¬
cher Männer tritt auf, von denen jeder
irgendeine bestimmte Kraft in höchster
Vollendung besitzt — in einem solchen
Märchen der Trinker, der Esser, der Frie-
rer, der Läufer, der Schütz; in einem
andern der Riesenstarke, der Bläser, der
Schütz, der Scharfsichtige, der Läufer —
und so fort in zahllosen Abwandlun¬
gen. 2 ) Hier also erscheinen zwei Starke,
1) Woher diese? Stammt sie aus einer
älteren Gestalt der Erzählung, in der es
sich vielleicht nicht um das Brahma, son¬
dern um Shiva, den Gatten der Uma, han¬
deln mochte?
2) In der Regel allerdings, anders als
im vorliegenden Fall, so, daß alle diese
Männer als Diener oder Gefährten dem
Helden des Märchens hilfreich sind. Wer
über diesen Märchentypus Näheres zu wis¬
sen wünscht, sei auf Benfeys Aufsatz ver¬
wiesen: „Das Märchen von den Menschen
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INDIANA UNIVERSITY
1273
H. Oldenberg, Eine indisch-französische Dichtung
1274
die, wie »es in solchen Märchen zu ge¬
schehen pflegt gefragt werden: Was
kannst du?, und die sich als der große
Brenner und der große Bläser zu erken¬
nen geben; beim dritten kommt es nicht
so weit, daß er seine besondere Kraft
nennen und erproben kann. Das Mär¬
chen ist halb Märchen geblieben, halb
aber ist es zum Ausdruck — nicht dem
reinsten Ausdruck — für den großen
Upanishadgedanken geworden: über al¬
lem Gewaltigsten des Diesseits gibt es
ein wunderbares Jenseitiges, vor dem
das hienieden Größte zu kraftlosem
Schein herabsinkt. Ohne Kunst, kindlich
unbeholfen beschreibt die Upanishad,
wie die Götter herumlaufen, sich über
den seltsamen Anblick wundern, als
starke Leute ihre Kraft versuchen. Ne¬
ben dem Geplätscher dieses Märdhen-
bachs klingt die Sprache Hugos wie das
Brausen sturmgepeitschter See. In der
indischen Erzählung verschwindet das
Brahma so wie Götter und Geister eben,
wenn sie ihre Arbeit getan haben, wie¬
der zu verschwinden gewohnt sind; da¬
nach geht die Geschichte weiter: eine
schöne Frau gibt die Lösung des Rät¬
sels. Dieser Ausgang ist von Hugo
selbstverständlich weggeschnitten. „Mir
kannst du nicht verschwinden“, hat In¬
dra gesagt. Da war das Licht ver¬
schwunden. Jählings der Aktschluß ei¬
nes letzten Akts .. .
mit den wunderbaren Eigenschaften“ (Klei¬
nere Schriften III, 94ff.); ferner auf Bolte-
Polivkas Anmerkungen zu den Kinder-
und Hausmärchen der Gebrüder Grimm
II, 86ff. (zum Märchen: „Sechse kommen
durch die ganze Welt“); Cosquin, Contes
populaires de Lorraine I, 23ff. — In den¬
selben Zusammenhang scheint mir eine Er¬
zählung der Veden zu gehören, wo sich
zwei Götter begegnen und der eine sagt:
„Ich bin der Treffer im Versteck. Wer aber
bist du?“ „Ich bin der Holer aus dem Ver¬
steck.“ Worauf die beiden ihre Kunst am
Eber Emusha hinter den sieben Bergen
beweisen.
Die Upanishaden mit ihrer Brahma¬
mystik, ihrem Helldunkel, dem Herein¬
leuchten stillen Sonnenscheins in die flie¬
ßenden Nebel sind unter den Schöpfun¬
gen Indiens wohl nicht das, was auf den
französischen Geist die stärkste An¬
ziehung üben konnte. Ein Franzose, An-
quetil Duperron, hat Europa die erste
Kunde von diesen wundersamen und
wunderbaren Werken gebracht. Aber die
Schätze auszuschöpfen, die dort ruhen,
diese — es darf nicht verschwiegen wer¬
den — zwischen viel leerem Wortge¬
klingel sich auftuenden ahnungsvollen
Tiefen zu durchsinnen und zu durchfüh¬
len, waren doch wohl vor allem Deut¬
sche berufen: man braucht nur Schopen¬
hauer zu nennen. Ließ sich denken, daß
in Frankreich eben Hugo zu diesen Emp¬
fänglichen gehörte? Ich weiß nicht, wie
weit seine Lektüre der Upanishaden ge¬
reicht hat. Aber auch wenn er die Teile
von ihnen kannte, die man das innerste
Heiligtum der Upanishaden nennen
möchte, wo das Mysterium am ein¬
dringlichsten ausgesprochen wird: es ist
doch, scheint mir, begreiflich, daß sich
seine Aufmerksamkeit vielmehr eben auf
diese Erzählung lenkte, in der das
Brahma — bezeichnenderweise nennt er
dessen Namen nicht — greifbar verkör¬
pert einen Wettstreit mit persönlichen,
in bunter Gestalt dem Auge erscheinen¬
den Gegnern besteht. Ihm, dem Dichter
gewaltigster Antithese, fiel offenbar vor
allem die Antithese in die Augen, wel¬
che diese Stelle der Upanishad enthält
und die sich so machtvoll steigern ließ.
Hier die Götter in der engen Selbstge¬
nügsamkeit ihres Wesens, dort die rät¬
selhafte, unendliche Macht. Das schwei¬
gende Verschwinden der Erscheinung
ruft den kleinen Größen des vedischen
Himmels dasselbe zu, was der Dichter
jene Stimme des Titanen den Olympiern
zurufen läßt: O dieux, il est un Dieu!
1275
Nachrichten und Mitteilungen
1275
Nachrichten und Mitteilungen.
Zur Wiedereinführung der Sommerzeit
Die Wiedereinführung der Sommerzeit
auch in diesem Jahre hat den Mitgliedern der
Pariser Acad6mie des Sciences Anlaß zu aller«
lei geschichtlichen Betrachtungen gegeben,
bei denen nidit bloß auf die Stundenrech'
nung der Türken und Japaner, sondern
auch auf das alte Babylon zurückgegriffen
wurde. Was dabei die gelehrten französi¬
schen Mathematiker, Techniker und Natur¬
forscher äußerten, scheint sich nicht ganz
mit den Ergebnissen gededct zu -haben,
welche die historische Wissenschaft in be¬
zug auf die Geschichte der menschlichen
Zeitrechnung anerkennt, und die zuletzt
der Observator am Kgl. preußischen astro¬
nomischen Recheninstitut, Professor F. K.
Ginzel, in der groß angelegten Neubearbei¬
tung des alten Idelerschen Handbuchs der
Chronologie mit aller Gründlichkeit zu-
sammengefaßt hat. Aber es verlohnt sich
nicht, in einer Zeit gewaltiger Gegensätze
über Kleinigkeiten zu streiten. Besser wird
es sein, auch mit den eigenen Gedanken
den Weg eines historischen Rückblickes
einzuschlagen, indem wir zum zweitenmal
unsere Uhr auf Sommerzeit stellen.
Als das zum erstenmal geschehen sollte,
ist |es nicht jedem leicht geworden; auch
abgesehen von kleineren Sorgen hatte doch
mancher das bange Gefühl eines Sprunges
ins Dunkle. Gerade wer sich des hohen
Wertes genauer und gemeinverständlicher
Tageseinteilung recht bewußt war, dem
konnte es in bedenklichem Licht erscheinen,
daß mit plötzlichem Ruck mitten im Krieg
ein durch Jahrhunderte erprobter Kultur¬
besitz urogestaltet werden sollte. Nachdem
nun aber das Wagnis das eine Mal ge¬
lungen, und da man dies- und jenseits der
Schützengräben daran gegangen ist, es
zu wiederholen, ist vielleicht die nötige
Ruhe eingekehrt, um die Sache in etwas
größerem Zusammenhang anzusehen. Da¬
bei ergibt sich bald, daß unsere bis 1916
ausschließlich gebrauchte Stundenordnung
gar nicht so ehrwürdigen Alters war, als
der oder jener meinte. Es gibt unter den
Zeitgrößen, mit denen wir Tag für Tag ge¬
duldig Weiterarbeiten, viel ältere. Man
denke an die aus jüdischem Ritus und
ägyptischer Sterndeuterei hervorgewachsene
und vielleicht auch durch sie nur hindurch-
gegangene siebentägige Woche, nach der
wir unsere Arbeit richten; an die mit un¬
gleicher Tageszahl bemessenen und den¬
noch bis heute gleich bezahlten Monate,
die einst Julius Cäsar, hierin ein recht zag¬
hafter Neuerer, aus dem abergläubischen
Kalender der römischen Republik zusam-
menflickte; oder man denke an das unser
akademisches Leben störende, aber auch
von anderen Kreisen längst als Nachteil
empfundene Hin- und Herschwanken des
Osterfestes, das als ein Überbleibsel eines
den führenden Völkern der Erde fremd¬
gewordenen uralten Mondjahres immer noch
fortlebt. Im Vergleich zu solchen Alter¬
tümern unseres zeitrechnerischen Haushal¬
tes, welche die Last der Jahrtausende so
merklich an sich tragen, ist die Stunde und
die Form, in der wir sie jetzt handhaben,
fast eine moderne Sache zu nennen. Als
praktischer Behelf des täglichen Lebens
steht sie nicht einmal sechshundert Jahre in
Gebrauch, and die uns geläufige Zählweise
ist in deutschen Landen überhaupt nicht viel
länger als ein Jahrhundert alleinherrschend
gewesen. Vorher gab es auch da recht be¬
deutende örtliche Verschiedenheiten. Man
kann also abseh en von der 24stündigen
Zählweise jenseits der Alpen, deren ältere
Form Goethe zu Beginn seiner Italienischen
Reise eingehend beschrieben hat; und man
kann auch den kühnen, aber ergebnislosen
Versuch der Franzosen beiseite lassen, die
im Jahre 2 der Republik das Dezimalsystem
bis auf die Einteilung des Tages ausdehnen
wollten; auch unsere eigenen Vorfahren
haben mehrfache Reformen der Stunden-
rechnung erlebt, und ihre Chronometer, so¬
weit sie welche besaßen, schon bei ver¬
schiedenen Gelegenheiten neu einzurichten
gehabt. Nur darin liegt also für den weiter
Zurückblickenden das Neuartige der 1916
getroffenen Umgestaltung, daß sie so glatt,
so gleichmäßig, in so weit ausgedehnten
Gebieten mit einem Schlag volliührt wurde.
Bei dieser Einheit des Handelns, der die
Geschichte nichts Gleiches an die Seite zu
stellen hat, darf neben der zweckmäßig
angewandten Macht des Staates auch das
Zusammenarbeiten wissenschaftlicher Kräfte
nicht vergessen werden, dem die Vortoe-
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1278
Nachrichten und Mitteilungen
dingung und Vorbereitung dieses großen
Schrittes zu danken ist Von den 1883 zu
Rom gefaßten Beschlossen der Europäi-
Gradmessungskommission, welche die Welt¬
zeit nach dem Meridian von Greenwich,
regelten, bis zu der 1912 in Paris abgehal¬
tenen Internationalen Stundenkonferenz,
die um den ganzen Erdball ein Netz von
funkentelegraphischen Stationen mit täg¬
licher Abgabe vorherbestimmter Zeitsignale
legte, zieht sich eine ganze Reihe von sol¬
chen Ober die Stundeneinteilung getroffe¬
nen Verabredungen, die ebensosehr der
Wissenschaft als dem Verkehr zu dienen
hatten. Erst durch diese großzügige Kultur¬
arbeit sind wir an jene strenge Gleichheit
und feste Ordnung in den Fragen unserer
Zeiteinteilung gewöhnt worden, die in der
allgemeinen Einführung der Sommerzeit
eindrucksvoll zutage trat und die, hatten
wir nicht Krieg, in lauten Tönen als ein
Zeichen des Kulturfortschritts gepriesen
worden wäre.
Es kann die Wertschätzung dieser chro¬
nologischen Neuerung nicht vermindern,
ja vielleicht trägt es zu ihrer vollen Wür¬
digung bei, wenn hier an eine vergessene
Vorläuferin der Sommerzeit erinnert wird.
Nicht gar weit von uns, in einer Stadt am
Rhein, haben einst die Uhren schon durch
vier Jahrhunderte fast genau so geschlagen,
wie sie es während des vorigen Sommers
im ganzen Deutschen Reich und darüber
hinaus tun mußten. Das war in Basel.
Dort schlug es, wenn die Sonne am höch¬
sten stand, nicht »Zwölf“, sondern »Eins“
und ebenso wieder .Eins“ zu Mitternacht.
Diese Eigentümlichkeit der „Basler Uhr“
ist schon durch eine Ratsverordnung vom
Jahre 1422 bezeugt und sie hat in derselben
Stadt bis 1798 fortbestanden. Die Uhr am
Münster zu Basel wird also wohl schon
seit ihrer Aufstellung, die vor 1381 ge¬
schehen sein muß, denselben Gang ein¬
gehalten haben. Verglich man sie mit den
Uhren der Nachbarstädte oder auch der
umliegenden Dörfer, die sich freilich erst
später den Luxus solcher Zeitmesser ge¬
stattet haben werden, so schien die Basler
Uhr allemal um eine Stunde vorauszugehen.
Wie das gekommen, darüber gab es dort
mancherlei Gerede und Kopfzerbrechen.
Sebastian Brant, der Verfasser des„Narren-
schiffs“, hat zur Erklärung gleich vier lustige
Geschichtlern aufgetischt, von denen eine
den Brauch gar auf Herkules zurückführt,
der, von Spanien über die Vogesen nach
Griechenland heimkehrend, dem guten
Elsässer Wein etwas zu lange zu sprach
und zur Hereinbringung der verlorenen Zeit
beim Aufbruch am andern Morgen den
Baslern die Vorwegnahme einer Stunde
anbefahl. Der um die Erforschung älterer
Tageseinteilungsformen vielverdiente Gu¬
stav Bilfinger hat in seinem Buch über „die
mittelalterlichen Horen und die modernen
Stunden“ (Stuttgart 1892) diese Dinge hübsch
zusammengestellt und zweifellos das Rich¬
tige getroffen, wenn er nicht bloß solche
Märchen, sondern alle auf absichtliche Vor¬
rückung des Zeigers hinauslaufenden Er¬
klärungen der „Basler Uhr“ ablehnte. Was
man in Basel übte, war nach seinen Aus¬
führungen nur eine Anwendung des auch
sonst hier und da auftauchenden Brauches,
nach der anfangenden Stunde zu zählen
anstatt nach der vollendeten. Dachte man
nämlich bei der Stundenzählung in dem
Augenblick, da sie zur Einführung kam,
weniger an den Zeitpunkt des Stunden-
Wechsels als an den ganzen Zeitraum der
Stunde, so stand die Wahl frei, ob man das
Uhrwerk gleich zu Beginn oder erst am
Schluß eines solchen Zeitraumes die seiner
Benennung entsprechende Zahl von Schlä¬
gen abgeben ließ, und ob demnach der
oberste Platz des Zifferblattes mit der Zif¬
fer 1 oder mit 12 bezeichnet werden sollte.
In der Mehrzahl der Fälle entschied man
sich wohl von Anfang an dafür, sowohl das
hörbare als das sichtbare Zeichen an den
Schluß des vom Zeiger durchlaufenen Weges
zu setzen, wie wir ja auch gewöhnt sind,
den soundsovielten Geburtstag erst nach
Zurücklegung des betreffenden Lebensjahres
zu feiern. Aber gleichwie sprachlich kein
Hindernis bestünde, uns, wenn wir dabei
nicht ein Mißverständnis zu fürchten hätten,
ebendieses Ausdrucks für den Anfang des¬
selben Zeitabschnittes zu bedienen, so waren
zunächst auch die Basler ganz im Recht
mit ihrer von den anfangenden Stunden¬
räumen hergeleiteten Zählung. Nur daß sie,
aller Vereinsamung zum Trotz, so hart¬
näckig an ihr festhielten, zog ihnen den
Spott der andern zu, so daß noch Karl
Simrock lange nach der Abschaffung der
„Basler Uhr“ hänselnd von ihr sagen durfte,
„sie sei in jedem Stücke wohl hundert Jahr
zurücke und vor ein Stündchen nur“. Der
gelehrte Dichter hat bei diesen Worten
nicht vorausahnen können, daß schließlich
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Nachrichten und Mitteilungen
1280
doch die Basler, wenigstens !0r die eine
H&lfte des Jahres, in gewissem Sinne recht
behalten sollten. Bewußt oder unbewußt
hat im vorigen Frühjahr ganz Mitteleuropa
seine Uhren nach der alten Basler Münster'
uhr gerichtet, und wir sind, wie es scheint,
auf dem besten Wege, das zu einer stän¬
digen Gewohnheit werden zu lassen.
Ein großer Unterschied bleibt freilich be¬
stehen. Er liegt nicht bloß in der engen
Örtlichen Beschränktheit jenes Brauches, die
so grell von der einheitlichen Regelung
unserer Tage abstidit. Die Hauptsache ist,
daß sich die Basler in ihren Lebensgewohn-
heiten von den vorauseilenden Uhren der
Stadt offenbar nicht weiter stören ließen.
So wie laut der erwähnten Ratsverordnung
von 1422 die näditlidie Ablösung der Wäch¬
ter nicht etwa um 12 Uhr erfolgen soll, son¬
dern „ze Mitternacht, daz es eins slaht“,
so werden die Bürger dort wohl allezeit
erst um „Eins“ das Mittagmahl genommen
haben und des Morgens um keine Stunde
früher aufgestanden sein, als es bei ihren
Standesgenossen in Straßburg oder Zürich
üblich war. Hier wie dort lebte man im
Grunde trotz Einführung und sorgsam eifer¬
süchtiger Pflege der städtischen Uhren doch
nach der großen, allgemein menschlichen
Uhr des Himmels. Wir aber wollen nicht
allein, wie es in Basel eigentlich geschehen
war, das Zifferblatt um eine Stelle nach
rückwärts drehen oder statt dessen den
Zeiger entsprechend vorwärtsschieben, son¬
dern wir wollen mit dieser Umstellung der
Maschine unser eigenes Leben, das nicht
mehr so sehr an die Natur, sondern in
höherem Grade an die Stundenzahl gebun¬
den ist, verändern. Die Uhr, bisher nur als
ein Verständigungsmittel der Menschen ge¬
schätzt, ist nun ein Mittel zur Ersparung
künstlichen Lichtes, ein Hebel zur Verbes¬
serung der Volkswirtschaft, ein Sporn zur
höchsten von der Natur gestatteten An¬
spannung menschlicher Kraft geworden;
von uns wie auch von unseren Gegnern
wird sie als eine unerläßliche Helferin des
Sieges mit in den Dienst des Kampfes ge¬
stellt Das haben sich die alten Basler,
unsere Vorgänger in der jetzt wieder ange¬
nommenen Zählweise, wohl noch weniger
träumen lassen als die Männer der Wissen¬
schaft und des Verkehrs, die in dem fried¬
lichen Zusammenwirken der letzten Jahr¬
zehnte Weltzeit und Zonenzeit schufen und
dadurch auch für die Sommerzeit den Weg
bahnten.
Innsbruck. W. Erben.
Pädagogische Auslandsstudien — umfas¬
sende, systematische — dringend zu fordern,
hat Professor P. Rühlmannim diesjährigen
Juliheft der „Deutschen Schule“ das Wort
ergriffen. Die in unserer letzten Februar¬
nummer abgedruckte Denkschrift des preußi¬
schen Unterrichtsministeriums, vom deut¬
schen Volke aufgenommen „mit einer Ein¬
mütigkeit, die einer staatlichen Denkschrift,
zumal einer von der Unterrichtsverwaltung
herrührenden, selten widerfährt“, hat den
besonders mit dem pädagogischen Frank¬
reich vertrauten Schulmann zur Aussprache
einer schon vordem in ihm feststehenden
Forderung aufs neue veranlaßt. Zunächst
zu Nutz und Frommen der deutschen Päd¬
agogik, dann aber auch zum Dienst unsrer
auswärtigen Politik. Dieses zweite Motiv
hatte Rühlmann schon in dem Artikel der
Internat. Monatsschrift: „Die französische
Schulpolitik“ (Sept. 1915) betont; in seiner
neuen Erörterung jetzt tritt vor allem das
erste hervor. Zum Schluß skizziert er das
Tätigkeitsgebiet dieser wissenschaftlichen
Pflegestätte für das Studium der ausländi¬
schen Pädagogik, wie er es etwa vorstellt
Sie müßte „die moderne pädagogische Li¬
teratur des Auslandes sammeln, sichten und
bearbeiten, sei es in Form der wissenschaft¬
lichen Monographie, sei es in Korrespon¬
denzen für die pädagogische Presse*. Sie
hätte „größere Auslandsrundfragen zu wich¬
tigen pädagogischen Tagesfragen zu ver¬
anstalten, pädagogische Studienreisen zu
organisieren*. Sie w würde auch dem Aus¬
wärtigen Amt die Namen der Schulmänner
angeben, die als pädagogische Beiräte ein¬
zelnen diplomatischen Stellen von Zeit zu
Zeit beigegeben werden könnten. Dazu
kommt die wissenschaftliche und praktische
Vertretung der pädagogischen Interessen
in den mit uns verbündeten, etwa unserer
Führung sich anvertrauenden Staaten usw.
usw.“
Für die Schriltleltung verantwortlich: Professor Dr. Max Cornlcellus, Berlin W 30, Luitpold strafte- 4.
Druck von B.Q.Teubner ln Leipzig.
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INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
11. JAHRGANG HEFT 11 1. AUGUST 1917
Die Reformation.
Von Adolf von Hamack.
I. Die römisch-katholische Kirche im Mittelalter.
Die römisch-katholische Kirche im Mit¬
telalter war ein politisches Reich und
eine Gesinnungsgemeinschaft zu¬
gleich. Sie war ein äußeres Reich, mäch¬
tiger als das römische Weltreich, dessen
Erbe sie seit dem 5. Jahrhundert ange¬
treten hatte, und sie war die Ausgestal¬
tung der christlichen Religion, Sittlich¬
keit und Kultur im Abendland. Als Im¬
perium besaß sie das Zepter und Schwert
Cäsars und Konstantins. Als Gesin¬
nungsgemeinschaft aber war sie von
dem Geiste des tiefsten und reichsten
Mannes durchwaltet, den die Christen¬
heit nach dem Apostel Paulus beses¬
sen hat, von Augustin, daneben aber
auch von dem Geist des römischen
Rechts und dem ihm verschwisterten
Rationalismus des Aristoteles und der
Stoa.
Aber in dem Anspruch, den diese rö-
misch-augustinische Kirche erhob, ver¬
sanken Cäsar und Konstantin ebenso
wie Augustin, Aristoteles und das römi¬
sche Recht; denn sie griff aus der Zeit
in die Ewigkeit, aus dem Irdischen ins
Göttliche, begründete von dorther ihr
Recht und deutete von dorther ihr We¬
sen. Schon die Unterscheidung von
Gesinnungsgemeinschaft und äußerem
Reich lehnte sie als ketzerisch ab. Weil
sie Gemeinschaft des Glaubens ist, ist
sie ein äußeres Reich und umgekehrt:
so behauptete sie selbst. Sie ist eine
vollkommene Einheit; denn sie ist das
sichtbare Reich Gottes auf Erden
(civitas dei in terris peregrinans), das
Reich der Gerechtigkeit und Seligkeit,
ruhend auf der ewigen von Gott selbst
geoffenbarten Wahrheit und gestiftet zur
Erlösung der Menschheit vom Sohne
Gottes selbst. Indem sie diesen Anspruch
durchsetzte, wurde ihre Machtfülle schier
unermeßlich. Und sie verstand es, mit
wenigen großen Sätzen diese Machtfülle
zu begründen.
Sie knüpfte dabei an den alten Besitz
der Christenheit an und verkündete die
Nichtigkeit alles Irdischen, die jenseitige
Welt und das ewige Leben, die Schuld¬
verhaftung der Menschheit, aber dazu
die Erlösung von Sünde, Tod und Teufel
durch Christus und die Stiftung der Kirche
durch seinen Geist. Erhaben und tief
war diese Verkündigung und drang bis
in das Innerste der Seelen. Aber sie fol¬
gerte nun, daß diese Kirche als ein
„Reich“ gegründet sei, ein „Reich“ könne
aber nur etwas Sichtbares sein; denn es
müsse gegen die bösen Mächte auf Er¬
den kämpfen, sie besiegen und alles
Gottfeindliche niederzwingen. Und wei¬
ter folgerte sie, Christus, der im Himmel
thronende Herr des Reichs, müsse einen
von ihm selbst eingesetzten Stellvertre¬
ter auf Erden haben; denn kein geschrie¬
benes Offenbarungswort, kein bloß
menschliches Haupt,auch keine Versamm¬
lung der frömmsten und umsichtigsten
Lehrer könne die Notwendigkeit seiner
41
1283
Adolf von Harnack, Die Reformation
ständigen Gegenwart und wirklichen
Regierung auf Erden ersetzen.
Daher lehrte die Kirche, sie selbst, die
rOmis(h>katholische Kirche mit allem,
was sie sichtbar ist und hat, sei das
Reich Gottes, und ihr Haupt, der Bischof
von Rom, sei der Stellvertreter Christi.
Nur er und kein anderer könne es aber
sein, weil einst Petrus als Haupt der
Apostel Christi Stellvertreter gewesen
sei und weil er nach Christi Willen die¬
ses sein Amt auf seine Nachfolger, die
Bischöfe der Stadt Rom, fibertragen habe;
demnach sei die große, von Rom aus
geleitete Kirchenanstalt mitsamt ihren
Sakramenten, Opfern, Priestern und
Ordnungen das Reich Christi auf Erden,
also das himmlische Reich der Wahr¬
heit, Gerechtigkeit und des Friedens, des
Göttlichen und Ewigen, mitten in dieser
unheiligen Welt, und der Bischof von
Rom sei der wirkliche Stellvertreter
Christi: wer ihn hört, hört Christus, den
Sohn Gottes.
Unwillkürlich hält man den Atem an,
wenn man diese Verkündigung hört, und
die Seele füllt sich mit Staunen. Zwar
schon im grauesten Altertum und je und
je in der Geschichte ist es versucht wor¬
den, die politische Gewalt dadurch zu
weihen, daß man sie als göttliche dar-
stellte, und umgekehrt das Gute und
Heilige dadurch zur Macht zu bringen,
daß man es mit einer erzwingbaren
Rechtsordnung und der vollen Regie¬
rungsgewalt ausstattete. Aber erst in
der römisch-katholischen Kirche des Mit¬
telalters ist der Versuch in großartiger
Weise durchdacht, bis ins einzelne durch-
geführt und daher zu einem vollen Er¬
folge gebracht worden. Alle Ideale der
Menschheit lagen in den Händen dieser
Kirche, der Zug zum Ewigen, die Wahr¬
heitserkenntnis, die Gerechtigkeitspflege,
die Herstellung eines universalen Bru¬
derbundes, Bildung und Kunst, und eben
diese Kirche war zugleich die stärkste
politische Macht in Westeuropa, d. h. in
dem Teil der Menschheit, dem die Ge¬
genwart und Zukunft gehörte. So schien
die Gottesherrschaft auf Erden verwirk¬
licht! Wie und durch welche Mittel aber
geschah das?
Nun vor allem — diese Kirche erfüllte
Hohe und Niedere, Gebildete und Un¬
gebildete, kurz alle und jeden mit der
Oberzeugung, daß die Ewigkeit das Ziel
der Menschheit ist, das Irdische aber im
argen liegt, an sich zwecklos ist und
nur eine Vorschule für das Jenseits. In
dem Jenseits lebte der mittelalterliche
Mensch, wenn er sich auf sich selber be¬
sann. Sein ganzes Dasein hatte keine
wirkliche Gegenwart mehr für ihn; denn
in dem Ausblick auf die Ewigkeit ver¬
sank sie ihm.
Aber es war kein wüster oder trüber
Aberglaube, der ihn in diesen Seelen-
zustand brachte, sondern es war die
Majestät des Guten und Heiligen, die
ihn erfaßte und vor der er zusammen¬
brach. Die Idee des heiligen Gottes, des
Gesetzgebers und Richters, erfüllte die
Seele und die Verpflichtung, so vollkom- |
men zu sein wie er. Aber eben diese ,
Verpflichtung erwies sich als ganz uner-
füllbar; denn ihr stand die unbezwing- 1
bare Macht des sinnlichen Wesens, Augen¬
lust, Fleischeslust und hoffärtiges Leben
gegenüber. Der empfundene Gegensatz !
von Diesseits und Jenseits, Irdischem
und Himmlischem, Vergänglichem und
Ewigem entsprang hier also nicht aus
einer philosophischen Spekulation, son¬
dern hinter ihm lag der Gegensatz von
Heiligkeit und Sünde, von edler Freiheit
und sinnlich-selbstsüchtiger Gebunden¬
heit. Das Heilige war das Jenseits und
Ewige, die Sinnlichkeit und Schuld waren
das Diesseits und — das Verdammliche;
denn nicht an eine Vernichtung des Irdi¬
schen und Bösen durfte man denken —
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I
1285
Adolf von Harnack, Die Reformation
1286
das wäre noch eine Art von Trost gewesen
—, sondern die Hölle wartete auf den
Sünder, der seine unsterbliche Seele ver¬
wahrlost hatte. So sagte es das Gewissen
jedem.
Die Kirche war es, die das Gewissen
so erzogen hatte und die diese Über¬
zeugungen und Stimmungen nährte. Sie
hat damit die Frage nach dem Guten
und dem Bösen zur Kardinalfrage der
Menschheit gemacht, wachte darüber,
daß sie in jedes Herz eindrang und hielt
die furchtbare Seelennot in den Gemü¬
tern aufrecht. Aber nun kam sie mit
ihrer Predigt von der Erlösung aus sol¬
cher Not, und diese Botschaft war nicht
minder eindrucksvoll; denn sie erfaßte
die Seele in ihrer tiefsten Sehnsucht:
Das Heilige und Ewige ist nicht nur
Forderung und Gesetz, sondern es ist
auch barmherzige Liebe, ja erst in dieser
offenbart sich sein wahres Wesen. In
Jesus Christus ist die Gottheit, welche
die Liebe ist, in diese verdammliche
Welt der Sünde gekommen, hat die
Schuld getilgt, den Tod überwunden und
eine feste Brücke über die Kluft zwi¬
schen Himmel und Erde geschlagen.
Aber nicht nur eine Brücke hat Christus
geschlagen — er hat die Kräfte der
Gnade und Liebe hinterlassen, als er in
den Himmel zurückkehrte, hinterlassen
nicht nur in seinem trostreichen Wort,
welches die Herzen entzündet, sondern
auch in heiligen Sakramenten, welche
Liebe und ewiges Leben wirklich ent¬
halten und auf geheimnisvolle Weise in
die Seelen eingießen. Wenn nun eine
Seele das Wort Gottes für wahr hält und
ihm gehorsam ist: dem Herrn Christus
gläubig vertraut und die heiligen Sa¬
kramente gebraucht, so werden ihr alle
Sünden vergeben, und sie darf und soll
auf das ewige Leben hoffen; denn die
Gnade Gottes hat sie ergriffen, erfüllt
sie mit Liebe und wird sie bis zum seli¬
gen Ende führen. Auf ihr eigenes Ver¬
dienst und Würdigkeit soll sie nicht
bauen; wohl aber wird sie durch die
Gnade immer mehr Freiheit gegenüber
Sünde und Welt gewinnen und durch
die eingeflößte Liebe sich in guten Wer¬
ken Verdienste erwerben, mit denen sie
vor Gott am Jüngsten Tage bestehen
kann.
Das sind die Grundzüge der Predigt
von Glaube und Liebe, wie sie die Kirche
verkündigte; aber sie fügte noch sehr
wichtige Bestimmungen hinzu. Erstlich
lehrte sie, daß die Hinterlassenschaft
Christi — Wort und Sakrament, Ver¬
gebung und die heiligenden Kräfte, dazu
die Wiederholung seines Opfers —
einem bestimmten Stande anvertraut
seien, nämlich den Priestern, denn es ge¬
höre zum Wesen jeder Religion, daß
solche da seien; also seien die Prie¬
ster auch allen Christen nötig. Zweitens
lehrte sie, daß auch darüber hinaus kein
Mensch so selbständig sei, daß er sein
religiöses und sittliches Leben mit Gott
allein zu richten und zu ordnen vermöge,
viemehr bedürfe er dazu Seelenführer,
und das seien ebenfalls die Priester,
denen man sich älso in Gehorsam unter¬
werfen müsse. Drittens lehrte sie, daß
alle diese Priester unter der souveränen
Oberleitung des Papstes die Regierung
Christi auf Erden darstellen und ihnen
daher alle Rechte und Gewalten zu¬
kommen, die sie zur Regierung bedür¬
fen; insonderheit kommt ihnen auch die
Gewalt über die Fürsten und Staaten
zu; denn wenn die Kirche diese irdi¬
schen und wechselnden Größen auch ge¬
währen läßt, wo es sich um geringe
Dinge handelt, so muß sie sie doch wei¬
sen, korrigieren und strafen können,
wenn sie die Gerechtigkeit verletzen
oder gar in das Gebiet des Göttlichen
und der Erziehung der Menschen ein-
greifen. Nicht einmal auf dem Gebiete
41*
1287
Adolf von Harnack, Die Reformation
des Irdischen können die Fürsten und
Staaten ein volles souveränes Recht be¬
sitzen, weil sie für ihre Regierung die
Gerechtigkeit bedürfen, diese aber eine
göttliche Tugend ist, also zum Besitz
der Kirche gehört und von ihr geliehen
werden muß. Viertens endlich lehrte sie,
daß zwar jedermann unter der Bedin¬
gung des Gehorsams, des Glaubens und
der Liebe in die Ehe treten und im
welüidien Berufsleben bleiben kann,
ohne an seiner Seele Schaden zu neh¬
men, daß es aber ratsamer und sicherer
ist, sich in den mönchischen Stand zu
begeben und in diesem in Entsagung
und Heiligkeit schon hier auf Erden ein
engelgleiches Leben zu führen.
Aus diesen Anschauungen heraus hat
die mittelalterliche Kirche die Völker ge¬
leitet und ihnen eine Lebensweisheit
und Lebensordnung gebracht, die trotz
aller Widersprüche, die sie umklam¬
merte, in ihrer Geschlossenheit und Ein¬
heitlichkeit vorher niemals erreicht und
noch nicht übertroffen worden ist. Wie
ein hoher gotischer Dom steht sie vor
uns, den ein Stilgesetz bis ins kleinste
beherrschtl Alles ist von den Idealen und
den Kräften des Glaubens und der Liebe
durchdrungen; die Ewigkeit ragt in die
Zeit hinein und hat sich in ihr nicht nur
ein Heiligtum geschaffen, sondern arbeitet
auch fort und fort an der inneren Um-
wandelun^ der Menschheit. Von Gott,
durch Gott, zu Gott — das war die Lo¬
sung, durch welche die sündige und ge¬
spaltene Menschheit zur Reinheit geführt
und zu einem heiligen Bruderbund in
der Liebe umgewandelt werden sollte.
Zwar der Kirche gegenüber sollten alle
stets Unmündige und Unselbständige
sein und blieben es; aber konnte man
daran denken, die Geschlechter jener
Tage auf andere Weise zum Guten zu
erziehen? Jedes Ideal mußte als äußere
Autorität auftreten und Unterwürfig¬
keit fordern; auch die Gnade und Li^e
waren in gesetzliche Bestimmungen und
Zuteilungen gefaßt und nur den Gehor¬
samen zugänglich. Jedes Ideal mußte
.aber auch irgendwie den Sinnen sich
darstellen, um als wirklich zu gelten und
erlebt zu werden. Doch waren die Sinne
jener Menschen nicht wählerisch und ihr
Verstand dem Heiligen gegenüber nicht
kritisch. Wenn die Kirche sprach, wenn
sie einen Gegenstand berührte und
weihte, so sah, hörte und fühlte man
das Heilige. Und sie sorgte dafür, daß
es einem in Geschichte und Gegenwart,
in Raum und Zeit begegnete und die
Seelen vom Irdischen abzog und zum
Himmlischen rief. Da gab es kaum eine
natürlich-irdische Lebensbewegung, der
nicht eine heilige Übung entsprach, und
kein natürliches Ding, das nicht durch
ein geistliches Höheres ersetzt oder von
ihm begleitet war. Dem Essen und Trin¬
ken entsprach das Heilige Mahl und an¬
dererseits das Fasten, der Arbeit das
Beten, dem Waschen das Weihwasser
und die Seelbäder, dem Reisen das Wall¬
fahren, dem Geschäft und Verdienen das
Almosengeben, Messestiften und Ablaß
kaufen, dem Lichte der Sonne die Ker¬
zen des Altars, dem Ernste der Nacht
das zur Einkehr mahnende Dunkel der
Kirchen, und diese selbst erschienen mit
ihren Altären, ihrer ewigen Lampe, ihren
Reliquien und in der ganzen Hoheit
ihres Baues und der herrlichen Fülle von
Gestalten einer anderen Welt wie die
Hütte Gottes bei den Menschen und wie
Golgatha und das Paradies zugleich.
Alles dieses wurde als eine himmlisch¬
heilige Einheit empfunden: es zu üben,
zu verehren, zu genießen von der An¬
betung Gottes an bis zum mechanischen
Schlagen des Kreuzeszeichens und bis
zur geringsten Zeremonie — das war
in gleicher Weise Religion. Sie war so
weitschichtig und mannigfaltig wie die
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1280
Adolf von Harnack, Die Reformation
1290
Welt selbst und das Leben; sie war eine
zweite Welt, in der man lebte. Verbun¬
den aber war all dieses Heilige mit
Tausenden von Wundern, die überall
an den heiligen Statten oder sonst ge¬
schahen. Durch sie ragten die Kräfte
des göttlichen Wirkens in das tägliche
Geschehen hinein. Im Mittelpunkt dieser
Wunderwelt stand das große Geheimnis
des Brotes und des Weines, die sich
täglich und überall in der Kirche auf
das Wort des Priesters hin in den Leib
und das Blut des Erlösers verwandelten.
Neben diesem Wunder flössen aus der
Hinterlassenschaft Christi und der Hei¬
ligen alle die anderen geringeren: die
Hilfleistungen, Heilungen, Änderungen
des Naturlaufs, Vorzeichen und wun¬
derbare Begnadigungen und Strafen.
Man lebte in einer Wunderwelt, ja in
einer doppelten; denn man verkennt die
mittelalterliche Religion und Weltan¬
schauung, wenn man nicht auch darauf
achtet, welche Rolle in ihr der Teufel
mit seinen Dienern, Unholden und greu¬
lichen Werken gespielt hat Trotz Christus
und seiner Erlösung empfand der mittel¬
alterliche Mensch, wenn er die Welt und
Gegenwart betrachtete, streng dualistisch,
ja er zweifelte nicht daß der eigentliche
Herrscher in Natur und Welt zur Zeit
noch immer der Teufel ist und Gott und
die Kirche ihm nur dazwischenfahren.
Den Untergrund aller Stimmungen bil¬
deten daher die Furcht vor dem Teufel
und der Argwohn gegenüber der Natur
als der Buhlerin des Teufels. In dieser
Furcht flössen alle Schrecken zusammen
von der rechtschaffenen Scheu vor
dem Bösen und der Sünde an bis
zu den unzähligen Formen des dü-
stern und schreckvollen Aberglaubens,
der aus der grauen Vorzeit stammte.
Zwar Gott war überall, aber auch der
Teufel und seine Diener waren überall,
machten Land und See, Berg und Flur,
Haus und Hof unsicher und benutzten
jede Schwäche der Menschen für ihre
Tücken; vor allem aber — sie waren die
Herren des furchtbaren Höllenfeuers und
der ewigen Verdammnis und hatten ein
Recht auf die Menschen, wenn sie in
Sünden starben.
Damit noch nicht genug: wie über der
Erde und unterhalb des Sitzes, auf wel¬
chem die heilige Dreieinigkeit thronte,
eine himmlische Sphäre sich befand, be¬
völkert von Erzengeln und Engeln, Hei¬
ligen — voran die Himmelskönigin
Maria —, Aposteln, Propheten und Mär¬
tyrern, so sah die Phantasie jener Zeit
unterhalb der Erde oder in ihrem Innern
auch noch ein Gebiet. Es war nicht die
Hölle, aber es war fast so schrecklich
wie sie; denn auch dort brannte ein
Feuer. Es war für die Seelen bestimmt,
denen zwar die Sünden vergeben waren,
die aber die notwendigen zeitlichen Sün-
denstrafen auf Erden noch nicht abge-
büßt hatten. Wer durfte hoffen, diesem
Feuer zu entgehen; denn wer durfte
sich sagen, daß er alle Bußleistungen
richtig und vollständig geleistet habe?
Und wenn die Strafen in diesem furcht¬
baren Feuer Hunderte von Jahren dauern
konnten, worin unterschied sich für die
Vorstellung dieses Feuer von dem der
Hölle? Sie mußten notwendig ineinan¬
der fließen.
So wurden die Stimmungen und Er¬
wartungen des mittelalterlichen Men¬
schen zwischen Hoffnung und Schrecken
hin- und hergeworfen. Wie im zackigen
Blitz wechselten Beseligung und Furcht.
Und je mehr ihre noch ungebändigte
Natur^ die Menschen zu gewalttätigem
Herrentum, Beute- und Fehdelust und
zu allen sinnlichen Freuden trieb, um so
fürchterlicher wurden die Stunden der
Zerknirschung und der Angst. Schien
durch die zugesagte Gnade der Himmel
sicher, so schien doch durch die unver-
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1291
Adolf von Harnack, Die Reformation
1292
gebenen Sünden auch die Hölle sicher,
und wenn nicht sie, so doch der Schrek-
ken des Fegefeuers! Was vermochten
Maria und alle Heiligen und Nothelfer,
die reichlich um ihre Fürbitte angerufen
wurden, wenn doch Gottes Welt- und
Heilsordnung trotz aller Gnade für
jeden ein Konto aufstellte und die Bilanz
der Seele stets mit ungebüßten Schulden
endete? Wird Gottes Barmherzigkeit
weiter reichen als sein heiliges Gesetz?
In diesen tiefsten Sorgen und Zwei¬
feln war nur eines sicher — die Kirche;
zu ihf mußte man fliehen und bei ihr
sich bergen. Sie hatte man als eine trost¬
reiche Wirklichkeit überall vor Augen,
und überall war sie zu finden; sie war
die Mutter. Wenn man sich gehorsam
in ihre Arme warf, glaubte, was sie
glaubte, und tat, was sie befahl, wenn
man alle ihre Gnadenschätze aufsuchte
und sich zu wandte, dann durfte man
hoffen zum seligen Ziele zu gelangen.
Sie war die Mächtige; sie besaß den
Schlüssel, der aufschloß und zuschloß;
sie verfügte über alle Sakramente, die
von der Geburt bis zum Tode nötig
waren; sie verwaltete das Verdienst
Christi und der Heiligen; sie verkürzte
die zeitlichen Sündenstrafen bis zu ihrer
völligen Aufhebung und sie griff selbst
in das Fegefeuer hinein und führte die
Seelen heraus. Wahnsinn und Selbst¬
vernichtung ist es, ihr zu widerstehen,
ihr nicht überall zu folgen und sie nicht
gegen jeden Widersacher zu verteidigen.
Die Kirche aber als sorgende, zuteilende
und leitende waren die Priester, an ihrer
Spitze der Papst. Anfang und Ende jeg¬
licher Frömmigkeit und alles Glaubens
war daher der unterwürfige Gehorsam,
den man ihnen zu leisten hatte.
Diese Grundgedanken und Grundord¬
nungen der Kirche aber fanden begei¬
sterte Lehrer, die sie ausarbeiteten und
verteidigten. Der größte von ihnen war
Thomas v. Aquino, der in der zweiten
Hälfte des 13. Jahrhunderts lebte. Ei
gehört zu den bedeutendsten Denken
aller Zeiten. Er hatte den Aristoteles und
den Augustin gründlich studiert und
durchdachte nun alles Wissenswürdige
vom Wesen Gottes an bis zu den wirt¬
schaftlichen und politischen Fragen dei
Gegenwart. Und in das Reich der Kirche
und des Papstes stellte er alle Erkennt¬
nis hinein und verband die alte christ¬
liche Glaubenslehre mit einer Lehre von
der Kirche, welche alle Ansprüche des
weltherrschenden Papsttums rechtfertigte
So trat der stolze Gedankenbau der mit¬
telalterlich katholischen Lehre neben den
Bau der Kirche selbst als ihr Spiegelbild,
und an diesem Bilde stärkten und be¬
geisterten sich die denkenden Söhre
der Kirche. Die im 14. und 15. Jahrhun¬
dert nach dem Vorbild von Paris gestif¬
teten Universitäten waren streng kirch¬
liche Anstalten; die Päpste mußten sie
bestätigen, und sie lehrten die Philoso-
sophie und alle Wissenschaften im Sinne
und zu Ehren der Kirche. Ihr Geist durch¬
waltete die sich mächtig entwickelnde
allgemeine Bildung. Eine kirchenfreie
Laienbildung gab es bis tief ins 15. Jahr¬
hundert hinein überhaupt nicht, und
wenn auch Fürsten und Städte das
Schulwesen selbständig in die Hand
nahmen, so geschah das nicht im Gegen¬
satz zum Geist der Kirche.
Die abendländisch-katholische Kirche,
wie sie uns in ihren Grundordnungen
und Grundgedanken entgegentritt, ist
nicht immer so gewesen. Erst durch
schwere Kämpfe und mancherlei innere
Veränderungen hindurch ist sie so g&
worden; aber weil sie sich folgerecht
von dem Zustand her entwickelt hat, in
welchem sie sich im 9. Jahrhundert und
schon früher befand, darf man doch sa¬
gen, daß sie in der Hauptsache seit dem
1293
Adolf von Harnack, Die Reformation
1294
Beginn des Mittelalters immer dieselbe
geblieben ist. Zwar früher erhielten auch
die Laien den Kelch, bekamen schon die
Kinder gleich nach der Taufe die heilige
Kommunion, wurde die Priesterehe häu¬
fig geduldet, gab es noch keinen allge¬
meinen Zwang zur Ohrenbeichte, war
die Bußordnung und Glaubenslehre min¬
der kompliziert, fehlten die Ablässe noch,
war die Marienverehrung und -Lehre
samt den Marienfesten noch nicht aus¬
gebildet, schwankten die Vorstellungen
vom Fegefeuer noch, war selbst die
Sakramentslehre noch sehr unsicher, und
das Fronleichnamsfest und andere Feier¬
tage kannte man noch nicht; aber alle
diese Neuerungen galten den meisten
nicht ohne Grund wie Blüten an dem
alten Baum. Gerade dort aber, wo äußer¬
lich die größte Veränderung erschien,
nämlich in dem Umfang der päpstlichen
Gewalt und in der Art ihrer Ausführung,
handelte es sich um Ansprüche, die vom
römischen Stuhl schon im karolingischen
Zeitalter und z. T. schon früher erhoben
worden waren. Der volle Sieg des
Papsttums über das Kaisertum nach
jahrhundertelangem Kampf machte auf
alle Gläubigen den Eindruck, daß hier
die gerechte Sache zum Siege gekommen
war; denn das Jenseits mußte doch über
das Diesseits die Oberhand behalten,
das Jenseits aber lag unbedingt beim
Papst und nur bedingt beim Kaiser.
Dennoch aber wurde der Sieg für die
folgenden Jahrhunderte dem Papsttum
zum Verhängnis; denn nun mußte es
das tatsächlich und bis ins einzelne aus¬
bilden, wonach es immer gestrebt hatte
— die politische Weltherrschaft. Diese
aber zwang das Papsttum und seine
Kirchenregierung zu einer „Weltlich¬
keit“, die gerade die Gläubigsten und
Frömmsten unter den Fürsten und Staa¬
ten nicht nur stutzig machen, sondern
auch empören mußte; denn der geist¬
liche Beruf der Kirche trat nun hinter
dem politischen zurück, ja schien häufig
ganz vergessen. War denn diese Kirche
noch die geistliche Mutter, die Hütte
Gottes bei den Menschen und die Seelen¬
führerin? Aber bis in die Tiefe fler
Grundlage des Papsttums und der Kirche
drang doch weder die Empörung noch
der Widerspruch. Wie sollte das Sicher¬
ste, was es giebt, der einzige Halt der
Menschheit, Gottes sichtbares Reich auf
Erden, ein Irrtum sein? Unmöglich! In
den Gemütern wie in den Köpfen der
Menschen blieb die Kirche bestehen,
und bei aller Verweltlichung, der sie
sich hingab, war sie noch immer das
Heiligtum der abendländischen Völker,
das Band ihrer Einheit in Ideen und
Sprache und die Kraft, welche die Ge¬
sellschaft ordnete und zusammenhielt,
die Schwachen stärkte und dem Übermut
wehrte.
Diese Skizze des Wesens der mittel¬
alterlichen Kirche wäre unvollkommen
ohne die Hinzufügung eines sehr wich¬
tigen Zuges, der in den beiden letzten
Jahrhunderten vor der Reformation mit
besonderer Stärke hervortrat. Von An¬
fang an durfte sich in der abendländi¬
schen Kirche neben der „Autorität“,
welche die Offenbarung und alle Dog¬
men einschloß, die „Vernunft“ („Ratio“)
geltend machen; sie war ein Erbe des
Stoizismus und des römischen Geistes.
Und zwar durfte sie sich in doppelter
Weise zu Gehör bringen, indem sie die
Dogmen bearbeitete und verteidigte und
indem sie eine angeblich natürliche
Gotteserkenntnis, eine natürliche Moral
und ein natürliches Recht entwickelte,
die sämtlich als „richtig“, weil mit dem
Verstände gegeben, anerkannt wurden.
Mit dieser Anerkennung war dem Men¬
schen nicht nur eine unverlierbare, wenn
auch durch die Sünde geschwächte in-
1295
Adolf von Harnack, Die Reformation
1296
tellektuelle Würde zugesprochen, son¬
dern auch die Freiheit und die unver¬
lierbare Fähigkeit zur Erfüllung des hei¬
ligen Gesetzes Gottes, zum Guten. Da¬
durch stand der Mensch Gott als selb¬
ständiges Wesen gegenüber, und das
Grundschema des Verhältnisses zu ihm
war unverrückbar in der Formel gegeben:
Der Mensch soll und kann das Gute aus
seiner Freiheit tun; tut er es, so wird er
beim Gericht belohnt, versagt er, so wird
er bestraft werden und des ewigen Todes
sterben. Offenbar ist diese Formel der
anderen entgegengesetzt, daß der durch
Schuld und Tod geknechtete Mensch
der Erlösung und Gnade bedarf, um
Gutes tun und seine Bestimmung er¬
reichen zu können. Hier ist die Religion
der Moral nicht nur übergeordnet, son¬
dern ermöglicht und erzeugt sie erst;
dort ist die Moral das A und O, und die
Religion kann ihr nur Stärkungen und
Krücken gewähren. Hier ist die geschicht¬
liche Offenbarung edles; dort ist die
„Schöpfungsgnade“ alles, und die Offen¬
barung verstärkt und verdeutlicht sie
nur. In Augustin und Pelagius traten sich
in der abendländischen Kirche die beiden
Denkweisen gegenüber, und die augusti-
nische siegte. Die Kirche folgte ihr, so
jedoch, daß sie der moralistischen und
rationalen einen gewissen Spielraum
ließ, der sich immer mehr vergrößerte.
Als dann im 13. Jahrhundert die ge¬
schlossene rationale Philosophie des
Aristoteles den abendländischen Theo¬
logen bekannt geworden, durfte Thomas
von Aquino hoffen, daß es ihm gelun¬
gen sei, den Augustinismus durch die
„Ratio“ des Aristoteles wissenschaftlich
zu durchdringen, vor falschen Konsequen¬
zen zu schützen und eben dadurch sieg¬
reich zu behaupten. Eine Versöhnung der
beiden großen Denkweisen schien her¬
gestellt zu sein, in der unter dem Prin¬
zipat der augustinischen Gnadenlehre
„der vernünftige Mensch“ doch sein
Recht erhielt.
Allein nach Thomas zeigte es sich,
daß seine Vermittelung nicht überall
überzeugte, vor allem aber daß sich die
Kirchenpraxis selbst und namentlich ihre
Seelenpädagogie und der Wert, den sie
auf Autorität, Gehorsam und Verdienste
legte, bei dem Thomismus nicht auf¬
richtig beruhigen konnte. Die Kirche war
„pelagianischer“ als ihr großer Theologe,
und die nachfolgende Theologengene
ration folgte ihren Spuren und be¬
merkte zugleich verborgene Risse und
Spalten in der Theologie des Thomas,
die sie aufdeckte und die ihr Scharfsinn
zu erweitern sich genötigt sah. So ent¬
stand die Theologie des Duns Scotus
und des Occam, und im 15. Jahrhundert
drängte dieser „Modernismus“, den die
Kirche gern gewähren ließ, sogar den
Thomismus zurück. Der Nominalismus be¬
arbeitete „die Offenbarung“, zu der alles
Kirchliche gehörte, besonders und die
Vernunftreligioiu besonders, und zog
dort und hier rücksichtslos-formalistisch
alle Konsequenzen — starr und spröde
standen sich zwei idealistische Systeme
gegenüber und durften doch nicht in der
Trennung verharren! Es ergaben sich
hier also zwei auseinanderklaffende
„Wahrheiten“; denn alles lautete auf
dem Boden der Offenbarung anders als
auf dem Boden der Vernunft. Unter sol¬
chen Umständen blieb dem Denkenden,
wenn er doch die Offenbarung nidit
preisgeben wollte, nichts übrig, als sich
durch einen Willensakt des Gehorsams
der ganzen geoffenbarten Kirchenlehre
zu unterwerfen. Eine solche Unterwürfig*
keit mißbilligte die Kirche selbst aber
nicht, vielmehr sah sie nach alter Über¬
lieferung gerade in ihr eine korrekte un
verdienstliche Beziehung der Menschen
wie zu Gott so zu ihrer eigenen Autorität,
wenn sie es sich auch andrerseits g erD
1297
Adolf von Harnack, Die Reformation
1298
gefallen ließ, daß andere unter Gottes
Beistand die Kirchenlehre als die speku¬
lativ einleuchtende Wahrheit verstanden
und verkündigten.
Der Nominalismus war auf Grund
seiner Verrmnfttheologie, z. B. in Occam,
ganz moralistisch-pelagianisch und blieb
es bei den meisten seiner Anhänger; die
augustinische Gottes-, Sünden- und Gna¬
denlehre war zersetzt und verschwunden.
Alles Religiöse gehörte „der zweiten
Buchführung“ an und trug den Charakter
der Glaubensunterwerfung.
Allein diese theologische Denkweise,
nach welcher die Gnade in Wahrheit nur
ein „Zierat“ und das einzig spezifische
Christliche die „Armut“ war, war doch
keineswegs nur eine rückläufige, vielmehr
zeigte sie eine Fülle progressiver Ele¬
mente, das läßt sich — paradox genug —
selbst auf dem eigentlich religiösen Boden
behaupten; denn bei dem scharfsinnigen
Nachdenken über den Glaubens-Unter-
werfungs-Akt trat nicht nur die Souve¬
ränität des Glaubens hervor (an sich
und im Unterschied vom Erkennen), son¬
dern es wurden auch Züge in ihm ent¬
deckt, die nicht aus blinder Unterwürfig¬
keit stammten, sondern aus der Welt
des Vertrauens. Ferner wurde dem No¬
minalismus bei seiner hellen Denkart
zilles Sakramental-Mechanische immer
unerträglicher, und er suchte es unter
der Hülle der Anerkennung durch geistige
Akte zu ersetzen; das „Wort“ wurde
ihm wichtiger als die „Sachen“, die in¬
nere Verfassung beim äußeren Tun wert¬
voller als dieses selbst. Dadurch wurde
die Subjektivität in der Religion ent¬
fesselt. In diesem Zusammenhang mußte
aber notwendig auch der „eingeflößte
Glaube“ bez. die „eingeflößte Liebe“, und
der aus ihnen folgende „Liebes-Habitus“
als ein dunkler, mystischer Begriff durch
Bearbeitung entfernt werden. An die
Stelle tritt einfach das freisprechende
Urteil Gottes über den Sünder kraft sei¬
nes souveränen Willensentschlusses. Die
Schuldvergebung (Nicht-Anrechnung) er¬
hält so im Nominalismus eine viel grö¬
ßere Bedeutung als in der thomistischen
Theologie; sie ist nicht nur ein Initiations¬
akt, sondern die Tendenz geht darauf,
sie als die eigentliche Heilsgnade selbst
zu erkennen. Und auch darauf geht die
Tendenz, von der subjektiven Seite her
bereits in der Reue selbst die Sünden¬
tilgung zu sehen. Weiter, weil der Nomi¬
nalismus, statt mit Allgemeinbegriffen,
mit dem Realen rechnete, zog er in viel
größerem Umfang als bisher überall die
Erfahrung heran, und das Wirkliche
erhielt sein Recht, mit dem Wirklichen aber
auch das Individuum, die Geschichte und
das Relative. Endlich, auch die Autorität
selbst wurde bearbeitet, und es ergaben
sich Unterschiede und Stufen in ihr. Die
Ausgliederung der Heiligen Schrift aus
der übrigen heiligen Überlieferung als
der einzigen Quelle und Autorität für den
Glauben ist ein Ertrag der nominalisti-
schen Arbeit gewesen.
„Kritizismus“, „Positivismus“, „Prag¬
matismus“ „Voluntarismus“ und „Fideis¬
mus“ — sie alle haben ihre Wurzeln im
Nominalismus, aber ebenso ist er in be¬
grifflich-technischer und z. T. auch in
sachlicher Hinsicht die Voraussetzung
der reformatorischen Lehrbildung.
Als Luther auftrat, herrschte an den
meisten Lehrstätten dieser Nominalismus;
der Reformator ist in ihm erzogen worden
und blieb ihm trotz des prinzipiellen
Gegensatzes im Religiösen und trotz
alles Scheltens auf die Vernunft doch als
Denker in vielen Stücken treu; er hat
die thomistischeTheologieniemals gründ¬
lich studiert, aber ihre Hauptgrundlage
kannte er von Augustin her. Energische
thomistische Reaktionen gegen den Nomi¬
nalismus haben im 15. Jahrhundert nicht
gefehlt; dafür sorgte schon der Domini-
Original frarn
INDIANA UNIVERSITY
1299
Adolf von Harnack, Die Reformation
1300
kanerorden. Einige Thomisten wandten
sich dabei nicht nur gegen den pelagia-
nischen Rationalismus der Nominalisten,
sondern auch gegen den kaum mehr
verkappten Moralismus und die Werk-
gerechtigkeit in der Kirche selbst. Aber
Luther hat erst verhältnismäßig spät von
ihnen Notiz genommen.
Was die Stärke der mittelalterlichen
Kirdie war, war auch ihre Schwäche —
neben der bunten Fälle dessen, was sie
als „Religion“ darbot, stand die Fälle
entgegenstehender Gedanken, die sie
umklammerte. Wie sie Gott selbst als
den Schöpfer und Richter im Sinne des
Moralismus, als den Eifernden Im Sinne
des Alten Testaments, als den Gott
Platos und als den Vater Jesu Christi
verkändete, so verkändete sie Jesus
Christus als den von Maria geborenen
Gottmenschen mit den zwei Naturen,
der in dieser Verbindung schon der Hei¬
land ist, als den gekreuzigten Versöhner,
der durch seine Todesleistung Gottes Zorn
gestillt hat, als den in jeder Messe aufs neue
Geopferten, als den in den Sakramenten
unpersönlich gewordenen Gnadenschatz,
als den Ecce homo im Sinne Bernhards,
als den Armen und Hilfreichen im Sinne
des heiligen Franziskus und als den un¬
erbittlichen Richter. Und den Glauben
definierte sie als den blinden Gehorsam
unter die Kirchenlehre, als durchdachte
Orthodoxie, als Zuversicht und Vertrauen,
aber auch als ein Minimum von diesem
allen, bzw. als „fides implicita“, die Gott
nur als den Schöpfer und Richter kennt.
Und wie hier, so war es äberall: in bunter,
widerspruchsvoller Menge drängten sich
auf derselben Fläche heilige Tatsachen,
Mittel und Gedanken, Äußerliches und
Innerliches, Glaubenssätze, Spekulationen
und Kirchengebote durcheinander. Und
an jedem Punkte stritten widersprechende
Anschauungen um ihr Recht; Abgründe
taten sich auf, und ein Abgrund rief
den anderen. Mähsam zwang die Kirche
dieses heilige Chaos in eine gewisse Ein¬
heit, indem sie die Gegenpole umklam¬
merte. Eine Redifktion war nötig,
ja ein neuer Schöpfungstag, der
Ordnung schaffen und jedem,seine Stelle
geben, aber auch ein Gerichtstag, der
vielem „Heiligen“ ein Ende bereiten
sollte.
II. Vorreformation und
Vorreformatoren.
Zwei gewaltige Krisen hatte das Papst¬
tum bald nach der Mitte des 15. Jahr¬
hunderts äberstanden, den Kampf um
das Recht seiner weltpolitischen Macht
äberhaupt und den Kampf um seine ab¬
solute Herrscherstellung in der Kirche.
Der erste Kampf kam ihm sofort nach
dem Siege äber das hohenstaufische
Kaisertum von dem zu nationaler Selb¬
ständigkeit erstarkten französischen Staat
gleichzeitig aber auch aus den Kreisen
strenger franziskanischer Mönche, die
sich zeitweilig sogar mit dem Kaisertum
wider die Anspräche des Papsttums ver¬
banden. Der französische König ver¬
langte volle politische und finanzielle
Unabhängigkeit und verbot dem Papste
jede Regierung in seinem Lande; die
Mönche aber hielten ihm die Armuts¬
regel Christi vor, sprachen ihm Besitz
und Rechtsgewalt äberhaupt ab und er¬
klärten die zu einem Staat des irdischen
Rechts und der Gewalt gewordene Kirche
fär Babel, den weltherrschenden Papst
fär den Antichrist. Dem Kaiser, so er¬
klärten sie, stehe alle Macht und alle
Gewalt zu und unter ihm in abgestufter
Weise den anderen Färsten. Der Heils¬
ordnung der Kirche, die Recht und Macht
in sich hineinzog, stellten sie die Schöp-
fungs- und Naturordnung Gottes in bezug
auf Obrigkeit und Recht entgegen, die
unverbrächlich sei. Auf dem Gebiete des
Gedankens gelang es den Verteidigern
des Papsttums leicht, diese revolutionft-
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Original frnm
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1301
Adolf von Harnack, Die Reformation
1302
ren Satze zu widerlegen. Denn da auch
sie sich auf die Bibel stützten, die allge¬
meine Sündhaftigkeit voraussetzten, dem
irdischen Leben noch immer keinen
Selbstzweck zu geben wußten und die
geistliche Gewalt des Papstes aner¬
kannten, so war es nicht schwer, die
künstliche und schwächliche Konstruk¬
tion dieser Revolutionäre zu widerlegen.
Man konnte ruhig zugestehen, daß es
nach dem göttlichen Weltplan in der die
Menschheit darstellenden Christenheit
einen universellen Herrscher, einen Kaiser,
geben müsse, einen Konstantin nach dem
Vorbilde Davids und Salomos; aber war
es denkbar, daß diesem auch über Christus
und seinen Statthalter die Oberhoheit
zustehe? War nicht das Umgekehrte das
allein Vernünftige? Und wenn selbst der
Kaiser dem Papste unterworfen war, wo
blieb das selbständige Recht der Könige
von Frankreich und England, von denen
doch die Bibel gar nichts sagte. Behaup¬
teten deren Anwälte aber gar, wohl sei
der Kaiser dem Papst untergeben, nicht
aber ihre Könige, so mußte das als eine
skandalöse Profanierung alles Rechts
und aller Geschichte erscheinen. Offen¬
bar — auf dem Gebiete des Gedankens
mußte mit der geistlichen Betrachtung
der Weltgeschichte auch die geistliche
Gewalt stets die Oberhand behalten über
die weltliche I Aber in den Kämpfen um
die Herrschaft-trat der „Gedanke“ immer
mehr zurück, und tatsächlich erlangten
die Könige — nicht der Kaiser — be¬
deutende Regierungs- und finanzielle
Rechte in bezug auf ihre Landeskirchen.
Aber da sie, ihrerseits nun gesättigt, in
dem radikalen Widerspruch gegen die
Rechtsgewalt der Kirche den extremen
Mönchen nicht folgten, kamen Kompro¬
misse zustande, bei denen das Papst¬
tum sich, wenn auch in beschränkterer
Weise, doch behaupten konnte. Deutsch¬
land wurde bei der Schwäche seiner
Digitized by Gougle
Zentralgewalt zunächst nur wenig von
diesen Entwickelungen berührt Während
man vom Papst abhängiger blieb als
irgendein Land sonst, arbeitete hier aber in
der Tiefe der einmal entfesselte Gedanke
vom Recht der Fürsten und Völker fort
und suchte nach einer besseren Begrün¬
dung. Noch immer glaubten nicht wenige,
ihn mit der Idee des universellen Kaiser¬
reichs in nationaler Färbung verbinden
zu können. Es hat etwas Rührendes zu
sehen, wie gegenüber dem kirchlichen
Druck jene Idee wieder an Leben ge¬
wann und der erstarkende deutsche Pa¬
triotismus sie ergriff. Daneben machte
auch in Deutschland das „Landeskirchen-
tum“ in den einzelnen Gebieten lang¬
same, aber sichere Fortschritte, und die
Päpste verstanden sich allmählich auch
hier dazu, diesen und jenen Fürsten
durch Übertragung kirchlicher Rechte zu
gewinnen oder sich warm zu halten.
Haben sie doch sogar das territoriale
Kirchentum, aus der Not eine Tugend
machend, gestärkt, wenn Größeres, näm¬
lich .ihre Hauptstellung in der Welt, es
verlangte. Die halb religiöse, halb poli¬
tische Kaiseridee — der Kaiser neben
und über dem Papst Haupt der Christen¬
heit und ihr Schutzherr nach außen und
innen — und das Territorialkirchentum
kamen Luther entgegen, als er seine
Reformation durchzuführen begann. Das
war von hoher Bedeutung für die Ver¬
breitung der Reformation und eine
schwere Gefahr für die Ansprüche des
Papsttums. An dem Kaiser und seinem
Reichstag hingen viele Hoffnungen zur
Verbesserung auch der kirchlichen Zu¬
stände — leider sollten sie alle ent¬
täuscht werden —; die Hoffnungen aber,
die man auf die deutschen Fürsten und
ihr Regiment setzte, sind von einzelnen
voll erfüllt worden.
Noch größer war ein halbes Jahrhun¬
dert hindurch von einer anderen Seite
Original frarn
INDIANA UNIVERSITY
1303
Adolf von Harnack, Die Reformation
1304
her die Gefahr für das Papsttum, seine
monarchische Regierungsgewalt ganz und
gar zu verlieren und auf die Stufe eines
unpolitischen Hohepriestertums oder
eines bloßen Symbols der Einheit der
Kirche herabzusinken. Das große Schisma
im Papsttum um das Jahr 1400, in eine
Zeit fallend, in welcher neue Mächte
(Staat, Volk, Wissenschaft) erstarkten, er¬
zeugte zu seiner Abhilfe eine neue Idee,
die sich aber in ein ehrwürdiges Gewand
hüllte und sich trotz ihrer Undurchführ¬
barkeit in den Köpfen und Gemütern
festsetzte. Pariser Professoren hatten sie,
wenn auch nicht erdacht, so doch aus-
gebildet. Weil einst in der alten Kirche
Glaubens fragen mit dem Anspruch einer
unfehlbaren Entscheidung von den Kon¬
zilien gelöst worden waren, so griff
man huf diese zurück und sprach ihnen —
das war die Neuerung — als dem eigent¬
lichen Organ des Heiligen Geistes die
oberste Regierungsgewalt in der
Kirche zu, der sich auch der Papst un¬
terzuordnen habe. Aber auch das war
eine unerhörte Neuerung, daß man. in¬
dem man nun wirklich ein Konzil zu¬
sammenrief, nicht nur die Bischöfe ein-
lud, sondern auch Priester und Laien,
Fürsten und weltliche Beamte, vor allem
aber die Vertreter der Wissenschaft, mit¬
beraten ließ.
Dieser Entschluß war das Symptom
einer sich ankündigenden großen Um¬
wälzung in den Tatsachen und Ideen
der allgemeinen Gesellschaftsordnung:
die Christenheit ist nicht die Hier¬
archie mit einem Hofe unmündiger
Laien, sondern die Gemeinschaft der
Getauften und Gläubigen, die in
Berufsgruppen zerfällt, deren oberste die
Seelen leitende Priesterschaft, die für
den Frieden sorgende Obrigkeit und die
Vertreter der Wissenschaft (die Univer¬
sitäten) sind. Die letzte Wurzel des Kon¬
zilgedankens selbst ist hier zu suchen.
Eine neue Zeit kündigte sich damit an,
aber in dieser Form konnte sie sich un¬
möglich durchsetzen. Zwar gelang es
dem Konzil, das päpstliche Schisma
wirklich zu beseitigen, sich selbst als
einen europäischen Areopag und zu¬
gleich als die kirchliche Regierung zu
etablieren und auf kurze Zeit die Rechte
des Papsttums bis zur Bedeutungslosig¬
keit zu beschneiden; allein sehr bald
sank alles zusammen. An der Eigen¬
süchtigkeit, den Halbheiten und dem
Streit der Konzilsväter, an der Unmög¬
lichkeit, den komplizierten Kirchenkör¬
per ständig durch das Konzil zu re¬
gieren, und an dem Bestreben der Für¬
sten, aus den Reformen, die man dem
Papsttum auferlegte, finanziellen und
jurisdiktionellen Vorteil für sich zu zie¬
hen, mußte das ganze Unternehmen
scheitern.
Die Kurie verhandelte mit den Für¬
sten einzeln und brachte ihnen große
Opfer, aber erreichte es so, daß sie die
oberste Gewalt des Papstes in der Kirche
wieder anerkannten und die ganze Kon¬
zilsidee zunächst wieder fallen ließen.
Schon wenige Jahre nach dem Basler
Konzil durfte es ein Papst wagen, die
Appellation von seiner Entscheidung an
ein Konzil für ketzerisch zu erklären.
Allein was der Kurie damals bei den
Fürsten gelang, gelang ihr nicht mehr
bei den Völkern. Zu laut und zu dring¬
lich erscholl schon der Ruf nach Reform
der Kirche an Haupt und Gliedern, den
die Konzilien von Konstanz und Basel
mit ihrer Autorität gedeckt hatten, als
daß er noch unterdrückt werden konnte,
und da man kein anderes Mittel zu sei¬
ner Verwirklichung sah als das Konzil,
so hoffte man in dem kirchlich stets am
meisten benachteiligten Deutschland noch
fort und fort mit Sehnsucht und Zuver¬
sicht auf dieses. Bis tief in die Laien¬
kreise hinein erstreckte sich diese Hoff-
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Original frorn
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1305
Adolf von Harnack, Die Reformation
1306
nung, mit der sich, ohne daß man es
selber recht wußte, das neue Streben
nach Freiheit aller Art verband, auch
das Streben, von dem welschen Druck
loszukommen. Das Verbot des Papstes
aber, ein Konzil wider seine Autorität
anzurufen, schreckte selbst fromme Seelen
nicht notwendig; denn noch war die
päpstliche Unfehlbarkeit kein unumstö߬
licher Glaubenssatz
„Reform der Kirche an Haupt und
Gliedern“ — es war vor allem das Ver-
waltungs- und finanzielle System,
welches, was das „Haupt“ anlangt, un¬
erträglich geworden war. Alles hatte
man an Herrschaft und Gewalt seitens
des Papsttums ertragen, solange es mit
großen Mitteln arbeitete und seine direk¬
ten finanziellen Ansprüche noch mäßige
waren. Nun aber hatten sich — und
schon seit zweihundert Jahren, und von
Jahrzehnt zu,Jahrzehnt immer drücken¬
der — die Verhältnisse geändert. Die
Besetzung sehr vieler geistlicher Stellen
in allen Ländern, die die Kurie an sich
gebracht hatte und für Geld vergab, fer¬
ner die Fülle von. Auflagen, die sie auf
jede geistliche Stelle beim Amtswechsel
und anderen Anlässen zu legen ver-‘
stand, weiter die raffinierte Kunst, mit
der sie das gesamte System der geist¬
lichen Kontrolle und selbst die Vorbe¬
reitung heiliger Unternehmungen, wie.
des Türkerikriegs, zu einer Finanzquelle
machte, vor allem aber die immer un-
gescheuter betriebene Praxis, wichtige
und notwendige Gnaden (auch geist¬
liche) und zahllose Dispense nur für
Geld zu erteilen, drohten die Kurie in
ein großes Kaufhaus zu verwandeln.
Gewiß — der ungeheure Verwaltungs¬
apparat brauchte Geld und wiederum
Geld, und die Wiederherstellung und
Ausschmückung des verfallenen Roms
kostete Unsummen; aber eine Entschul¬
digung für die schlimme Profanierung
des Heiligen und die moralische Ver¬
wahrlosung gab es nicht Allmählich war
sie gekommen, langsam steigend wie
eine Flut; nun aber bedeckte sie das
ganze Land.
Am meisten litten durch diese Politik
der Kurie die Kleriker, vor allem die
Erzbischöfe und Bischöfe; sie sahen sich
in ihrer Regierung immer mehr beschränkt
und in ihrem Vermögen und Einkommen
beeinträchtigt. Aber bis in jede Pfarre
reichte das würdelose System; doch konn¬
ten sich die Bischöfe bis zu einem ge¬
wissen Grade an dem niederen Klerus
schadlos halten, indem sie ihn behan¬
delten, wie sie selbst behandelt winden.
Die Ausbeutung der Laien erfolgte haupt¬
sächlich durch die abgenötigten „guten
Werke“, die Geldforderungen für Dis¬
pense aller Art und die Sündenstrafen'
und Fegfeuer-Ablässe, denen die ober¬
flächliche Frömmigkeit freilich entgegen-
kam. Noch mehr aber litt alle Welt —
die Obrigkeit sowohl wie auch die Laien
und Handel und Wandel — durch die
Steuerfreiheiten, den besonderen Rechts¬
stand der Kirche, ihre großen Privi¬
legien und ihre besondere Rechtspflege.
Dieses ganze System paßte nicht mehr
in die Gegenwart hinein und schädigte
die Landeshoheit, die bürgerliche Ver¬
waltung und die kleinen und großen
wirtschaftlichen Betriebe. Wenn das geist¬
liche Gericht zahllose Rechtsfälle an sich
ziehen konnte, wo blieb die ordentliche
Rechtspflege? Wenn eine Klosterbrauerei,
wenn eine klösterliche Webstube unbe-
steuert war, während der gemeine Brauer
und Weber Abgaben zahlen mußten,
wie konnten diese bestehen?
Die Klagen gingen also nicht nur
gegen das „Haupt“, das Papsttum —
sie richteten sich auch gegen die Kirche
als solche^ und in allen ihren Vertretern.
Mit Schrecken mußten die Ernsten, mit
Ärger und Neid die Geschädigten erken-
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Original frn-m
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1307
Adolf von Harnack, Die Reformation
1308
nen, daß der alte Feind, die Simonie,
in der Kirche schlimmer als jemals
herrschte und sich mit den Privilegien
und der Regierungsgewalt der Kirche zu
einem bösen Bündnis verbunden hatte.
Aber das ganze Kirchensystem selbst
war von gefährlichen Spannungen an-
gefällt und von Zersetzung bedroht, so
kräftig es noch funktionierte. Da war
der oben berührte Gegensatz zwischen
dem Papst und den Bischöfen — Luther
durfte sagen, er habe sich am Anfänge
seines Auftretens des Beifalls vieler Bi¬
schöfe erfreut, weil er für ihre Rechte
durch seine Forderungen eingetreten sei.
Da war der Gegensatz zwischen den
Bischöfen und dem Mönchtum; jene
wollten die Klöster aus finanziellen und
anderen Gründen unter ihre Gewalt
zwingen. Da gab es tiefe Gegensätze im
Mönchs- und Klosterwesen selber. Neben
einetn hohen Aufschwung im Sinne
strenger Frömmigkeit, der um das Jahr
1500 zu beobachten ist, machte die Ver¬
wahrlosung in einigen Orden und Klö¬
stern Fortschritte; namentlich die Bettel-
orden waren in der Auswahl ihrer Glie¬
der oft nicht wählerisch und erzeug¬
ten ein ungebildetes und leichtfertiges
Mönchsproletariat. Im ganzen waren die
Zustände gewiß nicht schlimmer als in
früherer Zeit; aber die sittliche Kritik
der Laien wurde schärfer. Daher sank
das Ansehen des Standes der Mönche, der
nur noch zum kleinsten Teil zum »Her¬
renstande“ gerechnet werden konnte,
unverkennbar, und der sittliche Auf¬
schwung des tätigen Lebens gegenüber
dem beschaulichen drängte ihn dazu noch
zurück. Auch die fortwährenden Streitig¬
keiten und Zänkereien zwischen den
Orden sowie in ihrer eigenen Mitte und
das üble Trachten so mancher Klöster
nach Geld und Gut schädigten das
Ansehen des Mönchtums.
Aber auch in der Weltgeistlichkeit, mit
der es der Bürger und Bauer zu tun hatte,
fehlte es nicht an Spannungen und schlim¬
men Anstößen. Noch immer gab es zahl¬
reiche »Meßpfaffen“, die ohne feste Stel¬
lung um ihre tägliche Nahrung sorgen und
aus dem geistlichen Dienst ein Gewerbe
machen mußten; sie verunehrten den
ganzen Stand. Die anderen aber litten
unter den unaufhörlichen Kämpfen um
den Besitz der Pfarreien: die Bischöfe,
die Klöster, die Landesherren, die Grund¬
besitzer wollten sie für sich haben, um
die Einkünfte zu genießen und dem
Pfründner zu nehmen, was sie nehmen
konnten; dieser suchte sich dann wieder
an seinen Beichtkindern schadlos zu hal¬
ten. Was das sittliche Leben des Welt¬
klerus betrifft, so darf man den Klagen,
es sei schlimmer und schlimmer gewor¬
den, so wenig trauen wie in bezug auf
die Mönche, so groß das Ärgernis der
Konkubinate noch immer war und so
lax in der Regel die Oberen diese Ver¬
hältnisse beurteilten. Unzweifelhaft hoben
sich in der städtischen Weltgeistlichkeit
der Bildungsstand und der Emst; aber
er blieb hinter den Wünschen und An¬
forderungen der Gebildeten und From¬
men doch zurück, und das erzeugte
Spannungen und Klagen.
Die Berichte, die fort und fort aus
Rom kamen über das schlimme Leben
und Treiben am päpstlichen Hofe, die
bösen Sitten einzelner Päpste und ihre
fortgesetzten kriegerischen Unternehmun¬
gen, politischen Bündnisse und Treu¬
brüche machten weniger Eindruck, als
man erwarten sollte. Teils blieb die
Kunde auf engere Kreise beschränkt,
teils war man längst gewöhnt, die Per¬
son des Papstes von seinem Amte zu
trennen. Die zahlreichen Bilder der Ver¬
dammten in der Hölle, unter ihnen ein
Mann mit der dreifachen Krone des
Papstes, reden hier eine deutliche Sprache.
Aber alles, was man von Rom aus er-
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1309
Adolf von Harnack, Die Reformation
1310
fuhr, schloß sich doch mehr und mehr
zu der schweren Anklage zusammen:
das Papsttum erfüllt seine geist¬
liche Aufgabe nicht mehr! Ein Weit¬
blickender hätte darauf antworten kön¬
nen: „Wartet nur! Das aus Frankreich
zurückgekehrte und vom Schisma und
Konzil befreite Papsttum kann sich erst
dann seiner geistlichen Aufgabe wieder
mit voller Hingebung zuwenden, wenn
es in Italien festen Fuß gefaßt und sich
die ewige Stadt und einen Kirchenstaat
gesichert hat; denn nur unter dieser Be¬
dingung kann es ein .Reich 1 bleiben und
seine geistliche Herrschaft ausüben“ —
aber wäre das eine Antwort gewesen?
Darf die geistliche Aufgabe jemals hinter
eine andere zurücktreten, geschweige
denn aufgeschoben werden?
Man sieht, es gab hier nicht nur An¬
lässe zu Reformen die Fülle — das ganze
Kirchenwesen war reformbedürftig. Aber
wenn man unter „Reformen“ solche
Änderungen versteht, bei denen die
Grundlage des ganzen Zustands unver¬
ändert bleibt, dagegen unter „Refor¬
mation“ solche, welche auch diese Grund¬
lage selbst antasten, so war eine Refor¬
mation hier durchaus nicht gefordert.
Weise Verzichte, Kompromisse, die alle
Teile befriedigten, feste Abgrenzungen
der Rechte, innere Einkehr und sittliche
Reinigung konnten die meisten dieser
Obeistände, wenn nicht gar alle abstel¬
len, und die Kirche blieb doch ein äußeres
Reich, und der Papst verlor seine mon¬
archische Gewalt und seine „geistliche“
Weltherrschaft nicht. Tatsächlich hat ja
auch das Tridentinische Konzil durch seine
Reformdekrete sehr viele dieser Mi߬
stände beseitigt. Es ist daher ein Irrtum,
wenn man die Ursache der Reforma¬
tion Luthers hier sucht. Die genannten
Mißstände haben zwar diese Reformation
sehr bald auf sich gelenkt und ihr die
entsprechenden Aufgaben vorgezeichnet;
aber sie lagen nur erst am Horizonte
des Gesichtskreises Luthers, als er in der
entscheidenden Hauptsache bereits mit
sich im reinen war und öffentlich auf¬
trat. Man kann sie daher nicht einmal
zu den „Voraussetzungen“ seiner Refor¬
mation rechnen; sie halfen sie ausge¬
stalten und förderten ihre Verbrei¬
tung.
Noch viel weniger gehören zu den
„Voraussetzungen“ des reformatorischen
Auftretens Luthers die sozialen Zustände
in Deutschland, wie sie damals bestan¬
den. Hier ist viel Schiefes, Übertriebenes
und Irriges behauptet worden. Diese
Zustände waren in allen Ständen im
allgemeinen gesund, und der Prozeß,
in welchem sie sich den neuen wirt¬
schaftlichen Verhältnissen, welche die
Zeit aufnötigte, anpaßten, verlief zwar
nicht ohne Kämpfe und Aufstände, aber
im ganzen doch gut und ohne Umwäl¬
zungen. Alle Stände, die Ritter, die rei¬
chen handeltreibenden Bürger, der Mit¬
telstand, die kleinen Leute und selbst
die Bauern — obschon diese in sehr
vielen Gegenden noch unter schwerem
Druck standen — befanden sich in einer
aufsteigenden Entwickelung, weil der
Strom des wirtschaftlichen Lebens reich¬
licher flutete und die Bildungsmittel
zahlreicher und zugänglicher wurden.
Aus diesem Aufstieg heraus, nicht aus
miserablen Zuständen, die nur verdump-
fen, erhoben sich die Wünsche nach
einer größeren Selbständigkeit und nach
Beschleunigung des ausgleichenden
Prozesses; denn um einen solchen han¬
delte es sich überall, ohne daß die Haupt¬
zäune der ständischen und wirtschaft¬
lichen Schichtung verschoben wurden.
Nicht sowohl ein demokratischer Zug
ging durch die Gesellschaft, wiewohl
auch er nicht ganz fehlte, als vielmehr
ein erhöhtes Klassenbewußtsein und da¬
neben auch ein gewisses Freiheitsstreben,
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Adolf von Harnack, Die Reformation
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wie es stets aus wachsender Bildung
entspringt. Nur wenn mißverstandene
biblische oder halbverstandene natur¬
rechtliche Sätze hineinspielten und sich
gar noch mit Phantasien vom Jüngsten
Tage verbanden, führten die heftigen
Klassen- und Zunftkämpfe zu schweren
Ausbrüchen. Der schlimmste war, neben
einigen bösen Kämpfen in den Städten
zwischen dem Patriziat und den aufstre¬
benden Klassen, der Bauernkrieg in Süd-
Westdeutschland; denn die wilde hussiti-
sche Bewegung, die einst über den Böh-
merwald in Deutschland eingebrochen
war, war zu Luthers Zeit fast nur noch eine
böse Erinnerung. Die Führer der Bauern
beriefen sich wohl auf Sätze des lutheri¬
schen Evangeliums, die ihnen paßten;
aber wie ihre Klassenbestrebungen nichts
mit der Reformation zu tun hatten, so
waren auch jene Berufungen nur zum
kleinsten Teil berechtigt* Noch weniger
freilich als die Reformation der Bauern-
bewegung genützt hat, nützte die Bauern-
bewegung der Reformation; dagegen
hat sie ihr viel geschadet Ein wirkliches
inneres Band zwischen beiden war eben
nicht vorhanden.
Mit mehr Recht kann man sagen,
daß die innere Entwickelung in' den
Städten — in diesen hatte die Kultur
in jenem Zeitalter ihren Mittelpunkt
— der Reformation entgegenkam; denn
zur ehrenfesten bürgerlichen Selbstän¬
digkeit und zu den wirksamen Ver¬
suchen, eine geschlossene städtische
Kulturgemeinschaft mit eigenem Schul¬
wesen und geordneter Armenpflege zu
begründen, stand sie, sobald sie zur
Volkskirche wurde, wirklich in einer Art
von Wahlverwandtschaft. Aber das, was
dieser Eigenart der Stadtgemeinde den
tiefsten Halt gab, mußte die Reformation
erst hinzubringen. So handelt es sich auch
hier nicht um eine wichtige Vorausset¬
zung der Reformalion selbst, sondern nur
ihrer Verbreitung > nd Organisation. Die
selbständige Stadt^emeinde mit sittlichen
und Kultur-Aufgaben ist das gegebene
Vorbild der neuen kirchlichen Gemeinden
gewesen.
Hiermit haben wir bereits die Kultur
des Zeitalters berührt Ihr floß neben
der Hauptquelle, die in der kirchlichen
Wissenschaft und Bildung gegeben war,
damals noch eine zweite Quelle — der
Humanismus. Wie man nun versucht
hat, die Reformation einfach als Reaktion
gegen die kirchlichen Mißstände zu er¬
klären oder kurzerhand als eine Teiler¬
scheinung innerhalb der damaligen auf¬
strebenden wirtschaftlichen und Gesell-
schaftsentwickelifng, so hat man sie auch
aus dem Humanismus ableiten wollen
bez. in die engste Beziehung zu ihm
gesetzt. Allein auch das ist nicht ge¬
glückt; es konnte schon deshalb nicht
glücken, weil der Humanismus seinem
Wesen nach in bezug auf die Religions-
und Weltanschauungsfrage stets nur ei¬
ne Begleiterscheinung gewesen ist
Wenn er leiten wollte, mußte er selbst
borgen oder einen Schein erwecken, dem
der Inhalt fehlte. Aber als Begleiter¬
scheinung, die überall erweckt, befruch¬
tet, ja auch bis ins Tiefste umgewandelt
hat, hat er eine unermeßlich^ Bedeutung.
Für die Geschichte der Religion und
Kirche kommt hier folgendes in Be¬
tracht. Erstlidr durch seine Kunst- und
Weltfreudigkeit zog der Humanismus
die Gemüter und dann auch die Köpfe
von der einseitigen Hingebung an das
„Jenseits“ ab, führte sie zur Erkenntnis
der wirklichen Welt und gab dem dies¬
seitigen Leben damit einen Wert, ja
einen eigenen Zweck. Wenn es nun
eine Folge des von Luther gepredigten
Evangeliums war, daß das Bewußtsein
sicheren Gottesfriedens tiefe Befrie¬
digung schon auf Erden, ohne Mön¬
ch erei und asketische Obungen, er*
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
1313
Adolf von Harnack, Die Reformation
1314
weckte, so floß aus ihr eine unbefan- I
gene und freudige Stimmung auch der
Welt gegenüber als dem Vaterhause
Gottes, oder es durfte doch diese Stim¬
mung mit der überlieferten abwechseln,
nach welcher die Welt ein Jammertal
und ein Kerker ist. Das Jenseits und
das Diesseits rückten naher zusammen,
und dieses war nicht mehr ganz ver¬
femt. Ist das richtig, dann kann man
sagen, daß der Humanismus etwas Refor-
matorisches vorbereitet hat; aber man darf
dabei nicht vergessen, daß die treibende
Wurzel hier und dort eine andere war.
Zweitens hat der Humanismus das
persönliche Leben und das Individuum
gleichsam erst entdeckt, von dem Druck
der Klassen und Autoritäten befreit und
zu Eigenleben geführt. Wie er das getan
hat, kann auf sich beruhen bleiben; daß
aber die Religion dabei nur in wenigen
Humanisten, und auch in ihnen mehr
unbewußt, beteiligt war, ist gewiß. Das
.Selbst sein wollen“, .Selbst leben
wollen“, .Sein Ich der Welt entgegen¬
stellen“, wie es im Humanismus bald als
rücksichtsloses Herrentum, bald als un¬
gebundenes Ästhetentum, bald auf mo¬
ralischer Grundlage auftritt, zeigt, wenn
man von Phrasen absiöht, nur bei we¬
nigen eine Beziehung auf den Gott,
dessen Kraft den Menschen frei macht.
Dann aber ist wiederum klar, daß der
Humanismus zwar der Reformation eine
außerordentliche Vorbereitung geleistet
hat, indem er die Geltung der Autori¬
täten lockerte und den Sinn für das
Eigenleben erweckte, daß es aber doch
noch einer neuen Kraft bedurfte, um
diese neue Stufe des Lebens wirklich zu
erobern. Die .guten“ Humanisten waren
in der Regel schwächliche Individuen
und Charaktere, und die .starken“ Indi¬
viduen aus dieser Bildungswelt waren
schlimme Herren. Also wartete die neue
Zeit noch auf ihre Erfüllung,
Internationale Monatsschrift
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Drittens hat der Humanismus jedem
seiner wirklichen und echten Jünger ein
Erlebnis zugeführt, nämlich literarische
Kunstwerke und Oberlieferungen auf
ihren Gehalt prüfen, aus ihnen Leben
schöpfen und dieses Leben steigern zu
können. An und aus dem wiederer¬
weckten reichen Erbe der Griechen und
Römer haben sie das gelernt, dessen
Wiedererweckung freilich in Wechsel¬
wirkung stand mit der gesteigerten Bil¬
dung des Zeitalters. Wer aber Leben
aus Schriften zu schöpfen vermag, der
kommt dadurch stets irgendwie über diese
hinaus, mag der Lebensinhalt, den er
vorfindet, noch so reich sein. So ist
Erasmus als Denker und Schriftsteller
größer als sein bewunderter Cicero I
Hier ist nun aber auch die Stelle, wo
eine wirkliche Voraussetzung der Refor¬
mation selbst vorliegt und nicht nur
ihrer Verbreitung: daß Luther die
Psalmen, den Apostel Paulus und
den Augustin zu lesen vermochte
und daß er sie so gelesen hat,
wie er sie las, nämlich ihre Er¬
kenntnisse und ihr Leben empfin¬
dungsvoll fortsetzend und stei¬
gernd — das verdankt er nicht nur
seinem Genius, sondern auch sei¬
nem Zeitalter, nämlich dem Hu¬
manismus. Diese Bedeutung des Hu¬
manismus reicht weit darüber hinaus,
daß er die Echtheit alter Urkunden zu
prüfen vermochte, Autoritäten stürzte
und den Wechsel und das Werdende in
der Geschichte zu erkennen begann.
Daß Luther ein .Bibelerlebnis“ hatte,
d. h. daß er an dem Bibel wort eine ganz
neue Einsicht und Erhebung für sein
Leben gewann, damit stand er nicht
allein. Solche Bibelerlebnisse waren seit
der Mitte des 15. Jahrhunderts im Zu¬
sammenhang mit den literarischen
Erlebnissen des Humanismus in
Deutschland und in anderen Ländern
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Origiral from x
INDIANA UNIVERSITY
1315
Adolf von Harnack, Die Reformation
1316
nicht selten, und die neue Verbreitung
der Bibel durch den Druck und das
Studium des Grundtextes beförderten
sie. Erasmus hatte ein Bibelerlebnis,
der Franzose Faber Stapulensis und
manche andere. Die Evangelien oder
der Apostel Paulus gingen den sie Stu¬
dierenden auf und wurden ihnen dann
regelmäßig zu einem Maßstab, an wel¬
chem sie die Kirche der Gegenwart
maßen und zu schweren Anklagen gegen
sie kamen. Zwar der Inhalt und Erfolg
des Bibelerlebnisses Luthers unterschied
sich sehr bestimmt von dem der an¬
deren; aber daß er es erlebte, stand im
Zusammenhang mit seinem Zeitalter.
Darf dem Humanismus somit — ab¬
gesehen von seiner nationalen Bedeu¬
tung, die nicht hierher gehört — ein
positiver Anteil an der Vorbereitung
der Reformation zugesprochen werden,
so ist dieser Anteil zwar eine große,
das Neue auch in der Religion her¬
vortreibende Kraft, , nicht aber der
Keim des Neuen selbst gewesen. Daß
er das nicht war, hat niemand klarer ge¬
sehen als Luther selbst. Er erkannte sehr
bald, daß ihn eine unüberbrückbare
Kluft von dem Fürsten der Humanisten,
Erasmus, trennte, weil dieser nur „Mensch¬
liches“ und „Moralität“ habe, aber Gottes
Kraft nicht kenne.
Wo aber ist der wirkliche Keim des
Neuen dann in der Vorgeschichte der
Reformation zu suchen? Gab es über¬
haupt einen solchen ? Gab es eine
wirkliche Vorreformation? Man nennt
wohl alle die Männer „Vorreformatoren“,
welche die Ohrenbeichte, die Ablässe,
das Fegefeuer, die Entziehung des Kel¬
ches, den Heiligendienst usw. vor Luther
angegriffen haben; aber offenbar braucht
man diesen Namen zu Unrecht, wenn
man ihn auch denen in dieser Gruppe
gibt, die des guten Glaubens waren, das
sichtbare priesterliche Kirchenreich und
die kirchlichen Grundanschauungen vom
Heil und von den Sakramenten mit die¬
sen ihren Reformen zu stärken.
Ebenso nennt man auch die »Vorrefor¬
matoren“, welche des Papstes und der
Priester Gewalt angriffen und zu schwä¬
chen suchten; aber wenn das nicht im
■ Interesse einer neuen Oberzeugung vom
Wesen des Heils und des Glaubens ge¬
schah, so hat, wie wir schon gesehen
haben, der Ursprung der Reformation
damit nichts zu tun.
Dennoch hat es eine wirkliche Vor¬
reformation gegeben. Worin sie bestan¬
den hat, darüber wußten die alten pro¬
testantischen Theologen besser Bescheid
als die meisten Historiker des vorigen
Jahrhunderts; doch stellt sich langsam
die richtige Anschauung jetzt wieder her.
Nach dem bisher Ausgeführten darf
die „Vorreformation“, wenn es eine sol¬
che gegeben hat, in nichts anderem ge¬
sucht werden als in der innern Ge¬
schichte der Religion selbst Diese befand
sich, als Luther auftrat, nicht in einem
Niedergang; man kann vielmehr von
einem Aufschwung sprechen, und darf
sich durch die Anklagen Luthers und
seiner Schüler nicht täuschen lassen.
Zwar scheint die Zeremonien-, Werkhei-
ligkeits- und Sakraments-Religion mit
ihrem Heiligen- und Reliquiendienst ihren
Ablässen und alten und neuen Nothel¬
fern, Meßstiftungen, Weihungen und Ge¬
lübden blühender gewesen zu sein als
je; aber man wäre im Irrtum, wollte
man in ihr nur eine Veräußerlichung
der Frömmigkeit sehen. Auch innere und
ernste, wenn auch mißleitete Frömmig¬
keit kam hier zum Ausdrude. Mit und
neben ihr aber waren die rein geist¬
lichen Darbietungen reichlicher und tiefer
als in irgendeiner Periode der Kirche
vorher, und die Kirche kam in den Lan¬
dessprachen in Predigt, Unterricht und
Seelsorge dem Gewissen näher als frQ-
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Go», igle
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1317
Adolf von Harnack, Die Reformation
1318
her. Die Zahl der Predigten nahm zu,
und neben solchen, welche nur das Ge¬
setz und die äußere Kirchlichkeit samt
dem Marien- und Heiligendienst ein¬
schärften, wuchs wahrscheinlich die Zahl
der tüchtigen, wahrhaft geistlichen Pre¬
digten. Die persönliche Seelsorge war
reger; zu wahrer Buße, nicht nur zu Bu߬
werken und Ablässen wurde ermahnt,
und der Religionsunterricht der Laien,
wenn auch immer noch dürftig genug,
machte langsam Fortschritte. Audi neue
Bruderschaften sorgten für ihn, und eben
diese Bruderschaften und andere sorg¬
ten auch für die armen Mitbrüder. Lang¬
sam begann sich die Liebestätigkeit von
dem Banne, der auf ihr lag, zu befreien,
daß man lediglich um des eigenen See¬
lenheils willen für den Kranken, Armen
und Schwachen sorgte. Eine Laienfröm¬
migkeit begann sich zu entwickeln, die
mehr war als Kirchengehorsam und die
doch an ihrer Kirche hing. Die Bibel
selbst lag zwar den Laien in der Regel
noch fern, aber sie schickte sich an, auch
zu ihnen zu kommen. Freilich auch bei
den Frömmsten, und gerade bei ihnen,
waren Glaube und ungestillte Seelenun¬
ruhe, Hoffnung und drückendste Furcht,
innerliche Religion und äußeres Tun
miteinander aufs festeste verflochten. Ein
tiefes ungelöstes Problem lag auf dem
Grunde dieser Frömmigkeit. Wo haben
wir es zu suchen?
Innerhalb der christlichen Religion des
Abendlandes gab es seit dem 5. Jahr¬
hundert, auf den Kern der Sache gese¬
hen, nur einen einzigen großen
Gegensatz, der oben bereits zum Aus¬
druck gekommen ist: Steht der Mensch
in Hinsicht seiner höheren Bestimmung
lediglich auf sich selber, auf seiner Ver¬
nunft, seiner Freiheit? Schafft er aus
sich heraus das Gute als sein Werk und
Verdienst? Und hilft ihm dabei die Re¬
ligion — Gott und Christus — nur als
Krücke, die zur Not auch fehlen könnte?
Oder ist nicht Gott-Anhangen das Gute
und quillt nicht daher alles, was den
Menschen aus dem Staube und der Sünde
erhebt, aus der göttlichen Gnade, die
erst die Freiheit schafft? Ist nicht also
Gott Anfang, Mitte und Ende des sitt¬
lichen Lebens und Christus Gottes wirk¬
same Kraft? Dort sagte man mit Pela-
gius: Das Gute ist die freie und verdienst¬
liche Erfüllung der heiligen Gebote des
gesetzgebenden Gottes. Hier bekannte
man mit Augustin: Das Gute strömt aus.
dem Glauben und der Liebe, welche
Gott schenkt. Dort hielt man sich an
das Gesetz, hier an die Gnade, wie man
sie im Evangelium fand. Die abendlän¬
disch-katholische Kirche hat sich schon im
5. Jahrhundert auf die Seite Augustins
gestellt und diesen Boden prinzipiell
stets und bis heute behauptet. Aber tat¬
sächlich ist der Pelagianismus, d. h. der
Moralismus und die Werkgerechtigkeit,
nicht wirklich in ihr überwunden wor¬
den, weil die Ordnungen und Ansprüche
der Kirche in dieser Richtung schon ge¬
festigt waren, als sie von ihrem größten
Genius, Augustin, bezwungen, seine
grundlegenden Religionsgedanken über¬
nahm. Daher ist das tiefste, ja bei¬
nahe das einzige Thema der inner¬
sten Geschichte der christlichen
Religion im Abendland das fort¬
gesetzte Ringen zwischen Augu¬
stin und Pelagius, zwischen Reli¬
gion und Moral, zwischen Gesetz
und Evangelium. Auch der große
Kampf in der mittelalterlichen theologi¬
schen Wissenschaft, der sog. Scholastik,
hat letztlich kein anderes Thema. Aus
diesem Ringen heraus und ledig¬
lich aus ihm ist auch Luthers Re¬
formation geboren. Aber die Größe
Luthers besteht nicht nur darin, daß er
kräftiger und reiner als irgendein Abend¬
länder vor ihm den Augustinismus wie-
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Adolf von Harnack, Die Reformation
1320
der in Geltung setzte, sondern daß er
ihn auch selber reinigte, zum Abschluß
brachte und ihm dadurch erst die Kraft
verlieh, die ihm noch gefehlt hatte, alles
Fremde wirklich abzustoßen.
Steht es aber so mit der Vorausset¬
zung der Reformation, dann dürfen als
wirkliche Vorreformatoren nur die Män¬
ner gelten, die vom 5. bis zum 15. Jahr¬
hundert für das augustinische Bekennt¬
nis in bezug auf Gnade und Freiheit,
Gesetz und Evangelium gegen den gro¬
ben und feinen Pelagianismus gekämpft
haben, und unter ihnen sind wiederum
diejenigen als Vorreformatoren im eng¬
sten Sinn zu bezeichnen, bei denen sich
Ansätze zu der Vollendung des Augusti¬
nismus finden, wie sie Luther gebracht
hat Jene Vorreformatoren sind zahl¬
reich, diese viel spärlicher. Das Wichtige
aber ist, daß sie keineswegs immer in
Konflikt mit der Kirche kamen, selbst
diejenigen nicht, welche den Augusti-
nismus durch Betonung der souveränen
Bedeutung des Glaubens noch steigerten.
Zwar die Waldenser, Wiclif, Hus,
Wesel, We s s e 1 u. a. gerieten in schwere
Kämpfe, aber zunächst nicht deshalb,
weil man ihren Glauben für ketzerisch
hielt — man beachtete ihn weniger —,
vielmehr weil man ihre Angriffe auf den
Kirchenbegriff, das Kirchenwesen und die
kirchlichen Einrichtungen nicht dulden
wollte. Sätze wie die, daß unsere Ge¬
rechtigkeit überhaupt unter keinen Um¬
ständen vor Gott in Betracht komme,
sondern nur seine Gnade und unser
Glaube, haben Männer wie Bernhard
von Clairvaux u. a. ungefährdet aus-
sprechen können, weil sie nicht die Fol¬
gerungen aus ihnen zogen, die in ihnen
steckten und die Luther gezogen hat,
und weil sie daneben andere Sätze aus-
sprachen, die jenen Sätzen widersprachen.
Aber diese Bekenntnisse waren doch
da, waren in den Sterbegebeten und
sonst in der Kirche zu finden und blie¬
ben nicht ganz ohne Wirkung. Die
Schüler Augustins — alle die, wel¬
che seinen Glauben wiederer-
weckten und gegen den kirch¬
lichen Moralismus richteten — und
sie allein, sind die Vorreforma¬
toren; selbst die thomistischen Scho¬
lastiker waren es, wenn sie sich gegen
die neue Theologie der pelagianischen
Scholastiker richteten, welche von Duns
Scotus, Occam u. a. vertreten wurde.
Dann aber ergibt es sich, daß die
Vorreformation in dem von Augu¬
stin stammenden Erbe der Kirche
selbst steckte und nirgendwo an¬
ders. Hieraus folgt aber weiter, daß die
mittelalterliche Kirche auch für Luther
die Mutterkirche fm vollen und tiefen
Sinn gewesen und er aus ihr herausge¬
wachsen ist. Seine Vorläufer sind nicht
nur bei den Sektierern zu suchen, die die
spirituellen und religiösen Gedanken
Augustins wieder aufgenommen und dem
Kirchentum entgegengesetzt haben, son¬
dern hier steht die Kirche selbst, so¬
fern sie die augustinische Glaubens¬
lehre noch in ihren Fundamenten hatte.
Luthers Werk ist daher wirklich .Refor¬
mation“ gewesen und nicht eine Revo¬
lution von außen. Wohl hat er das
ganze Kirchentum gesprengt; aber die
Kraft dazu hat er aus dem religiösen
Erbe der Kirche selbst gewonnen; denn
aus ihm stammen die Voraussetzungen
seines religiösen Erlebnisses.
Aber müssen nicht auch alle die zu
den Vorreformatoren gerechnet werden,
die vor Luther dem tätigen Leben der
Frömmigkeit den Vorzug vor dem be¬
schaulichen der Mönche gegeben ha¬
ben? Und weiter, sind nicht die deutschen
Mystiker die eigentlichen Vorreforma-
toren? Was jene betrifft, so darf gewiß
der Einfluß nicht verkannt werden, den
die Wendung zum tätigen Leben, wie
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Adolf von Harnack, Die Reformation
1322
sie sich in den frommen Bruderschaften
des Zeitalters zeigte und schon in Fran¬
ziskus von Assisi und seinem Orden
aufleuchtete, für Luther und die Refor¬
mation gehabt hat. Aber eben die Tat¬
sache, daß zahlreiche Mönche in bewun¬
derungswürdiger Weise sich selbst ver¬
gaßen und ganz in dem Dienst der armen
Brüder aufgingen, lehrt, daß dies mit
dem höchsten katholischen Lebensideal,
welches Luther bekämpft hat, wohl ver¬
einbar war, ja aus ihm abgeleitet wer¬
den konnte. Also darf das tätige Leben
der Frömmigkeit nicht als „vorreforma-
torisch“ in Anspruch genommen wer¬
den; es steht mit ihm anders als mit
dem Bekenntnis zur Glaubensgerechtig¬
keit. Dennoch wird man überall dort
eine Vorbereitung des reformatorischön
Lebensideals anerkennen dürfen, wo
man dem Nächsten nicht geholfen hat,
um seiner eigenen Seele Verdienste zu
erwerben, sondern wo man liebte und
half. In diesem Sinne weist vor allem
schon Franz von Assisi, der treueste
Sohn der katholischen Kirche, auf ein
neues Erleben der christlichen Religion
hin, welches das Mönchtum sprengen
sollte.
Eine herrliche religiöse Erscheinung
ist die deutsche Mystik, wie sie um die
Wende des 13. zum 14. Jahrhundert
emporblühte. Sie hat die Frömmigkeit
aus den Äußerlichkeiten herausgeführt,
belebt und vertieft. Sie hat sie inner¬
licher und selbständiger werden lassen;
sie hat befreiend gewirkt und der Seele
Nahrung zu freudigem Wachstum gege¬
ben. Sofern sie dabei auf augustinischer
Überlieferung fußte, diese gegen die
Werkgerechtigkeit, die „Verdienste“ und
den äußeren Heils- und Glaubensmecha¬
nismus richtete, die Seele ganz unter
die göttliche Gnade und Liebe beschloß
und das Erlebnis der Wiedergeburt im
schmerzlichsten Seelenkampf erlebte, ge¬
hört die Mystik einfach zu der Vor¬
reformation, von der wir oben gesprochen
haben. Aber das, was das eigentliche
Wesen der Mystik ausmachte, ist teils
gut katholisch im Gegensatz zum Evan¬
gelischen, teils ist es aus der Schatz¬
kammer geschöpft, aus der auch der
Katholizismus geschöpft hat, dem Neu¬
platonismus — nur schöpfte die Mystik
reichlicher und übersprang die Grenzen,
die die Kirche sich bei ihren Entlehnun¬
gen gezogen hatte.
Mystik ist eine Religionsphilosophie
mit praktischen Anweisungen. Sie ist
diejenige Stellung zum gesamten Sein,
kraft welcher man dieses auf die drei
Begriffe: Gott, Welt und Seele, reduziert,
ihr Auseinandersein als schwerste Span¬
nung empfindet, aber als Identität zu
ahnen glaubt und es daher als die
höchste Aufgabe, ja als die einzige er¬
kennt, aus dem Spannungsdruck zum
Identitätserlebnis — sei es im Erkennen,
sei es im Willen und Gefühl — zu ge¬
langen. Während des höchsten Span¬
nungsdrucks erscheint die Welt als der
Feind, d. h. als das große Hemmnis
zwischen Gott und der Seele; im Iden¬
titätserlebnis aber ist auch die Welt in
der Fülle der Gottheit ganz verschwun¬
den. In der Zwischenzeit aber erscheint
sie in ihren Stufen, die vom Nichts bis
zur Gottheit reichen, als die Leiter zum
Aufstieg der Seele. Auf jeder Stufe ist
man von der je unteren als von einem
bösen Übel befreit, und für jede Stufe
ist die nächstfolgende die Befreiung. Die
Stufen sind Kräfte und helfen der Seele,
und sie muß sie doch alle hinter sich
lassen; denn sie stammt aus Gott, geht
zu Gott und verschmilzt in und mit
Gott.
Dies ist für jede höhere Religion eine
wundervolle Melodie; aber sie ist kein
christlicher Text, sondern ein spekulativer.
Wohl kann die Mystik den christlichen
1323
Adolf von Harnack, Die Reformation
1324
Text an sich ziehen und ihn ausgiebig in
verschiedener Weise — als tröstliches Pa¬
radigma, als Symbol, als Erregungsmittel,
als wirkliche Kraft — benutzen, aber
notwendig braucht sie ihn nicht. Und
nicht nur der christlich-geschichtliche
Text fehlt der Mystik — auch das Grund¬
verhältnis von Gott und der Seele ist
hier und dort ein anderes: Hier ist Gott
der Vater und der Mensch sein erlöstes
Kind, dessen Gottebenbildlichkeit aber
keine wirkliche Stammverwandtschaft
bedeutet; denn Gott bleibt der Herr und
der Mensch die Kreatur, und ohne Gott
ist der Mensch nicht ein .Nichts“, son¬
dern ein schuldiger Geist. Dort dagegen ist
Gott die Falle alles Seins und der einzig
Seiende, die Seele aber ihm entströmt —
ein Teil von ihm, wenn sie bei ihm
bleibt oder zu ihm zurQckkehrt, ein
Nichts in der Entfremdung. Wohl kön-
nen sich diese beiden Grundanschauun-
gen ineinander schieben, ja befruchten,
aber sie bleiben doch sehr verschieden.
Auf Luther hat diese Mystik in ihrer
unkirchlichen Form niemals, in ihrer
kirchlichen, d. h. von der Kirche still¬
schweigend anerkannten, erst dann ein¬
gewirkt, als er längst ein Schüler Augu¬
stins geworden war, dessen Überzeugung
von Sünde und Gnade nacherlebt *und
auch die pantheistisch-mystischen Ele¬
mente bei ihm kennen gelernt hatte. Ja,
er war schon über Augustin hinausge¬
wachsen und hatte den gnädigen Gott als
seinen Gott schon erlebt, als er die Pre¬
digten Taulers und .die deutsche Theo¬
logie“ las. Sie konnten ihn daher im
strengen Sinn nichts mehr lehren, am
wenigsten .Mystisches“,denn das kannte
er schon lange und das hatte ihn inner¬
lich unberührt gelassen. Dennoch hat
er sie als seine Lehrmeister bezeichnet,
und nicht mit Unrecht. Denn erstlich
lehrten sie ihn, daß seine eigene Erfah¬
rung von dem Höllenschrecken der Gott¬
verlassenheit und des Hochmuts als
Voraussetzung des Gotterlebnisses trotz
ihrer Paradoxie nichts Individuelles und
kein Irrtum gewesen sei, sondern daß
Gott geradeso und nicht anders mit
den Menschen handeln wolle, daß also
jeder diesen Weg gehen müsse. Zwei¬
tens bestärkten sie ihn in der Sicherheit
des Gottbesitzes, weil auch die Erfah¬
rung der Sünde und Gottverlassenheit
Gottes Schickung sei, der also bei den
Menschen bleibt, auch wenn dieser in
der Hölle der Anfechtung liegt Das war
bei Tauler und in der .deutschen Theo¬
logie“ deutlich zu lesen, und diese heilige
Erfahrung und Dialektik des Gewissens,
die schon der Apostel Paulus entfesselt
hat und die nur der Unkundige .Mystik“
nennen kann, gab ihm eine Klärung und
Zuversicht, dazu den Mut der sicheren
Aussprache des Erlebten, für die er Tau¬
ler und dem Verfasser der .deutschen
Theologie“ den innigsten Dank wußte.
So darf man diese Mystiker wirklich
neben Augustin, an dem sie Luther
selbst als dem Größeren gemessen hat,
auch als Vorreformatoren bezeichnen;
aber nicht weil sie Luther gelehrt haben,
.was Gott, Christus, Mensch und alle
Dinge“ an sich seien, sondern weil sie
nach Luthers Urteil über die Gesinnung,
die wirkliche Betätigung und den Wert
dieser Größen die Wahrheit erkannt
hatten.
Die Ausgestaltung und Verbreitung
der Reformation hat fast so viele Voraus¬
setzungen und Ursachen, als es kirch¬
liche, staatliche, kulturelle und soziale
Zustände gab, die Verbesserungen und
Umgestaltungen bedurften und sich be¬
reits in einer Entwickelung zu ihnen be¬
wegten. Die Reformation selbst aber hat
nur eine Wurzel gehabt: sie liegt aus¬
schließlich in Luthers Glaubenskampf
und Glaubenserkenntnis. Soweit diese
von geschichtlichen Voraussetzungen und
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Original fram
INDIANA UN1VERSITY
1325
Adolf von Harnack, Die Reformation
1326
Vorbereitungen abhängig waren, kommt
als vorreformatorische Kraft nur jenes
alte Erbe der Kirche selbst in Betracht,
welches in den Kreuz- und Trostpsal¬
men, in den Briefen des Apostel Paulus
und in Augustins Bünden- und Gnaden¬
lehre gegeben und immer aufs neue
durch Augustins Schüler der Kirche vor¬
gehalten worden war. Dazu brachten
Tauler und der Verfasser der „deut¬
schen Theologie“ für Luther eine beson¬
dere Note, die ihn geklärt und gestärkt
hat. Die Reformation Luthers ist also ein
echter Sproß aus dem Wurzelstock der
mittelalterlichen Kirche, obgleich sie sich
gegen sie wenden mußte. In dieser
Kirche war zwar in weitesten Kreisen
die Notwendigkeit von Reformen aner¬
kannt; aber jeder empfand sie nur dort,
wo ihn gerade der Schuh drückte. Alle
Bestrebungen waren daher zersplittert,
unkräftig und bezogen sich größtenteils
nur auf abgeleitete Mißstände. Was hilft
es aber an den Früchten pflegen, wenn
der Baum selbst krank ist? Um so ver-'
söhnender wirkt die Erkenntnis, daß
Luthers Reformation aus „der Bi¬
bel und St. Augustinus“ geflossen
ist. In der entscheidenden Epoche zwi¬
schen 1508/9 und 1515/16 hat Luther
diese beiden Größen oftmals zusammen
genannt und keine anderen hinzugefügt
Eben deshalb hat er auch niemals die
Überzeugung und den Anspruch aufge-
geben, der einen, alten „Christenheit“
anzugehören und sie fortzusetzen, die in
den Jahrhunderten vor ihm in der katholi¬
schen Kirche zusammengefaßt war. Wohl
erkannte er allmählich immer deutlicher,
daß eine falsche Entwickelung schon sehr
früh begonnen hat, nämlich bereits bei
„den lieben Vätern“, d. h. bei den Kir¬
chenvätern der alten Zeit. Aber das
störte ihn nicht in der Anerkennung, daß
die Kirche zu allen Zeiten Christus und
die Sündenvergebung in ihrer Mitte ge¬
habt hat. Zwar berief er sich zeitweilig
mit Genugtuung auch auf Wiclif, Hus und
andere, welche dem römischen Kirchen-
tum Opposition gemacht hatten, und sah
in ihnen seine Geistesverwandten und
Ahnen gegenüber den Kirchenmännern.
Aber auch sie waren ihm in den
Glaubensgedanken, die er an ihnen
schätzte, nicht „Sektierer“ neben der Kir¬
che, sondern, wie er selbst, ihre treuen
Söhne, die sich mit Fug und Recht gegen
angemaßte Ansprüche und falsche Leh¬
ren erhoben hatten. Sind aber Augustin
und seine geistige Deszendenz (in der
Sünden- und Gnadenlehre, in der Lehre
vom Wort Gottes und im spirituellen
Kirchenbegriff) die Vorreformatoren,
so ist es andererseits ebenso gewiß, daß
die Vertreter des herrschenden Kirchen-,
Sakraments- und Priesterbegriffs sich
gegen Luther mit Recht auf Augustin
berufen durften, der überall als altkatho¬
lischer Kirchenmann die Konsequenzen
seiner Heilslehre entweder nicht verfolgt
oder abgebrochen oder verfälscht hat.
Von hier aus stellt Luthers Unternehmen
nicht nur einen Kampf mit Augustin gegen
Pelagius dar, sondern auch einen Kampf
gegen Augustin. Das unendlich reiche
und komplizierte, ja in sich antithetische
Erbe des unvergleichlichen Mannes kam
erst elfhundert Jahre nach seinem Er¬
scheinen zu wirklicher Klärung l 1 )
Nicht zu den Vorreformatoren dürfen
Occam und die Nominalisten gerechnet
werden trotz ihrer wertvollen Erkennt¬
nisse, von denen Luther (s. oben das
erste Kapitel), halb unbewußt, einen so
reichen Gebrauch gemacht hat und ohne
1) In seiner akademische Rede (Histor.
Ztschr., 3. Folge, 20. Bd., S. 377—458) hat
v. Below jüngst „die Ursachen der Refor-
tion“ vorzüglich behandelt, aber m. E. den
Hauptpunkt doch nicht mit ins gebührende
Licht gerückt, weil er den reichen, aber kom¬
plexen Besitz der mittelalterlichen Kirche
nicht genügend gewürdigt hat.
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Original frnm
INDIANA UN1VERSITY
1327
Adolf von Harnack, Die Reformation
1328
die seine Theologie geschichtlich unver¬
ständlich bleibt; denn seinem Glaubens¬
erlebnis stehen sie fern. Doch mag man
sie in dem Sinne Vorläufer nennen, in
welchem die Aufklärung Vorläuferin des
deutschen Idealismus gewesen ist.
ID. Luther.
Altertum, Mittelalter, Neuzeit
— diese Einteilung der Weltgeschichte
behauptet sich gegenüber allen Versuchen
sie zu ändern. Wann aber hat die Neu¬
zeit begonnen? Auf diese Frage gibt es
drei Antworten. Die einen meinen, sie
habe ihren Anfang genommen, als sich
die heute noch bestehenden großen
Staaten als wirklich selbständige gebil¬
det haben, die verschiedenen National-
literaturen entstanden und Kunst und
Wissenschaft einen neuen Aufschwung
von Italien her genommen. Dann wäre
der Anfang der Neuzeit schon ins 14.
Jahrhundert zu setzen. Im Gegensatz zu
diesen gehen die anderen viel weiter her¬
ab: Erst als Religion und Kirche nicht
mehr die Mittelpunkte des politischen
Lebens und des Lebens überhaupt bilde¬
ten, die Religionskriege aufhörten und
die Glaubens-, die Denk- und die bür¬
gerliche Freiheit in Kraft traten oder
sich vorbereiteten, erst da beginne die
Neuzeit, also frühestens nach dem Drei¬
ßigjährigen Krieg, ja, noch später im
Laufe des 18. Jahrhunderts. Die dritten
aber urteilen: Die Neuzeit hat mit der
Reformation Luthers ihren Anfang ge¬
nommen, und zwar am 31. Oktober 1517;
die Hammerschläge an der Türe der
Schloßkirche zu Wittenberg haben säe
eingeleitet.
Die letzteren haben redet: jener Tag
ist der Anfang der Neuzeit Worin be¬
steht denn der entscheidende Unter¬
schied zwischen ihr und dem Mittelal¬
ter? In der unbefangenen Er¬
kenntnis des Wirklichen und in
der mutigen und umsichtigen
Ordnung aller Lebensgebiete
auf Grund dieser Erkenntnis. Ge¬
genüber dem Mittelalter ist das Charak¬
teristische der Neuzeit der Realismus,
der keinen Gegensatz zum Idealismus
bildet, aber ihn an reale Voraussetzun¬
gen bindet. Suum cuique: alles Leben¬
dige steht auf seinem eigenen Rechte
und soll sich in Selbständigkeit und
Freiheit entwickeln, der einzelne, die Fa¬
milie, das Recht,, der Staat, die Kirche,
die Schule und Wissenschaft, die Kunst
und jegliche Berufsarbeit Die unge¬
heure Aufgabe aber, alle diese Kreise
in eine friedliche und fördernde Einheit
zu bringen und in ihr zu erhalten, soll
nicht durch die kirchliche Autorität ge¬
löst werden — war sie es doch gerade,
die den großen Gebieten ihre Freiheit
genommen und zugleich den Blick für
sie getrübt hatte—.sondern ist dem ein¬
zelnen, der Gesellschaft, dem Staat und
der Kirche im Zusammenwirken anheim-
gegeben.
Wann hat diese neue Zeit, die freilich
noch immer im Werden begriffen ist ja
durch den grauenvollen Weltkrieg ge¬
sprengt zu werden scheint, begonnen?
Auf einigen Linien gewiß schon geraume
Zeit vor Luther, wie das vorige Kapitel
gezeigt hat. Aber allen diesen Anfängen
hat die befreiende und fortwirkende Tat
gefehlt. Auf die Tat aber kommt hier
alles an; denn das, was bekämpft wer¬
den mußte, war ja nicht wie im ersten
Kapitel daigelegt worden ist ein bloßes
Glaubens- und Gedankensystem, das
man ausschließlich mit dem Wort be¬
kämpfen konnte, sondern es war ein po¬
litisches Reich, ja in gewissem Sinn das
Weltreich. Also konnte es nur durch die
Tat bekämpft werden, d. h. man mußte
den Mut haben, sich von ihm loszusa¬
gen, und man mußte die Kraft haben,
die Menschen wirklich und dauernd von
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1329
Adolf von Harnack, Dje Reformation
1330
dieser Herrschaft, die ihnen bisher im
höheren Leben nahezu alles bedeutete,
zu befreien und sie auf eine neue Bahn
zu stellen. Das hat Luther getan und
keiner vor ihm; die anderen haben nur
erfolglose Versuche gemacht. „Im An*
fang war die Tat“: Dies Wort gilt, wenn
irgendwo, so hier, und darum hat erst
Luther die Neuzeit begründet — und
nicht nur für Deutschland, sondern auch
für ganz Westeuropa, ja für die Mensch¬
heit. Denn wo nur immer der Bann der
Kirche gebrochen worden ist, da hat
seine Tat entweder direkt gewirkt oder
doch den entscheidenden Anstoß gege¬
ben. Anderseits aber — wirklich er und
kein Späterer hat sie begründet; denn
so gewiß es ist, daß er kein Vollender
gewesen ist, vielmehr noch sehr vieles
hat bestehen lassen, was fallen mußte,
so gewiß hat er mit seiner Tat ein Dop¬
peltes geleistet: er hat das schwerste
Hemmnis einer neuen Entwicklung zu¬
rückgeschoben, zugleich aber das Fun¬
dament für die Neuzeit gelegt und es
selbst aus zu bauen begonnen.
In dieser zweieinigen Leistung liegt
seine epochemachende Größe: er hat
nicht nur als Revolutionär die Allein¬
herrschaft der römischen Kirche zu Fall
gebracht, sondern er hat auch als ein
echter Reformator an dem alten Glau¬
bensbesitz der mittelalterlichen Kirche
durch ein tiefes inneres Erlebnis eine
neue Art des Glaubens und der Fröm¬
migkeit und eine neue Stellung zur Welt
gewonnen. Diese neue Art aber wurde
eine starke Wurzel für die Kräfte, Trie¬
be ufld Blüten der Neuzeit. Die Selbstän¬
digkeit der Persönlichkeit und des eige¬
nen Gewissens und wiederum die Selb¬
ständigkeit aller großen Gebiete des Le¬
bens entwickelten sich langsam, aber fol¬
gerecht aus Luthers Glaubenstat. So
liegt hier die Tatsache vor, die fast wie
ein Rätsel erscheint, daß eine Glaubens¬
tat, die als solche ganz dem Gebiet des
innem Lebens angehörte, die weltlichen
Gebiete des Staats, des Rechts, der Fa¬
milie, der Wissenschaft usw. befreit hat.
Aber das Rätsel löst sich leicht: weil
Luther durch seine Glaubenstat die Re¬
ligion aus allen diesen Verbindungen
und Verflechtungen heraus- und ganz
auf ihr inneres Wesen zurückführte, so
wurde nun auch alles andere, was ein
Recht auf Geltung hatte, vom Druck be¬
freit und konnte unbevormundet zur
Selbständigkeit emporwachsen. Das an¬
spruchsvolle corpus permixtum, die
Kirche, wurde durch eine gewaltige Re¬
duktion ins Unrecht gesetzt. Dadurch
wurde die Religion sich selbst zurückge¬
geben; aber eben diese notwendige und
heilsame Beschränkung und Entlastung
emanzipierte alle die Gebiete, welche die
Religion widerrechtlich und zu eigenem
Schaden besetzt hatte. Denkt man Lu¬
ther aus der Geschichte weg, so gäbe es
neben der römischen Kirche in West-
und Mitteleuropa wahrscheinlich nur die
atheistische Aufklärung, wie wir sie bei
den römischen Völkern heute finden;
was aber aus den Staaten ohne ihn ge¬
worden wäre, das vermag niemand zu
sagen. Also ist Luther der Begründer
der Neuzeit. —
In einer treffenden und tiefen Betrach¬
tung hat Luther öfters das, was Gott
(bzw. Jesus Christus) an und für sich ist
und hat, unterschieden von dem, was er
für uns ist und hat. Jenes ist verbor¬
gen, dunkel, letztlich also für uns ein
Geheimnis, dieses ist hell, klar und wirk¬
sam. Diese Unterscheidung trifft aber
für jedes höhere Personleben zu und
daher auch für Luther selbst Wir haben
uns an den hellen Luther zu halten —
bis Izuletzt hat er vieles „für sich“ gehabt
— aber eben diesem Luther ist es mög¬
lich gewesen, Großes und Entscheiden¬
des ins helle und klare zu setzen, was
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
1331
Adolf von Harnack, Die Reformation
1332
andere in der Tiefe ihrer Seelen lassen
müssen, weil sie nicht die Fähigkeit und
Kraft besitzen, es auszusprechen. Auch
Luther hat diese Fähigkeit nicht sofort
erworben, nachdem seine inneren Erleb¬
nisse zum Abschluß gekommen waren.
Nur stoß- und bruchstückweise ver¬
mochte er anfangs von dem, was er ge¬
wonnen hatte, zu reden, konnte wohl
auch Angefochtene und Betrübte damit
trösten und andrerseits die kritische Be¬
deutung des Erlebten einzelnen gegen¬
über zum Ausdruck bringen. Dann aber
— erst seit 1519/20 — haben sich die
Riegel in ihm gelöst, und er vermochte
mit gegenständlicher Deutlichkeit und in
Fülle und .Kraft das, was er erlebt hat,
für alle anderen auszusprechen. Ja
es drängt und treibt ihn zur rückhaltlo¬
sen Mitteilung. Er empfindet das See¬
lenheil der Christenheit, und er redet und
schreibt wie einer, der in der letzten
Stunde das Ganze retten muß.
Das Erlebnis war, daß ihm Gott auf¬
gegangen war und daß er sagen durfte:
„Ich habe Gott; er gehört mit seinem
Geist und Gaben, ja mit seinem heiligen
Wesen unzertrennbar zu mir, wie ich zu
ihm. Er gibt mir das Seine, und ich gebe
ihm das Meine.“ So war er auch Au¬
gustin aufgegangen und schon vorher
dem Paulus, und mit beiden war es Lu¬
ther zweifellos, daß die Gnade Gottes
allein das gewirkt hat und daß auch
das zuversichtliche Vertrauen, der
Glaube, der das festhält, ausschließlich
Gottes Geschenk sei: kein Wollen seiner¬
seits hat diesen Tatbestand begründet
und hält ihn in Kraft Niemals hat Lu¬
ther den Glauben als seine eigene Tat-
empfunden, sondern immer nur als Got¬
tes Werk in ihm. Venit creator Spiritus.
Aber Luthers fortwirkendes Erlebnis
ging noch um einen gewaltigen Schritt
über das Erlebnis Augustins hinaus und
brachte selbst über das des Paulus erst
volle Klarheit Augustin vermochte sich
trotz seines Erlebnisses von der Frage
nicht loszureißen: „Wie werde ich ein
tugendhafter Mensch und erlange das
Maß von Sündenfreiheit und Heiligkeit,
welches dem Gesetz Gottes entspricht
und in seinem Gerichte bestehen kann?“
Eben diese Frage aber verlor als
solche für Luther ihre prinzipi¬
elle Bedeutung: Seines Gottes
gewiß, setzte er sich mutig über
sie hinweg, obgleich ihm die Macht
der „Sünde“ tiefer aufgegangen war als
Augustin. Man darf sagen, daß die reli¬
giöse Größe und Originalität Luthers
hier ihre alles bestimmende Wurzel hat.
Des näheren stellt sich sein Verhält¬
nis zu Gott also dar: aus den Verhei¬
ßungen Gottes, die er in der Bibel fand,
bzw. aus dem Worte Gottes, wie er
es mit Augustin nannte, letztlich aber
aus der Erscheinung Christi, dem Ge¬
kreuzigten und Auferstandenen, der ihm
das Wort Gottes war, entnahm er die
Gewißheit der unerschöpflichen Gnade
Gottes, die es — es komme, was da mag
— mit ihm, dem Sünder, halten will und
daher auch mit den Sündern überhaupt
Mit ihm dem Sünder: im Gegensatz zur
Kirche war er überzeugt, daß er und
die anderen Kinder Gotteä tatsächlich
noch immer sündigen werden; denn er
wollte nichts wissen von einer schuld¬
losen Konkupiszenz, die nicht Sünde sei,
und er hatte zudem die Erfahrung ge¬
macht, „daß er täglich viel sündige“.
Also — das war seine Lehre von der
Kraft der Gnade — können Glaubens¬
stand und tatsächliches noch Sündigen
mit- und ineinander bestehen; denn
eben der Glaube, welcher in der Gewi߬
heit der Sündenvergebung an Gott fest¬
hält, hat die Eigenart der stetigen De-
mutsgesinnung Gott gegenüber und der
stedgenBußgesinnung der eigenen Sünde
gegenüber. Damit aber ist die innere
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INDIANA UNfVERSITY
1333
Adolf von Harnack, Die Reformation
1334
Zuständlichkeit gegeben, die den Wider¬
spruch zwischen dem gleichzeitig beste¬
henden Gnadenstand und dem „noch
Sündigen" aufhebt und Gott wohlgefäl¬
lig ist. Der Sündenstand besteht in
Wahrheit eben nicht mehr, weil die
Schuld fort und fort vergeben wird.
„Wohl dem Menschen, dem Gott die
Sünde nicht an rechnet." Der Mensch
lebt von der Vergebung der Sünden, und
seine „Rechtfertigung" besteht darin,
daß Gott mit dem Glauben, der Glaube
an die Vergebung der Sünden ist, in dem
Menschen die Zuversicht erweckt, daß
er als Demütiger und Bußfertiger seinen
Gott niemals verlieren kann. Dann aber
ist der Sünden st and auch nicht einmal
empirisch mehr vorhanden« Denn wenn
der Begriff der Sünde letztlich aus¬
schließlich die „Gott—losigkeit“ ist,
Gott aber dem Sünder treu bleibt, so
gibt es wohl noch Sünden, aber keinen
Sündenstand.
Ein so tiefes Sündengefühl aber besaß
Luther, daß er mit der Gewißheit der
Sündenvergebung sofort die volle Se¬
ligkeit empfand. Sein bekannter Satz:
„Wo Vergebung der Sünden ist, da ist
auch Leben und Seligkeit", drückt das
mit voller Deutlichkeit aus. Übel, Not,
Tod und Teufel existierten nun für ihn
nicht mehr; in dem Bewußtsein: meine
Schuld wird mir nicht angerechnet, fie¬
len ihm alle anderen Hemmungen und
Feinde des Lebens und der Seligkeit wie
kraftlose Schatten in sich selbst zu¬
sammen.
Das Verhältnis aber zu Gott, waches
er gewonnen hatte, beschrieb er mit dem
Apostel Paulus als Kind- und Erbver¬
hältnis: als Kind Gottes wußte er sich
und wollte von keinem anderen Verhält¬
nis zu ihm mehr wissen. Dadurch wurde
der komplizierte Gottesbegriff der kirch¬
lichen Überlieferung eindeutig.
Weiter aber: Das Bestehen dieses Ver-
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hältnisses hat er sich niemals klarge-
macht oder versichert durch das Maß
der pathetischen Gottesempfindung oder
religiösen Emotion, sondern lediglich
im Vertrauen wollte er es gegenwär¬
tig haben, und wenn dieses Vertrauen
selbst schwach wurde, so sollte es durch
kein anderes Mittel gestärkt werden als
durch den Blick auf Gottes Verhei¬
ßungen. Dadurch wurde der kompli¬
zierte Frömmigkeitsbegriff der kirchli¬
chen Überlieferung eindeutig. Das ge¬
genständliche Erleben Gottes und die
mystische Kultusreligion wurden ausge¬
schaltet.
Ferner: Als die nächste Frucht dieses ,
Verhältnisses empfand er der Welt ge¬
genüber mit dem Apostel Paulus die
Freiheit — die Freiheit, welche die
Geschlossenheit des ganzen Ichs und die
königliche Herrschaft über alle Dinge
zugleich bedeutet. In dieser Herrschaft
lag ihm aber vor allem die Erhabenheit
über jegliches von außen kommende Ge¬
setz, mochte es selbstals göttliches pro¬
klamiert sein; denn ein jedes solches Ge¬
setz empfand er als Knechtschaft und
Unseligkeit.
Mit der Religion auf der Gesetzesstufe
brach er also ganz und gar, ja er ent¬
hüllte die Heteronomie des Gesetzes als
die eigentliche Qual des Menschen. Da¬
mit wurde das Evangelium souverän
und begründete die Autonomie des nur
in Gott gebundenen Christen.
Endlich: Diese ganze Konzeption ist
nach Luther keine subjektive, individu¬
elle und daher unkontrollierbare und
phantastische — der in der Bibel gege¬
bene Tatbestand schützte sie bereits vor
dieser Beurteilung —, vielmehr bezieht
sie sich auf den einzelnen überhaupt nur
deshalb, weil er Glied eines geschicht¬
lichen Ganzen ist In den Aposteln war
die Gemeinde Jesu Christi vorgefaildet,
die sein Geist beruft, sammelt und er-
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INDIANA UNIVERSUM x
I
1335
Adolf von Harnack, Die Reformation
1336
leuchtet. Dieser Gemeinde, die sich in nur dieser Glaube das Gute tun könne
einer geschichtlichen Kette fortsetzt, gilt und ohne ihn alle Anstrengungen vergeh-
Gottes gnädiger Wille, und nur durch sie lieh sind. Denn nur ein guter Baum kann
und in ihr kommt der einzelne zu Gott, gute Früchte bringen, gut aber ist nur der
Sie ist nicht sichtbar, vielmehr ein un- Baum des Glaubens, d. h. das Herz, das
sichtbares Häuflein. Aber sie ist in ihren bei Gott steht. Unzählige Male hat er
Wirkungen erkennbar und erzeugt not- sich darüber ausgesprochen, besonders
wendig auf Erden eine. Gemeinschaft, eindrucksvoll aber in der Vorrede zum
Sie ist für jeden einzelnen die Mutter, Römerbrief. Hier vor allem wird klar,
aus der er mit seinem Glauben stammt; warum und inwiefern die Glaubensfrage
denn nur aus der sich in der Gemeinde im höheren Leben bereits alles entschei-
fortpflanzenden Predigt des Wortes Got- det. »Glaube ist nicht der menschliche
tes erzeugt sich der Glaube des einzelnen. Wahn und Traum, den etliche für Glau-
Dessen soll er eingedenk sein, sich mit ben halten. Und wenn sie sehen, daß keine
seinem Glauben als ein Glied derunsicht- Besserung des Lebens noch gute Werke
baren Gemeinde wissen und in der Liebe folgen und doch vom Glauben viel hören
seinem Nächsten mit allen Kräften die- und reden können, fallen sie in den In¬
nen, ja ihm ein Christus werden; denn tum und sprechen: der Glaube sei nicht
weil die Gemeinde der Gläubigen Christi genug, man müsse Werke tun, soll man
Leib ist, setzt sich der lebendige Chri- fromm und selig werden. Das macht,
stus auf Erden in ihr fort. Das Glau- wenn sie das Evangelium hören, so fal*
benserlebnis ist also nicht auf die Be- len sie daher und machen ihnen aus
Ziehung beschränkt: n Gott und die Seele; eigenen Kräften einen Gedanken im
die Seele und ihr Gott“, sondern es ist Herzen, der spricht: Ich glaube. Dashal-
ein soziales. Damit ist alle religiöse ten sie dann für einen rechten Glauben.
„Schwarmgeisterei“ als unchristlich ver- Aber wie es ein menschlich Gedicht und
bannt. Kein Christ hat den Glauben „für Gedanken ist, den des Herzens Grund
sich“, sondern er hat ihn nur mit den nimmer erfährt, also tut er auch nichts,
anderen. und folget keine Besserung hernach.“
•Die Frage aber, wie denn nun bei die- „Aber Glaube ist ein göttlich Werk in
ser Konzeption das „Moralische“ zu sei- uns, das uns wandelt und neu gebiert
nem Rechte kommt, wenn doch Gnaden- aus Gott und tötet den alten Adam, ma-
stand und tatsächliches Sündigen hier chet uns ganz andere Menschen von
nebeneinander bestehen, ist Luther stets Herzen, Mut, Sinn und allen Kräften und
als selbständige Frage nur von außen bringet den Heiligen Geist mit sich. Oh,
oder durch die Pädagogik aufgedrängt es ist ein lebendig, geschäftig tätig,
worden. Er selbst empfand sie als iso- mächtig Ding um den Glauben, daß es
liert-moralische Frage gar nicht und war unmöglich ist, daß er nicht ohn Unterlaß
daher immer in einer gewissen Verlegen- sollte Gutes wirken. Er fragetauch
heit, wenn er sie in dieser Weise beant- nicht, ob gute Werke zu tun sind, son-
Worten sollte, was dann ungenügende dem ehe man fraget, hat er sie getan
Antworten zur Folge hatte. Er empfand und ist immer im Tun. Wer aber nicht
sie nicht, weil er vielmehr umgekehrt mit solche Werke tut, der ist ein glaubloser
voller Klarheit erkannte, daß erst diese Mensch tappet und siehet um sich nach
seine Auffassung das Moralische („gute dem Glauben und guten Werken und
Werke“) ermögliche und begründe, da weiß weder, was Glaube oder gute
1337
Adolf von Harnack, Die Reformation
1338
Werke sind, wäschet und schwätzt doch
viel Worte vom Glauben und guten
Werken.“
„Glaube ist eine lebendige, erwogene
(völlige) Zuversicht auf Gottes Gnade,
so gewiß, daß er tausendmal darüber
stürbe. Und solche Zuversicht und Er¬
kenntnis göttlicher Gnade macht fröh¬
lich, trotzig und lustig gegen Gott und
alle Kreaturen; welches derHeiligeGeist
tut im Glauben. Daher der Mensch ohne
Zwang willig und lustig wird, jeder¬
mann Gutes zu tun, jedermann zu die¬
nen, allerlei zu leiden, Gott zu Lieb und
Lob, der ihm solche Gnade erzeiget hat,
also daß unmöglich ist, Werk vom Glau¬
ben scheiden, ja so unmöglich, als Bren¬
nen und Leuchten vom Feuer mag ge¬
schieden werden. Darum siehe dich für
vor deinen eigenen falschen Gedanken
und unnützen Schwätzern, die vom
Glauben und guten Werken klug sein
wollen zu urteilen, und sind die größten
Narren. Bitte Gott, daß er den Glaubenin
dir wirke; sonst bleibst du wohl ewig¬
lich ohne Glauben, du dichtest und tust,
was du willst oder kannst.“
„Gerechtigkeit ist nun solcher
Glaube und heißet Gottes Gerechtigkeit,
oder die vor Gott gilt, darum daß sie
Gott gibt und rechnet für Gerechtigkeit,
um Christi willen, unseres Mittlers, und
macht den Menschen, daß er jedermann
gibt, was er schuldig ist. Denn durch
den Glauben wird der Mensch ohne
Sünde und gewinnet Lust zu Gottes Ge¬
boten. Damit gibt er Gott seine Ehre
und bezahlet ihm, was er ihm schuldig
ist; aber den Menschen dienet er willig,
womit er kann, und bezahlet damit auch
jedermann.“
Und von der Sünde heißt es ebendort:
„Sünde heißet in der Schrift nicht al¬
lein das äußerliche Werk am Leibe, son¬
dern alle das Geschäft, das sich mit reget
und weget zu dem äußerlichen Werk,
nämlich des Herzens Grund mit allen
Kräften. Also, daß das Wörtlein »Sünde
tun* soll heißen, wenn der Mensch ganz
dahinfällt und führet in die Sünde.
Denn es geschieht auch kein äußerlich
Werk der Sünde, der Mensch fahre denn
ganz mit Leib und Seele hinein.. Und
sonderlich siehet die Schrift ins Herz und
auf die Wurzel und Hauptquelle aller
Sünde, welche ist der Unglaube im
Grunde des Herzens. Also daß, wie der
Glaube allein gerecht macht und den
Geist und Lust bringet zu guten äußer¬
lichen Werken, also sündiget allein
derUnglaube und bringet das Fleisch
auf und Lust zu bösen äußerlichen Wer¬
ken. Daher Christus allein den Unglau¬
ben Sünde nennet Darum auch, ehe
denn gute oder böse Werke geschehen,
als die guten oder bösen Früchte, muß
zuvor im Herzen da sein Glaube oder
Unglaube als die Wurzel, Saft und
Hauptkraft aller Sünde .... Um des un-
getöteten Fleisches willen sind wir noch
Sünder; aber weil wir an Christum glau¬
ben und des Geistes Anfang haben, ist
uns Gott so günstig und gnädig, daß
er solche Sünde nicht achten noch richten
will.“
Die ganze „Reformation“ liegt in die¬
ser hohen Erkenntnis beschlossen, wenn
man zu ihr hinzunimmt, was oben über
Luthers Anschauung von der Kirche
kurz mitgeteilt ist. Dieses Bekenntnis
von dem Glauben und der Kirche schloß
eine gewaltige Reduktion in sich und
faßte die Kirche doch tiefer, ja in ge¬
wissem Sinn auch weiter als die alte
Lehre. Es ruht ganz und gar auf folgen¬
den einfachen Grundgedanken: (1) daß
Gottes Geist ausschließlich und allein
durch das Wort die Kirche begründet,
leitet und erhält, (2) daß dieses Wort
ausschließlich die Predigt von der Sün¬
denvergebung ist, die an der Offenba¬
rung Gottes in Christus und an Christi
1339
Adolf von Harnack, Die Reformation
1340
Werk ihren Grund und ihre Gewißheit
hat und den Glauben schafft, (3) daß die
Kirche deshalb keinen anderen Spiel¬
raum hat als den des Glaubens und daß
sie die unsichtbare und doch wirksame
Mutter ist, in deren Schoße man zum
Glauben kommt, (4) daß, weil die Reli¬
gion nur Glauben ist, nicht besondere
Leistungen, auch nicht ein besonderes
Gebiet, sei es nun der öffentliche Kultus
oder eine selbsterwählte oder vorge¬
schriebene Lebensführung, die Sphäre
sein kann, in der die Kirche und die ein¬
zelnen den Glauben bewähren, sondern
daß der Christ in den natürlichen Ord¬
nungen des Lebens, wie Gott sie durch
seine Schöpfung gestiftet hat, seinen
Glauben in dienender Nächstenliebe zu
betätigen und zu bewähren hat.
In diesen Sätzen liegt die Abkehr von
dem römisch-katholischen Kirchenbe¬
griff beschlossen. Die Kirche ist nicht
sichtbar, auch ist sie keine Rechts- und
Regierungsanstalt, auch kennt sie
keinen besonderen Priesterstand:
dies alles fällt mit einem Schlage weg.
Durch den ersten Satz hat Luther das
Wort Gottes — und zwar nach dem
reinen Verstand, d.h. jeden maßgebenden
Auslegungsanspruch zurückweisend —
zum Fundament der Kirche gemacht und
die augustinische Formel „verbum et
sacramentum“ so verstanden bzw. kor¬
rigiert, daß das Sakrament im Worte
einfach aufgeht.
Durch den zweiten Satz hat er im Ge¬
gensatz zu allen Theologen, Asketen und
Sektierern des Mittelalters und der alten
Kirche das Evangelium im Evangelium
wiederhergestellt und die „consolatio-
nes in Christo propositae“, die der
Glaube ergreift, zur einzigen Norm er¬
hoben, zugleich aber die augustinische
Formel „fides et caritas“ so gefaßt, daß
die Liebe als die eingeborene Funktion
des Glaubens erscheint
Durch den dritten Satz hat er die
augustinische Doppeldefinition der
Kirche, sie sei zugleich societas fidelium
und externa sodetas sacramentorum (als
solche sichtbar und eine politische Grö¬
ße) korrigiert, indem er die zweite Hälfte
der Definition strich, aber doch dabei
blieb, daß es auf Erden eine heilige
Kirche gebe.
Durch den vierten Satz endlich hat Lu¬
ther den natürlichen Ordnungen in Ehe,
Familie, Beruf und Staat ihr selbstän¬
diges Recht zurückgegeben. Damit hat
er die mittelalterliche und altkirchliche
Weltauffassung und Lebensordnung
durchbrochen und das Ideal religiöser
Vollkommenheit so umgestimmt, wie
kein Christ seit dem apostolischen Zeit¬
alter, und zwar hat er jene Lebensord¬
nung zweimal durchbrochen: weder
erkannte er den Unterschied von „ge¬
ringeren“ und „höheren“ Werken an —
diese Unterscheidung war auf seinem
GLaubensstandpunkt völlig sinnlos —,
noch suchte er die Vollkommenheit über¬
haupt in den Werken. Ausschließlich in
der Zuversicht zu Gottes gnädigem Wil¬
len, in dem freudigen Mute gegenüber
allen finstern Mächten, in der Demut, in
der Geduld und in der dienenden Liebe
ist sie zu finden. An Stelle der Kom¬
bination von mönchischer Weltflucht
und Gehorsamsleistung einerseits und
kirchlich-politischer Weltherrschaft an¬
dererseits entwickelte er aus dem Glau¬
ben heraus die größere Aufgabe,
innerhalb der Ordnungen des natür¬
lichen Lebens in jenen Tugenden
den Glauben zu bewähren. Der pes¬
simistische Zug gegenüber der Welt,
der sich dabei bei ihm zeigt, darf nicht
überschätzt w r erden, wie es jetzt öfters
geschieht: Gewiß erwartete er von der
Welt und der Menschheit nichts und sah
nur ein „Häuflein“ Christen in ihr; ge¬
wiß war er überzeugt, daß in der Breite
1341
Adolf von Harnack, Die Reformation
1342
der Entwicklung der Teufel sein Spiel
treibt und die Welt sich bei diesem grau¬
sen Spiel dem Ende nähere; unverkenn¬
bar geht ferner ein tiefer Zug von Bit¬
terkeit und Zorn durch seine Seele, wenn
er an die Zustände denkt, wie sie sind,
an diese Sünden-, Teufels- und Todes¬
herrschaft, und endlich predigt er so
scharf wie nur ein Asket, man solle sich
mit der Welt ganz und gar nicht einlas¬
sen, sondern seinen Sinn ausschließlich
auf Gott und die Ewigkeit richten —
aber hinter alledem, was sich teils als
Erbe aus dem Mittelalter bei ihm erklärt,
teils aus der Tiefe seiner Anlage floß,
lag groß und stark die Zuversicht, die
mit dem Bekenntnis begingt: „Ein’ feste
*Burg ist unser Gott“, und mit dem Be¬
kenntnis schließt: „Das Reich muß uns
doch bleiben.“ Aus dieser Zuversicht zu
Gott und seinem Reiche heraus floß ihm
die Anerkennung und Freude in bezug
auf Gottes Ordnungen in derWelt und der
frohe Mut, sich als Gottes Mitarbeiter in
ihnen zu betätigen. Er fand und sah
Gott überall in der Welt trotz aller Teu¬
feleien und verstand es, sich an seinen
Werken im Großen und Kleinen zu ent¬
zücken. Und so ist es doch e r gewesen,
welcher eine neue, unbefangene Stel¬
lung zur Welt begründet und in Wahr¬
heit die negative Askese abgetan hat. Er¬
schütternd weiß er von dem täglichen
Kampfe mit der Sünde zu sprechen —
wer das übersieht, der kennt ihn nicht
— und ist doch friedvoll; voll Sehnsucht
blickt er auf die Ewigkeit und das Jen¬
seits aus und steht doch fest in sei¬
nem Berufe auf dieser Erde und hat die¬
sem Berufe für sich und für alle ande¬
ren erst einen Sinn gegeben.
In der Heilslehre, in der Lehre von
der Kirche, in der Lehre von der christ¬
lichen Vollkommenheit und in der Ab¬
schaffung des Priestertums sind die fun¬
damentalen Abweichungen von der ka¬
tholischen Kirchenlehre und die großen
religiösen Neubildungen enthalten. Die
neue Heilslehre war ihm schon voll¬
kommen aufgegangen, als er seine The¬
sen anschlug, und sie steckt bereits rest¬
los in der ersten These, wenn man sie
richtig versteht („Da unser Herr und
Meister Jesus Christus sprach: ,Tut Bu¬
ße 4 , wollte er, daß das ganze Leben der
Gläubigen Buße sei“); denn diese ist eine
verstiegene Phrase, wenn man ihr nicht
den Glaubens- und Heilsbegriff Luthers
zugrunde legt. Die religiöse Lehre von
der Kirche ist zwei bis drei Jahre spä¬
ter von ihm erreicht worden, um dieselbe
Zeit, da er in dem Sermon von den gu¬
ten Werken alle Konsequenzen der Er¬
kenntnis vom Glauben für die „Werke“
zog.
Die das Kirchentum und die Weltge¬
schichte erschütternden Sätze von der
angemaßten Würde des Priester- und
Papsttums und von der Fehlbarkeit der
Konzilien ergaben sich — man darf sa¬
gen : erst zur schmerzlichen Überra¬
schung, dann zum grimmen Erstaunen
Luthers — nun von selbst. Die schweren
Fragen aber, die sich an die Herstellung
bzw. Gestaltung einer sichtbaren Kirche
anknüpfen, rücken erst etwas später in
den Gesichtskreis Luthers; er hat auch,
hier originell, genial und richtig gesehen,
aber in seinem eigentlichen Elemente
war er bei Behandlung dieser Fragen
nicht.
Die Lehre von der christlichen Voll¬
kommenheit hat gegenüber dem Mönch¬
tum auf der Wartburg eine besondere
Förderung erfahren; aber auch sie war
vorher schon erreicht, wie der Trak¬
tat von der Freiheit eines Christen¬
menschen zeigt; nur die Klarheit über
den speziellen Punkt der „Gelübde“
fehlte noch.
In und mit der Lehre vom Glauben,
von der Kirche und von den Werken
1343
Adolf von Harnack, Die Reformation
1344
und der Vollkommenheit hat Luther
noch Außerordentliches in der Reini¬
gung des Christentums geleistet. Nur
folgende Hauptpunkte seien hervorge-
hoben:
Er hat die katholische Sakraments¬
lehre, vor allem in der Schrift „Von der
babylonischen Gefangenschaft der Kir¬
che“, in Trümmer geschlagen, nicht nur
die sieben Sakramente. Durch die drei
Sätze: 1. Die Sakramente dienen der
Sündenvergebung und nichts anderem;
2 . sie wirken nicht durch ihren bloßen
Vollzug, sondern nur durch den Glau¬
ben; 3. sie sind eine eigentümliche Dar¬
bietung des seligmachenden Wortes
Gottes und haben lediglich von ihnen
ihre Kraft — verwandelte er die sakra¬
mentalen Elemente (Wasser, Brot, Wein)
in bloße „Sakramentalien“ und erkannte
in ihnen nur e i n wirkliches Sakrament
an, nämlich das sündenvergebende Wort
Gottes. Am einschneidendsten war seine
neue Behandlung des Bußsakraments auf
Grund der schärfsten Kritik an dem ka¬
tholischen Bußsakrament.
Er hat das ganze hierarchische und
priesterliche Kirchensystem umgestürzt
und ihm das allgemeine Priestertum und
den Dienst am Wort entgegengestellt,
der Kirche jede Jurisdiktionsgewalt über
die Anwendung der „Schlüssel“ (Sün¬
denvergeben und -behalten) hinaus ab-
gesprochen, die bischöfliche Sukzes¬
sion für eine Fiktion erklärt und die
Geistlichen einfach in die Berufsstände
der Christenheit gleichwertig eingereiht.
Damit hat er nicht nur die mittelalter¬
liche Kirchenordnung, sondern auch die
altkatholische aufgelöst.
Er hat die überlieferte Kultusordnung
nach Form, Zweck, Inhalt und Bedeu¬
tung so revidiert, daß ein vollkommen
Neues entstand, trotz der Anlehnung an
manche alte Ordnungen und Stücke. Er
wollte von einem spezifischen und meri-
torischen Gottesdienst und besonderen
Opfern nichts mehr wissen. Die Opfer¬
idee hat er überhaupt, im Hinblick auf
das einmalige Opfer Christi und auf das
Unstatthafte der „Werke*, ganz zurQck-
geschoben, soweit sie nicht Darbringung
des eigenen Herzens ist. Der Gottes¬
dienst kann und soll nichts anderes sein
als die Einheit der Gottesverehrung der
einzelnen nach Zeit und Raum. Wer ihm
einen besondern Wert beilegt, um auf
Gott einzuwirken, der sündigt Um Er¬
bauung des Glaubens durch Verkündi¬
gung des göttlichen Wortes und gemein¬
sames Lobopfer des Gebets handelt es
sich allein — vor allem zur Stärkung des
noch schwachen Bruders und der Erzie¬
hung der Jugend. Der wahre Gottes*
dienst ist das christliche Leben im Ver- i
trauen auf Gott, in Buße und Glauben,
in Demut und Treue im Beruf. Diesem
Gottesdienst hat der öffentliche zu die¬
nen. Auch hier hat Luther nicht nur die
Kirche des Mittelalters, sondern auch die
alte zerschlagen.
Er hat die formalen äußeren Autoritä¬
ten in Religion und Kirche abgetan: die
Sache und die Autorität sollen sich
decken. Weil ihm der gepredigte Christus
(Gott in Christus, Wort Gottes) die Sache
und die Autorität war, so lehnte er die
heteronomen Autoritäten sämtlich ab.
Selbst vor dem Bibelbucbstaben machte
er nicht halt, wenn es ihm klar wurde,
daß er mit dem „Worte Gottes“ unver¬
einbarist. Eben in derzeit, in weicherer
die Autorität der Überlieferung, der
Päpste und Konzilien bekämpfte, setzte j
er das, was Christum treibt, einzelnen
Bibelstellen entgegen und scheute sich
nicht, von Irrtümern biblischer Schrift¬
steller in Glaubenssachen offen zu
reden. Nichts Neues war es, wenn er sich
neben der Heiligen Schrift (dem Worte I
Gottes) auch auf helle Gründe (also auf
den Verstand) berief; aber er führte ,
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Original frurn
INDIANA UNfVERSITY
1345
Adolf von Ffarnvck, Die Reformation
dabei keine doppelte Rechnung wie die
Scholastiker, vielmehr wo er sich auf
Ihn berufen zu müssen glaubte — abge¬
feimt und geschmäht hat erden Verstand,
der sich dem Pelagianismus und der
Wunderscheu entgegenstellte —, da tat
eres im Sinn einer eindeutigen und voll*
gültigen Entscheidung. Aber auch auf
das Gewissen hat er sich berufen —
vor allem in der großen Stunde zu
Worms — und diesem, obwohl er das ir¬
rende Gewissen kannte, sein volles Recht
gegeben gegenüber jener kirchlichen
Vergewaltigung, die im Namen Gottes
das Gewissen unter die Lehren der Kir¬
che beugte. Luther hat auch damit eine
neue 2eit begründet, daß er das Gew»'
ften für unantastbar erklärte. Lieber
wollte er sehen, daß einer mit seinem
irrenden Gewissen zur Hölle fahre, als
daß man ihn zur Unterwerfung zwinge.
Die überlieferte Trinitätslehre und
Christologie hat Luther nicht angetastet,
auch nicht das Knochengerüst der
kirchlichen Dogmatik; aber er hat.das
Alte doch auch in systematische r Hinsicht
mit neuem Geist erfüllt und an wichtigen
Punkten auch die Terminologie bean¬
standet. Auf Heilsgewißheit und
auf Vereinfachung und Zusam-
menschau kam es ihm an, und von
hier aus hat er dem Dogmatiker sehr
wichtige Fingerzeige gegeben, ohne
selbst einen starken Trieb nach syste¬
matischem Aufbau zu empfinden. In
jedem Hauptteil der Lehre das Ganze
zu erkennen — so ist ihm bereits das
Lehrstück von Gottes Vorsehung, recht
verstanden, das ganze Christentum —,
jede Einzellehre in den festesten Zusam¬
menhang mit dem Hauptzweck zu setzen,
d. h. überall Gottes Gnade und Trost
anderseits aber die Gebundenheit des
natürlichen Menschen zu erkennen und
die Zuversicht zu Gott zu stärken: das
war sein Hauptanliegen als Theologe.
Internationale Monatsschrift
1346
So stellte er in Wahrheit in der Trini¬
tät» lehre die spekulativen Bestandteile
zurück und sah in dem dreieinigen Gott
den Gott des Heils, und in bezug auf
Christus konnte er schreiben: „Christus
ist nicht darum Christus genannt, daß
er zwei Naturen hat, sondern er tragt
diesen herrlichen und tröstlichen' Namen
von dem Amt und Werk, so er auf sich
genommen hat.“ Daß die dogmatische
Terminologie durchgreifend zu korrigie¬
ren sei, hat er deutlich empfunden, ist
aber über wertvolle Ansätze nicht hin-
weggekommen und glaubte sie schlie߬
lich den Gegnern „nachsehen“ zu müs¬
sen. An den Terminis „Kirche“, „Sakra¬
ment“, „iustificatio, sanctxficatio, vivifi-
catio“, „homousios“, „trinitas und uni-
tas“ hat er gerüttelt, wenn er sie schlie߬
lich auch bestehen ließ.
Niemals hat in der Geschichte der Re¬
ligion und des Geistes ein anderer Epi¬
gone — und Epigone war auch Luther,
nämlich des Paulus — so vieles auch im
Ausbau der Gedanken und der neuen
Ordnungen geleistet wie Luther. Bereits
diese Übersicht wird das bewiesen ha¬
ben. Sie hat aber auch gezeigt, was al¬
lein die Wurzel und Triebkraft seiner
ganzen Reformation gewesen ist, und
damit die Betrachtungen über die „Vor¬
reformation“ (s. oben Abschnitt 2) ge¬
rechtfertigt: Der Gegensatz „Au¬
gustin— Pelagius“ist erst durch
Luthers Reformation zum Aus-
trag gekommen; letztlich hat es
sich in ihr nur um ihn gehandelt,
und der Kampf gegen die alte
Kirche ist lediglich von hier aus
zu verstehen.
Die Antworten auf die beiden Fragen,
die sich nun erheben, was Luther vom
Alten zu Unrecht noch festgehalten und
ob er umgekehrt nicht zu viel niederge-
rissen und für alles, was er aufgelöst,
auch volle Entschädigung gebracht hat,
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Original frnm
INDIANA UNfVERSITY
1347
Adolf von Harnack, Die Reformation
1348
sollen in unsrer festlichen Betrachtung
nicht in ausführlichen Erwägungen ge¬
geben werden; sie mögen bei einer an¬
deren Gelegenheit zu ihrem vollen Recht
kommen. Doch sei wenigstens angedeu¬
tet, um was es sich hier handelt Ich
versuche es unter Hinweis auf meine
Darlegungen in der „Dogmengeschichte“
(Bd. 3 4 S. 863 ff.) und auf meinen Auf¬
satz: „Was wir von der römischen Kir¬
che lernen und nicht lernen sollen“ (Re¬
den und Aufsätze Bd. 2 S. 247 ff.):
1. Luther hat die bei den großen überlie¬
ferten Voraussetzungen der Anschauung
über Gott, Welt, Geschichte und Reli¬
gion—das vorkopernikanische Weltbild
und das mit der Lehre vom Sündenfall
und der Erbsünde gegebene Geschichts¬
bild, sowie die aus letzterem fließende
pessimistisch-eschatologische Stimmung
—, dazu den Glauben an die Notwendig¬
keit und Wirklichkeit einer durch äußere
Eingriffe Gottes sich vollziehenden
Heilsgeschichte (samt dem stärksten
Wunder-, Teufels- und Hexenglauben)
als selbstverständlich festgehalten. So
war und blieb er als Denker ein mittel¬
alterlicher Mensch und hat das Neue,
welches er besaß, in die alten Schläuche
gießen müssen.
Dazu kam, daß die Kritik noch nicht
so weit vorgeschritten war, um über das
Verhältnis der alten Kirche zu Paulus
und dieses Apostels zum Evangelium
Jesu klare Erkenntnisse zu ermöglichen.
Ferner: Da sich die alte griechische
Kirche in ihrer Dogmatik viel weni¬
ger mit den „Werken" befaßt hatte als
mit dem, was Gott durch Christus ge¬
tan hat, und da der Papst in jener Zeit
eine geringe Rolle spielte, so fühlte sich
Luther gegenüber dem Mittelalter der
alten Kirche verwandt sah in ihren dog¬
matischen Hervorbringungen ausschlie߬
lich Zeugnisse für den in Christus gnädi¬
gen Gott und die Sündenvergebung und
übersah das Trennende. So kam es» daß
er trotz guter Kritik im einzelnen —
namentlich in seiner Schrift „Von den
Konziiiis und Kirchen“ und in den Be¬
merkungen gegen Hieronymus — die
dogmatische Arbeit der griechischen
Kirchenväter als wesentlich zutreffende
Darlegung des evangelischen Glaubens
anerkannte.
Die hiermit bezeichneten Schranken
seiner Erkenntnis und Lehre waren fast
unvermeidliche, wenn auch in bezug auf
die Trinitätslehre und Christologie in
seinem Zeitalter bereits kühnere Er¬
kenntnisse hervorzutreten begannen.
Aber es waren in seiner Eigenart außer¬
dem noch Schranken gegeben, die kei¬
neswegs „unvermeidlich“ waren. Die
empfindlichste war, daß er nahezu unfä¬
hig gewesen ist, bei Gegnern die Wahr
heit, die sie vertraten, anzuerkennen und
dazu noch von einem argwöhnischen
Mißtrauen gegen ihre Personen erfüllt
war. Man hebt gewöhnlich nur sein bö¬
ses Schmähen und Schimpfen hervor
und die Robustheit und Rustizität sei¬
ner Angriffe, sowohl gegen seine Feinde
als gegen die feinen Bauten, welche ro¬
manischer Geist und Klugheit gezimmert
hatten. Aber das ist das geringere ge¬
genüber der trotzigen Verhärtung, die
er allem entgegensetzte, was von sei¬
ten seiner Feinde kam, und sein Feind
konnte man leicht werden. Gewiß diente
ihm zur Entschuldigung, daß er aus un¬
reinen Händen überhaupt nichts emp¬
fangen wollte und daß er einem schlech¬
ten Baum keine guten Früchte zutraute.
Aber bei so manchem Gegner traf weder
das eine noch das andere zu, und na¬
mentlich im Kampf mit den „Schwär¬
mern“ und in seinem Urteil über Zwingli
hat er schwere Ungerechtigkeiten began¬
gen und seine Sache dauernd geschädigt
Zwar wirkte im Kampfe gegen sie auch
sein intuitiver Blick für deutsche ES-
Original from
INDIANA UNIVERSITY
1349
Adolf von Harnack, Die Reformation
1350
genart und für die besonderen Gefahren,
die den Deutschen drohen („Rotte'
reien“), dazu sein treffendes Urteil dar¬
über, was die Stunde verlangt und was
der nächste Schritt gebietet, mit;
aber das alles entlastet ihn nur zum Teil.
Er hat Fortschritte gehemmt, die sich
schon damals zu entwickeln begannen.
Daneben kommen Widersprüche in
Betracht, die bei ihm teils in dem Man¬
gel systematischen Denkens, teils in der
Anhänglichkeit an die Überlieferung,
teils in seinem Trotze begründet sind.
Er hat den Begriff der „reinen Lehre“
in einer Unklarheit gelassen und so
eine Verwirrung von „evangelium“ und
„doctrina evangelii“ hinterlassen, trotz
der zahllosen Stellen, in denen er den
rein religiösen Begriff des Evangeliums
formuliert; daher sind nicht seine Epi¬
gonen allein an der lutherischen Scho¬
lastik schuld. Er hat die Größen „Wort
Gottes“ und „Heilige Schrift“ teils aus-
einandergehalten, teils identifiziert und
wider seine bessere Erkenntnis im ein¬
zelnen häufig doch einer buchstäblichen
Schätzung der Heiligen Schrift und ihrer
äußeren Autorität Raum gegeben. Er hat
ebenso in der Sakramentslehre nicht die
letzten Konsequenzen gezogen, sie viel¬
mehr seinen Anhängern mit schweren
katholischen Belastungen überliefert
und speziell in der Abendmahlslehre, in
nominalistische Spekulationen zurück¬
fallend, eine Formulierung verteidigt,
die nicht nur an sich unerträglich war,
sondern auch auf andre Lehrstücke ver¬
hängnisvoll einwirkte und die wieder
heraufziehende Scholastik verstärkte.
Überall kann man hier und bei anderen
großen Widersprüchen, die ich beiseite
lasse, mit vollem Recht gegen Luther
an Luthe rappeliieren; aber an den ge¬
brochenen Wirkungen, die dr gehabt,
läßt sich dadurch nichts ändern. Wahr¬
haft groß und über die Jahrhunderte ra¬
gend bleibt er eben nur, wenn er das re¬
ligiöse Erlebnis ausspricht, welches seine
ganze Persönlichkeit zu dem gemacht
hat, was sie war, und wenn er die Kon¬
sequenzen zu Mut, Kraft und Trost aus
ihm zieht. Dies zu tun — in unver¬
gleichlicher und herrlicher Weise — da¬
zu ist er bis zum Ende seines Lebens fä¬
hig gewesen, wenn er es auch später
nicht mehr in der Fülle vermocht hat
wie im Jahre 1530 auf der Feste zu Ko-
burg. Das aber entschädigt reichlich für
alle Beschränktheiten und Widersprüche.
2. Hat Luther umgekehrt zu viel nie¬
dergerissen und hat er dasAufgelöstevolI
ersetzt? Eine Doppelfrage, die die tief¬
ste geschichtliche Einsicht und das ge¬
schärfteste Urteil verlangt! Andeutun¬
gen, wie sie hier allein gegeben werden
können, müssen unbefriedigend bleiben;
dennoch seien sie gewagt.
Die Auflösung des ganzen Kirchen -
wesens war eine Notwendigkeit, da Me-
lanchthons Meinung, man könne den
Papst gelten lassen, wenn er das Evan¬
gelium anerkenne, ein Traum war und
ist. Mit der radikalen Auflösung fie¬
len aber auch Stücke des Kirchenwe¬
sens dahin, die wertvoll und
doch nicht zu ersetzen waren — ich
rechne dazu das Bischofsamt —; vor al¬
lem aber fiel die Selbständigkeit der
Kirche dahin. Kann man Luther hier
eine Schuld geben oder trifft die Schuld
andere oder niemanden? Vielleicht war
Luther zu vorsichtig in bezug auf das
Unternehmen, selbständige Gemeinden
und einen selbständigen Verband sol¬
cher zu begründen; aber vielleicht war
er in seiner Zeit im Rechte, gerade so zu
handeln, wie er hier und daher auch in
Beziehung auf Fürsten und Obrigkeit ge¬
handelt hat. Er kannte seine Deutschen
und speziell die Sachsen und Branden¬
burger! Eine Entscheidung wage ich
nicht zu geben.
43*
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Original from
INDIANA UNIVERSITY
1WI
Adolf von Harnack, Die Reformation
DaB man eine Kirche, die 1500 Jahre
all wan einen großen Teil Europas um¬
spannte und sich als „Christenheit" emp¬
fand, mindestens zunächst nicht „erset¬
zen“ kann, sollte sich von selbst ver¬
stehen. Aber daB Luther für seine Auf¬
fassung der „Christenheit“, die ihm
doch eben so ah wie die römische
Kirehe, ja älter war, so wenig Verständ¬
nis fand, ja daB der Sinn für die eine
große Christenheit in den lutherischen
Kirchen fast ganz unterging und bis
heule nahezu fehlt — vielleicht der
traurigste Mangel im deutschen Pro¬
testantismus, an dem er sterben kann —,
Ist das nicht Luthers Schuld? Man wird
ihn hier von der Mitverantwortung nicht
freisprechen können. Er hat zu wenig
dafür getan, um durch eine engere Ver¬
bindung der „Landeskirchen" den Sinn
dafür zu erwecken, bzw. aus der alten
Kirche zu übertragen, daß es auf eine
große und weite Gemeinschaft an¬
kommt Auch diese ist natürlich so we¬
nig die Kirche des dritten Artikels wie
die kleine Landeskirche, aber sie fördert
das Verständnis für jene; denn dem
idealen Gedanken steht eine weite und
große Kirchengemeinschaft doch näher
als eine kleine Landeskirche, in der sehr
bald die kirchlichen Interessen mit den
politischen und gesellschaftlichen zu-
sammenfließen, um dann in ihnen zu er¬
loschen. Im deutschen Protestantismus
ist hier ein schweres religiöses Manko
entstanden: die Kirchenflucht in allen
Schichten ist eine natürliche Folge des¬
selben, und wenn auch niemals jene Art
von Kirchlichkeit im Protestantismus er¬
wünscht ist« die aufrechterhalten wird,
weil' sie als „verdienstlich" insinuiert
wird, so zeigen doch z. B. die kalvini-
schen Kirchen, daß es hier ein Mittleres
gibt. Alles Kirchliche ist im Leben des
deutschen Laien-Protestantismus so
sehr zurückgedrängt, daß man es be¬
reits als eine Anmaßung empfindet,
wenn sich die Kirche überhaupt nnr
selbständig regt und daß es wider den
guten Ton verstößt, von ihr in der Ge¬
sellschaft zu sprechen. Vor allem aber:
der Sinn für eine allgemeine und wirk¬
same Verbrüderung der Menschen durch
das Evangelium und das Streben nach
Verwirklichung des Gedankens: »Ein
Hirt und eine Herde“, ist seit der Tren¬
nung vom Katholizismus im Protestan¬
tismus sehr schwach geworden. Der
ernste Katholik empfindet den Segen
einer großen christlichen Gemeinschaft
lebendiger, die Spaltung der Christen¬
heit schmerzlicher und die Aufgabe der
Vereinigung brennender. Es gibt bei uns
viele, die nicht nur die Trennung der
Konfessionen sozusagen für normal hal¬
ten, sondern auch die Zerklüftung der
christlichen Völker. Aber — ich darf die
Worte wiederholen, die ich vor 36 Jah¬
ren geschrieben habe und die heute nö¬
tiger sind als je — der große Gedanke
der allgemeinen durch das Christentum
herbeizuführenden Einheit der Völker
wird durch andere Ideale nicht ersetzt
Wir freuen uns, wenn in dieser Welt
der materiellen Interessen ein edler Pa¬
triotismus gepflegt wird. Aber wie arm¬
selig ist doch der Mensch, der im ftj-
triotismus sein höchstes Ideal erkennt
oder im Staat die Zusammen Fassung al¬
ler Güter verehrt! Weich ein Rückfali,
nachdem wir in dieser Welt Jesus Chri¬
stus erlebt haben! Wir sollen daher
mit aller Kraft die christliche Einheit-der
Menschen erstreben, und in unseren klei¬
nen Kreisen aufgeschlossen und weit¬
herzig sein, um fähig zu werden, daran
zu glauben, daß die brüderliche Einheit
der Menschheit kein Traum der Träu¬
mer ist, sondern ein vom Evangelium
unabtrennbares Ziel Daß wir hier so
stumpf geworden sind, ist u. a. aueh eine
Folge unserer Trennung. Diese Tren-
Original frnm
INDIANA UNtVERSITY
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Google
1353
♦
Adolf von Harnack, Die Reformation
nutig war notwendig; aber nur ein ganz
kurzsichtiger Protestant kann verkenne«,
daß sie nicht nur unsem GegnernScha-
den gebracht hat, sondern auch uns.
Mit dem öffentlichen Gottesdienst
steht es ähnlich wie mit dem Kirchen-
wesen. Die Messe mußte abgetan wer¬
den und keine Art von meritorischem
Gottesdienst durfte an die Stelle treten.
Aber in psychologisch-religiöser Hin¬
sicht genügte nicht, was Luther darbot,
so ausgezeichnet sonst seine Gottes¬
dienstordnung ist Das Moment der
Feierlichkeit und der stillen gemeinsa¬
men Anbetung, in der jede subjektive
religiöse Stimmung ihre Anregung fin¬
det und sich dabei von der Gemeinschaft
der Gläubigen getragen weiß, tritt zu
sehr zurück und findet keine Fürsorge.
Und weiter, auch vom Opfergedanken
darf man sagen, daß er zu radikal ent¬
fernt worden ist. Audi hier hat sich das
Bessere als der Feind des Guten erwie¬
sen, weil der „reine“ Glaubensgedanke
keine genügende Rücksicht auf das
psychologisch-pädagogische Moment
nimmt, welches im Opfergedanken liegt.
Durch eine gewisse abstrakte Strenge,
das Höchste zu fordern oder nichts, ent¬
gleiten die Seelen der religiösen Füh¬
rung. Da der Mensch im Leben des Ta¬
ges nicht deutlich in den großen Kon¬
trasten, sondern in dem Widerspiel ab¬
gestufter Stimmungen und Motive lebt,
so kann im Sittlichen kein anderes
Schema das des Opfers ersetzen. Man
muß Opfer bringen, wenn man Ideale
hat und geistige Güter erwerben und
festhalt«« will. Der Mensch hat nur so
viele Ideale, als er Opfer bringt. Es wird
bei uns zu wenig Entsagung verlangt,
und zu selten hört man die eindring¬
liche Mahnung an unser Geschlecht,
daß es opferscheu ist und deshalb
lau, mutlos und charakterlos. Das Wort
„OpfeP‘ hat fast einen so schlimmen
m
Klang wie das Wort „Tugend“. Damm
ist die ganz auf den Glauben gerichtete
Eigenart Luthers, die sich praktisch in
einem gewissen Doktrinarismus nieder-
schlagen mußte, nicht ohne Schuld. Frei¬
lich kann man sich an diesem Punkt Lu¬
ther nicht anders wünschen, als er war.
Aber wenn die heroische Eigenart gro¬
ßer Männer als Vorbild und Influenz auf
die kleineren übergeht, entsteht oft et¬
was Ungenügendes oder ein Manko. —
Nicht schuld ist Luther daran, daß die
Übung des mündlichen Bekennens und
der offenen Aussprache von Verfehlun¬
gen im Protestantismus kaum noch von
den Kindern verlangt wird, hat doch
kaum jemand so stark wie er, trotz Ab¬
lehnung der obligatorischen Ohren¬
beichte, die befreiende Kraft und die
vorbeugende Wirkung des offenen
Schuldbekenntnisses und der beichtvä-
terlichen Beratung von Bruder zu Bru¬
der verkündet. Aber so, wie er die Hilfs¬
mittel des gemeinschaftlichen religiös-
sittlichen Lebens geordnet hat und vor
jeder Reglementierung sich scheute, die
in das innere Leben einzugreifen schien,
mußte sich bald die Lücke einsteilen, die
hier zu beklagen ist. Wohl wird noch im
Protestantismus gebeichtet, aber in der
Regel nur, wenn es schon zu spät ist; für
die prophylaktische Übung der Beichte
besteht keine Tradition und kein anlok-
kender Anhaltspunkt.
Endlich — das Mönchtum mußte ab¬
getan werden. Wer aus der Geschichte
den Jammer der obligatorischen Gelüb¬
de, der erzwungenen „Religion“ und der
befleckten Gewissen kennt, wird nicht
aufhören, die befreiende Tat Luthers an
diesem Punkte zu preisen. Aber blickt
man andrerseits auf das, was die Klöster
und die Mönche geleistet haben, so kann
man das Urteil nicht unterdrücken, daß
hier au viel geschehen ist und daß die
Aufhebung der obligatorischen Ge-
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1355
Adolf von Harnack, Die Reformation
lübde einen besonderen Stand in der Kir¬
che nicht aufzuheben brauchte, der sich
von Berufs wegen von der Welt zurück¬
zieht, um in dienender Liebe zu helfen,
zu heilen und den Brüdern und dem gan¬
zen christlich-sozialen Körper Gesund¬
heit des Leibes und der Seele zu gewin¬
nen. Die christliche Gemeinde kann
einen solchen Dienst nicht entbehren und
muß ihn sich daher schaffen; aber Lu¬
ther hat es — wieder in jenem Idealis¬
mus, der jedem einzelnen Christen das
Höchste und Beste als Aufgabe zumu¬
tete — unterlassen, in seiner Gemeinde¬
bildung dem Mönchtum ohne obligato¬
rische Gelübde Raum und eine feste
Stelle zu geben. Und noch etwas anderes
fiel damit fort — die Zufluchtsorte für
solche, die im Sturm des Lebens Schiff¬
bruch erlitten haben, sich in der großen
Welt nicht mehr zu halten vermögen,
aber im Kloster nicht nur Unterkunft
und Halt gewinnen, sondern auch durch
besondere Dienstleistungen wieder wert¬
volle Glieder des Gemeinwesens werden
können.
In den vorstehenden Andeutungen ist
auch die Frage zum Teil beantwortet,
was uns die Reformation gekostet hat.
Daß man in der Geschichte — die, je
befreiender sie eingreift, um so einseiti¬
ger verfährt — nichts umsonst erhält,
das bezeugt auch Luthers Werk. Die Ko¬
sten waren groß, und wir tragen noch
an ihnen. Im Hinblick auf sie muß man
ein religiöses Existenzrecht der katho¬
lischen Kirche anerkennen und ist außer¬
stande, Luthers Urteil und Kampfes¬
weise noch fortzusetzen, ja man darf und
muß bekennen, daß die unter uns beste¬
hende Spannung zwischen beiden Kir¬
chen und ihr Wirken auf demselben
Boden für beide Teile auch Gutes und
Förderung bedeutet — aber das vermag
nicht im geringsten den unauslöschli¬
chen und freudigen Dank zu schmälern,
den wir Luther schulden. Er hat ca
Wirklichkeits- und Wahrheitssinn in dq
Religion erweckt, den wir als höchst
Gut preisen, gegenüber jener Scheu, oe
Wirklichkeit ins Auge zu sehen und
lern zuvor der Wahrheit die Ehre zu gt
ben, von der wir den Katholizismus nick
loszusprechen vermögen. Wir wiss*
sehr wohl, welche respektvollen Rück
sichten und welche Sorgen für das Gc(
samtwohl ihn hindern, die Wahrheit
frage über alles zu stellen, wir wissd
auch, daß der faszinierende Eindruck da
Autorität der heiligen Mutterkirchehea«
noch hoch gemutete und lautere Geister
wie einst Augustin, gar nicht bis zoi
letzten Wahrheitsfrage kommen läßt)
aber im Hinblick auf das Erlebnis dei
Freiheit — zum Leben in der Wahrhai
— erscheint uns alles Kümmerliche des
Protestantismus gering und erträglich
Und deshalb vermögen wir auch den Vor¬
wurf, die Reformation sei * Säkularisie¬
rung“ der Religion, ruhig hinzunehmea
In gewissem Sinne ist sie das wirklich 1 ),
aber, auf die Hauptsache gesehen, ist sie
vielmehr Vollendung der Religion, in¬
dem sie an die Stelle der extensiven
Absolutheit die intensive gesetzt hat
Von hier aus stellen wir noch einmal
1) S. meinen Aufsatz: »Die Bedeutung
der Reformation innerhalb der allgemeiner
Religionsgeschichte“ in den „Reden und
Aufsätzen“ Bd. 2 S. 295ff: »Die Reformation
bedeutet einen epochemachenden Um¬
schwung in der Religionsgeschichte über¬
haupt; denn Luther hat das, was man bis¬
her für das Wesen der Religion hielt (In¬
spiration, Enthusiasmus, Mystik, Weltflucht
usw.), als vorübergehende oder sekundäre
oder als bedenkliche Erscheinung betrachtet,
und er hat das, was als abgeleitete Wirkung
der Religion galt (Glaube, Gottvertrauen
und Zuversicht zu seiner Weltregierung.
damit Geduld, Treue im Beruf) als ihr We¬
sen beurteilt. Zu den Religionsstiftem darf
er dennoch nicht gerechnet werden, wie
Döllinger wollte, wohl aber ist er unter
allen Reformatoren der größte.
1357
Adolf von Harnack, Die Reformation
1358
die Frage, ob Luther mit seiner Refor¬
mation die Neuzeit begründet hat, mit
der wir oben begonnen haben. Von drei
Erwägungen aus kann sie verneint wer¬
den : Luther sei eine zu partikular
deutsche Erscheinung,um als Begrün¬
der der Neuzeit gelten zu können, ferner
wurzle seine gesamte Lehre in einer Vor¬
stellung von der Sündhaftigkeit der
Menschheit, die wir nicht mehr teilen,
und endlich sei seine „Religion“ und
„Freiheit“ grundsätzlich von der Reli¬
gion und Freiheit verschieden, welche
heute, sei es in der Aufklärung, sei es
im deutschen Idealismus hochgehalten
werden.
Können diese Einwürfe nicht wider¬
legt werden, so ist der Anspruch der
Reformation, die Neuzeit zu begründen,
hinfällig; denn mit solchen Hinweisen,
wie daß die heutigen altgläubigen Pro¬
testanten doch auch zur Neuzeit gehö¬
ren, ja noch immer einen bedeutenden
Einfluß auf sie besitzen, daß die Wert¬
schätzung der Berufsarbeit und zum Teil
auch die bürgerlichen Ordnungen der
Gegenwart auf die Reformation zurück¬
geführt werden müssen, daß die Schöp¬
fung des evangelischen Predigerstandes
die Schöpfung eines sehr wichtigen neuen
Berufsstandes bedeutet usw., ist es na¬
türlich nicht getan.
1.Luther, der Deutsche — gewiß,
er war ganz und gar ein deutscher Mann,
so sehr, daß ihn in der Totalität seines
Wesens niemand aus der Zahl der nicht-
germanischen Völker jemals begriffen
hat. Die „Heimlichkeiten“ seines We¬
sens, die Größe und die Kindlichkeit,
kann nur ein Deutscher nachempfinden
und sich an ihnen erbauen, und nicht
einmal jeder Deutsche — der Protestant
Lagarde hat ihn mit Härte offen ab¬
gelehnt, und wie viele Protestanten tun
es heimlich! Aberdas, was den Kern
seines Wesens bildet, waretwas
Universales, das nachzuerleben
auch ein Nichtdeutscher befähigt ist:
es hat den internationalen Humani¬
sten Melanchthon so erfaßt, daß er
ganz in Luther aufging; es hat den
Franzosen Calvin zum Schüler Lu¬
thers gemacht, und es hat sogar Itali¬
ener ihm zugeführt. Ferner ist zu beden¬
ken, daß man immer nurcumgranosalis
einen Mann den Begründer einer neuen
Epoche nennen kann, da neben ihm stets
eine Fülle von Bedingungen nötig ist,
damit eine neue Zeit entstehe. Man darf
aber mit mehr Recht — wie jeder Unbe¬
fangene zugestehen muß — Luther an
die Spitze der Neuzeit stellen, als ir¬
gendeinen anderen, auch wenn man auf
die westeuropäische Geschichte blickt.
Direkter freilich sind hier Calvin und
die Väter des Independentismus zu nen¬
nen; aber Calvin ist im Hauptstück sei¬
ner Religion Lutheraner, und selbst hin¬
ter der Hugenottischen, niederländi¬
schen, englischen und schottischen „Frei¬
heit“ liegt als eine ihrer Voraussetzun¬
gen die „libertas Christiana“ Luthers.
2. Luthers Auffassung und
Lehre vonSünde und Schuld —
nicht die Ablösung des alten Weltsystems
durch das kopemikanische und newton-
sche, sondern die Auflösung der Vorstel¬
lungen von Adam und Eva, Teufel, Ver¬
stand, Sündenfall usw. bezeichnet die
größte Umwälzung in der Religions-und
Geistesgeschichte. Diese Umwälzung
mit allen ihren Folgen in bezug auf die
Betrachtung der Welt, der Menschheit
und der Geschichte ist in der Tat so
einschneidend, daß diejenigen, so scheint
es, unweigerlich recht haben müssen,
welche behaupten, Luther dürfe schon
deshalb nicht an die Spitze der Neuzeit
gestellt werden, weil er jene Lehren
noch festgehalten hat. Allein bei nähe¬
rer Erwägung zeigt sich hier eine para¬
doxe Beobachtung: Unleugbar ist das
1360
Adolf von Hernack, Die BatornaatttBi
1360
Menschheits- und Geschichtsbild durch
jenen Wandel ein total anderes gewor¬
den — aber nicht dasselbe gilt in be-
zugauf die innere Selbstbeurtei-
lung. Wir besitzen leider noch keine
kritisch-historische Geschichte der Leh¬
ren von dem Bösen und von der Sünde
in der Neuzeit und von den dazugehöri¬
gen soziologischen Erscheinungen — ein
höchst empfindlicher Mangel —; aber
ich wage zu behaupten, ohne auf Kants
Lehre vom radikalen Bösen besonders
•
Rücksicht zu nehmen, daß sich in der
Selbstbeurteilungin bezug auf Gut
und Böse, Verantwortung und Schuld
trotz aller modernen Erkenntnisse (des
Ursprungs der moralischen Empfindun¬
gen usw.) In zarten Seelen und bei hohen
Geistern wenig geändert hat. „Der Obel
größtes ist die Schuld“, hat der Dichter
gesagt, der den kirchlichen Lehren so
fern wie möglich gestanden hat, und
dusch die Fortschritte in der Philosophie
und Geschichtserkenntnis fühlt sich per¬
sönlich kein ernst denkender Mensdi
moralisch entlastet. Er entlastet die
anderen , aber er entlastet sich
nicht selbst. Aber auch die tiefe Stim¬
mung wahrer Demut, die eine Begleiter¬
scheinung der Würde ist, und wiederum
die aktive Zuständlichkeit innerlicher
Bußgesinnung ist ganz unabhängig von
dem. Welt- und Geschichtsbilde. Daher
finden Röm.5—7, Augustins Konfessio¬
nen und Luthers Schuldgefühl auch dort
ein verständnisvolles Echo im Herzen,
wo im Geiste ganz andere theoretische
und geschichtliche Konfessionen herr¬
schen. Ist diese Tatsache, die freilich erst
der Erklärung harrt, richtig, so kann Lu¬
thers theoretische Rückständigkeit, die er
übrigens mit Newton und auch noch
mit bedeutenden Geistern des 19. Jahr¬
hunderts geteilt hat, nicht gegen sein
Recht entscheiden, als der Begründer der
Neuzeit zu gelten. Dabei ist die sich auf-
d rängen de Frage noch gar nicht erörtert,
ob wirklich bei ihm selbst seinEiieben wua
Schuld und Gnade untrennbar an die ok-
kirchliehe und mittelalterliche Lebte von
Adam und Eva, dem Sündenfell usw. ge¬
bunden war.
3. Luthers Freiheitsbegriff —
der Freiheitsbegriff der Aufklärung und
wiederum der des deutschen Idealismus
ist im Vergleich mit dem Luthers eia
anderer, ja man scheint sogar genötigten
sein, sie nur in «men Gegensatz ai mel¬
len ; denn bei Luther ist das Moment «im
Glauben (ein freier Herr aller Dinge)“
das Fundament, das man nicht entfernen
kann, ohne seine Grundanschauung zu
stürzen. Daß dem gegenüber der Frei¬
heitsbegriff Kants und der Aufklärung
etwas ganz anderes will, ja dies Funda¬
ment negiert, darüber bedarf es keiner
Worte. Nur eine üble Sophistik kann
versuchen, hier Verwandtschaft heraus-
zufinden. Allein man muß seinen Augen¬
punkt höher nehmen und darf vor allem
nicht bei einer rein theoretischen Be¬
trachtung stehen bleiben, was deutschen
Forschern immer so nahe liegt Ent¬
scheidend ist: Luther hat zuerst die
innere Freiheit, auf die es an-
kommt, wirklich gebracht; erbat
sie für sich gewonnen, und es ist zu¬
nächst ganz gleichgültig, auf welchem
Wege. Er war wieder der erste wahr- i
haft freie Mensch, und ferner, er hat die
Freiheit zugleich für seine Brüder im
weitesten Sinn gewonnen. Indem er täg¬
lich bereit war, für die Freiheit zu ster¬
ben, Jahre hindurch der Tod über ihm
schwebte und er vor allem auf dem Tage
zu Worms öffentlich das todesbereite
Zeugnis für die Freiheit abgelegt hat
wirkte dieses Zeugnis wie sonst
nur der Tod des Helden selbst
Damit erhielt in der Konstellation der
geschichtlichen Dinge sein Verhahaa je¬
nen Wert der Tat, der die Wirkung ins
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1361
Adolf vß« Uarnack, Die Reformation
1362
Große zum Lohn wird. Entnommen al¬
len Partikulari täten und spekulativen
oder sonstigen Voraussetzungen, wirkte
sie so, wie alles Bedeutende in der Ge¬
schichte wirkt: es zwingt dazu, sich
dem Helden anzuschließen. Damit
fallt die aristokratische Beschränkung,
die sonst den Freiheitsbegriffen anhaf¬
tet, fort: durch Anschluß an den Helden
ist ein königlicher und zugleich allen zu¬
gänglicher Weg eröffnet. Nicht anders
war es im 2. Jahrhundert, als das ju¬
gendliche Christentum die Freiheit und
Herrschaft über die Welt allen Menschen
verkündete. Luther hat gegenüber der
Zaghaftigkeit, dem Kleinmut und der
Freiheitsberaubung durch die Kirche die
Freiheit wieder in die Welt gebracht und
damit den Mut, frei sein zu wollen.
Wenn spater andere dies auf ganz ande¬
rem Wege versucht haben, so ändert das
nichts an der Tatsache, daß er auch für
sie der Bahnbrecher gewesen ist.
Diese Erwägung entscheidet bereits;
aber neben ihr ist darauf hinzuweisen,
woran schon oben erinnert worden, daß
die westeuropaische-kalvinische Frei¬
heit, aus der die sog. bürgerlichen Frei¬
heiten entsprungen sind, in der „libertas
Christiana“ Luthers eine Wurzel hat,
und ferner darauf, daß auch im Frei¬
heitsbegriff eines Hauptzweigs des deut¬
schen Idealismus ein innerer und sach¬
licher Zusammenhang mit Luthers Frei¬
heit deutlich vorliegt. Das ist ganz klar
bei Leibniz, der überhaupt nach dem
Zeitalter der Orthodoxie verdeckteHaupt-
triebe der Reformation erst wieder ent-
wickelt hat, und jener Zusammenhang ist
feiner überall dort gegeben, wo der Frei¬
heitsbegriff in enger Verbindung mit
dem tiefen Gefühl einer Begnadigung
und göttlichen Inspiration auf tritt —
nicht bei Kant und Schiller, wohl
aber bei Goethe in der Epoche seiner
Vollendung, Schelling und den ro¬
mantischen Philosophen und Dichtem.
Und fehlt hier bei einigen die Beziehung
auf Christus, so dürfen wir hoffen, daß
die fontschreitende Eikenntnis dessen,
was wir überall der Geschichte und den
Personen verdanken — wir sind hier
noch in den Anfängen der zutreffenden
Betrachtung —, diese Lücke ergänzen
wird, wenn auch nicht in der Weise der
für immer widerlegten altprotestanti¬
schen Dogmatik. Jene anderen Freiheits¬
begriffe, wie sie ja auch unter sich große
Verschiedenheiten zeigen, sind doch
selbst nichts Abschließendes, sondern an¬
spruchsvolle und doch nur tastende Ver¬
suche, der Wahrheit näherzukommen.
Luther ist der Begründer der neuen
Zeit. Dies nicht nur an seinem Werke,
sondern auch an seiner Persönlich¬
keit nachzuweisen, ist eine Aufgabe, die
außerhalb dieses Aufsatzes liegt; sie
wird sicher gelingen trotz aller der of¬
fenbaren mittelalterlichen Züge, die
sein Bild aufweist. 1 ) Sein Ich hat er der
Welt geboten wie niemand im Mittel-
alter, auch Dante nicht, und doch hat
er sich selbst niemals mit irgendeinem
Werke auf die Bühne gestellt. Fest ist
er seines Wegs gegangen, als habe er al¬
les selbst geplant, und hat doch bekannt:
„Gott hat mich hineingeführt wie einen
Gaul, dem die Augen geblendet sind.“
Hier wie in vielen anderem zeigt er den
Genius, in dem Freiheit und Notwendig¬
keit zusammenfalien.
1) ln dem jüngst erschienenen Werk von
Walther .Luthers Charakter*(Leipzig 1017)
ist uns aus reicher Kenntnis eine geordnete
Sammlung von Charakterzügen Luthers m
dankenswerter Weise geboten — aber eben
nur von Charakterzügen, und auch da ver¬
mißt man so manches, und nicht nur die
Schatten. Auch sonst besitzen wir treffliche
Darstellungen, eine der besten ist die von
Gustav Freytag. Aber die Aufgabe steht
noch aus, Luthers Charakter in der Tiefe und
in der Einheitlichkeit der Züge zu erlassen.
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1363
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
1364
Die Kirche, aus der er stammte, hat
er verlassen müssen, weil sie das Reich
Christi, also die tiefste Gesinnungsge-
meinschjaft, und das Reich des Rechts und
der Macht zugleich sein wollte. Diese
Verbindung hat er als eine unerträgliche
für sich und die Glaubensgenossen, die
er erweckte, gesprengt und eben durch
die Sprengung die neue Zeit begründet,
die da Gesinnung und Macht auseinan-
derhält. Unzweifelhaft hat er damit der
Kultur ein großes pädagogisches Mittel
geraubt und ihre Aufgabe erschwert 1 )
1) Niemand hat das in der Gegenwart
deutlicher erkannt als Fr. Wilh. Foerster.
Er hat das gewußt und die Folgen der
Erschwerung selbst schon erlebt, aber
das hat ih% nicht irre gemacht; denn er
war der sicheren Überzeugung, daß die
Wahrheit und Reinheit in der Be*
trachtung und Ordnung der Dinge und
in der Führung der Seelen auf seiner
Seite standen. Noch hat ihm der Gang
der Geschichte nicht völlig recht gege¬
ben ; aber wer von seinem Gedanken ein¬
mal erfaßt worden ist, der kann ihn nie¬
mals wieder fahren lassen, weil er auf
eine höhere Stufe des Menschentums ge¬
treten ist.
Französische Geistesart und ihre Formen
Von Eduard Wechssler.*)
II.
Diese so umschriebenen Bildungs-
ziele haben die Lebenswertung und
Volkserziehung im alten Frankreich be¬
stimmt, und bestimmen sie trotz der
Revolution und ihrer Folgen im wesent¬
lichen noch heute, auch in dem angeb¬
lich demokratischen, tatsächlich oligarchi-
schen Frankreich. Diese Lebensinhalte
haben sich . darum so lange erhalten,
weil sie nicht gewaltsam anerzogen, son¬
dern aus den geistigen Anlagen der Be¬
völkerung entwickelt worden sind und
durch die Gunst der geschichtlichen Ver¬
hältnisse zu einem dauernden Eigen-
wesen sich gefestigt haben. Wer ver¬
gleichend' auf die anderen romanischen
Völker und Staaien blickt, wird erken¬
nen, daß dort, wo diese inneren und
äußeren Ursachen fehlten, der römische
Hellenismus nicht derart nachwirken
konnte.
Diese Lebensinhalte sind aber mehr
als das: es sind die Glaubenssätze der
•) Siehe Heft 10.
Franzosen. Obschon auf keine ehernen
Tafeln eingegraben, gelten sie doch
für alle Angehörigen der Nation, die
mit Bewußtsein denken und wollen.
Scharf sinnig bemerkt unser Lichtenberg:
.Bei den meisten Menschen gründet sich
der Unglaube in einer Sache auf blinden
Glauben in einer anderen.“ So viele
Glaubenssätze, so viele Schranken
des französischen Denkens und
Urteilens.
Es gibt einen uralten, der ursprüng¬
lichen Menschheit gemeinsamen Volks¬
glauben: den an die Zauberkraft der
Namen und Worte. Götter und Men¬
schen, gute und böse Geister lassen un¬
gern ihre Namen wissen: denn wer die¬
sen kennt, hat Macht über sie und kann
den guten Geist zur Hilfe herbeizwin¬
gen und den Bösen von Schädigung ab¬
halten. 1 )
1) Wilhelm HeitmQller hat auf die
Bedeutung dieses bisher kaum beachteten
Völkerglaubens in größerem und wichtigem
Zusammenhang hingewiesen durch seine
höchst lesenswerte Untersuchung: .Im
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1365
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
1366
Was den alten Völkern gute und böse
Geister waren, das sind den Franzosen
von heute die überlieferten heiligen
Wertbegriffe ihrer nationalen Geistes¬
gemeinschaft. Wunderglaube und Wun¬
derkraft wirken hier aus neuen Formen,
heute wie damals. Der Ablauf der fran¬
zösischen Geschichte wird in manchen
ihrer Wendepunkte erst von "hier aus
verständlich. Man kennt die Zauberge¬
walt der Worte libertö, ögalitö, frater-
nitö: in diesen Zeichen hat die Revolu¬
tion nach innen und außen gesiegt.
Guizot spricht einmal (in einem beson¬
deren Schriftchen vom Jahre 1849) über
ein anderes Wort ähnlicher Art: Le
chaos se Cache sous un mot: Dömo-
cratie . Charles Maurras, der Herausgeber
der Action francaise, sagt von den for¬
males seines Meisters Auguste Comte
(L’Avenir de Tlntelligence S. 104):
m Les plus abstraites en apparence me
touchent dune magn&tique lumiöre. A
demi-voix dans le silence de la nuit il
me semble que je redis des syllabes
sacrees: Ordre et Progrös — Familie,
Patrie, Humanite — LAmour pour prin¬
cipe et VOrdre pour base; le Progrös
pour but — Induire pour d&duire, afin
de construire — Savoir pour prövoir ,
afin de pouruoir.*
Darum enthält dem Franzosen ein
Scheltwort auf den Feind eine Kraft
und Bedeutung, von der wir arglose
Deutsche nichts ahnen. 1 ) Der französische
Staatsmann oder Gelehrte glaubt seinem
triebartigen Haß eine wirksame Folge
zu geben, wenn er uns Boches oder
Alboches oder Archiboches schilt. Wie
harmlos ist dagegen das deutsche Knall¬
max oder Blechkopp! Aber, im Emst
Namen Jesu“. (Göttingen 1903: Bousset und
Gunkel, Forschungen zur Religion und
Literatur des Alten und Neuen Testaments.
1. Band 2. Heft).
1) Das neue und neueste Frankreich
gesprochen, haben nicht diese und an¬
dere Beschimpfungen bei unbefangenen
Gemütern und urteilslosen Köpfen wäh¬
rend dieses Weltkriegs ihre uralte Zau¬
berkraft erwiesen? Hat unser Friedrich
Hebbel unrecht, wenn er davor warnt,
die Macht der Worte zu unterschätzen:
„Ich bin überzeugt, ein Mensch kann
dadurch schlecht werden, daß man ihn
schlecht nennt.“ Jedenfalls wird uns jetzt
das eine klar, daß Victor Hugo nicht
bloß rhetorisches Pathos von sich gab,
als er ausrief (Contemplations I, 7—8):
„Qui dölivre le mot, dölivre la pensöe.
Car le mot, qu’on le Sache, est un et re
vivant .
Out, vous tous, coniprenez que les mots
sont des choses.
So steht es bei Hugo zu lesen, dem
größten Zaubermeister des Wortes, den
Frankreich kennt, und schon darum als
sein größter Dichter gefeiert.
Oui; tout puissant. Tel est le mot. Fou
qui s’en jouef
II est vie, esprit, germe, ouragan, vertu,
feu;
Car le mot, c’est le Verbe, et le Verbe,
_ c’est Dieu. u
schildern u. a.: Hippolyte Ta ine, Vie et
Opinions de M. FrGdöric Thomas Grain-
dorge. Paris, Hachette 1910 17 (zuerst 1867).
— Romain Rolland, La Foire sur la Place.
— Dans la Maison (Jean-Christophe V und
VII; Paris, Ollendorf 1908—9). — Vicomte
d’Avenel, Les Riehes depuis sept Cents
ans. Colin 1909. — Karl Sch eff ler, Paris,
Notizen. Leipzig, Inselverlag 1908. — Oskar
A. H. Schmitz, Was uns Frankreich war.
Sechste Auflage der Französischen Gesell¬
schaftsprobleme (Das Land der Wirklich¬
keit). München, Georg Müller 1914; geschrie¬
ben zuerst 1906. — Karl Hillebrand,
Frankreich und die Franzosen. Straßburg
1886* (Zeiten, Völker und Menschen 1. Bd.).
Als Buch zuerst 1873. — Joseph Henges-
bach, Frankreich in seinem Gesellschafts¬
und Staatsleben. Jena, Diederichs 1915
(Tat-Flugschriften 8). — A. Lien [und Franz
Oppenheimer], Das Märchen von der fran¬
zösischen Kultur. Berlin, Karl Curtius[1915].—
Nostra-Damus, Die Franzosen wie sie sind.
Gegenwart und Zukunft. Freiburg i. Br. 1916.
1367
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
Dagegen unser Goethe läßt den Dok-
tor Faustus vor de« Neuen Testament
sitzen und sprechen:
.Geschrieben steht: ,Im Anfang war das
Wort/
Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir wei¬
ter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich
schützen,
ich muß es anders abersetzen.
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet
bin. . . .
Mir hilft der Geist! Aaf einmal seh’ ich
Rat
Und schreibe getrost: ,1m Anfang war
die Tat/“
Und es ergibt eine reizvolle ironische
Beleuchtung, wenn A. France den Prä¬
fekten Worms-Clavelin sagen läßt
(Mannequin d’osier S. 182): „// faut dire
qu’on marche, ne füi-ce que pour se
dispenser de mar eher. ,Mardions ! mar -
chons!‘ Ce que la Marseillaise a dü
servir ä ne pas aller ä la fronti&re!“...
Ernsthafter hat es Bazalgette beklagt
(inferioritö S. 249), daß in Frankreich so
oft das Wort die Tat femhalte, statt sie
herbeizurufen: „La Revolution a tri-
omphä dans les constitutione, les for-
mules, les dderets et les discours, dchoud
finalement dans les rdallsattons. L’d-
norme sacriflce consommd, il n’est restd
que des Souvenirs et des mots.“
Dürfen wir hier daran erinnern, daß
die erste große Kriegsanleihe in Frank¬
reich Siegesanleihe genannt worden ist,
und daß erst kürzlich (April 1917) bei
den Versuchen, an der Aisne durchzu¬
brechen, eine große Reservearmee auf¬
trat, die den stolzen Namen armde de
poursuite führte?
Auch abgesehen von diesem primi¬
tiven Glauben an die Allmacht der
Worte bedeutet das Vorherrschen der
* Redekunst eine empfindliche Schranke
des französischen Wesens. Als römischer
Nützlichkeitssinn der hellenischen Rhe¬
torik vor der Philosophie den Vorrang
einräumte, da wurde auch schon Aber
das künftige Frankreich das Urteil ge¬
sprochen. Ernest Renan, an deutscher
Philosophie und Wissenschaft gesduilt,
erkannte bereite in seinem Jugend werk
„L’Avenir de la Science“ mit scharfem
Blick die Hemmung, die damit auf die
Geistesarbeit seines Volkes gelegt wor¬
den waf. Strenge Wahrheitsforscbung
und tiefe Welt- und Lebensweisheit
blieben bis zu seiner Zeit einer Höver¬
schaft unterworfen, die anger^t und
unterhalten sein wollte. 1 )
Ebensowenig kann ein Nordländer
eine Vorstellung davon gewinnen, was
dem Franzosen Haltung, Gebärde und
Schaustellung bedeuten. Seine patheti¬
sche attitude erscheint uns, die wir
Natürlichkeit vor allem lieben, als ge¬
machte pose, und sein wohlberechneter,
fein abgestimmter geste als störende
gesticulatlon. Aber oftmals an den Wen¬
depunkten französischer Geschichte und !
in den Zeugnissen französischen Geistes¬
lebens hat dieses beides seine Stelle ge¬
huden und entscheidend gewirkt. So hat
Maurice Barras am Ende seiner Erzäh¬
lung von Colette Baudoche, dem Mäd¬
chen aus Metz, begeistert und begeisternd
ausgerufen: Nous, cependant,acceptons-
nous qu’une vive Image de Metz subisse
les constantes atteintes qui doivent ä
la longue Veffacer? Et sufflra-i-il d
notre immobile Sympathie (fadmirer de
loin un geste qui nous appelle?
Damit vergleiche man in der bekann¬
ten Erklärung der einundsiebzig Fran¬
zosen mittleren Alters gegen den dro¬
henden Krieg (La Paix arm6e S. 6):
„Avant tout nous sommes convaincut
que notre unique devoir est de pdndinr
la rdalitd sans chercher ä l’dcarter cf an
geste ou (tune pkrase“ Aber auch hier
1) Diese und einige andere Äußerungen,
die im Text erwähnt werden, enthält metne
kleine Schrift: «Die Franzosen und wir*.
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INDIANA UNIVERSITY
» 36 »
Eduard Wechasler, Französische Geistesart und ihre Formen
1370
müssen wir fragen, ob wir Deutsche
nicht den Wert einer gut gewählten
Schaustellung bisher unterschätzt haben.
Denn nicht sachlicher Emst und klares
Urteil bestimmen die gegenseitigen Be¬
ziehungen der Völker, sondern das ein¬
drucksfähige Auge und Ohr.
Nächst dem Wortglauben gibt es keine
andere so wirksame Schranke französi¬
scher Geistesverfassung als den ebenso
alten, in immer neuen Formen wieder¬
kehrenden (Hauben an die AHmacht des
Begriffs. Dieser Glaube gefährdet, wie
Alfred FouiHöe freimütig anerkennt, die
Beobachtung so sehr wie die schöpferi¬
sche Einbildungskraft; er hält aber auch,
was schwerer wiegt, den Blick zurück
von dem, was auf immer unbegreiflich
und unbegrifflich bleibt: von den un¬
sichtbaren und unerweislichen Mächten,
die im Gemüt und Weltall wirksam und
wirklich sind. Mitleidig lächelnd oder
ganz verständnislos schaut der Franzose
auf den Deutschen, dessen begriffliches
Denken bescheiden halt macht vor dem
Heiligen und dauernd Rätselvollen, vor
dem Geheimnis. Sein Witz verlacht des
Deutschen Andacht und Ehrfurcht vor
dem, was uns in religiöser Offenbarung,
in der Anschauung des Denkers, im
Gleichnis des Dichters, Gestalt gewinnt.
Sein Witz verlacht das deutsche Hinaus¬
streben ins Metaphysische; genau so wie
der Weltmann Mephistopheles, der un¬
verkennbare Züge des Franzosentums
trägt, den faustischen Erkenntnisdrang
verspottet Sein Witz sträubt sich, im
Menschen- und Völkerleben unlösbare
Widersprüche zuzugeben: noch ein Ro¬
main Rolland nannte in seinem Brief an
Gethart Hauptmann »das Schicksal die
Entschuldigung der Schwachen“. Zwar
hat Victor Hugo auf Jfersey als erster
der groben Franzosen das Unerkannte,
Gestaltlose entdeckt und mit immer
neuen Namen belegt: le-gouffre, tabtm s.
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Finconnu, le mystire. Er hat vor dem
pemer das songer gepriesen und reich¬
lich betätigt. Aber einige aus der
jüngsten Altersgemeinschaft Frankreichs
tadeln ihn wegen seiner germanischen
Seele: nur seine anderen echt franzö¬
sischen Fähigkeiten haben ihm seine
pantheistischen Verirrungen verzeihen
lassen. Bis heute besteht jener Gegen¬
satz zwischen Deutsch und Französisch
in ungebrochener Schärfe: Der Tief¬
sinn des Deutschen, so könnte man
sagen, denkt in Antinomien, der
Scharfsinn des Franzosen in Anti¬
thesen.
Darum ist der Franzose selten ein
homo rollgiosus. Ihm fehlt dieses Gefühl
der Bindung, diese Gläubigkeit, diese
Gottinnigkeit. Und denen es heiliger
Emst damit war, die Kalvinisten und
Jansenisten hat der vierzehnte Ludwig
unterdrückt und ausgetrieben. Und noch
jüngst hat Pierre Lasserre den Pantheis¬
mus als verwünschtes germanisches Ge¬
wächs verschrien und verdammt.
Um dieser Schranken willen hat es
der Franzose so viel leichter, seine Ge¬
danken in klare Gestalt zu bringen: eben
dämm, weil sie sich auf das Endliche
und Begrenzte einengen. Er freue sich
des wohlfeilen Vergnügens, über unsere
Tiefe und Unklarheit zu spotten. Dafür
hat er es unserem schwer mißverstan¬
denen Kant Übertassen müssen, zu sagen:
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit
immer neuer und zunehmender Bewun¬
derung und Ehrfurcht, je öfter und an¬
haltender sich das Nachdenken damit
beschäftigt: der bestirnte Himmel
über mir und das moralische Ge¬
setz in mir.“
Niemals hat sich der französische Geist
aus eigenem Antrieb die eine letzte Frage
vorgelegt, die den Eingang zur Welt¬
erkenntnis erschließt: Vermag ich über¬
haupt zu erkennen? Wie entsteht für
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INDIANA UNIVERSITY
1371
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
1372
mein Denken der Gegenstand vor mir
und außer mjj? Wie kommt die Welt
und wie die Natur in mir zustande? —
Daß die Formen unseres Erkennens un¬
abhängig von aller Erfahrung gelten,
aber nicht Ober diese hinaus: diese Ent¬
deckung unseres Kant erscheint den
Franzosen notwendigerweise als querelle
allemande. Erkennen als ein Tun, Er¬
fahrung als ein Handeln; die Welt für
jeden eine andere durch Neigung und
Abscheu, Wertschätzung und Entwer¬
tung; das Weltbild eines jeden unter
seine sittliche Verantwortung gestellt:
solche Frage und Antwort erscheinen
dem herkömmlichen französischen Geist
nörrisch oder dreist oder gar schamlos.
Er läßt sich genügen an dem begrenz¬
ten und geformten Wissen, das ihm sein
festes Vertrauen auf Wort und Begriff,
Empfindung oder Anschauung verbürgt.
Das übrige überläßt sein Skeptizismus
dem lieben Gott oder dessen Stellver¬
treter in Rom. Nie kann er’s verstehen,
noch weniger würdigen, wie die besten
der Deutschen immer aufs neue an den
Eisengittern ihrer Endlichkeit rütteln
und rastlos sich bemühen, die Grenzen
immer weiter hinauszuschieben. Nie kann
er die Sehnsucht des Deutschen nach
freier Forschung, libre examen, nach¬
fühlen, die unser Lessing in die unver¬
geßlichen Worte gefaßt hat von dem
immer regen, wenn auch immer wieder
irrenden Trieb nach Wahrheit, den wir
Menschen uns von Gott erbitten sollen.
Mögen also immerhin die Franzosen
sich rühmen, Nachfolger oder gar Über¬
winder der Griechen und Römer zu sein.
Für den römischen Hellenismus, für das
späte Griechentum der Kaiserzeit haben
sie recht Denn diese Geisteswelt ist
ihnen völlig genehm und verwandt
Aber einen Platon, für den das Erkennt-
nisproblem allem andern voranstand,
können sie so wenig verstehen wie un¬
seren Kant; und den echten Homeros
so wenig wie Shakespeare oder den Dich¬
ter des Faust
Den faustischen Drang zur freien For¬
schung würde in Frankreich schon allein
der Gesellschaftswille ersticken und die
weltmännische Erziehung. Bis an die
Lebensquellen des sittlich-geistigen Ein¬
zelwesens reicht diese unheilvolle Macht,
wenn sie das freie, nur sich selber ver¬
antwortliche Gewissen dem guten An¬
stand unterwirft: dort consclence (und
dieses Wort enthält nicht annähernd
dasselbe wie unser .Gewissen“), hier
convenance und bimsfance. Wie scharf
hat sich darüber Emest Renan geäußert
(L’Avenir S. 444): II ne s'agit plus de
veritö, mais de bon goüt et de bon ton.
II ne s’agit plus de dire ce qui est, mais
ce qu’il convient de dire.
Verhängnisvoller wirkt es, daß der
Franzose durch seinen Wortglauben und
einen mehrfachen Wortsinn sich von
der liebgewordenen Täuschung verleiten
läßt, daß er in der Geselligkeit und Ge¬
sellschaft die Gemeinschaft aller seiner
Volksgenossen, ja die ganze Menschheit
mit Liebe umfasse (sociable = social;
cluiliti = humanlte; polltesse — altruis-
me). Und doch bedarf es keines Bewei¬
ses, daß eben dort, wo die Gesamtheit
in Gesellschaftsfähige und Gesellschafts¬
unfähige geschieden wird, diese Tren¬
nung ein soziales Gemeingefühl und
tätigen Gemeinsinn nicht fördert, son¬
dern hemmt In der Tat ist gerade aus
Frankreich wenig von Neigung zu größe¬
ren Spenden und Stiftungen zu berichten.
Trotzdem hört und liest man dort
allenthalben jene Gleichsetzung aus¬
gesprochen oder als selbstverständlich
angenommen. So sagt Brünettere von
den Schriftstellern seiner Nation (Rtudes
critiques V, 266): , Dans les questions
qu’ils agitent, il y ua des intirßts essen -
tiels de la ,civllit6‘ ou de l’humaniti
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1373
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen
1374
mime.“ Deutlicher hoch erklärt sich Alfred
Fouill6e (Psychologie du peuple frangais ‘
S. 186): „Les idäes qui ont un caractire
social et humain seront particuli&rement
en Harmonie avec Fesprit frangais.
Dans leur application ä la sociäti les
idies ginärales deviennent les idies
ginireuses; ce sont celles qui eurent
toujours en France la plus grande
chance de succis .*
Seitdem die große Revolution mit
seinen Gtttem auch den alten Adel zer¬
schlagen hat, ist der neue Geldadel, die
bourgeoisie, in dessen Stellung einge¬
rückt und vertritt als Inhaber und Macht¬
haber die Gesellschaft und den Gesell-
schaftswillen. Eine Einkommensteuer,
diese Hauptquelle der Staatseinkünfte,
ist erst jetzt während des Weltkriegs
von dem alten Ribot durchgedrückt wor¬
den, nachdem der verdienstliche Caillaux
über seine gerechten Steuerpläne ge¬
stürzt war. Noch Anatole France konnte
in seiner Geschichte der Pinguine (S. 308)
mit beißender Ironie bemerken: „La
justice sociale, (fest la difense des
richesses." So sagen dort die Reichen
zu den Sozialisten; und er fährt fort:
„Les riches refusant de payer leur juste
part des impöts, les pauvres, comme
par le passi, payirent pour eux.* Und
in dem an guten Beobachtungen und
Urteilen reichen Buche der Frau A. Lien
(Das Märchen von der französischen
Kultur), möge man nachlesen, was sie
an ergötzlichen oder betrübenden Be¬
legen beiträgt zu der „gemeinnützigen
Fürsorge“ für Sauberkeit und Gesund¬
heitspflege in Gemeinde und Haus.
Selbsttäuschungen ebenso bedenklicher
Art verbergen sich hinter dem geheilig¬
ten Worte Nation. Diese gilt seit al¬
ters als die ruhmreiche Geistesgemein¬
schaft und Hüterin von Bildung und Ge¬
sittung nicht nur für das eigene Volk,
auch für nahe und ferne Fremdvölker.
In dem bedeutungsvollen Buche von
Gaston Riou, Aux Ecoutes de la France
qui vient (Grasset 1913) wird füT dieses
Ziel die Jugend zu neuer Begeisterung
aufgerufen. Ob das geweihte Banner
Roms oder die Sturmfahne der Revo¬
lution oder das Hugenottenkreuz der
jungen Freunde von Riou vorgetragen
wird, immer fühlt sich Frankreich von
Gott zu einer Sendung an die Völker
der Erde berufen und auserwählt. Mit
schönem Freimut bekennt Alfred Fouill6e
(S. 181): „Nous avons souventla nalveti
de croire que ce qui nous rend heureux
rendra heureux le monde, que toute
Fhumaniti doit penser et sentir comme
la France. De lä notre prosilytisme,
de lä le caractire contagieux de
notre esprit national. ... Le revers de
cette qualiti, d-est une certaine tyrannie
de bonne volonte ä Figard de nos
semblables, qui fait que nous voulons
absolument les amener ä sentir et ä
penser comme nous .*
Weil der Franzose seine Nation über
alles stellt und jedes Ding aus diesem
Gesichtswinkel beurteilt, wird es ihm
schwer, sachlich zu bleiben, sobald er
dieses sein Heiligstes bedroht oder ge¬
fährdet weiß. Wir) schweigen hier, um
selber die Pflicht der Sachlichkeit nicht
zu verletzen, von manchen Vorkomm¬
nissen dieses Krieges. Aber davon haben
wir zu reden, daß auch in ruhigen Frie¬
denszeiten in Frankreich keine Zeitung
oder Zeitschrift, jakeine harmlose Bücher¬
besprechung erscheint, deren Verfasser
nicht von dem Gedanken an seine Nation
vor allem anderen erfüllt und dadurch
voreingenommen wäre. Wir müssen ge¬
stehen, daß darin Größe liegt; ja wir
könnten die Franzosen fast um dieses
nationale Ehrgefühl beneiden. Aber
schlimm genug wirkt es, wenn die lite¬
rarhistorische Würdigung der eigenen
großen Männer von dem politischen Par-
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INDIANA UNfVERSITY
1379
1370
Eduard Wechssler, Französische Geistesart und- ihre Formen
tatet andpunkt abhängig gemacht wird:
Man denke daran, wie sogar der Ruhm
eines Victor Hugo zum Spielball der
feindlichen Parteien gemacht worden ist.
Um so herzlicher denken wir Deutsche
in tiefer Verehrung eines Mannes, der
sich so ganz von dieser französischen
Eigenschaft freigemacht hat, daß er an
seine deutschen Fachgenossen Anerken¬
nung und Tadel so sachlich erteilte, wie
es einem Menschen irgend möglich ist.
Gasten Paris war dieser unvergeßliche
Gelehrte, und das unerfreuliche Gegen-
stück dazu ist sein Nachfolger im Pari¬
ser College de France, dessen Namen
ich hier unterdrücke. Jene nationale
Voreingenommenheit erstreckt sich so¬
gar auf die fernste Vorzeit und hält auch
gegenüber den ersten Forschem des
eigenen Landes mit dem Tadel nicht
zurück. So mußte sich der Geschicht¬
schreiber Fustel de Coulanges (in einer
Anmerkung zum ersten Bande seiner
Histoire des Institution8 poiitiques de
ta France S. 64) ausdrücklich gegen die
Landsleute wenden, die in seiner Schil-
derang von der Unterwerfung Galliens
die vaterländische Gesinnung vermißt
hatten: „Ceux qai pensent que l'histotre
est un art qui constste ä paraphraser
quelques faits convenus, pour en faire
profiter leurs opinions ou poiitiques,
ou religieuses, ou pedriottques, so nt
libres de pritendre que les Gaulois
ont dü lütter longtemps et s* ins arger
incessamment contre la domination
ttrangbre; ils n’en peuvent donner la
preuve, mais leur patriotisme exige
qufil en ait 6t6 ainsl, et leur sens histo-
riqus est la dupe de leur patriotisme .
Ceux qui pensent que Fhistoire est une
pure Science, cherchent simple ment ä
voir la vertti teile qu’ette fut ... La
Science ne doit pas avoir dtantre souct
que la redtercke du oral.
Auffallender und da» aHerseltsamste
an der französischen Geistesart ist aber
die Tatsache, daß dort die Nation dem
Staat, daß das Vaterland den Gesetzen
übergeordnet wird. So )eidenschaftßcf>
jeder echte Franzose den Gedanken auch
des Staates heilig hält: vor der Revolu¬
tion hatten die wenigsten daran selber
teil, und nach der Revolution hat man
allzu oft mit der Stilart dieses schützen¬
den Gebäudes gewechselt, als da® man
es für unvergänglich halten müßte. Sein
Patriotismus äußert sich mehr im glü¬
henden Eifer für die äußere Machtgektmg
seines Staatswesens, weniger in der Für¬
sorge für die innerstaatlichen Aufgaben
und Zwecke, und in williger Befolgung
der Gesetze. Der dürftige, oft jämmer¬
liche Zustand der Eisenbahnen, der Post
und des Femsprechwesens; die häufige
und grundsätzliche Umgehung der Schul¬
pflicht; die Neigung, eine im privaten
Leben selbstverständliche Ehrlichkeit
gegenüber dem Steuereinnehmer beiseite¬
zusetzen; überhaupt die Widerspenstig¬
keit dieses Volkes der igaliti, sich dem
Staat als Gesetzgeber gleichmäßig unter¬
zuordnen: alles das ist bekannt genug
und früher von Kart Hillebrand, neuer¬
dings von Frau A. Lien ins Licht gestellt
worden.
Worin ist dieser beim Franzosen kaum
verständliche Widerspruch begründet?
Auf den richtigen Weg führt uns Mer
die z. B. von Nostradamus sehr gut be¬
obachtete Tatsache, daß der französische
Diener seinem Herrn, daß der Ange¬
stellte seinem Vorgesetzten, wenn er
ihn kennt, treu und zuverlässig dient.
Aber die Sachlage ändert sich sofort
wenn der Arbeitgeber keine Person ist,
die den Ehrgeiz des Untergebenen durch
Lohn und Lob antreibt, sondern ein im-
persönliches, unsichtbares Wesen, etwa
eine Aktiengesellschaft Die Trägheit.
Gleichgültigkeit, manchmal auch Grob¬
heit vieler Staatsbeamten in Frankreich,
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1377 Eduard Wechssler, Französische Geistesart und ihre Formen 1378
besonders der kleineren, ist nur allzu
bekannt. Es scheint dem französischen
Denken zu widerstreben, daß es einem
unsichtbaren und unfaßbaren Wesen,
wie dem Staat und seinen Beauftragten,
freudig den Willen tue. Das hat Alfred
de Vigny wohl erkannt, dieser tiefern¬
ste, unserer Lebensauffassung so nahe¬
stehende Denker. In seinen Erzählungen
schildert er uns den äußerlich rühmlosen
und armseligen Lebenslauf dreier Dich¬
ter und dreier Soldaten: „Ce qu’il y a
de plus beau que l'inspiration, c’est le
dövouement; aprös le PoSte, (fest le
Soldat; ce n’est pas sa faute s’il est
condamne ä un 6tat (Filote Dort lernt
der Capitaine Renaud, ein blinderge¬
bener Diener Napoleons, in dem engli¬
schen Admiral Collingwood einen Mann
kennen, der sein ganzes Leben dem
Vaterland und der Pflicht gewidmet hat,
und empfängt zum Abschied den Rat:
„Je n’ai qu’une chose ä vous recom-
mander, c’est de vous devouer ä un
Principe plutöt qu’ä un Homme.“
Unheilvoll in anderer Richtung wirkt
eine Beschränkung von anderer Art — es
ist die letzte, von der wir hier reden — daß
der französische Geist unter den für ein
Gedankenwerk möglichen Einstellungen
die rhetorisch-pathetische und die witzig¬
spöttische vor allen anderen immer wie-
* der bevorzugt. Wieviel reicher ist hier
das deutsche Schrifttum in der Entfaltung
verschiedener Möglichkeiten! Der Lyris-
mus, das schlichte Bekenntnis ganz per¬
sönlicher Erlebnisse, verschwand mit
Thöophile und Saint-Amant, bis die
Romantiker auf Rousseaus Spuren ihn
wieder entdeckten. Einigen Liedern von
Müsset und der Traumdichtung eines
Verlaine läßt sich nicht viel Gleichwer¬
tiges aus Frankreich zur Seite stellen.
Nur selten ist treuherzige Kindlichkeit
und Weltunerfahrenheit dargestellt wor¬
den, ohne daß der heimische Witz sich
Internationale Monatsschrift
daran erprobt hätte: Moliöre mit seiner
Agnes und seiner Louison steht einsam
auf stiller Höhe. Merkwürdig genug: La¬
fontaine gilt drüben als Kinderschrift¬
steller. Am schmerzlichsten aber ver¬
mißt der Deutsche bei seinem Nachbarn
<fen Humor. Wer diesen Begriff nur in
jener liebevollen Wertung des lächerlich
Geringen und Ärgerlichen erkennt, die
von Spott und Hohn gleichweit entfernt
bleibt wie von aller Ironie, der wird
trotz ernstlichem Bemühen kaum so viele
Namen finden, wie er an den Fingern
aufzählen kann. Das kann nicht wunder¬
nehmen, da die von Paris ausströmende
Denkart dem Wesen des Humors gerade
entgegenstrebt. 1 ) Als echter Humorist
darf uns Paul Aröne gelten, nicht aber
sein engerer Landsmann Alphonse Dau¬
det, der sich in den meisten Fällen über
seine Südfranzosen gleich einem Pariser
lustig macht.
Diese in ihren Grundrichtungen be¬
schriebene französische Geistesbildung
ist in sich derart abgeschlossen und zur
widerspruchslosen Einheit gefestigt, daß
man kein Glied daran erneuern oder
entfernen kann, ohne das Ganze zu zer¬
stören. Die Geschlechter von bald zwei
Jahrtausenden haben daran gearbeitet:
bis zur Revolution bauend und weiter¬
bildend, seitdem im wesentlichen erhal¬
tend und nachahmend. Dieses Gebäude
geistigen Lebens hat allen Stürmern und
Drängern aus dem eigenen Volk, hat
1) Der Herausgeber dieser Zeitschrift
hat ein sorgfältiges Buch (Halle a. S. 1910,
Niemeyer) Claude Tillier gewidmet, dem
burgundischen Verfasser der in Deutsch¬
land weitverbreiteten köstlichen Erzählung
„Mein Onkel Benjamin“ (vom Jahre 1842).
Der Text ist in vielen französischen und
seit der Übertragung durch Ludwig Pfau
auch in mehreren deutschen Ausgaben zu¬
gänglich. Er zeigt uns, daß der Humor in
französischer Erde zwar selten, aber auch
ganz urwüchsig gedeihen kann.
44
1379
Eduard Wechssler, Französische Geistesart uud ihre Formen
1380
allen Einwirkungen aus Deutschland und
England, hat vor allem der französischen
Geniezeit, genannt Romantische Schule,
unersdiflttert, wie es scheint, Trotz ge¬
boten. Von den jüngeren Altersgemein¬
schaften hat sich, soviel ich sehe, eine
einzige, die von 1894, in sch raffen und
bewußten Gegensatz zur überlieferten
Geisteshaltung gestellt. Ihr gehören an
die Pfcguy, Rolland, Claudel, Jammes,
Andr6 Gide, Charles Gu&rin und andere,
die alle, ob unter sich noch so verschie¬
den, scharf und streng die sittlich-religiö¬
sen Pflichten des einzelnen und des
Staates zu verwirklichen streben. Die
tiefe und nachdrückliche Stimme dieser
dem deutschen Geist nicht fernen Alters¬
genossen wurde seit dem Marokkostreit
übertönt von der allerjüngsten, noch
kaum reif gewordenen Jugend, die unter
der Führung eines Maurras und Barrös
zu Katholizismus und Königtum zurück-
lenkte und auch nicht das kleinste Ein¬
vernehmen, nicht die geringste geistige
Übereinstimmung mit dem deutschen
Nachbarn, dulden will. 1 )
1) Aus der großen Zahl von Gegenüber¬
stellungen deutscher und französischer Gei-
stesart erwähne ich: EmestRenan, L’Avenir
de la Science. Pensöes de 1848. Paris, Cal-
man L6vy 1890 (geschrieben 1848). —
Eduard Wechssler, Die Franzosen und
Wir. Der Wandel in der Schätzung deut¬
scher Eigenart 1871—1914. Jena, Diederichs
1915. (Schriften zum Verständnis der Völ¬
ker.) — Max Scheler, Krieg und Aufbau.
Leipzig, Verlag der Weißen Bücher 1916.
— Karl Nötzel, Der französische und der
deutsche Geist. Jena, Diederichs 1916.
(Schriften zum Verständnis der Völker.) —
Emst Tröltsch, Der Geist der deutschen
Kultur: Deutschland und der Weltkrieg I*.
Leipzig, Teubner 1916. S. 52—99. - Wil¬
helm Wundt, Die Nationen und ihre Phi¬
losophie. Ein Kapitel zum Weltkrieg. Leip-
Immerhin und trotz aller beharrenden
Kräfte hat es Frankreich selten an den selb¬
ständigen Denkern gefehlt, die jene hem¬
menden Schranken gesellig-nationalen
Geisteslebens nicht erkannt und wenig¬
stens für sich selber mutig durchbrochen
hätten. Man könnte einmal den Versuch
wagen, die Geschichte der französischen
Literatur zu schreiben als eine Geschichte
dieses tapferen und klugen Ankämpfens
schöpferischer Geister gegen jene Vor¬
urteile. Jeder gedankenvolle und zugleich
französische Dichter oder Schriftsteller
noch der jüngsten Zeit erscheint als je¬
weils neue Verschmelzung echtfranzösi¬
scher mit fremdartigen Eigenschaften:
durch die ersten wirkt er auf die große !
Zahl derZeitgenossen, durch die anderen
auf die kommenden Geschlechter.
Ob dieses viele Neue in den Blutum¬
lauf des geistigen Frankreich eingehen
wird ? Ob es den meisten bloße Literatur
bleiben soll, die der Geschichtschreiber
verzeichnet, aber niemand ausschöpft?
Oder ob die in der Action francaise
zusammengefaßte Bewegung nur das
Aufflammen eines letzten Widerstandes
bedeute!? Wer kann es wissen? Wer
kann es wagen; in einer Zeit so unge¬
heurer Kämpfe auch nur zu vermuten? i
Das eine aber, möchte ich glauben, läßt
sich Voraussagen: nach diesem Kriege
wird der französische Geist trotz allem
seine Kraft zur Verjüngung bewahren
und niemals langweilig werden.
zig, Alfred Kröner 1916. — Leopold Zieg¬
ler, Der deutsche Mensch. Berlin, S. Fischer
1916*. (Ein kleines Büchlein, aber überreich
an tiefen und treffenden Beobachtungen
und Bemerkungen.) —Man vergleiche auch:
Emst Cassirer, Freiheit und Form. Stu¬
dien zur deutschen Geistesgeschichte. Ber¬
lin, Bruno Cassirer 1917.
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INDIANA UNfVERSITY
1381
1382
Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustande
George Meredith als Kritiker englischer Zustände.
Von Ernst Dick.
In dem vortrefflichen Büchlein von
Bernhard Fehr: „Streifzüge durch die
neuste englische Literatur“ wird, gleich
in der Einleitung, sehr hübsdi gezeigt,
wie sich in England die verschiedenen
geistigen Strömungen und gesellschaft¬
lichen Bestrebungen im Lauf des 19.
Jahrhunderts ablösten und kreuzten.
Von der gegen die eigene Zeit gleichgül¬
tigen, ja feindlichen Romantik eines
Walter Scott war das Land, aufgesta¬
chelt durch Männer wie Carlyle und
Dickens, übergegangen zu der Betrach¬
tung der Gegenwart und ihrer Mi߬
stände, eifrig darauf bedacht, zu helfen
und zu bessern; eine große Welle von
Mitgefühl für die Armen und Schwachen
fegte über das Reich hinweg und riß eine
Menge veralteter, ungerechter Gesetze
mit sich fort. Um 1850 hatte diese Be¬
wegung vorläufig ihren Zweck erreicht,
Wenn sie auch von gewissen Schrift¬
stellern kräftig weitergeführt wurde, so
hatte sie doch aufgehört, die Massen zu
beschäftigen, wirksam zu sein. Es war
ein andrer Geist zur Herrschaft gelangt.
Der englische Mittelstand erlebte eben
jetzt seine gute Zeit, d. h. er wurdereich;
und wie es in solchen Zeiten zu gesche¬
hen pflegt, er wurde ängstlich und kon¬
servativ, wollte nichts mehr wissen von
Verbesserungen, von Opfern für das
Land und für die Bedürfnisse derer, die
aus dem wirtschaftlichen Aufschwung
jener Jahre keinen Nutzen zogen. Der
große Apostel dieses Geistes war der
Politiker und Geschichtschreiber Ma-
caulay. Über ihn schreibt Fehr: „In sei¬
ner Geschichte Englands hat er idle Er¬
scheinungen der Vergangenheit nach
dem Maßstab seiner viktorianischen Ge¬
genwart beurteilt und seine Leser in dem
Glauben bestärkt, daß ein goldenes Zeit¬
alterangebrochensei. Macaulaywarvom
Scheitel bis zur Sohle ein Philister, und
sein Optimismus und sein Glaube an das
Der vorliegende Aufsatz wurde schon vor dem Kriege niedergeschrieberi und in
meinem Beitrag zu der Germanisch-Romanischen Monatsschrift (VI, S. 32) „Deutschland
und die Deutschen bei George Meredith“ sein bevorstehendes Erscheinen in einer Züri¬
cher Zeitschrift angekündigt Die-Veröffentlichung ist dann unterblieben. Da ich nun
häufig um Zustellung des Aufsatzes ersucht worden bin, entschließe ich mich zu seinem
Abdruck in einer reichsdeutschen Zeitschrift
Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, daß der Aufsatz seit seiner Niederschrift
keine Veränderung erlitten hat also nicht ein Erzeugnis der Kriegszeit ist Ferner darauf,
daß der Verfasser ein neutraler Schweizer ist Ein beliebtes Mittel der papierenen Kriegs¬
führung hat darin bestanden, die Dichter als Ankläger ihrer eigenen Völker ins Feld zu
führen. Die Deutschen haben sich schwer darüber beklagt und ganz richtig diesen Ver¬
dächtigungen entgegengehalten, ihre Dichter hätten nicht aus Haß, sondern aus Liebe
die Zustände im eignen Land gegeißelt. Doch sie haben als belesene Leute es ihren
Feinden mit gleichem vergolten und reichlich vergolten. Das hat gerade den Deutsch¬
schweizern nicht gefallen wollen, die bei aller Teilnahme für die deutsche Sache doch
Engländer und Franzosen nicht hassen oder verachten konnten, noch vergessen, daß
man auch deren Dichter und Künstler mit Liebe und Bewunderung genossen hat. Ich
bitte die Leser meines Aufsatzes, sich an dem gegen das eigene Volk gerichteten Tadel
Merediths — der ein warmer Freund Deutschlands gewesen ist — nicht schadenfroh zu
laben, sondern zu bedenken, daß dieser edle Geist nur das getan hat, was die edelsten
Deutschen je und je geübt haben. Der Verf.
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INDIANA UNIVERSITY
1383
Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustande
1384
goldene Zeitalter, den die große Masse
mit ihm teilte, ist die Philosophie des
Philistertums. Es hat lange gebraucht,
* bis ein mutiger Denker aufstand, um den
englischen Mittelklassen die Lächerlich'
keit ihres Kultes vor Augen zu führen.
Es ist das große Verdienst Matthew Ar¬
nolds, das Wort Philister eingeführt und
damit auch die Erscheinung seinen Zeit¬
genossen bloßgelegt zu haben (1865, in
seinem Essay über Heine).“ Schon vor
Matthew Arnold hatte John Ruskin sei¬
nen Feldzug gegen die englische Phi¬
listerei begonnen, mit ganz anders hefti¬
gen Worten als jener. Und noch fast
früher als Ruskin sehen wir einen noch
Großem gegen die Anbeter des goldenen
Kalbes auf treten, George Meredith.
Meredith war von Natur dazu bestimmt,
der Kritiker seines Landes zu werden.
Es genügt, wenn man sagt: das lag in
seinem keltischen Blut. Es mag auch an
seiner fremden Erziehung gelegen ha¬
ben: er hatte seine Ausbildung zum Teil
in det Schule der mährischen Brüder¬
schaft zu Neuwied am Rhein erhalten.
Was George Meredith an seinen Lands¬
leuten, an den Zuständen und Einrich¬
tungen seines Landes auszusetzen fand,
das bildet ein nicht unwichtiges Kapi¬
tel in seiner Weltanschauung. Manches
geht wohl nicht nur das Volk der Briten
an, sondern die Völker alle, die sich fort¬
geschritten wähnen; also auch uns. Und
manches, das er vor fünfzig Jahren zum
erstenmal aussprach, hat er vor zehn
wieder vorgebracht und es wird heute
von andern immer von neuem gesagt.
Es lohnt sich wohl (wenn es uns wirk¬
lich dämm zu tun ist, das Wissenswerte
über England zu wissen), seine Aus¬
sprüche zu sammeln und seine Ansich¬
ten zu vernehmen. Es darf dabei nur
nicht vergessen werden, daß Meredith
nicht immer nur als Ankläger geschrie¬
ben hat Seiner Anklage setzt er eine
nicht weniger beredte Verteidigung ge¬
genüber; allerdings nicht in Worte ge¬
faßt — Meredith hat nie die Vaterlands-
trompete geblasen —, sondern nur ne¬
benbei. Am wirksamsten in den vielen
prächtigen Menschen, die er als Vertre¬
ter und Typen seines Volkes geschaf¬
fen hat.
Ein Volk, das Männer hervorbringt
wie manche in Merediths Romanen, und
besser noch: Mädchen und Frauen wie
die unseres Dichters, kann nur ein tüch¬
tiges, ehrenwertes und bewunderungs¬
würdiges Volk sein. Meredith war ein
feuriger Patriot, der sein Volk und sein
Land begeistert liebte, das Oute an ihm
auch freudig anerkannte. Aber gerade
seine Vaterlandsliebe war es, die ihn die
Rolle des Ermahners, des Tadlers,
manchmal des Verspotters übernehmen
ließ. Als der scharfe Beobachter und
Denker, der er war, sah nnd empfand er
wie wenige seiner Zeitgenossen die
Schwächen und Fehler seiner Landsleute,
erkannte er die Schäden im englischen
Volksleben, und unerschrocken wie kein
andrer außer Ruskin hat er sie bloßge¬
legt und gegeißelt.
I.
Meredith hat seine Kritik sowohl im-
plicite als expUdte geübt ;d.h. sieeigibt
sich einerseits aus den Schilderungen
von Land und Leuten und den Vorwür¬
fen seiner Romane, andrerseits aus den
vielen bewußt kritischen Äußerungen,
die wir in sehr vielen seiner Werke, den
Gedichten sowohl als der Prosa, zer- ,
streut finden.
Wir beschäftigen uns zuerst mit der
ersten Art Sie macht sich fast von An¬
beginn bemerkbar, während die andre
erst später hervortritt Gesellschaftskri¬
tik steht im Vordergrund bei Merediths
erstem Hauptwerk: Richard Feve¬
reis Feuerprobe (1859). Der Roman
J
Digitizeff&y GOO^lC
Original frum
INDIANA UNfVERSITY
1385
Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustande
138g
geißelt — scharfer und wirksamer als
irgendein englisches Buch, das ich
kenne — den Rangstolz der oberen
Klassen. Das Ungeheuerlichste, was der
junge Richard tut, ist nicht, daß er hin¬
ter dem Rücken seines Vaters heiratet,
sondern daß er, der Sohn des vornehmen
Baronets, die Nichte eines Pachters zur
Frau nimmt. Es klingt dabei wie ein
Hohn auf englische Anschauungsweise,
wenn Richard geltend macht, seine Lucy
sei die Tochter eines Gentleman, da ihr
Vater ja Offizier gewesen sei. Einen un¬
ansehnlichen Leutnant bei den Mariner
truppen will ja auch der große Sir Wil-
loughby Patteme im Egoist nicht emp¬
fangen, trotzdem er seinen eigenen Na¬
men trügt. Und welch ein Bild erhal¬
ten wir in dem Erstlingsroman von einer
aristokratischen englischen Familie! Eine
Sippe von Menschen, die der Überfluß
und der Müßiggang bis ins Mark hinein
verdorben haben. Die Männer sind ge¬
nußsüchtige Zyniker, denen entweder
Küche und Keller, oder Sport und Spiel
über alles gehen. Neben ihnen treffen
wir einige Herren aus dem höhern Adel,
besonders einen unermeßlich reichen
und ziemlich beschrankten jungen Lord,
der mit seinen! Schweif von Schmarot¬
zern wie ein Wolf in einem Rudel von
Schakalen einhergeht, Beute suchend.
Die Geschichte laßt es mehr als klar
werden, daß an dem traurigen Tod der
lieblichsten aller Frauen, an dem tragi¬
schen Knicken des schönsten der Jüng¬
linge nicht allein des Knaben Heftigkeit
und des Vaters Unverstand schuld sind,
sondern die ganze gesellschaftliche Ein¬
richtung, die solche Tragödien hervor-
ruft, sie zur Notwendigkeit macht. Das
war denn auch der Grund, warum der
Roman, „Richard Fevereis Feuerprobe“,
als unsittlich verschrien wurde.
Der zweite Roman Merediths ist ge¬
radezu auf den Begriff der Klassenge¬
gensätze in ihrer charakteristisch eng¬
lischen Form aufgebaut. Euan Harrlng-
ton heißt der Titel des Werkes (1861).
Er könnte ebensogut heißen: Tailor and
Gentleman, denn der Held ist ein
Schneiderssohn, der unter das Herren¬
volk gerät. Auch hier wieder bittere
Anklage gegen, beißender Spott auf den
Rangstolz, die Ausschließlichkeit dieser
Klasse. Zum dritten Male behandelt
unser Dichter dieses Thema in Rhoda
Fleming (1865). Der angeborne Stolz,
die anerzogene Selbstherrlichkeit des
reichen Herrensohnes sind schuld, daß
dieser das schöne Bauernmädthen, nach
dem seine Leidenschaft gegriffen hat,
verschmäht und unglücklich macht, ge¬
gen sein besseres Gewissen, ja, gegen
seine eigene Neigung.
Von nun an verläßt Meredith dieses
Problem; er läßt es zum mindesten nicht
mehr so stark hervortreten. Schon in
dem frühen Werk Sandra Belloni (1864)
spielt es nur eine nebensächliche Rolle.
Hier sehen wir vielmehr, wie brüderlich
sich der niedere und der ärmere Adel zu
der reichen Bürgerklasse der Citykauf¬
leute stellt — schon vor 50 Jahren sich
stellte. In diesem Roman gibt uns Mere¬
dith die Kritik ebendieser in England so
mächtigen Bürgerklasse. Er ist weit da¬
von entfernt, sie zu verachten, wenn er
auch keinen Hehl daraus macht, daß er
sie nicht liebt. Unter ihr sind die Ge¬
fühlsduselei, der schöne Dünkel und das
geistige Strebertum heimisch. Und diese
Klasse ist die eigennützigste von allen,
wenn auch nicht die unnützeste. Sie
steht geistig und gemütlich tief, trotz
den feinen Dämchen und den flotten jun¬
gen Kriegshelden, die sie hervorbringt.
Sie ist innerlich verkümmert unter dem
Fluch des Reichtums und des Wohl¬
lebens.
Der Fluch des Reichtums: damit ha¬
ben wir den Gedanken genannt, der Me-
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Original frnm
INDIANA UNIVERSITY
1387
Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustände
1388
redith vom ersten bis zum letzten seiner
Werke wohl am meisten beschäftigt hat.
Er kommt nicht davon los. Der Reich¬
tum — er nennt ihn mit Vorliebe Mam¬
mon oder Geldsack — ist der Urgrund
der schlimmsten Mißstände im engli¬
schen Volk, der unerfreulichsten Schwä¬
chen im englischen Volkscharakter. Er
verdirbt die Besitzenden und die Armen.
Jene macht er zu krassen Egoisten. Me-
redith nennt sie einmal (Aduentures
of Harry Richmond): „Jene riesigen
menschlichen Kürbisse, die euer Land
bedecken und ihm Blut und Geist ab¬
zapfen — jene Aussauger der Natur."
Mehr als einer seiner Helden wird das
Opfer eines abermäßigen Reichtums: Sir
Willoughby Patteme im Egoist; Lord
Ormont in Lord Ormont and his Amirrta;
Graf Fleetwood in The Amazing Mar -
ringe; auch der große selfmade man
Victor Radnor in One of our Conquerors.
Gegen den Reichtum eifert Meredith
durch den Mund und die Feder seines
Dr. Shrapnel in dem politischen Roman
Beauchamp's Career. Noch ausdrück¬
licher, rückhaltloser tut er es in einem
Gedicht aus denselben Jahren. Es ist an
seinen Freund John Morley, den jetzigen
Lord Morley, gerichtet bei Anlaß seiner
Reise nach Amerika, wo er in verschie¬
denen Städten Vorträge halten sollte.
Der Dichter ermahnt den Freund, den
Vettern auf dem westlichen Festland zu
sagen, daß es mit England doch nicht
ganz so traurig stehe, als der äußere An¬
schein, wie ihn besonders die Zeitungen
erwecken, vermuten Läßt. Aber wie bietet
es sich den beobachtenden andern Völ-
0
kern dar?—Aus England erschallt das
Getön der Mammonspfeifer. Der wahre
Geist des Landes gibt kaum ein Lebens¬
zeichen von sich; was man aus der Ferne
zu sehen vermag, ist höchstens hie und
da ein wildes Zucken, die Panik eines
prallen Beutels, die Angst vor bösen Ta-
□ ifitized by Gck igle
gen. Man denkt nur an den Erfolg; man
ist immer bereit auszuweichen. Frau
Britannia scheint zu sagen (eben durch
ihre Sprecherin, die Presse): loh bin
wohl versorgt; für die Schwachen habe
ich ein Hohnlachen, den Starken, weiß
ich zu schmeicheln. Die wahre Gesin¬
nung des englischen Volkes ist das aller¬
dings nicht; Tatsache bleibt dennoch:
England hat die Schamlosigkeit, von den
andern zu verlangen, sie sollten das
Schwert einstecken, ohne selber daran
zu denken, herauszugeben, was es ge¬
nommen hat. Es predigt nur Wohlleben,
und wenn andere einen Anteil an den
Gütern der Welt heischen, so sagt es
fest, es selber sei satt... Ja, England
wird von dem kopflosen Tyrannen
Reichtum, dem Heuchler, dem Bauch¬
gott regiert. Ihm werden täglich Psal¬
men gesungen; ihm sucht man zu ge¬
fallen. Für. das wahre England ist kein
Raum mehr da. Wer befreit das Land?
Carlyle 1 ), der bloß das Übel sah, nicht
aber die Quelle, hat die Titelträger, die
Aristokratie, zum Kampf aufgerufen.
Wie kann man auch? Diese sind groß
bei den Festessen in der City. Aus dem
Reichtum der City sind sie ja größten¬
teils hervorgegangen. Sie sind am aller¬
meisten die Anbeter Mammons, mit Ge¬
sichtsverdrehungen, mit Rückenbeugen,
mit unterwürfiger Rede. —
Das Gedicht entstand 1867. Von nun
an hört Meredith nicht mehr auf, da9
Heer der Mammonsdiener zu bekriegen.
Man könnte Hunderte von vereinzelten
Stellen anführen. In dem schönen Ge¬
dicht: Die Drossel im Februar, das sein
Glaubensbekenntnis enthält beklagt er
1) Der Name ist nicht genannt Die
Verse lauten: „A poet, half a prophet, rose
In recent days, and called for power | I love
him; but his meuntain prose — | His Alp
and valley and wild üpwer - Proclaimed
our weakness, not its source.*
Original from
INDIANA UN1VERSITY
1389 Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustande
es, „in einem Land der Habsucht leben
zu müssen» das für den Mammon bebt,
wie die Erde bebt“. Seine Philosophie
des Reichtums kommt am vollsten zum
Ausdruck in dem edlen Gedicht The
Empty Purse, a Sermon to our Later
Prodigal Son.
Der Mammonsdienst hat bewirkt, daß
das Volk feig und gleichgültig gewor¬
den ist. Besonders häufig weist Mere¬
dith auf die Vernachlässigung der Lan¬
desverteidigung hin, woran der Steuer¬
zahler am meisten schuld ist. Was Lord
Roberts den Engländer von heute pre¬
digt, das hat unser Dichter ihnen schon
vor50Jahien warnend vorgehalten. Das
ganze erste Kapitel von Beaucharnp's
Ccueer (1876) ist der Behandlung dieser
Frage gewidmet. Es schildert das Insel¬
reich in dem Zustand einer jener Pa¬
niken, die es von Zeit zu Zeit ergreifen.
Damals zitterten die tapfem Britein vor
einem Einfall des alten Erbfeindes und
jetzigen Freundes, der Franzosen, ge¬
rade wie sie heute aus der Angst vor
den bösen Preußen nicht herauskommen,
geheimnisvolle Torpedoboote und Luft¬
kreuzer an ihrer Ostküste erscheinen
sehen und sich vor aller Welt lächer¬
lich machen. Meredith hat sich nicht
gescheut, ihnen ihre Lächerlichkeit in
grellen Farben vorzumalen. —
Also ein französischer General hat
sich anheischig gemacht, mit 10000
Mann den Kanal zu überspringen und
nach London zu marschieren. In Eng¬
land schläft man nicht mehr vor lauter
Schrecken. Die Lage wird von Meredith
folgendermaßen dargestellt:
„Die Ergebnisse der Volkszählung
waren überwältigend zufriedenstellend,
ebenso der Zustand unsrer Jungmann¬
schaft. Wir konnten rudern und reiten
und fischen und schießen, und wir ver¬
mehrten uns reichlich. Wir waren Ath¬
leten mit einer schönen Geschichte und
1390
einem vollen Beutel. Wir hatten erst¬
klassige Jagdflinten, unerreicht gute
Spazier- und Jagdpferde, vielverspre¬
chende Babies, und eine wundervolle
Presse und eine Verfassung, das Höchste
darstellend, was praktische Menschen¬
klugheit je erreicht hatte. Aber wo
waren unsere bewaffneten Männer? Wo
war unsere schwere Artillerie, wo un¬
sere erprobten Hauptleute, wenn es
darauf ankam, eine plötzliche, scharfe
Probe zu bestehen? Wo war die erste
Verteidigungslinie Englands, seine Flot¬
te? Das waren Fragen, und die Minister
wurden aufgefordert Antwort zu geben.
Die Presse beantwortete sie kühn mit
der erschreckenden Behauptung: Wir
haben keine Flotte und kein Heer.
Höchstens ein paar alte Schiffe könnten
wir aufbringen, einige Versuchskreuzer
und zwanzigtausend schlecht bewaff¬
nete Soldaten.“
Das bezieht sich nun allerdings auf
die Zeit vor dem Krimkrieg. Aber Mere¬
dith hat seine eigene Zeit gemeint, das
Ende der sechziger Jahre. Ungefähr um
dieselbe Zeit, etwa ein Jahr später, be¬
gann dann W. T. Stead, der mit der
Titanic untergegangene Zeitungsmann,
seinen Feldzug für eine Hebung der
Flotte.
Die nun folgende Schilderung der
Panik ist nicht wiederzugeben. „ The
üeliberate saddllng of our ancient night-
mare of Uwasion “ nennt unser Wort¬
künstler den Vorgang — das planmäßige
Satteln unsres alten Nachtmahrs eines
feindlichen Einfalls. 2 ) Die Panik ist als
ein altes Weib dargestellt, das aus dem
Schlafe aufgescheucht wird. „Im Augen¬
blick war sie ganz stürmische Nacht¬
haube und hungrig nach dem Glocken-
2) Das englische mare bedeutet Stute,
nightmare aber ist das Alpdrücken: wir
haben es mit einem unübersetzbaren Wort¬
spiel zu tun.
1391
Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustände
1392
sträng ausgestreckte Finger.“ Sie löst
ein Zetermordio aus, sodaß sogar die
Opposition im Parlament ihre Angriffe
auf die Regierung einstellt.
Die Presse, die zuerst feurio gerufen
und Alarm geschlagen hat, bemüht sich
nun, den Sturm zu legen. Es entstehen
neue Leitartikel, worin auf gewisse, eben
zum Stapellauf bereite Schiffe und auf
einige eben aus Indien zurückkehrende
Regimenter hingewiesen wird; ganz be¬
sonders aber auf die Hecken auf dem
Lar.de, jene englischen Hecken, durch
die allein der Anmarsch eines Feindes
aufgehalten werden könne. Doch die
Panik will sich nicht beruhigen. „Wel¬
ches Land“, winselt sie, „hat etwas zu
verteidigen, das unsern Schätzen gleich¬
käme? Ungezählte Reichtümer, schöne
Frauen, einen nie entweihten Boden!“
Schließlich legt sich die Aufregung,
das Weib Panik sinkt in ihre Kissen zu¬
rück und schließt die Augen. Der Steu¬
erzahler jedoch muß nun dran glauben.
Die ausgestamdene Angst hat ihn über¬
dies mürbe gemacht, und so läßt er sich
denn herbei, zu bluten.
Zwanzig Jahre später kommt Mere¬
dith wieder auf das Thema zurück —er
hatte es inzwischen wiederholt angetönt
— in einem Gedicht an den Oberstem
Charles, das die unkriegerische Hal¬
tung des Landes brandmarkt. „Bald er¬
hebt es eine gichtbrüchige Faust, bald
umkrallt es wieder seine Batzen. Was
in der Welt herum vorgeht, versteht es
nicht: es ist geistig zu träge. Das Wort,
womit Gambetta den plumpen MacMa-
hon kennzeichnete, es paßt auf England:
Wie eine Kuh einen vorübereilenden
Zug anglotzt, so lugt England nach den
Russen, Deutschen, Franzosen aus.“
Meredith erblickt die größte Gefahr in
der Versuchung, die ein unvorbereitetes
England für die starken Nachbarländer
sein muß. „Denn“, meint er, „die Völker
sind noch immer die wahnsinnigen Mas¬
sen, und sollten sie einmal meinen, unser
Wappenlöwe sei ein Schweif schwin¬
ge: für alles, nur nicht den Krieg, me¬
chanisch aufgezogen, seine Flanken zu
peitschen von einer Presse, die das
Schreckgespenst heraufbeschwört; er sa
bloß ein Geldsack mit Kopf und Schwanz,
ja, dann könnte es mit aller unsrer Tap¬
ferkeit zu spät sein.“
Nicht ein säbelrasselndes England
verlangt Meredith, nicht ein herausfor¬
derndes. „Lieber Indien fahren lassen, als
die allgemeine Wehrpflicht einführen“,
sagt sein Dr. Shrapnel im Beauchamp.
Später wäre der Dichter bereit gewesen,
eine allgemeine Wehrpflicht einzufüh¬
ren 3 ) und Indien trotzdem fahren zu las¬
sen. Meredith verurteilte die erobernde
Politik, ln einem Sonett aus seineai spä¬
tem Jahnen, The Warning , vergleicht er
das Land mit einem Luftballon, „von un¬
serem Gas — dieses Inselchens unersätt¬
licher Gier nach Kontinenten — zum
Platzen voll gebläht“. In noch einem
andern Sonett Outside the Crowd
wiederholt er seine Warnung und sagt
deutlicher, welche Rolle er England spie¬
len sehen möchte: „wir w f ollen gegür¬
tete Athleten sein, gegen jeden Gegner
bereit, oder aber zur Seite stehn in glei¬
chem, großem Wohlwollen für alie,
Herr von Ländern, die keine R’aubvögel
an sich reißen werden, wo die Gerech¬
tigkeit mit reinem Sinn die Wage hält,
wir selbst gewappnet, um ihremSch wer f
Nachachtung zu verschaffen. Sonst lie¬
fern wir der Geschichte Stoff zu dem
Kapitel über untergegangene Staatswe¬
sen.“ Um dem Krieg vorzubeugen, muß
England gerüstet sein. Denn der Krieg
ist einer fortgeschrittenen Welt unwür¬
dig. In dem Sonett On the Danger
of War beschwört er den Geist der
3) Er spricht in seinen Briefen an den
Journalisten Greenwood wiederholt davon.
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INDIANA UNfVERSITY
1393
Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustände
1394
Weisheit, die Kriegsdrohung abzu-
wenden, die „nur ein hirnkrankes Land
verrät“. Um seine Rolle unter den Völ¬
kern würdig zu spielen, um seiner zivi¬
lisatorischen Aufgabe zu genügen,
sollte England groß und stark und jeder¬
zeit gerüstet dastehen. Dieser Gedanke
unterliegt dem Gedicht The Call, aus
dem ich ausführlich zitieren muß. Es be¬
ginnt mit einer ziemlich unverhüllten
Anspielung auf die Deutschenfurcht:
„Es heißt Exercitus (d. h. das Heer, der
Mildtärstaat, Deutschland) beabsichtige,
es mit dem berühmten Salsipotent (d. h.
dem Salzmeer beherrschenden England)
aufzunehmen. In diesen Tagen der
Hochflut des Reichtums läßt ein Hauch
der Warnung ganz England sich beugen
wie das Schilf am See vor dem Wind....
Denn riesiger Besitz läßt die* Kraft er¬
schlaffen, deren wir bedürfen, ihn fest¬
zuhalten; es wäre denn, daß im Volk
das Herz lebendig würde und alle einig
machte.... Stark müssen wir sein wol¬
len, aber um zu helfen, nicht zu scha¬
den. ... Es darf nicht erklärt werden,
wir seien eine Nation, die von einem Ende
zum andern des Landes eine solche
Kriegsfront zeigt, daß ein sprungberei¬
ter Feind seine Wut in die Luft verpufft
und es vorzieht, uns Freund zu werden.
Indem wir ihn fürchten, tun wir ihm un¬
recht. Denn die Furcht entstellt, die
Furcht lockt. Unsere Aufgabe isit es,
stark zu sein gleich ihm; ungleich ihm,
nicht nach einem beneideten Schatz zu
greifen als nach einem Recht. So kann
eine stärkere Brüderschaft übers Meer
gemeldet und dort verstanden werden;
ja, noch mehr, begrüßt, wenn es sich
zeigt, daß wir alle Pflichten umfaßt ha¬
ben, indem wir frei sind.... Dieses Bri¬
tannien 1 und sollte es fallen, die Mensch¬
heit würde eine rauhere Luft atmen, und
die Nationen würden ein kostbares füh¬
rendes Licht vermissen.“
Gerade jetzt ist die Zeit, sich zu fra-
ob England die ihm von seinem edel¬
sten Dichter zugedachte Rolle spiele.
Wohl dem Lande, das einen Dichter hat,
der zu ihm spricht über seine höchsten
Aufgaben, wie es Meredith in den ange¬
führten Gedichten tut. Wehe dem Lande,
das einen solchen Dichter hätte und
nicht auf seine Stimme hörte!
In Beauchamp's C:ireer und in den
Gedichten spricht Meredith in seinem ei¬
genen Namen. An andern Orten hat er
es vorgezogen, seine Kritik andern in
den Mund zu legen. In einem berühm¬
ten Kapitel von The Adventures of
Harry Richmond belehrt der deut¬
sche Professor Julius von Karsteg den
reichen jungen Engländer über den wah¬
ren Zustand Albions. Auch hier werden
wir um einige Jahrzehnte in die Ver¬
gangenheit versetzt, aber auch hier
meint der Verfasser doch sein zeitge¬
nössisches England. Ein paar abgeris¬
sene Sätze mögen Jnhalt und Gedanken¬
gang veranschaulichen:
„Ihr Engländer lebt, um des Vergnü¬
gens willen.“ Erwiderung: „Wir sind die
arbeitsamsten und fleißigsten Menschen
der Welt “ „Ja, damit ihr dem Vergnü¬
gen leben könnet. Ihr arbeitet um des
Geldes willen. Ihr eßt und trinkt, und
ihr prahlt mit euren körperlichen Übun¬
gen; ihr betreibt sie nur, um Appetit zu
bekommen. ... Ihr werft uns (Deut¬
schen) Mangel an gesundem Menschen¬
verstand vor, als ob der Bauch sein Sitz
wäre.... Eure Adeligen sind nichts als
reiche Leute, aufgeblasen von herge¬
brachtem leeren und unausstehlichen,
weil ungerechtfertigten Stolz, und ge¬
speist durch Verbindungen mit dem
Handelsstand. Oder sind sie etwa eure
Führer? Führen sie euch an in der Li¬
teratur, in den freien Künsten, in der Re¬
gierung? Wie ich höre, nein. Nicht ein¬
mal im Militärdienst“. ... „Sie haben’s
f
Original ffom
INDIANA UNIVERS
Ti
1305
Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustände
1396
getroffen,“ laßt Meredith hierauf den
jungen Engländer erwidern, „das ist das
wahre Gepräge des englischen Geistes:
hinzunehme n, was immer ihm vermacht
wird, ohne zu fragen, ob nicht irgend¬
eine Änderung stattgefunden habe....
„Ihr verehrt eure sogenannte Aristo¬
kratie,“ fährt der Deutsche fort, „um ei¬
nen, idealen Gegensatz zu der Gemein¬
heit des Volkes zu bewahren.... Mei¬
netwegen ja, eine Darstellung der Frei¬
heit, das habt ihr uns gegeben. Aber ihr
seid zufrieden damit in einer Welt, die
sich fortbewegt.,. Ihr kühlen Engländer,
die ihr an das Vorhandensein von Zie¬
len, die nicht gleich vor euren Augen
zur Erde fallen und euch ins Gesicht
starren, nicht glauben wollt, ihr behaup¬
tet, der Mensch habe seine Arbeit ge¬
tan, wenn die Besitzlosen nicht gerade¬
zu aufschieien.“
Gegen den englischen Dünkel, der
zum Festhalten am Hergebrachten führt,
zur Ablehnung höherer Ziele, zu gesell-
schaftsleindlichem Eigennutz, gegen die*
kleinliche Angst vor Neuerungen, hier¬
gegen zieht der Dichter zu Felde. Am
übermütigsten läßt er seine Kritiker¬
laune walten in One of our Conque-
rjrs (1890). Zuerst äußert er sich durch
die Aufzeichnungen zweier Orientalen,
eines indischen Fürsten und seines Mini¬
sters, die er einige sehr witzige und ge¬
salzene Dinge über die Beherrscher ih¬
rer großen Halbinsel sagen läßt. Der
Hauptsprecher aber ist der giftige Sati¬
riker Colney Durance. Der schreibt eine
Satire auf die geistige Zurückgeblieben¬
heit des englischen Volkes. Sie wird im
Auszug mitgeteilt und ist ungeheuer ko¬
misch, wenn man einmal so weit ist,
daß man sie versteht; denn One of
our Conquerors ist der schwierigste
aller Romane Merediths. Das gänzlich
tolle Spiel zeigt den Engländer im gei¬
stigen Wettkampf mit den Vertretern
der andern europäischen Völker. Der
Sohn Albions muß überall kläglich den
kürzern ziehn. Während die übrigen von
ihren Regierungen unterstützt werden,
sich auch sonst mit Vorbedacht gerü¬
stet haben; rennt der Engländer ahnungs¬
los in das Verderben hinein. „Der wür¬
dige Herr hatte geglaubt, ins Glück hin¬
einzustolpern, nach der seligen alten
englischen Weise. Sonst war es immer
so mit uns: ungeholfen tun wir es! ruft
der ehrwürdige Doktor aus.“ Das lu¬
stigste ist, daß die wackeren Briten ihre
Niederlage im geistigen Wettbewerb
durch Heldentaten auf dem Sportfeld
ausgleichen zu können meinen. Meredith
hat an mehr als einem Ort mit wonniger
Freude ein englisches Cricketspiel ge
schildert. Aber daß seine Landsleute auf
den Sport so versessen sind, neben ihm
sozusagen keine Interessen haben, das
hat er oft beklagt. Der Held von One of
our Conquerors, aufgestachelt durch
seinen Freund, den Satiriker, möchte
eine Zeitung gründen, deren einziger
Zweck die Bekämpfung der nationalen
Charakterfehler sein sollte; „seinenEng¬
ländern klarmachen, wie und bis zu wel¬
chem Grade ihre Sports, ihre heftigen
Fressereien und ihr Widerstand gegen
Ideen und ihre Ängstlichkeit mit Bezug
auf Änderungen und ihr Abscheu vor
jeder auf sie angewendeten Kritik und
ihre einmütige Anwendung ebendie¬
ser Kritik als Waffe gegen andere: wie
das alles Zeichen sind einer über Ge¬
bühr langen Gemütlichkeit im Lehn¬
stuhl."
II.
So hat Meredith mit allen Mitteln ver¬
sucht, sein Volk aufzustacheln, es aus
seiner Ruhe aufzuscheuchen. Er sah es
im Begriff, sich zu verlieren, abzufalleo
von seinem Rittergelübde. Sein letzter
Roman sollte ganz der Frage gewidmet
sein: wie kommt es, daß aus dem
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Go», igle
Original fram
INDIANA UNIVERSITY
1397
Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustände
1398
beiden Rassen, aus denen die britische
Nation besteht, noch keine Einheit ge¬
worden ist; daß der Keite immer noch
so heftig vom Sachsen wegstrebt. Er
hatte das britische Rassenproblem
schon früher in einem Gedicht behan¬
delt: Aneurins Harfe. Hier klagt er,
daß der Keite seine Eigenschaften nicht
entfalten könne: * Schwert, Lied und
feinen Geist bringt der Keite auf den
Markt, doch alle werden übersehen.
Der Sachse kriecht im Schatten der
normannischen Hakennase, und der
Normanne pocht auf seinen Titel. We¬
der Führer noch Ziel noch einen fer¬
nen, verheißenden Glanz können wir er¬
blicken; weder Ehre noch die zarte
Knospe einer Verheißung winkt uns, den
Kelten. Verbunden sind wir: eine Flut
von Rassen dahingerollt einem gemein¬
samen Schidksal entgegen. England hält
viele umklammert: welches aber ist der
Zustand Englands? England trommelt
mit Stolz auf seinen vollen Bauch, das
Weib Mammons.“
Hierher gehört das Romanbruchstück:
Celt and Saxon (wohl nach 1900 ver¬
faßt) mit dem wunderbaren Kapitel, das
von dem „großen Mr. Bull und den kel¬
tischen und sächsischen Ansichten über
ihn handelt“. Anstatt eines mageren Aus¬
zuges gebe ich einige längere Stellen im
Zusammenhang.
„Von Bull also denn: unserem Bild
vor der Welt, unserem Herrn und Gebie¬
ter, uns selbst, in einem Wort — dem
untern Teil von uns. Wenn auch im gan¬
zen nur kühl verehrt, kann er doch Be¬
geisterung erzeugen, wenn sein Roast¬
beef-Einfluß zu einem friedlichen
Himmel emporsteigt und die häusliche
Welt Englands sich mit ihm im Takte
dreht. Was er nicht mag, wird dann zum
verbietenden Gesetz eines sehr lenksa¬
men Volkes, was er liebt, wird Gebot.
Wenn erklärt wird, daß keine Gründe
ihn bewegen können, so wird er in der
Form eines Pfostens angebetet. Ein
Zeichen, daß er etwas wünscht, und es
entsteht ein gefährlicher Andrang sei¬
ner Verehrer. Es ist, als ob wir das Bei¬
spiel unserer fanatisch unterwürfigen
indischen Untertanen nachahmten. Doch
dem ist nicht so. Es ist uns angeboren.
Es sind einige so waghalsig gewesen,
die Herrschermach't Bulhs auf den freund¬
lichen Schutz des guten Neptun zurück-
zufühien, dessen Arme ihn umfangen
und in ihm die Entwicklung einer rück-'
sichtslosen Launenhaftigkeit fördern.
Gewisse Unkräuter des menschlichen
Busens blühen rasch auf, wo Sicherheit
gewährleistet ist. . . . Neptun hat etwas
getan. Man glaubt, er habe viel getan,
sobald es heißt, er sei nicht imstande,
das Äußerste zu tun. Merkt ihr etwas
von Unsicherheit? — ein Geschöpf, das
sonst allen Gründen unzugänglich ist,
lauscht nun plötzlich jeder Einflüste¬
rung: der Eichenhlafteist ein Schilf, der
Stier ein Rehlein. Da aber kein Angriff
auf seine Küsten erfolgt, fehlt der Be¬
weis, daß sie unverletzlich sind. Man
wendet sich um Hilfe an Neptun, Und
der antwortet durch den Mund des letz¬
ten Passagiers von einer Fahrt über den
Kanal in einer stürmischen Nacht. ,Fasse
Mut, Sohn Hans! Es wird ihnen nicht
ums Dreinschlagen sein, den Eindring¬
lingen bei dir, nach einer solchen Fahrt/
Diese Bestätigung der Wachsamkeit des
Meergottes gibt seinem Liebling wieder
Mut, und gleich ist er gegen Vernunft-
grün de wieder so hornig wie zuvor.
Neptun soll sein Teil an der Ehre haben.
Irgendein Ideal von seinem Land hat
Bull nicht — er haßt das Wort; es riecht
nach Ketzerei, nach Widerstand gegen
sein Abbild. Ein Ideal anzunehmen, er¬
fordert eine Betätigung der Einbildungs¬
kraft, und das vertragen seine Verdau¬
ungswerkzeuge nicht... Er ist eiae greif-
1399
Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustände
1«
bare Gestalt, praktisch, und das Liebste,
was ejr sehen kann, ist der Spiegel, den
ihm seine Barden von der Presse und
sein Hofnarr, der Hans Lachauf, Vorhal¬
ten. Dort, umgürtet von lachenden Mee¬
reswellen, in offenkundiger Seligkeit,
labt er sich an seiner Rundheit. Runder
bei jeder neuen Besichtigung, prpdigt er
der Menschheit über die Seligkeiten der
Leibesfülle. Die Franzosen machen in
Revolutionen, stellen politische Versu¬
che an; die Deutschen büffieln Philoso¬
phie, wälzen Klassiker, komponieren
neuartige Musik: beide gehen vorwärts,
entwickeln sich weiter, lernen töten. Lä¬
cherliche Deutsche! launenhafte Fran¬
zosen ! Wir brauchen nichts Neues in der
Musik, noch neue politische Einrichtun¬
gen und Regierungsformen, und Krieg
begehren wir nicht. Die Friedensgöt¬
tin ist es, der wir den Hof machen,
indem wir um die Hand ihrer Tochter
Fülle werben, und wir haben das lustige
Mädel gewonnen; willkommen zum Hoch¬
zeitsschmaus! Aber hebet euch weg,
neue Ideen und Geheul: alte Weisen, er¬
probte Systeme für uns, meine würdigen
Freunde!“
Das wäre Bull, der selbstzufriedene
Verteidiger des Hergebrachten,Vorhan¬
denen. Er lebt nur der Gegenwart, wie
das liebe Vieh in fetten Triften. Das
geht» bis eine geschäftliche Krise ein-
tritt. Auf einen Schlag ist er über den
Haufen geworfen .Es wird ihm schwarz
vor den Augen, seine liebe Gegenwart
sieht er nicht mehr.
„Was hat er getan zum Wachstum
seiner Himkugel? Wohl ist es die klei¬
nere, aber in unserer wahren Haltung
doch die obere, und von Rechts wegen
die führende Kugel.... Was hat er in
den Künsten aufzuweisen? was in den
Waffen?Seine Sänger beschuldigen ihn
einer krassen Viehzufriedenheit, der Un¬
fruchtbarkeit des Gehirns, der Schläfrig¬
keit, leichenhafter Unempfindlichst
Sie machen ihm den Kopf warm mitF»
gen über unsere Verteidigungsmitfc,
unsere geistigen und materiellen Let
stungen, unsere Poesie, unsere Wisse*-
schaft; sie höhnen sein Vertrauen ad
den Gott Neptun, ziehen dessen Unver¬
wundbarkeit in Zweifel. Sie weisen si
den Ausländer hin, den sictier schreiten
den, gestählten, selbstvertrauenden Aus-
länder; waffenkundig, kunsterfahreL
in geistiger und leiblicher Regsamkeit,
und, wie einige zu behaupten wagen, t
der Dichtkunst, unserer höchsten Lö¬
tung, uns überlegen.
Da, mit einem einzigen lauten Gebrüll
dem Zusammenbruch der Bauchfüllt
steigt er von seinem Postament das
Weltkritikers herunter; er wirft sich vor
dem Fremden nieder; er sagt sich vöj
englischen Werken und Taten les,
lauscht fremden Weisen, verschrei
sich fremde Schauspieler, weidet sich aa
Berichten aus den Feldlagern fremder
Heere. Gleich einem geschlagenen Och¬
sen senkt er das Haupt vor jedem fiera- t
den Namen, und stöhnt innerlich .Shake ]
speare!‘, um sich ein wenig Mut zu mfr |
dien. Er liebt beinahe seine Dichter, er
begreift fast, was Dichtung* ist. Weoo
sie auch nichts einbringt, so verschafft
sie doch Ruhm, Achtung in Zeiten des
Mißerfolgs. Grütze im Kopf, muß er
annehmen, Grütze im Hirn erzeugt die
erobernden Energien. Er ist jetzt für
Grütze im Kopf um jeden Preis- Er ist
bereit, Männer, die sie haben, in den Un¬
terstand zu erheben. Sie sollen Ritter
sein; sie zu Peers und Gesetzgebern zu
machen, ist ihm allerdings noch nicht
eingefallen.
Das ist Mr. Bull, unser Abbild vor der
Welt, dessen Streiche wir hinnehmen*
als ob ihre Vorführung keine schlechte
Wirkung auf die Nation hätte. Er ist
stolz auf sein Bild im Spiegel. Unter die
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Gck igle
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INDIANA UNfVERSITY
1401
Ernst Dick, George Meredith als Kritiker englischer Zustände
1402
sen Schaustellungen arbeitet der nüch¬
terne, starke Geist des Landes mühsam
weiter und tut seine stündliche Pflicht
und Schuldigkeit gewissenhaft, nur we¬
nig mit Rücksicht auf zukünftige Sicher¬
heit, nur wenig tun Liebe zu geyvinnen.
Denn leider ist es kein wissender Geist,
auch nicht ein liebenswürdiger, wenn
auca gerecht und wohlwollend. Er ge¬
mahnt an den Esel eines betrunkenen
Gemüsehändlers. Er hat nicht die Gabe,
sich auszusprechen. Sein Benehmen wird
von einem einsichtsvollen Himmel als
ehrbar anerkannt, und eine sich pla¬
gende, ringende Sprachlosigkeit hat im¬
mer etwas Pathetisches an sich.... Die
Dichter könnten seine Tugenden ver¬
künden. Sie wollen nicht, mögen nicht.
Die einzige Stimme, die er hat, ist das
Eselsgeschrei des Puritaners. Die Welt
ist es zufrieden, daß sie von dem Wanst
Bulls verdunkelt wird.“
Hie und da kommt eine Zeit, wo die
Leute, die Bull nicht gern haben, die
Oberhand gewinnen. Dann verleugnen
ihn auch seine Trabanten, die Barden
der Presse. Sie stellen ihn als eine
Schöpfung des englischen Humors hin.
Doch das dauert nicht lange. Gleich ist
er wieder Meister. „Nur in den Tagen,
wo der verborgene untere Geist des Lan¬
des aufwacht, d. h. in den Tagen des
Sturms, die herbeizuwünschen unvor¬
sichtig wäre, sind wir ihn gründlich los.
Inzwischen richtet er Unheil an, ernst¬
liches Unheil.“
Und nun kommt der Ankläger Bulls
auf die Wirkung zu sprechen, die „der
Vertreter des engeren Englands“ auf die
nichtenglische Rasse des britischen Rei¬
ches hat.
„Engländer von Gefühl wissen ihn
nicht zu schätzen. Für Leute mit iri¬
schem und kambrischem Blut in den
Adern ist die rot- und pausbackige Fi¬
gur mit der gleichgültigen Stirn, mit
dem geräuschvollen Geldsäckelwohl¬
wollen, mit den Anfällen einer gehörn¬
ten Wildheit und den Rückfällen in die
Hartherzigkeit ein Gegenstand des Ab¬
scheus und Ekels. Und die keltischen
Brüder sind nicht alle Narren in ihrer
Empfindlichkeit. Sie dienen euch auf
dem Kriegsfeld und auf andern Gebie¬
ten, denen die Welt Ruhm gespendet hat.
Diese verabscheuen Bull, den Stier, als
das ausgewachsene goldene Kalb eines
heidnischen Götzendienstes. Sie sind
ungerecht. Aber manche von ihnen spre¬
chen mit dem Gefühl, daß ihnen der Fuß
auf die Kehle gesetzt sei, und sie sind
von einem Geblüt, das eine verehrungs¬
würdige Weltanschauung fordert. Und
sie hassen Bulls Gebrüll der Verachtung
für ihre Religion. Darum bewahren sie
ihren Haß gegen ihn, nachdem sie aus¬
gewandert sind, und lehren ihre Kinder,
dieser. Haß lebendig zu erhalten.“
Das Kapitel ist damit noch lange nicht
zu Ende. Im ferneren Verlauf geht der
Verfasser noch weiter den Ursachen
nach, die den Kelten dem Sachsen ent¬
fremden. Obschon die beiden Rassen
stark miteinander vermischt sind, wiegt
doch das sächsische Blut so stark vor,
daß die keltische Auffassung des Ehren¬
werten und Liebenswerten keine Aner¬
kennung findet. Und so wird der Kelte,
der begierig ist, etwas zu bewundern,
abgestoßen. Für seinen Haß macht er
sofort die tierische Figur John Bulls ver¬
antwortlich, und der ererbte Haß wird
durch das persönliche, kritische Gefühl
der Abneigung gebilligt. Das unter¬
drückte Bedürfnis, zu bewundern, ist
neben vielem anderen ein Grund, warum
der Kelte so hartnäckig widersteht. „Al¬
so Krieg dem Bull, fort mit ihm! Wenn
ihr ihn einmal los seid, werdet ihr auch
wissen, daß seit einem halben Jahrhun¬
dert ihr euch der Welt mit dem Unter¬
teil nach oben gekehrt gezeigt habt.“
1403
Nachrichten und Mitteilungen
1404
Wie die Iren haben sich auch die Cam- tem am wenigsten und am Schlechtesten
brier in Wales und die gälischen Hoch- verstanden. Wird er ihn je verstehen
schotten mit dem Engländer noch nicht lernen, -auch nur den guten Willen auf¬
befreunden können. Der Waliser wird bringen, einen Versuch zu machen?
ein eifriger Amerikaner, dient gern in Sichet ist, daß Meredith unter der ab-
dem kleinen Heer der großen Republik, weisenden Haltung seiner Landsleute
„Hier ist einer, dem im letzten Jahrhun- schwer gelitten hat. Das haben seine
dert kein großes Unrecht geschehen ist, vor kurzem veröffentlichten Briefe una
temperamentvoll, gern zum Singen und verraten. Er hatte Grund, den Mr k Bull
zum Lieben bereit. Er verläßt euch und nicht zu lieben. Aber Meredith hat doch'
vergißt euch. Seid versichert, daß die an sein England geglaubt. Keiner hat
wirtschaftlichen Gründe nicht allein je ein so hohes Ideal von seinem Hei-
schuld sind! Er kann euren Bull nicht matland gehabt wie er. Die 28 Bände,
ausstehen. Ebenso geht es euren Dich- die seine Werke in Prosa und in Versen
tern. Sie könnten den Quell der Vater- füllen, sind eine einzige große Huldi-
landsliebe springen lassen^ wenn ihr gung an das Inselreich. Sie sind auch
Widerwille gegen Bull es ihnen nicht einer der schönsten Ehrentitel, die es
verwehrte. Sie mögen ihn nicht be- aufzuweisen hat. Vielleicht kommt es
singen, weder episch noch lyrisch. Sie doch dazu, daß das Volk, das endlich
sind gezwungen, ihr Genie auf das Ab- weiß, was ein Shakespeare gelten kann,
strakte, das Gesuchte^ das Malerische auch eikennen wird, daß ein Meredith
zu verschwenden. Umsonst fordert Bull, eine Flotte aufwiegt. Vorerst aber ist
c|er endlich gemelkt hat, durch seinen es notwendig, daß viele Nichtengländer
Shakespeare, daß die Dichtkunst Ehre seine Größe ermessen lernen. Solange!
schafft, sie auf, ihn der Welt zu he- Deutsche und Franzosen sich nicht da¬
singen, ihn und die Dinge, die seine zu aufraffen, sondern fortfahren, Shaw
Mitte, seinen Bauch, beglücken. Wäre und Wilde zu bewundern, gilt für sie
er im Feuer, sein Fett dahingeschmolzen, das, was Meredith von der geisrtigen
sie würden sich anders verhalten.“ Rückständigkeit und Trägheit der Eng-
Nun weiß ich nicht oh meine Uber- Länder gesagt hat. An den Führern der
Setzung eines nicht sehr leichtverständ- Geister ist es, dafür zu sorgen, daß seine
liehen Originals verständlich ist. John Zeit bald kommt.
Bull hat Meredith von allen seinen Dich-
Nachrichten und Mitteilungen.
Umrisse der Weltpolitik. Einwände unentbehrliches Werk: Deutsch-
Seit dem Eintritt Deutschlands in die lands auswärtige Politik 1888—1914, das
Reihe der Weltvölker ist noch von keinem freilich Deutschland doch wieder in den
deutschen Historiker ein Anlauf zu einer ! Mittelpunkt der Darstellung rückt. Daß aller¬
großzügigen Gesamtgeschichte der Staaten- dings nicht etwa prinzipielle Ablehnung der
weit vom Standpunkt des europäischen oder Weltpolitik für das Verhalten der Historiker
Weltgleichgewichts aus unternommen wor- bestimmend ist, lehrt ein Blick auf die Be¬
den. Bezeichnenderweise sind die besten handlung früherer Perioden: auch hier ist,
Schriften zur Weltpolitik der Gegenwart sieht man von Rankes imponierendem Le-
nicht aus den Kreisen der deutschen benswerk ab, dessen Programm eigentlidi
Geschichtschreibung hervorgegangen, so schon 1833 in dem Versuch über die „gro-
J. J. Ruedorffers „Grundzüge“ und des ßen Mächte“ vorlag, die letzte größere Ar-
Grafen Reventlow trotz mancher berechtigten beit dieser Art vor 1905, Heerens Handbuch
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Original frum
INDIANA UN1VERSITY
1405
Nachrichten und Mitteilungen
1406
der Geschichte des europäischen Staaten-
systems, im Jahre 1809 entstanden, also in
einer Zeit, in der es nicht einmal eine deut¬
sche Politik gab, weil auch kein Deutsches
Reich existierte. Hier ist im Interesse der
nationalen Bildung viel für uns nachzuho-
len; mit Recht legt die im Februarheft die¬
ser Zeitschrift mitgeteilte Denkschrift des
preußischen Kultusministeriums an das Ab¬
geordnetenhaus Nachdruck darauf, daß alle
fachdiplomatische Schulung wertlos ist, wenn
nicht bei dem gesamten Volk das außen¬
politische Interesse geweckt wird.
Schon aus diesen Gedankengängen her¬
aus wird man den Versuch von Justus Has-
hagen 1 ), der sich die Aufgabe stellt, den
gewaltigen Stoff in der Form eines syste¬
matischen Kompendiums vorzutragen, als
eine Oberaus zweckmäßige Bereicherung
unserer gesamten Kriegsliteratur begrüßen
dürfen; nun ist man zur Orientierung doch
nicht mehr wie bisher fast ausschließlich
auf Anleihen bei fremden Nationen ange¬
wiesen. Zum erstenmal ist hier der Versuch
gemacht, die europäische bzw. die Welt¬
politik seit 1871 zu periodisieren, worüber
der Verfasser selbst die Leser dieser Zeit¬
schrift früher schon unterrichtet hat (Jg. 10,
1916, Sp. 1133 ff.). Nur der Blick auf das Ge¬
füge der planetarischen Politik ermöglicht
es ihm, den großen Wendepunkt im Jahre
1895, im Eintritt Japans und der Vereinigten
Staaten von Nordamerika in die Reihe der
Weltvölker, zu finden, während bei der Be¬
schränkung auf unsere deutsche Geschichte
die Zäsur etwa 1890 oder um 1900 anzu¬
setzen wäre. In der Stellung des Themas
liegt es begründet, daß die siebziger Jahre,
in denen noch nicht alle die älteren Gro߬
mächte aus dem europäischen Rahmen ihrer
Politik herausgetreten waren, verhältnis¬
mäßig kurz behandelt sind; darüber waren
wir auch in deutscher Sprache bereits aus¬
reichend unterrichtet. Die Benutzung frem¬
der Literatur und die Breite der Erzählung
nimmt zu, je weiter sie fortschreitet; die
letzten sieben Jahre vor Kriegsausbruch
füllen den ganzen zweiten Band.
Was die deutsche Geschichte im beson¬
deren betrifft, so hindert das hohe Lob, das
Hashagen den Großtaten Bismarcks auf dem
1) Umrisse der Weltpolitik. I 1871
—1907, II 1908—14. (Aus Natur u. Geistes¬
welt Bd. 553 u. 554.) Leipzig und Berlin 1916,
B. G. Teubner.
Gebiete der auswärtigen Politik nach 1871
zollt, ihn nicht, anzuerkennen, daß sich die
allgemeinen Bundesverhältnisse in den letz¬
ten Jahren des Fürsten bereits in einer für
uns durchaus ungünstigen Umbildung be¬
fanden. Seine besondere Vertrautheit mit
den ostasiatischen Problemen befähigt ihn
zu einer gerechten Einschätzung der Inter¬
ventionspolitik des neuen Kurses in der
Zeit des Friedens von Schimonoseki, und
die aktive deutsche Islampolitik seit 1898
wird warm verteidigt. Dagegen erfährt der
sogenannte Sansibarvertrag die bei unseren
Kolonialfreunden von früher her übliche
scharfe Verurteilung, und bei dem Fallen¬
lassen des Rückversicherungsvertrags mit
Rußland vermißt man eine Würdigung der
Gründe, die Freiherr v. Marschall im Jahre
1896 geltend gemacht hat, und die durch
die Erfahrungen von 1914 in ein schärferes
Licht gerückt sind. Entschieden zu weit
geht es, den Ausgang des Marokkohandels
1911 als einen Sieg Frankreichs zu buchen;
der Darstellung der deutsch-englischen Ver¬
ständigungsversuche von 1912 kann man
wiederum zustimmen.
Ober diese und andere Fragen wird sich
freilich noch lange keine Einigung erzielen
lassen. Darauf kam es bei einem Versuch
wie dem vorliegenden auch gar nicht an.
Die nächste Aufgabe zur Emanzipation un¬
serer politischen Literatur von den tenden- >
ziösen Erzeugnissen des Auslandes kann
nur in der Bereitstellung und Sichtung eines
möglichst zuverlässigen Quellenmaterials
bestehen, das dann nach den Grundsätzen
der historischen Methode und mit gesundem
Urteil zu verarbeiten ist; alles weitere wird
sich finden. Als einen ersprießlichen Bei¬
trag in diesem Sinne wird man trotz des
damit verbundenen Wagnisses und des
gegen manche Stellen zu erwartenden Wi¬
derspruches Hashagens Buch im ganzen
genommen freundlich registrieren.
München Theodor Bitterauf.
Ein neues Werk über den Buddhismus.
Zu den Darstellungen des Buddhismus,
die wir besitzen, stellt sich jetzt eine aus der
Feder eines Ceylonesen, A. Coomara-
swamy 1 ). Dieser geistvolle Schriftsteller,
durchaus auf der Höhe europäischer Bildung
stehend, ist vor allem durch seine unermüd-
1) A. C., Buddha and the Gospel of Bud-
dhism. London (Harrap & Co.) 1916.
1407
Nachrichten und Mitteilungen
1408
liehen Bemühungen bekannt, den bildenden
Künstfen Indiens höhere Schätzungzu erkämp¬
fen, als die allgemeine Meinung ihnen zu-
zugestehen pflegt. Daß seine Heimat die
Insel ist, die noch heute die altbuddhistischen
Überlieferungen in besonderer Reinheit be¬
wahrt hat, befähigt ihn vor andern, die Stim¬
mungen, die dem Buddhismus innewohnen,
als Selbsterlebtes in unmittelbarer Frische
tviederzugeben: wobei er sich freilich von
subjektiven Tendenzen, gelegentlich von
hypermodernen Gedankenströmungen nicht
überall unberührt hält. Ein Werk eigent¬
licher gelehrter Forschung ist sein Buch
nicht. An solchen fehlt es uns ja nicht; und
wer seine Arbeit von dieser Seite kritisieren
wollte, könnte manche Schwäche nicht über¬
sehen. Aber die geistige Feinheit, die das
Denken und die Ausdrucksweise dieseshoch-
begabten Orientalen kennzeichnet, verleiht
seiner Arbeit eigenartigen Reiz. Wie schön
ist — um nur weniges hervorzuheben —,
was er über das Naturgefühl der alten bud¬
dhistischen Mönche sagt — wie die Freude
an Blumen, an Wald und Gebirge, die in
der weltlichen Dichtung der Inder so leben¬
dig hervortritt, auch diesen weitabgewandten
Einsiedlern so gar nicht fremd war. Man hört
aus ihrer Poesie das Rauschen des Regens
im indischen Walde; man sieht den Zug der
Kraniche ihre hellen Fittiche ausbreiten, der
düstern Gewitterwolke zu entfliehen. Daß
solch liebevolles Sichversenken in das Natur¬
leben im Grunde in Widerspruch steht mit
dem ernsten Gebot des Sichlösens von allem,
was in dieser Welt ist, entgeht'dem fein¬
sinnigen Darsteller nicht. Die volle Strenge
des buddhistischen Gedankens kommt zum
Ausdruck in der Schilderung jenes Weisen,
der, vom Toben des wildesten Gewitters um¬
geben, nichts davon bemerkt, sondern un¬
gestört in seiner Meditation verharrt
Nicht minder inhaltreich als dies Kapitel
über das Verhalten des Buddhismus zur Na¬
tur ist das über die buddhistische Kunst.
Ich drücke mich ungenau aus: denn mit
Recht bemerkt der Verfasser, daß es sich viel¬
mehr um Kunst handelt, deren Gegenstand
der Buddhismus ist, als um buddhistische
Kunst. Darin möchte ich doch dem geist¬
vollen Autor nicht folgen, wie er den Ein¬
fluß der überhaupt von ihm m. E. mit un¬
gerechter Abneigung behandelten helleai¬
stisch-indischen Kunst, der „Gandharakunst”.
auf die Entstehung des typischen Buddha-
bildes zurückzudrängen sucht. Für ihn ist dies
Bild eine Schöpfung der „Buddhist primiti¬
ves*, und erst in zweiter Linie läßt er den
westlichen Einfluß eingreifen. Werden neue
Funde uns in der Tat Werke der Primitiven
vor Augen stellen, die ihm recht geben?
Soweit die bis jetzt verfügbaren Materialien
reichen, scheinen sie mir vielmehr anderes
zu lehren. Niemand hat es so bestimmt for¬
muliert wie A. Foucher, dieser hervorragen¬
de Kenner der Gandharakunst. Die indi¬
schen Primitiven haben es durchweg ver¬
mieden, den Buddha darzustellen. Wo sie
Szenen aus seinem Leben bilden, fehlt über¬
all — eine auf den ersten Blick höchst be¬
fremdende Lücke — seine eigene Gestalt
Erst der Gandharakunst war es Vorbehalten,
die Lücke auszufüllen. Auf sie geht das Bad-
dhabild zurück, das, sobald es geschaffen
ist, sich mit reißender Geschwindigkeit über
Indien, dann über Asien ausbreitet. Man tut
unrecht, an dieser Stelle, wo in die sonst
durchnind durch indische Welt des Buddhis¬
mus okzidentalischer Einfluß eingegriffen
hat, die Bedeutung dieser Tatsache zu ver¬
kleinern.
Wir dürfen das Buch von Coomaraswamy
als eins der sich beständig mehrenden Zeichen
dafür begrüßen, daß an den Aufgaben der
Indologie Gelehrte indischer Herkunft (und
diesen dürfen wir den Ceylonesen wohl zu¬
rechnen) eingreifend und fruchtbar mitzuar-
beiten sich anschicken. Es wäre zu beklagen,
wenn der wertvolle Typus des rein indi¬
schen, in seinem ganzen Wissen und Können
fest in den indischen Denkgewohnheiten
eingeschlossenen Gelehrten, die altehrwttr-
dige Gestalt des «Pandit*, verschwinden
sollte. Aber wir bedürfen in der Indologie
auch der Inder, die das Geistes- und Seelen¬
leben Europas mitleben und doch nicht auf¬
gehört haben Inder zu sein. Sie werden gut
tun, noch entschiedener, als es vielleicht von
Coomaraswamy gesagt werden kann, durch
die methodische Schule wissenschaftlichen
Arbeitens in vollster Strenge hindurchzu¬
gehen. Was kann dann den europäischen
Forschern willkommener sein äls ihre Hilfe?
H. Oldenberg.
Für die Sdirlftlelttuig verantwortlich: Professor Dr. Max Cornicelius, Berlin W30, LuItpoMatraBe 4.
Druck von B.Q.Teubner ln Leipzig.
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Go^ 'gle
Original fram
INDIANA UNtVERSITY
INTERNATIONALE MONATSSCHRIFT
FÜR WISSENSCHAFT KUNST UND TECHNIK
11. JAHRGANG HEFT 12 1. SEPTEMBER 1917
Die Sinn Feiner in Irland.
Von Wilhelm Dibelius.
In England hat es peinliches Aufsehen
erregt, daß in drei kurz aufeinander
folgenden Nachwahlen zum englischen
Parlament (Februar, Mai, Juli 1917) in Ir¬
land die Partei Redmonds, der trotz aller
scharfen Opposition darauf hält, das
Band mit der Regierung nicht zu zer¬
schneiden, eine empfindliche Niederlage
erlitt. Obgleich es sich jedesmal um
kleine abgelegene Landstädtchen han¬
delte, dieals absolut sicherer Besitz Red¬
monds galten, wurde sowohl in Roscom-
mon wie in Longford und in Kilkenny der
Sinn Fein-Kandidat gewählt, das eine Mal
der Vater eines der Opfer des Osterauf¬
standes, Graf Plunkett, das andere Mal ein
gewisser MacGuinness, der seit dem Auf¬
stande wegen Hochverrats im Gefängnis
zu Lewes sitzt. In Dublin wurden jedes¬
mal nach dem Bekanntwerden des
Wahlergebnisses republikanische Flag¬
gen gehißt, und jedermann sah in dem
Wahlausfall eine englandfeindliche, auf¬
rührerische Kundgebung. Die Regierung
entschloß sich sofort nach der Wahl in
Longford, einen letzten Versuch zu ma¬
chen, den irischen Ausgleich durch Ein¬
berufung eines irischen Nationalkon¬
vents, zusammengesetzt aus allen Par¬
teien und allen Interessemtengruppen Ir¬
lands, zustande zu bringen; sie mußte
befürchten, daß, wenn man die Dinge
noch länger treiben ließe, die Macht des
einst allgewaltigen Redmond gänzlich
hinweggefegt und alle irischen Parla¬
mentssitze den Sinn Feinem zufallen
würden. Wer sind aber die Sinn Fei¬
ner?
Man hat dabei zweierlei zu unterschei¬
den. Man versteht unter den Sinn Fei¬
nem im weiteren Sinne alle Iren, die
Redmonds zurückhaltende Politik ge¬
genüber England nicht mitmachen, die
keine Versöhnung mit England wollen
und am liebsten heute noch einen zwei¬
ten Aufstand anzettelten. Es sind dies
die Angehörigen der verschiedensten po¬
litischen Gruppen, die nur in der Oppo¬
sition einigermaßen einig sind. Eigent¬
lich verdient den Namen Sinn Feiner aber
nur eine von ihnen, die auf das Sinn
Fein-Programm schwört, von dem im
folgenden die Rede sein soll.
Ir» Irland gibt es von alters her nur
— mit geringen Ausnahmen — eine ka¬
tholische, nationalistische Partei, die im
englischen Parlament 80 Mandate zählt
und, dem deutschen Zentrum gleich,
recht verschiedenartige Gegensätze in
sich vereinigt. Dabei werden über Par¬
teiprogramm und Parteitaktik die heftig¬
sten Kämpfe geführt, die oft genug die
Einheit der Partei auf das empfindlich¬
ste bedroht haben. Hier kommt nament¬
lich in Betracht eine Opposition der Ra¬
dikalen, die seit den vierziger Jahren
immer in irgendeiner Form vorhanden
war und heute am lärmendsten und hef¬
tigsten in der Sinn Feiner-Bewegung
auftritt.
Die drei großen parlamentarischen
Führer des Irentums im 19. Jahrhundert,
45
1411
Wilhelm Dibelius, Die Sinn Feiner in Irland
1412
Daniel O’Connell (11844), John Stuart
Parnell (fl890) und John Redmond ha¬
ben ihre gewaltigen Erfolge erreicht
durch kluge parlamentarische Taktik. Die
Iren waren im Parlament oft das Züng¬
lein an der Wage, stets ein überaus will¬
kommener Bundesgenosse der herr¬
schenden Partei, der seine Forderungen
stellen konnte und sie aufs rücksichts¬
loseste einzutreiben pflegte. Mit Hilfe
dieser Taktik hat Irland die riesenhaf¬
ten Reformen des 19. Jahrhunderts
durchgesetzt, die volle Gleichberechti¬
gung, ja Vorherrschaft der katholischen
Kirche, den (zum großen Teil durchge¬
führten) Auskauf des englischen Gro߬
grundbesitzes und seine Ersetzung durch
irische Kleinbauern, auch die — freilich
noch auf dem Papiere stehende —
Selbstverwaltung. Aber die natürliche Ge¬
genleistung der Iren an England war
Teilnahme am parlamentarischen Leben
des Landes, wobei die irischen Abgeord¬
neten ein Bündnis meist mit den Libera¬
len, gelegentlich auch mit den Konser¬
vativen eingingen, also in allen nichtiri¬
schen Fragen im Schlepptau einer eng¬
lischen Partei segelten. Und dem schär¬
feren Beobachter konnte es nicht ent¬
gehn, daß, je mehr die Reformen men¬
schenwürdige Zustände in dem Lande
schufen, der revolutionäre Drang ab¬
nahm, sich jedenfalls mehr in blutrün¬
stigen Reden als in Taten entlud. Die
Entwicklung drängte ganz im Sinne der
englischen Politik dahin, aus Irland ei¬
nen, einstweilen zwar immer noch un¬
zufriedenen und revolutionär redenden,
aber im Grunde des Herzens doch sich
in das Unvermeidliche schickenden Lan¬
desteil Englands zu machen. Und in die¬
sem Kampfe um mehr Rechte für Irland
— der zunächst ganz überwiegend ein
Kampf für Rechte der katholischen Kir¬
che in Irland gewesen war — war die na-
♦ : nnalistische Partei immer stärker in
Gegensatz gegen die streng protestanti¬
schen Iren der Nordprovinz Ulster getre¬
ten, so daß man allmählich anfangen
konnte, von den „zwei verschiedenen Ir¬
lands“, dem evangelischen Nordosten
und dem übrigen katholischen Teil des
Landes, zu sprechen.
Gegen diese Entwicklung machten
schon in den vierziger Jahren die Un¬
entwegten unter der Führung von Char¬
les Gavan Duffy und Thomas Davies
Front. Sie, die Jungirlandpartei,
eine kleine Schar von Dichtern und Li¬
teraten, sahen in den gewaltigen Erfol¬
gen des großen Führers O’Connell ge¬
radezu ein nationales Unglück. Ihr ro¬
mantischer Idealismus empörte sich
gegen den Riß, der sich immer deutli¬
cher zwischen den beiden Landesteilen
von Irland auftat. Mit allem Nachdruck
pflegten sie zu betonen, daß Ulster und
der Süden zusammengehörten, daß nur
in der Einheit des Landes Irlands Zu¬
kunft beschlossen liege, daß nahezu alle
nationalen Führer der Zeit vor O’Con¬
nell Protestanten waren. Auch Davies
war Protestant; in der Jungirlandbewe¬
gung empört sich der neu aufkeimende
irische Nationalismus gegen die kleri¬
kale Note, die O’Connell ihm zu geben
im Begriff war. Und sie macht ferner
Front gegen die Versöhnung mit Eng¬
land, die — für die damalige Zeit si¬
cher mit Unrecht — im Hintergründe von
O’Connells wirtschaftlichenForderungen
an England zu stehn schien. Die Jung-
iren wollten los von England um jeden
Preis, und nationaler Wohlstand schien
ihnen um den Preis der Versöhnung mit
England zu teuer erkauft. Sie sahen ihre
Lebensaufgabe darin, die absterbende
keltische Eigenart des Landes in Li¬
teratur, Kunst, Sprache vor dem Über¬
handnehmen des EngläJidertums zu be¬
wahren und sehnten einen Aufstand her¬
bei, der die Freiheit ihres Landes end-
1413
Wilhelm Dibelius, Die Sinn Feiner in Irland
1414
gültig besiegeln sollte. Bis dieser Auf¬
stand durchzusetzen war, sollten sich
nach Davies’ Meinung die irischen Ab¬
geordneten von jeder Teilnahme am po¬
litischen Leben Englands femhalten, ih¬
re Mandate in Westminster also nicht
ausüben, kein Ire sollte als Beamter in
englische Dienste treten, der Unterschied
des irischen Wesens vom englischen
möglichst schroff betont werden. O’Con-
nell — der für die irische Nation die
Freiheit der katholischen Kirche errun¬
gen und die später zur Entscheidung
kommenden Kämpfe um das Land einge¬
leitet hatte, der selbst nahe daran war,
den Aufstand zu entfachen — war für
diese heißblütigen Radikalen ein Leise¬
treter, ja fast ein Verräter.
Das Jungirentum hat nur in den vier¬
ziger Jahren eine gewisse politische Be¬
deutung gehabt. Um 1850 verschwindet
es aus der Geschichte. Die Politik
O’Connells hatte gesiegt; auch unter
seinem Nachfolger Parnell — der selbst
ein Protestant war — wird die irische
Politik rein von katholischen und wirt¬
schaftlichen Gesichtspunkten geleitet.
Um 1890 kommt dagegen wieder eine
nationalistische Strömung in der Poli¬
tik zur Geltung, die ganz ähnlich wie
zur Zeit O’Connells das gemeinsam Iri¬
sche im Verhältnis von Ulster und Süd¬
irland betont, durch die „Gälische Liga“
seit 1893 die irische Sprache wieder zu
beleben versucht und den stark klerikalen
Einschlag im irischen Leben bekämpft.
Während aber die Jungirlandbewegung
derzeit von Davies und Duffy von allem
Wirtschaftlichen so weit wie möglich ab -
sah, hat die neue Sinn Fein-Bewe-
gungeinen starken wirtschaftlichen Un¬
tergrund. Ihr Hauptvertreter, Arthur
Griffith, Herausgeber der Zeitschrift
Sinn Fein in Dublin (seit 1904) fürchtet
gleich Davies, daß die wirtschaftliche
Hebung des Landes, welche die Englän¬
der seit 1881 in gewaltigem Maßstabe
durchführen, Irland schließlich doch ins
englische Fahrwasser zwingen könnte.
Er möchte im Gegensätze dazu die neu
geschaffenen wirtschaftlichen und gei¬
stigen Kräfte des Landes dazu benutzen,
um England aus dem Lande herauszu¬
boykottieren.
Die Methode der pariamentarischen
Partei war es gewesen, durch Druck, Ein¬
schüchterung und Erpressung alles mög¬
liche von England zu erzwingen; das
ganze riesige Programm der wirtschaft¬
lichen Erneuerung des Landes ist mit
englischem Gelde durchgeführt worden.
Dies englische Geld will nun Arthur
Griffith ohne weiteres ablehnen; Sinn
Fein x ) — „wir selbst“, lautet das Schlag¬
wort in deutlicher Anlehnung an das
„Italia farä da s£“ Cavours — werden
die Befreiung Irlands vollenden. Irland
ist ein reiches Land; es besitzt eineLand-
wirtschaft, die erst jetzt, seit der
wirtschaftlichen Hebung der 80er und
90er Jahre zur Geltung zu kommen be¬
ginnt; es besitzt riesige Torfmoore, die
nur niemand ausbeutet, und Kohlenlager,
von denen dasselbe gilt, prachtvolle na¬
türliche Häfen, nach Westen gerichtet,
wie geschaffen dazu, dem Verkehr Eu¬
ropas mit Amerika.als Ausfallspforte zu
dienen, während doch tatsächlich der ge¬
samte transatlantische Verkehr sie um¬
geht. Es besitzt auch in Belfast, das»trotz
der konfessionellen Abspaltung innerlich
zu Irland gehört, eine Industrie von
Weltruf und Weltbedeutung. Wo Ir¬
land — etwa mit seinen Eisenbahnen —
vom englischen Kapital befruchtet wird,
ist es in einseitig englischem Jnteresse
ausgebeutet worden, darum heißt jetzt
die Losung Sinn Fein, „wir selbst"; es
gilt die irische Industrie und Landwirt¬
schaft auf alle Weise zu fördern, die iri-
1) Gesprochen wird das Wort: ‘schinn fen’.
1415
Wilhelm Dibelius, Die Sinn Feiner in Irland
1416
sehen Spargrosdien durch eigene irische
Banken vor der Absaugung durch die
Londoner Börse zu bewahren, das Ka¬
pital von Belfast für Irland zu sichern
und das eher noch reichere irische Ka¬
pital in Amerika wieder nach Irland zu
leiten und es der wirtschaftlichen He¬
bung des Landes dienstbar zu machen.
Weiter will man, um die Ausfuhr- und
Einfuhrmöglichkeiten Irlands zu fördern,
Handelsagenten nach Frankreich und an¬
deren europäischen Ländern senden, da
der britische Konsulardienst ja doch im¬
mer Irlands Interessen vernachlässigt In
geistiger Beziehung will man alles för¬
dern, was die Einheit und die Eigenart
Irlands im Gegensätze zu England be¬
tont: die irische Sprache soll in allen
Schulen obligatorisch gemacht werden,
alle Beamten sollen ihrer mächtig sein
müssen — womit der englische Beamte,
der es für unter seiner Würde hält, auch
nur ein irisches Wort zu kennen, aus¬
geschlossen wird und nur der Eingebo¬
rene streng irischer Gegenden eine An¬
wartschaft auf Beamtenstellen erhalten
soll. Selbstverständlich darf kein zielbe¬
wußter Ire ins englische Heer eintreten.
Wirtschaftliche Hebung und nationale
Abschließung sollen schließlich zum völ¬
ligen Boykott alles f^ngländertums füh¬
ren und allmählich die Engländer aus
dem Lande herausärgern. Daß für die¬
ses Programm jede parlamentarische Tä¬
tigkeit eines irischen Abgeordneten in
Westminster nahezu Hochverrat ist, daß
alle von England kommenden oder ihm
abgezwungenen Wohltaten für Irland
Danaergeschenke sind, braucht nicht erst
weiter bewiesen zu werden. Daß dies
alles nicht nur Hirngespinste sind, son¬
dern — angeblich — Möglichkeiten
praktischer Politik, beweisen die Tsche¬
chen und die Ungarn, die mit beharr¬
licher Kleinarbeit, mit folgerichtiger
Weigerung, in kritischen Perioden ihre
Abgeordneten zum Wiener großösterrei¬
chischen Zentralparlament zu schicken,
eine ziemliche Selbständigkeit .erreicht
haben, das beweist Norwegen — stets
das große Beispiel der Sinn Fein-Agita-
tion — das niemals Wohltaten von
Schweden annahm, aber rücksichtslos al¬
les schwedische Wesen zum Lande hin¬
ausboykottierte und schließlich 1905
durch eine unblutige Revolution seine
volle Freiheit errang.
Es liegt auf der Hand, daß das Sinn
Fein-Programm praktisch vollkommen
wertlos ist. Wenn sich irgendein Land
nicht friedlich aus einer Kolonie heraus¬
boykottieren läßt, so ist dies England,
und wenn England irgendeine Kolonie
bis zum äußersten verteidigen wird, so ist
es Irland, das zwischen England und dem-
Weltmeer liegt. Das Sinn Fein-Programm
ist vielmehr die keltische Ausprägung
des Programms der Ganzradikalen zu
allen Zeiten und in allen Ländern, die da
glauben, dem Staate gegenüber etwas
erreichen zu können, indem sie den
Staat einfach ignorieren, das Programm
von Dichtem, Schriftstellern und Künst¬
lern, deren politische Kraft sich in Träu¬
men erschöpft. Historisch interessant ist
dabei nur, daß auch hier der Versuch
gemacht werden soll, den politisch zu
befreienden Staat erst einmal auf starke
wirtschaftliche Grundlagen zu stellen
und die wirtschaftliche Kraft dann ge¬
gen den Unterdrücker zu richten, ein Ge¬
danke, der gleichzeitig auch bei den Po-
■ len in Preußen und der Swadeshibewe-
gung in Indien wiederkehrt, auch —
wenn auch nur in kurzlebiger Form —
in der Türkei und in China aufgetaucht
ist. Man kann verstehen, daß PameUs
Nachfolger Redmond diese Gegner nicht
emstnahm, daß auch die englische Re¬
gierung in Irland zunächst geneigt war,
die Sinn Feiner als Gegengewicht gegen
die bisher allmächtige Partei Redmonds
Digr
Original frum
INDIANA UNtVERSITY
1417
Wilhelm Dibelius, Die Sinn Feiner in Irland
1418
zu begünstigen. Menschen, die es grund¬
sätzlich ablehnten, sich am parlamenta¬
rischen Leben zu beteiligen, also den
einzig möglichen Kampfplatz nicht ein¬
mal betraten, waren für jeden gewiegten
Politiker politische Nullen. Tatsächlich
war auch der Einfluß der Sinn Feiner
in Irland bis zum Beginn des Krieges
mehr als bescheiden. Sie haben in Du¬
blin und an anderen Orten sich zeitweilig
stark an den städtischen Wahlen be¬
teiligt und ihre Vertreter haben bei
allen Gelegenheiten durchzusetzen ver¬
sucht, daß städtische Aufträge nur an
irische, nicht an englische Finnen ge¬
geben wurden — damit war aber ihre
unmittelbare praktische Wirksamkeit er¬
schöpft.
Von Bedeutung aber wurden sie da¬
durch, daß die „GälischeLiga“ mehr
und mehr dem Sinn Fein-Programm zu¬
neigte. In ihr — gegründet 1893 — fand
das kulturelle Programm der Jungir¬
land-Partei der vierziger Jahre eine neue
Ausprägung. Sie ist aufs eifrigste be¬
müht, die irische Sprache, die ja über
4 /s der Iren nicht einmal mehr verstehen,
neu zu beleben, ja sie neu zu schaffen,
zunächst einmal die Wörter zu prägen,
mit denen jene — noch dazu heillos dia¬
lektisch gespaltene — Bauemsprache des
16. und 17. Jahrhunderts moderne tech¬
nische, künstlerische, politische und wis¬
senschaftliche Begriffe wiedergeben
kann. Sie treibt eine bedeutende Kultur¬
arbeit, indem sie alte Volksgesänge und
Volkstänze neu belebt, durch Ausstel¬
lungen und Preise irische Volkskunst för¬
dert, und tritt dabei —da ja irische Spit¬
zenkunstweberei auch ihre wirtschaftli¬
che Seite hat — in enge Beziehun¬
gen zur Sinn Fein-Bewegung. Dem Pro¬
gramm nach sind beide Bewegungen
durchaus voneinander verschieden: die
Gälische Liga ist absolut unpolitisch,
eine reine Kulturbewegung; dieSinn Fei¬
ner dagegen haben ein festes politisches
und wirtschaftliches, stark englandfeind -
liches Programm. Die Gälische Liga
stellt die ältere Schicht des neu erwa¬
chenden Nationalismus dar, die rein kul¬
turelle Begeisterung am eigenen Volks¬
tum, die Epoche, in der Dichter und
Literaten die Führung haben. Die Sinn
Fein-Bewegung dagegen ist eine um an¬
derthalb Jahrzehnte jüngere Bildung,
die Vertreterin der zweiten Epoche des
Nationalismus, wie sie sich auch bei
Tschechen, Südslawen, Litauern, Klein¬
russen eingestellt hat,wo aus der Kul¬
turbewegung wirtschaftliche und poli¬
tische Folgerungen gezogen werden. Bei
Ausbruch des Weltkrieges hing der
größte Teil der gebildeten Jugend Ir¬
lands sowohl der „Gälischen Liga“ wie
der Sinn Fein-Bewegung an — ohne
daß die große Masse sich des verschie¬
denen Endzieles beider Strömungen be¬
wußt war —, und der Weltkrieg trieb
die Bewegung in ein drittes Stadium, in
die offene Revolution.
Zunächst erreichten die Sinn Feiner
im Verein mit der Gälischen Liga, daß
die Masse der Bevölkerung sich in im¬
mer steigendem Maße von Redmond ab¬
wandte. Redmond, der offizielle Führer
des Irentums, verkündete gleich nach
der Kriegserklärung seine unbedingte
Ergebenheit gegen England und erbot
sich sogar, mit Hilfe seiner Freiwilligen
die Verteidigung Irlands gegen einen
deutschen Einfall zu übernehmen. (Die
Regierung, die den Treueversicherurigen
Redmonds nie getraut hat, lehnte aller¬
dings dankend ab.) Redmond erklärte
sich auch für die Rekrutierung in Ir¬
land und pries laut die Taten der iri¬
schen Regimenter bei Mons und an den
Dardanellen — freilich wer genauer hin¬
hörte, der fand, daß alle seine Reden mehr
für seine irisch-nationalen Freiwilligen
warben als für das englische Expeditions-
Digitized b'
Go gle
Original from
UM Milli 71 sITY
1419
Wilhelm Dibelius, Die Sinn Feiner in Irland
1420
heer. Aber so sehr sich auch Redmond
bemühen mochte, zwischen dem Haß sei¬
ner Iren gegen England und einer ge-
zwungeneoLoyalität, als deren Preis Ho¬
merule für Irland winkte, einen Mittelweg
zu finden, für die Iren war sein Auftre¬
ten immer noch viel zu englandfreund¬
lich und er rief gegen sich eine immer
starker anwachsende Opposition ins
Feld, für die dann der Sinn Fein-
Gedanke der nächstliegende Vereini-
gungspunkt war — betonte er doch aufs
nachdrücklichste den Unterschied Zwi¬
schen Irland und England, aus dem sich
ohne weiteres ergab, daß dies ein engli¬
scher, kein irischer Krieg sei, ja viel¬
leicht sogar ein Krieg, der die Möglich¬
keit bot, England zum Lande hinauszu-
drangen, zunächst dadurch, daß die jun¬
gen irischen Männer das englische Heer
boykottierten, und dann weiter Englands
Feind um Hilfe angingen. Sir Roger
Casements Volkstümlichkeit in Irland ist
zum großen Teil durch den Umstand
veranlaßt, daß er der erste der von dem
Sinn Fein-Programm ersehnten „Kon¬
suln“ Irlands bei einer befreundeten eu¬
ropäischen Macht war.
Der Aufstand von 1916 ist längst nicht
in erster Linie das Werk der Sinn Fei¬
ner. In ihm reichte sich alles die Hand,
was England feindlich und ein Gegner
von Redmonds Versöhnungspolitik war.
Neben den Sinn Feinern fanden sich
hier zu gemeinsamer Arbeit die Repu¬
blikaner, bisher eine kleine kaum beach¬
tete Gruppe, die aber jetzt, wo es sich
um ganze Arbeit handelte, der Sinn Fein-
Bewegung ein bis dahin noch nicht aus¬
gesprochenes republikanisches Endpro¬
gramm gab. Auch die revolutionär-
anarchistische Dubliner Arbeiterpartei
und die Reste der alten Fenier nahmen
das Sinn Fein-Programm an. Vor allem
aber taten das gleiche die „Irischen Frei¬
willigen“! John Mac Neills, die aus den
„Nationalen Freiwilligen“, die 1913 zum
Kampfe gegen die Ulsterleute geschaf¬
fen waren, abschwenkten, als Redmond
dieser Organisation seinen Willen aufzu¬
drücken versuchte. Wenn unter denvie-
len Einzelgruppen eine genannt zu wer¬
den verdient, die mit besonderer Energie
den Aufstand geplant und durchgeführt
hat, so verdienen die „Irischen Freiwil¬
ligen“, nicht die Sinn Feiner, eine be¬
sondere Erwähnung. Aber es ist schwer,
eine solche Scheidung vorzunehmen:
wenn man bedenkt, daß das ganze ka¬
tholische Irland nur 37$ Millionen See¬
len zählt, .und daß all die genannten
Gruppen zusammen nur die Minderheit
sind, die sich gegen die Politik der
Redmondschen Mehrheit auflehnt, so
wird es klar, daß die einzelnen Parteibil¬
dungen stark ineinander übergehen, zu¬
mal ihre Programme sich oft genug nahe
berühren.
Im Augenblick sieht es so aus, als hät¬
ten die Sinn Feiner den maßgebenden
Einfluß in Irland. Die drei zu Anfang
genannten Wahlen haben jedenfalls ge¬
zeigt, daß Redmonds Stern in auffälli¬
gem Niedergang begriffen ist. Die Mas¬
se der bäuerlichen Wählerschaft desLan-
des hält weiter zu ihm — sie hat sich
an dem Aufstande auch nicht beteiligt
—, auch die größere Masse des älteren
Klerus dürfte noch auf seiner Seite stehn.
Aber die ganze gebildete Jugend des
Landes schwört, anscheinend mit Ein¬
schluß der jüngeren Geistlichkeit, heu¬
te auf das Sinn Fein-Programm, viel¬
leicht nicht auf alle Einzelheiten, aber
doch auf die beiden Hauptpunkte: die
Forderung, Irland als unabhängige Na¬
tion in möglichst scharfer Trennung von
England anerkannt zu sehen, und die For¬
derung, die Einheit von Nord und Süd
trotz aller eigensüchtigen Politik Car-
sons und seiner Ulsterleute zu bewahren.
Nichts hat — abgesehen von seiner eng-
DkJfEfMd By GOt+glC
Original frum
INDIANA UN1VERSITY
1421
Wilhelm Dibelius, Die Sinn Feiner in Irland
1422
landfreundlichen Haltung — Redmond
in den Augen seiner Landsleute so ge¬
schadet als sein Versuch, Ulster eine
Lostrennungzubewilligen; zweimal (Juli
1916 und Mai 1917) ist wesentlich an
dieser Klippe der irische Ausgleich ge¬
scheitert, und auch die katholische Kir¬
che hat geglaubt, dieser Stimmung ih¬
rer Gläubigen Rechnung tragen zu müs¬
sen; der Sieg des Sinn Feiners inLong-
ford ist wesentlich dadurch entschieden
worden, daß die katholischen (und ei¬
nige protestantische) Bischöfe mit einem
deutlichen Hieb gegen Redmond eine
feierliche Kundgebung zugunsten der
Einheit Irlands gegen den allmächtigen
Diktator in den Wahlkampf schleuder¬
ten; das alte — wenn auch immer ge¬
legentliche Sprünge aufweisende —
Bündnis zwischen dein katholischen Kle¬
rus und der katholisch-nationalistischen
Partei Irlands scheint einen klaffenden
Riß bekommen zu haben. Schon fühlen
sich die Sinn Feiner als die kommende
M<icht, die Redmond und seine Partei
ablösen soll. Unzweifelhaft ist der jet¬
zige Zustand etwas Unnatürliches, wo
Irland durch eine Partei mit einem rein
nationalen und kirchlichen Programm
vertreten ist, die zu den dringendsten
Fragen der Gegenwart überhaupt keine
Stellung nimmt, für die es Freihandel
und Schutzzoll nicht gibt und die vor
dem grauenhaften Wohnungselend der
Armenviertel von Dublin bewußt dieAu-
gen schließt. Die Zeit muß einmal kom¬
men, wo — ganz ähnlich wie bei Po¬
len, Tschechen und Slowenen — auch
in Irland das rein nationale Programm
der älteren Zeit durch modernere partei¬
bildende Gegensätze durchkreuzt wird.
In den Sinn Feinem scheint eine neue
Partei im Entstehen begriffen zu sein,
welche die großstädtischen Interessen
gegenüber dem Lande vertritt, republi¬
kanisch und sozialistisch, daneben
schutzzöllnerisch und antiklerikal ange¬
haucht ist, und die sicher ein wertvolles
Element im öffentlichen Leben des Lan¬
des bilden könnte. Aber sie steht vor¬
läufig doch noch trotz ihrer gegenwär¬
tigen Augenblickserfolge auf recht
schwachen Füßen. Ihre Beschränkung
auf die Großstadt mit ihren Arbeitern
und auf die gebildete Jugend gibt ihr
in diesem Lande der Kleinstädte und der
Kleinbürger doch eine überaus schmale
Grundlage, und so einfach lassen sich
Katholizismus und flaches Land, die
bisher die Politik Irlands gemacht ha¬
ben, nicht ausschalten. Und geradezu
verhängnisvoll ist für die Sinn Feiner
bisher noch der Mangel ar^staatsmänni-
scher Führung und an innerem Zusam¬
menhalt gewesen. Noch ist ihnen kein
Führer entstanden, der auch nur ent¬
fernt imstande wäre, eine machtvolle
neue politische Partei zu befehligen. Der
erste Versuch des neugewählten Sinn
Fein-Abgeordneten für Roscommon, des
Grafen Plunkett, aus all den kleinen Par¬
teisplittern, denen er seine Wahl dankte,
der Dubliner Arbeiterpartei, den Repu¬
blikanern, den eigentlichen Sinn Fein-
Leuten und anderen redmondfeindli¬
chen Vereinigungen eine einheitliche Sinn
Fein-Partei zu gründen, erlitt vielmehr
auf der Konferenz im Dubliner Rathaus
im April 1917 eine schmähliche Nieder¬
lage. Solange die vornehmste Sinn Feim-
Forderung des Augenblicks darin be¬
steht, daß ein besonderer Vertreter Ir¬
lands auf der kommenden Friedenskon¬
ferenz zugelassen wird und solange die
Sinn Feiner ihre Abgeordneten dazu ver¬
pflichten, sich unter allen Umständen
vom englischen Parlament femizuhalten,
sind sie noch keine emstzunehmende
politische Macht, sondern vorläufig erst
ein Symptom augenblicklicher Verärge¬
rung der Iren mit ihrer politischen Füh¬
rung, das noch einer langen Und durch-
1423 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Liebte seiner und unserer Zeit 1424
greifenden Entwicklung bedarf, um wirk¬
liche politische Bedeutung zu gewinnen.
Für England ergibt sich aus all dem nur
die wenig tröstliche Erkenntnis, daß der
Führer der irischen Versöhnungspolitik,
Redmond, dem im Herzen kein Englän¬
der traut — Sir Roger Casement behaup¬
tete mir gegenüber, aus Redmonds eige¬
nem Munde gehört zu haben, daß er im
Herzen für eine selbständige irischeRe*
publik sei — von der Masse der Ire
in immer stärkerem Maße als zu eng¬
landfreundlich abgelehnt wird. Für die
500000 Mann, die Jrland angeblich nod
für das Heer in Frankreich stellen soll,
ist dieser Zustand der Dinge kein güc-
| stiges Vorzeichen!
Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer
Zeit.
Von Harry Maync.
Der Referendar und Dramendichter
Schottenbauer in dem Wildenbruch-
schen Roman „Schwester-Seele“ (dessen
selbstbiographischer Gehalt kaum über¬
schätzt werden kann) pflegt, „die Hände
auf dem Rücken, den Kopf an der Erde“,
still und allein für sich langsam durch
die Straßen zu wandeln. Genau so sahen
wir Berliner Studenten der neunziger
Jahre den Legationsrat und „Hohenzol-
lem-Dichter“ Emst v. Wildenbruch gar
oft vom Auswärtigen Amt her einsam
und versonnen durch das lärmende Ge¬
triebe der Leipziger Straße gehen. „Ein
kleiner, vierschrötiger Mann mit einem
großen runden Kopfe; so ziemlich das
Gegenteil von dem, wie die Menschen
sich einen Dichter vorzustellen pflegen.
Ein Gesicht, an dem man vorübergimg,
unschön, aber unsäglich gutmütig ....
ein unscheinbarer, verlegener Mann, der
sich auf der Promenade schüchtern vor¬
beischob.“ So malt Wildenbruch das
Ebenbild seiner erfolglosen Anfänger¬
jahre weiter aus, ohne zu beschönigen
und sich zu schmeicheln. Im Gegenteil.
Der fünfzigjährige Mann wenigstens,
den wir sofort von fern erkannten, zeigte
wohl noch immer die etwas zu gedrun¬
gene Gestalt und die dicken roten Ban¬
ken, schritt immer noch, trotz den in¬
zwischen eingeheimsten Lorbeeren und
rauschenden Erfolgen ohne jeden zur
Schau getragenen Stolz und ohne die
geringste Pose und trotz seinem marttf*
lischen blonden Schnurrbart eherschüch-
tem einher und bog jedermann freiwillig
im Gedränge aus, aber uninteressant
oder gar unbedeutend erschien er uns
darum keineswegs. Das tiefernste, ge¬
dankenvolle Gesicht, von rastloser gei¬
stiger Arbeit und seelischer Not gefurcht
zwang uns durch einen Zug von Traue:
menschlichen Anteil ab. Daß die von
einer goldenen Brille überdeckten Augen
meist gerötet waren, als hätten sie vor
kurzem geweint, kam von ihrer Kurz¬
sichtigkeit, das Gespannte in ihrem Aus¬
druck von der zunehmenden Schwer¬
hörigkeit des Dichters; deutlicher stand
ihm eine innere Qual, das Gefühl unver¬
dienten Verkanntseins auf der hoher
Stirn geschrieben. Nachdenklich folgtet
wir ihm wohl ein Stück auf seinem
Wege in die heimische Hohenzollem
Straße, mit einer etwas scheuen und un¬
sicheren Ehrerbietung, aber ohne die
verehrende Liebe, die uns sofort erfüllte,
wenn wir umkehrend aus dem alten Jo-
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INDIANA UNIVERSITY
1427 narry lvtaync, crnsi v. wuuenuruui im l.iuuic seiner unu unserer ^.cn 14^
beiden feindlichen Lagern. Jeder Erfolg
des einen wurde zu einer Niederlage des
anderen und seiner Kunstrichtung ge¬
stempelt. Auf Hauptmanns Seite stan¬
den die besten Köpfe, während Wilden¬
bruch mehr die guten Leute und schlech¬
ten Musikanten zu den Seinen zählte,
und als gar der alte Preußendichter Fon¬
tane, der als Theaterkritiker der Vossi-
schen Zeitung mit dem neuen Preußen-
dichter streng ins Gericht ging, sich of¬
fen für Hauptmann und die junge Kunst
erklärte, da gab es für uns vollends kein
Halten mehr, und wir überboten unsere
Führer in Geringschätzung Wilden¬
bruchs. Es war nicht umsonst eine Zeit,
da Schiller, unerhört tief im Kurse
stand. „Als Student war ich ein Schiller-
Hasser“, erklärt Brahm im Vorwort seiner
gescheiten, aber kühlen Biographie des
großen Dichters. Auf dem Gymnasium
war unsere knabenhafte Schillerbegei¬
sterung infolge der pedantisch öden Be¬
handlung seiner Dramen einem starken
Überdruß gewichen, so daß wir uns dop¬
pelt feurig der so ganz anders gearteten
neuen Kunst in die Arme warfen. Und
nun erhob zugleich ein Dichter Ansprü¬
che, der mit seinen geschichtlichen Dra¬
men unmittelbar von demselben, uns so
fad gewordenen Schiller herzukommen
schien!
Karl Frenzei hat Wildenbruch einmal
mit Nachdruck als den „einzig berufenen
Nachfolger Schillers“ bezeichnet, und
zweifellos setzt der Dichter in der Ge¬
schichte des deutschen Dramas die
Linie fort, an deren höchster Stelle der
Name Schillers steht. Aber ein eigent¬
licher Schillemachahmer war Wilden¬
bruch nicht. Er hat mehr bei späteren
Zwischengliedern dieser Entwicklung
angeknüpft: bei Richard Wagner, zu
dessen Auffassung von der Bedeutung
des Dramas großen Stils er sich feurig
bekannte, bei den Meiningern, die einer
neuen Bühnenkunst Bahn brachen und
auch ihn selbst erfolgreich einführte::
Schiller-Epigonen gleich Geibel und Ai-
bert Lindner (den Schillerpreis-Trägem)
waren Wildenbruch, der ein solch?
nicht ist, voraufgegangen; eruntemahr
auf dramatischem Gebiet, was Gusta.
Freytag, dem Verfasser der „Ahnen
und voLiends Felix Dahn in seinen gre
ßen geschichtlichen Romanen nur zurr.
Teil geglückt war. Nicht aus Nachah¬
mungstrieb, sondern in der tiefgewur
zelten und unerschütterlichen Überze^
gung, daß dem deutschen Volke die
große nationale Kunst nicht verloren ge¬
hen dürfe und eben jetzt bitter not sei
Er sah es auf dem Theater französischer
und französelnden Ehebruchsdramenunc
der dumpfen Armeleute-Pcesie der Na¬
turalisten zujubeln, die mit nüchternen
Wirkiichkeitssinn die Welt gerade nach
ihren Schattenseiten getreulich abzukon-
terfeien bemüht waren. Als geborene:
Pathetiker, und weil er die Zeichen der
Zeit zu erkennen glaubte, stellte sich
Wildenbruch der herrschenden Kunst¬
richtung bewußt und leidenschaftlich
entgegen. An Stelle sozialer Elendsbil-
der wollte er seinem Volke in Heroen-
dichtungen deutsche Größe vorführen
statt niederdrückender Leiden erhe¬
bende und befeuernde Taten, statt ätzen
der Gesellschaftskritik ewige Werte in
freudig bejahender Poesie. Das war es,
was ihn auf Schillersche Bahnen führte
und daß er auf der rechten Spur war
zur rechten Stunde und als notwendige
ergänzende Erscheinung in der deut¬
schen Literatur auf den Plan trat, bewies
daß bald darauf sehr unvermutet eine
hocherfreuliche Schiller-Renaissance an¬
brach, die uns den großen Klassiker neu
und nun hoffentlich unverlierbar zu
eigen geschenkt hat.
Sie kam, weil sie kommen mußte, wert
die Dichtung Hauptmanns, so echt uw
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INDIANA UNfVERSITY
1429 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1430
deutsch sie war, in ihrer Ausschließlich¬
keit eine Verengung bedeutet hätte, die
der deutschen Volksseele verhängnisvoll
werden konnte. Jede Zeit hat die Lite¬
ratur, die sie verdient, und die literari¬
sche Unsicherheit der siebziger und acht¬
ziger Jahre entsprach nur folgerichtig
der Zersetzung und Zerfahrenheit des
deutschen Lebens. Nach den Befreiungs¬
kriegen hatten die deutschen Regierun¬
gen versagt, nach dem französischen
Kriege versagte das Volk. Preußen-
Deutschland ist eine Nation, die sich am
glänzendsten in der Not bewährt, ihr tie¬
fes Pflichtgefühl, ihre im weitesten Sinne
sittlich gerichtete Art am schönsten und
selbständigsten in schwerer Zeit ent¬
wickelt. Jetzt sah man sich plötzlich auf
der Höhe ungeahnter Erfolge, die alte
heiße Sehnsucht des deutschen Volkes
war gestillt und das Reich errungen; dazu!
Lorbeeren und Gold in Fülle! Das träge
und unlustige Gefühl des Gesättigtsein
gewann Oberhand, und man machte es
sich a,uf breiten und weichen Polstern be¬
quem. Den unseligen fünf Milliarden
war man nicht gewachsen; für alle Zei¬
ten deutscher Geschichte bleiben die
Gründerjahre ein warnendes Menetekel.
Die „Läutrungsglut des Weltenbran¬
des“, die Emanuel Geißel besungen
hatte, hielt nicht lange vor, der heilige
Rausch verflog. Man erschlaffte in Ge¬
nußsucht und wurde gleichgültig gegen
alles Höhere. Das mächtige Gemein¬
schaftsgefühl, das zum Siege und zur
Einigung geführt hatte, wich einer Ich-
und Selbstsucht, die sich auch in dem
Individualisierungsdrang einer neuen
Kunst, einem nicht unbedenklichen Per¬
sönlichkeitskult, ausprägte und wider¬
spiegelte.
Das schlimmste war die schier unbe¬
greifliche völkische Blasiertheit, die nach
dem größten völkischen Aufschwung
Platz griff. Kaum war die entscheidende
Entwicklung vom Weltbürger des acht¬
zehnten zum Staatsbürger des neun¬
zehnten Jahrhunderts endlich und glück¬
lich vollzogen, so setzte eine unnatür¬
liche und gefährliche Rückbildung ein.
Die den Nationalstaat mit Blut und Ei¬
sen gekittet hatten, gefielen sich wieder
in einem verwaschenen und charakter¬
losen Kosmopolitismus, erlagen wieder
dem alten deutschen Erbübel, alles Aus¬
ländische, Fremde mit würdelosem und
kritiklosem Überschwang anzubeten und
dem Selbstgeschaffenen, Eigenen vor¬
zuziehen. Die den französischen Waffen
ruhmvoll obgesiegt hatten, ergaben sich
im Frieden sofort bedingungslos der
französischen Mode und Kunst. Die
deutsche Volksseele war in Gefahr und:
was hülfe es dem Menschen, so er die
ganze Welt gewönne und nähme doch
Schaden an seiner Seele! Wildenbruch
erkannte diese Gefahr und setzte seine
ganze Persönlichkeit ein, ihr zu begeg¬
nen. „Die große Zeit der nationalen Eini¬
gung“, schrieb er einmal, „fand auf dem
Gebiete der nationalen Literatur nur ein
kleines Geschlecht vor. Namentlich auf
dem Gebiete des Schauspieles standen
wir ganz im Banne des aus Frankreich im¬
portierten sogenannten Salondramas;
die Vorgeschichte Deutschlands mit
ihren Heldengestalten schien gänzlich in
Vergessenheit geraten zu sein. Diese
Lücke drängte es mich auszufüllen, und
alle die verschiedenen Schauspiele aus
Deutschlands Vergangenheit, die ins Le¬
ben zu rufen mir vergönnt war, entstan-,
den aus diesem mächtigen Empfinden.'
Das Nationalgefühl, das einzig den Sic
errungen, durfte um so weniger verj
ren gehen, als das junge Reich s^
schweren Belastungsproben noch j
sich hatte und für sie gestähltj
mußte. Die satte, eingeJullte Ma
kannte nicht, daß die gewaltigei]
genschaften des Krieges nicht <
1431 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1432
Schluß, sondern einen Anfang, nicht
einen festen Besitz, sondern eine zu be¬
hauptende Eroberung bedeuteten. Mit
geringem Erfolg nur vertraten ein Bis¬
marck, ein Moltke in mahnenden und
warnenden Reichstags reden, den wah¬
ren Sachverhalt, die richtige Auffassung.
Jetzt trat in Emst v. Wildenbruch der
Dichter an ihre Seite, um den hohen Be¬
ruf des Dichters überhaupt zu erwei¬
sen, ein Seher seines Volks zu sein und
sein Erzieher. Es galt, der niederaiehen-
den Tendenz eine emporziehende ent-
gegehzusetzen, die Nation zur Selbst¬
besinnung und Selbstbestimmung zu¬
rückzuführen, ihr in ihrem geschichtlich
bewährten Volkstum die starken, die ein¬
zigen Wurzeln ihrer Kraft zu zeigen, sie
ihrer schweren Aufgaben und ihrer ho¬
hen Sendung sich bewußt zu machen.
«Zu neuen Zielen lockt ein neuer Tag!“
Es war ähnlich, wie 1806 nach der
Zertrümmerung des friderizianisdien
Preußen, nur schlimmer noch. Damals
handelte es sich darum, das unterdrückte
Volk teo stark zu machen, daß es das ver¬
haßte Joch abzuschütteln vermöge, jetzt
stand das befreite vor der Notwendig¬
keit, sich gegen den furchtbaren Ansturm
aller seiner durch Neid und Eifersucht
verbündeten und dadurch übermächtig
gewordenen Nachbarn zu behaupten.
Wenige Monate vor der Schlacht bei Je¬
na bekannte Wilhelm Schlegel, das
Haupt der romantischen Schule, mit ein¬
sichtsvoller Selbsterkenntnis dem Jün¬
ger Fouqu&, daß bei ihm und seinen Ge¬
nossen die „bloß spielende, müßige,
träumerische Phantasie allzusehr zum
herrschenden Bestandteil“ ihrer Kunst¬
übung gemacht worden sei: «Die Poesie^
sagt man, soll ein schönes und freies
Spiel sein. Ganz recht, insofern sie kei¬
nen untergeordneten, beschränkten
Zwecken dienen soll. Allein wollen wir
sie bloß zum Festtagsschmuck des Gei¬
stes? zur Gespielin seiner Zerstreuun¬
gen? oder bedürfen wir ihrer nicht weit
mehr als einer erhabenen Trösterin in
den innerlichen Drangsalen eines un¬
schlüssigen, zagenden, bekümmerten
Gemüts, folglich als der Religion ver¬
wandt? _Unsere Zeit krankt an ...
Schlaffheit, Unbestimmtheit, Gleichgül¬
tigkeit, Zerstückelung des Lebens in
kleinliche Zerstreuungen und an Unfä¬
higkeit zu großen Bedürfnissen.. . . Wir
bedürfen also einer durchaus nicht träu¬
merischen, sondern wachen, unmittelba¬
ren, energischen und besonders einer pa¬
triotischen Poesie.“ Und in Heidelberg,
äußerte sich später einmal im Hinblick
auf die jüngere Romantik der Freiherr
vom Stein, der Reorganisator Preußens,
habe sich ein guter Teil des Feuers ent¬
zündet, das später die Franzosen ver¬
zehrte.
Gerade so faßte auch Wildenbruch
seine Sendung auf. Für ihn. war die
Frage: „wer in Deutschland dramatischer
Kunst gebieten soll, ob die alte große
reine deutsche Seele oder die impor¬
tierte, fremde, undeutsche“. „Wenn ich
nicht mehr“, bekräftigt er, „die große
deutsche Geschichte für das Volk bear¬
beite, wer tut es dann noch? Und
Deutschland versinkt und ertrinkt in der
Schlammflut des Unglaubens, der Hoff¬
nungslosigkeit, und die sozialdemokra¬
tische Masse zerdrückt den .großen Men¬
schen'." Und so pflegte er mit dersel¬
ben geschichtlichen Notwendigkeit eine
nationale Kunst, wie zu Beginn des Jahr¬
hunderts die Arnim und Brentano, Fou-
qu6 und Uhland, die, auf die deutsche
Geschichte zurückgreifend, ihr Volk be¬
wußt zum Vaterländischen erzogen, es
durch den Anblick seiner schöneren und
größeren Vergangenheit in schwerster
Gegenwart mit herrlichem Gewinn stärk¬
ten für die Aufgaben seiner Zukunft
Auch Wildenbruch, den man* darob als
Digitized-tr-^jÖ t "Q IC
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INDIANA UNIVERSITY
tr33 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1434
Spätling der Romantik“ verschrie und
eixlrängen wollte, ist sein Werk gelun¬
gen. Die Saat, die der Unverstandene
or einem Menschenalter auf Hoffnung
usgestreut hat in ein dunkles Land, in
inseren Tagen ist sie erst recht aufgegan-
jen und hat hundertfältig Frucht getra¬
gen. Unser Volk wäre der furchtbaren
Feuerprobe des Weltbrandes schwerlich
jewachsen, wenn nicht kerndeutsche
Männer voll mitreißender Leidenschaft
Arie Emst v. Wildenbruch und Heinrich
v. Treitschke ihm zur rechten Zeit den
rechten Geist starken vaterländischen
Empfindens wieder eingehaucht hätten.
Die Geschmäckler verwerfen das Hin¬
eintragen sogenannter außerkünstleri¬
scher Gesichtspunkte in die Kunst nase¬
rümpfend als unzulässige Tendenz. Wir
teilen keineswegs den Standpunkt der
Jungdeutschen und der politischen Lyri¬
ker der dreißiger und vierziger Jahre, die
im Gegensätze zu Goethe — „ein garstig
Lied, pfui, ein politisch Lied!“ — von der
Dichtung die Tendenz als Höchstes
grundsätzlich forderten, aber wir be¬
streiten ihr auch nicht mit einseitiger
Ästhetenauffassung jedes Lebensrecht in
der Kunst. Sicherlich trägt sie leicht et¬
was Stoffliches in sie hinein, was nicht
restlos in Form umgesetzt werden kann,
aber es darf hier auch nicht mit aus¬
schließlich ästhetischem Maß gemessen
werden. Die politische Spruchdichtung
Walthers von der Vogelweide im Mittel-
alter, das deutsche Drama der Reforma¬
tionszeit im sechzehnten, die strafende
Satire eines Moscherosch und Logau
im siebzehnten, die eigentliche Aufklä¬
rungsliteratur im achtzehnten, die patri¬
otische Dichtung der Befreiungskriege
oder Gotthelfs volkspädagogische Ro¬
mane im neunzehnten Jahrhundert —
alles das ist tendenziös und doch echte
Dichtung. Das „Wie“ gibt da den Aus¬
schlag. Wir halten es mit Gottfried Kel¬
ler, der mit Bezug auf die ausge¬
sprochene Tendenz des großen Berner
Dichters Niklaus Manuel erklärt hat:
„Die Wahrheit ist, daß eben alles an sei¬
nen Ort gehören und der Umgehung
nicht widerstreiten soll; das subjektive
Pathos eines politischen oder religiösen
Streitgedichtes ist, wenn das übrige
Zeug daran nicht fehlt, gerade so poe¬
tisch wie die objektivste historische Bal¬
lade und vielleidit oft noch wertvoller
wegen der größeren Unmittelbarkeit.“
Daß ein Übermaß tendenziöser Absicht¬
lichkeit das Künstlertum beeinträchtigen
kann, versteht sich von selbst und wird
z. B. durch den eben genannten Gotthelf
oder den alten Tolstoi bewiesen, die aber
trotzdem ihre hohe literarische Bedeu¬
tung behalten. Man beteuert so gern,
jeglicher Stoff sei der künstlerischen Be¬
handlung fähig, und geracte die größten
will man ausschließen? Es gibt nun ein¬
mal „Tendenzen“, die höher stehen als
jede Kunst: Religion, Freiheit, Vater¬
land. „Poetischer Gehalt — diesen Satz
hat der greise Goethe ausdrücklich den
jungen Dichtern als sein Testament hin¬
terlassen — ist Gehalt des eigenen Le¬
bens“; der Künstler müsse, er gebärde
sich, wie er wolle, immer nur sein Indi¬
viduum zu Tage fördern. Und insbeson¬
dere entspricht es ja nun einmal der ger¬
manischen Art im Gegensätze zur roma¬
nischen, eine Dichtung von hohem
menschiichen Inhalt, auch wenn sie der
letzten Formvollendung entbehrt, höher
einzuschätzen als feinstes formale»
Künstlertum, das eines solchen Inhalts
ermangelt. Formloser Gehalt ist uns im¬
mer noch viel mehr wert als gehalt¬
lose Form.
Auch der deutsche Dichter Wilden¬
bruch ist Ausdrucks-, nicht Gestal¬
tungsdichter; ein Formproblem als sol¬
ches zu bewältigen ist ihm niemals in
1435 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 143*5
den Sinn gekommen, und darum ist es
falsch und ungerecht, ihn wie einen Ste¬
fan George odef Hofmannsthal zu beur¬
teilen. Und noch eines: die soziale Ten¬
denz, die gerade mit dem Naturalismus
so eng verwachsen ist, soll erlaubt und
willkommen, die patriotische aber ver¬
pönt sein? Ist doch der wahre Patriotis¬
mus, der sich nicht als aufreizender Chau¬
vinismus darstellt, Oberhaupt gar keine
Tendenz, sondern eine rein menschliche
Urempfindung gleich der Liebe zu den
nächsten Blutverwandten; sein Fehlen
ist ein sittlicher Mangel, ihn, als ein Ge¬
meinschaftsgefühl, laut zu bekennen
und öffentlich zu vertreten, eine sittliche
Pflicht. Oder darf ein deutscher Dichter
zwar das Vaterlandsgefühl der alten
Franzosen und Schweizer in einer „Jung¬
frau von Orleans“ und einem „Wilhelm
Teil“ dichterisch zum Ausdruck bringen,
nicht aber das seiner lebenden Volksge¬
nossen? Wie nach Friedrich Vischer das
Moralische, so sollte sich doch auch das
Vaterländische immer von selbst verste¬
hen, und alle echte Dichtung, zumal auch
die ganz große eines Homer und Äschy-
los, Dante und Cervantes, Shakespeare
und Goethe, die man als Weltliteratur
preist, ist aus Heimat und Volkstum, Va¬
terland und Staat entsprossen. Es steht
schlimm um eine Zeit, die einem Dichter
die Vaterlandsliebe zum Vorwurf macht,
in der man sich wegen seines Patriotis¬
mus förmlich entschuldigen muß. Sie be¬
weist nur, daß es höchste Pflicht der
moralisch Verantwortlichen ist, diesen
Geist zu hüten, den schwindenden zu
stärken. Das erkannte Wildenbruch als
seine große Dichteraufgabe, und indem
er sie übte, tat er ein Doppeltes: er
legte als Künstler Zeugnis ab von dem,
was das Tiefste und Beste in ihm war,
und er erfüllte einen bedeutungsvollen
geschichtlichen Beruf.
Von Anfang an bekam Wildenbruch es
zu hören, daß seine Pflege des vaterlän¬
dischen Dramas kühler Berechnung oder
gar byzantinischer Liebedienerei und
Streberei ihren Ursprung danke. Kein
schwereres Unrecht konnte man ihm an¬
tun, kein Vorwurf hat ihn tiefer gekränkt
als der so unendlich oft wiederholte, sein
ganzes Können und Wirken sei »nichts
weiter als Erregung einer gewissen pa¬
triotischen Hypnose“. Das härteste aber
war, daß er gerade von der Seite mißver¬
standen wurde, von der er reichsten Dank
und höchste Förderung hätte erwarten
dürfen. Solche Verdächtigung und Ver¬
kennung hat sein ganzes Leben verdüstert
und verbittert, es zur erschütternden
Tragödie werden lassen. Von vaterlän¬
discher Sorge durchdrungen und erfüllt
von dem Gefühl seiner Verantwortlich¬
keit, gab er jeden Blutstropfen her, iim
die kranke Zeit zu heilen, sein zur Ober¬
flächlichkeit entartetes Volk zu retten;
gleich Bismarch, zu dem er in bewun¬
dernder Liebe aufschaute, verzehrte er
sich im Dienste des geliebten Vaterlan¬
des, für das er schwere Gefahr im Ver¬
züge sah; bewußt schwamm er gegen
den Strom und verzichtete auf billige
Lorbeeren, die dem Verfasser der „Hau¬
benlerche“ leicht erreichbar waren; und
für das alles mußte er es erleben, daß
man ihn Ln seinem Eigensten und Ech¬
testen nicht verstand, ihn der Selbst¬
sucht und Profitmacherei zieh, da Mit¬
tel zu einem schnöden Zweck erblicken
wollte, wo heiligster Selbstzweck vor¬
lag.
„Liebe zum Vaterland ist Gottes¬
dienst!“ Diese Losung, die Wildenbruch
am Schlüsse des „Neuen Gebots*' an-
stimmt, sie ist der Wahrspruch seines
ganzen Lebens und Lebens Werkes. Etm>
Wahl gab es für ihn überhaupt nidrt,
er mußte vaterländische Dichtung schaf¬
fen. Das war seine persönliche Note und
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1437 Harry Maync, Emst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1438
sein eigenster Beruf. Was so viele als
etwas Äußerliches anmutete, war sein In¬
nerlichstes. Er schrieb seine Hohenzol-
lem-Dramen nicht aus lediglich stoff¬
lichen Gesichtspunkten wie Raupach
die schier unabsehbare Reihe seiner
schwunglos-rationalistischen Hohenstau¬
fen-Stücke. Und wenn schon jeder
Preuße allen Grund hat, sich seines Preu¬
ßentums zu freuen, stolz zu sein auf
die ruhmreiche Geschichte seines aus ge¬
langen Anfängen durch eigene Kraft zu
machtvoller Größe emporgestiegenen
Landes, in liebender Ehrfurcht und
Dankbarkeit aufzuschauen zu dem edlen
und tüchtigen Geschlecht seiner Fürsten,
die in persönlicher Leistung als erste
Diener ihres Staates das alles geschaffen
haben, hat der Enkel des prinzlichen
Helden von Saalfeld, der Abkömmling
des Großen Kurfürsten, der Zeitgenosse
Wilhelms I. und Bismarcks, denen beiden
er auch persönlich nahen durfte, hat
der preußische Offizier der beiden
Kriege von 1866 und 1870/71 nicht dop¬
pelten Grund zu solchem Empfinden?
Auch das leidenschaftliche Vaterlands¬
gebet, in das der „Generalfeldoberst"
ausklingt, ist tiefstes Selbstbekenntnis:
Du mein Erdenanteil und Recht,
Hohenzollern du mein Geschlecht,
Dir meine Seele vermach’ ich hier!
Dir mein Denken, Sehnen und Lieben,
Diese heilige Herzensnot
Hier das Erbteil, das ich dir lasse,
Das ich mit glaubender Seele umfasse:
Deutschland! Deutschland! Deutschland!
Das ist nicht die persönliche Ange¬
legenheit dessen, der seiner Väter gern
gedenkt, nicht der eitle Rausch des Be¬
wußtseins, eines Blutes zu sein mit den
Herzögen seines Stammes, und noch viel
weniger der bloße Hurrapatriotismus,
das gesteigerte Loyalitätsgefühl, die löb¬
liche Untertanenpietät eines treuen Die¬
ners seines Herrn. Männerstolz vor Kö¬
nigsthronen hat gerade Wildenbruch be¬
währt wie wenige, und die fürstliche Un¬
gnade, die er so oft geerntet hat, nie ge¬
scheut. Gerade wie Goethe hat er nicht
sowohl dem Fürsten als solchen, sondern
der fürstlichen Menschennatur gehuldigt.
Sein Preußentum, ist Ausdruck nicht
bloß seiner Staatsangehörigkeit, sondern
auch seines Charakters, seiner Weltan¬
schauung, und die Geschichte ist für ihn
nicht ein beliebige Stoff, sondern not¬
wendige Lebensluft, ähnlich wie für
Hebbel, der sie allerdings dann durch
das Prisma seiner metaphysischen Welt¬
anschauung brach und geschichtsphilo¬
sophisch wandte.
Aber nur ein Teil des Volkes in jener
Übergangszeit zwischen den Kriegen
von 1870 und 1914 folgte ihm, die mei¬
sten zuckten die Achseln und lächelten
über den sonderbaren Schwärmer, der
selbstverständliche, wenn nicht gar über¬
flüssige Dinge so ernst nahm und so
viel Feuer und Leidenschaft für sie ver¬
puffte. Und die literarische Kritik, auf
eine internationale „Moderne" einge¬
schworen, sah in ihm nichts als einen Epi¬
gonen und Anachronismus, einen Stö¬
rer ihrer Kreise und Reaktionär. Beirren
konnte das den Dichter nicht. Daß sein
Volk ihm früher oder später recht ge¬
ben würde, recht geben müsse, wenn
es sich nicht selbst verleugnen wollte,
dessen war er gewiß, und so sehr der
leidenschaftliche, von einem edlen Ehr¬
geiz beseelte Mann unter der ihm oft
so unbegreiflichen und ihn sachlich tief
erschreckenden Verständnislosigeit \ind
Ungerechtigkeit der Kritik litt — ging
es nicht mit ihr, so mußte es eben ohne
sie, gegen sie gehen. Als er den Plan
faßte, eine Folge von Hohenzollemdra-
men zu dichten, schrieb er: „Es sollen
keine Werke für die Literatur werden,
und darum werde ich nicht danach fra¬
gen, was die literarische Beurteilung
1439 Harry Maync, Emst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1440
dazu sagt.“ Dem leidigen Kulturkampf
Rechnung tragend, hatte im Jahre 1885
Kaiser Wilhelm I. schon das „Neue
Gebot" für die königlichen Theater in
Berlin und Hannover abgelehnt, zum
großen Schmerz des Dichters. Aber
das feurige Blut drohte ihm zu stocken,
das große Herz zu brechen, als vier
Jahre später der junge Kaiser, der ihn
so warm ermuntert hatte und von dem
er so viel für Deutschlands Zukunft er¬
wartete, im Einvernehmen mit dem gro¬
ßen Kanzler aus ihm völlig unerfind¬
lichen Gründen seinen „Generalfeld¬
oberst“ für alle preußischen Hofbühnen
und in Berlin auch für die Privatbühnen
verbot. Wohl beugten ihn solche Erfah¬
rungen furchtbar, aber brechen konnten
sie ihn nicht. Für Wildenbruch galt das
Zarathüstra-Wort: „Trachte ich denn
nach Glücke? Ich trachte nach meinem
Werke“, und niemand konnte dem Sei¬
denwurm verbieten zu spinnen, wenn er
sich schon dem Tode näher spann.
2 .
Überblicken wir rasch die Reihe der
mehr denn dreißig Wildenbruchschen
Dramen, so erkennen wir, welche über¬
ragende Rolle in ihnen der vaterländi¬
sche Gedanke spielt. Von unbedeuten¬
den frühen Versuchen abgesehen, steckt
der Dichter gleich in seinem 1875 voll¬
endeten ersten Stück, dem „Harold“, sein
ureigenes Gebiet ab: „die bewußte
Vereinigung menschlich-dramatischer
Schicksale mit großen geschichtlichen,
insbesondere nationalgeschichtlichen
Vorgängen", wie er selbst sich einmal
ausgedrückt hat. Von der angelsäch¬
sisch-normannischen Geschichte wendet
er sich des weiteren der deutschen (in
den „Karolingern“) und vor allem der
preußischen Geschichte zu. Schon in sei¬
nem zweiten Drama, dem „Mennoniten“,
berührt er zum ersten Male preußischen
Boden, doch gibt hier die Geschichte,
die Zeit der französischen Okkupation
zwischen 1806 und 1813, nur erst den
allgemeinen Hintergrund her, vor dem
ein persönlich-menschlicher Konflikt
sich abspielt. Dagegen sind „Vater und
Söhne“ bereits ein wirkliches, von der
gleichen Zeit handelndes geschichtliches
Drama. Es folgt das „Neue Gebot“, das
den weltgeschichtlichen Kampf zwischen
Kaisertum und Papsttum und Hein¬
richs IV. Sachsenkämpfe vorführt und.
auf der königlichen Bühne verboten, aut
dem Berliner Ostendtheater dem Dichter
den ersten großen Erfolg eintrug und
ihn dadurch seiner Sache nur desto si¬
cherer machte: „Ich fühle, daß ich mit
dem .Neuen Gebot' in den Sommer mei¬
nes Dichtens eingetreten bin.“ Der
„Fürst von Verona“ (in dem übrigens
der Hohenstaufe Konradin ebenso hin¬
ter der Szene bleibt wie der Salier im
„Neuen Gebot“) ist freilich ein Rück¬
schritt, ein Stück, das in seiner Zerfah¬
renheit und Äußerlichkeit den Sturm¬
und Drang-Dramen eines Klinger und
Leisewitz nahe steht. Nun aber setzen
die Dramen ein, die, meist in der hei¬
mischen Mark spielend, Brandenburg-
Preußens Vergangenheit und seine Für¬
sten vorführen. Zuerst die „Quitzows“,
Wildenbruchs größter und auch wohl
berechtigtster Theatererfolg überhaupt
Schrieb doch nach der ersten Auffüh¬
rung im Dreikaiserjahre 1888 selbst Fon¬
tane, sein bedenklichster Kritiker: „Das
Stück Genie, nach dem ich mich, wenn
ich Wildenbruchsches sah, sieben Jahre
lang vergeblich umgesehen habe, hier
ist es zum erstenmal, aber nun auch mit
erobernder Gewalt." Die im Anschluß
daran ins Auge gefaßte Folge von wei
teren Hohenzollern-Dramen wurde al¬
lerdings bald jäh abgebrochen; der
große Plan blieb unter der Ungunst der
Verhältnisse in den Anfängen stecken.
>
1441 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Uchte seiner und unserer Zeit 1442
die Ausführung wurde dem Dichter bit¬
ter verleidet und geradezu zur Unmög¬
lichkeit gemacht. Viel schwerer noch als
das Verbot des „Generalfeldoberst“ traf
ihn die verleumderische „nichtswür¬
dige Deutung“, die man in den „Neuen
Herrn“ hineintrug: „als hatte ich mit der
Gestalt des Großen Kurfürsten liebedie¬
nernd auf den jetzt regierenden Hohen-
zollern, mit dem Feinde Brandenburgs
aber auf den Mann gezielt, der Deutsch¬
land von Habsburg losgerissen, Bran¬
denburg-Preußen an dein Schwarzenberg
von Olmütz gerächt, und der meinem
Herzen wahrscheinlich näher gestanden
hat, als den Herzen derer, die mir eine
solche Ansicht unterschoben“. Notge¬
drungen flüchtete er sich nun wieder in
die alte deutsche Geschichte. Das große
Doppeldrama „Heinrich und Heinrichs
Geschlecht“ trug ihm abermals ungeheu¬
ren, jubelnden, wohlverdienten Beifal^
namentlich bei der deutschen Jugend
ein. „Dieses Drama“, schrieb der gegen
Wildenbruch sonst zurückhaltende Her-
man Grimm, „ist ein deutsches Kai¬
serdrama, wie die Theaterstücke Sha¬
kespeares englische Königsdramen sind.
Wir haben dergleichen bisher nicht ge¬
habt.“ Nur zweimal noch wagte sich der
Dichter vorsichtig und nicht, ohne ver¬
hängnisvolle künstlerische Zugeständ¬
nisse zu machen, an die preußische Ge¬
schichte heran. In dem anekdotischen
Gelegenheitsstück ..Der Junge von Hen¬
nersdorf“, ersetzte er, um das bereits er¬
gangene Verbot rückgängig zu machen,
die Gestalt Friedrichs des Großen durch
eine andere, und auch in der unerfreuli¬
chen, durchaus mißlungenen „üewitter-
nacht“ läßt er denselben Helden nur
unpersönlich am Hintergründe vorüber¬
huschen. Zwischen diesen beiden Stük-
ken liegt ein bestelltes höfisches Fest¬
spiel, die frostige „dramatische Legende“
von Willehalm, die des großen Anlasses,
Internationale Monatsschrift
der Hundertjahrfeier Kaiser Wilhelms L,
nicht minder unwürdig ist wie Gerhart
Hauptmanns aus blutleerem Gehirn ge¬
schaffenes „Festspiel“ auf 1813. Zwei
neue große äußere Erfolge brachten dem
Dichter alsdann sein im Jahre 1899 voll¬
endetes Reformationsdrama „Die Toch¬
ter des Erasmus“ und die in demselben
Zeitalter wurzelnde „Rabensteinerin“.
Daran schließen sich zwei durch Felix
Dahns Arbeiten über die Völkerwande¬
rung angeregte Gotentragödien: „König
Laurin“ mit der großen Gestalt der
Gotenkönigin Amalasuntha und, 4* e
Frucht langjährigen harten Ringens mit
eiifem spröden Stoff, „Ermanarich der
König“. Den Abschluß dieser Entwick¬
lungsreihe und Wildenbruchs letzten
Aufruf an sein Volk stellt endlich der
„Deutsche König“ dar, der erst nach
seinem Hinscheiden an die Öffentlich¬
keit trat.
Das sind die geschichtlichen Dramen
Wildenbruchs, die, in denen er nach
einem gelegentlichen Worte Herman
' Grimms die Bretter überschritt, die das
Vaterland bedeuten.
Die lange Kette, die sich von seinem
ersten zu seinem letzten dramatischen
Werke zieht, wird je und je unterbrochen
durch eine Anzahl andersartige, durch
moderne, bürgerliche Theaterstücke, die
mehr nur als bloße Zwischen- und Erho¬
lungsarbeiten aufzufassen sind und die
der Dichter selbst niemals besonders hoch
eingeschätzt hat. ln ihnen unternimmt
er es, dem „schalköpfigen Teufel Publi¬
kum mit seinen allereigensten Waffen
zu Leibe“ zu gehen. Auf diesem Gebiete,
meint er, brauche man sich nicht zu
scheuen, „eine ganze Menge Situationen
zu schaffen, die für das gehobene Drama
unmöglich sein würden* weil sie trivial
sind, aber in diese Dramen gehören sie
gradezu notwendig hinein, denn der
Charakter derselben ist im Grunde tri-
46
1443 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1444
vial“. Es ist schwer begreiflich und zeugt
von Kritiklosigkeit gegen sich selbst,
daß derselbe Wildenbruch, der die Herr¬
schaft des leichten, französelnden Situa-
tions- und Konversationsdramas in
Deutschland mit sittlicher Entrüstung;
theoretisch wie praktisch bekämpfte,
sich nicht für zu gut hielt, zugleich selbst
von diesem Boden, und mit den Mitteln
Sardous und Augiers, zu ernten. Einzig
die Tatsache, daß er für sein großes dra¬
matisches Wollen lange keine Anerken¬
nung fand, mag für die frühesten dieser
Stücke als Entschuldigung dienen; für
die späteren versagt auch diese unkünst¬
lerische Erklärung. Der Erfolg war ent¬
sprechend gering oder doch in seiner
Art Wildenbruchs nicht würdig.
Zwischen „Väter und Söhne“ und dem
„Neuen Gebot“ stehen zwei bürger¬
liche Schauspiele, die im Fahrwasser
Ifflands, Kotzebues, der Birch-Pfeiffer
plätschern, nur ohne die Gewandtheit je¬
ner Autoren, und die von Suderinanns
gleichzeitigen Dramen verwandter Art
weit übertroffen werden. Sowohl die
„Herrin Ihrer Hand“ wie „Opfer um
Opfer“ sind unlebendige Schablonen¬
stücke mit urältesten, zum Teil höchst
unwahrscheinlichen Motiven und von
ganz abgebrauchter übernommener
Technik. Die Charakteristik der Perso¬
nen ist mehr als dürftig, der Prosadialog
von papierner Dürre und Unnatürlich¬
keit. Nackte Gemeinheit und triefender
Edelmut, Reichtum und Armut, Vorder-
und Hinterhaus werden plump gegen¬
einander ausgespielt. Bankerotte und in
letzter Not plötzlich auftauchende Geld¬
säcke dienen als Hebel der Handlung,
die kriminalistische Einschläge nicht
verschmäht; der reiche Onkel aus Ame¬
rika in neuer Auflage bringt schließlich
alles ins gewünschte Gleis. In den Ne¬
benhandlungen werden wir mit Karika¬
turen von Menschen, mit possenhaften
Zügen und läppischen Wortwitzen al>
gespeist.
In eine spätere Periode des Dichter
gehören die „Haubenlerche“ und „Me
ster Balzer“. Sie sind etwas geschickte:
und selbständiger geraten, stehen auch
künstlerisch höher, haben aber gleich¬
falls mit dem echten Wildenbruch kaum
etwas gemein. Es berührt höchst unan¬
genehm, den Adler unter Spatzen herum¬
hüpfen zu sehen. Die ^Haubenlerche“,
die unendlich oft mit großem Beifall an¬
geführt wurde, bleibt doch immer, wen:
auch vielledcht der Dichter sich dessen
gar nicht bewußt war* ein Zugeständnis
an die Tagesmode, ein flüchtiger Ver¬
such, es dem so viel erfolgreicheren Ver¬
fasser der „Ehre“ gleichzutun. Wilden¬
bruch schrieb sie, um das Deutsch
Theater für den Ausfall des verbotene*
„Generalfeldoberst“ zu entschädige:
»Auch dieses in einer Papierfabrik vff
den Toren des modernen Berlin se¬
iende Stück verteilt die Handlung d£*
bewährtem Muster auf das Vordeck
des Arbeitgebers und das Hintri^
des Arbeitnehmers und ist ganz nattf*
listisch auf die dargestellte Umwelt
geschnitten. Einen etwas höheren Rang
nimmt der „Meister Balzer“ vor a Heß
deshalb ein, weil er von persönliche
Erlebnissen durchtränkt und darum be¬
sonders in der Person des Helden le¬
benswahrer ausgefallen ist. Wie der
Uhrmacher-Künstler Balzer sieht auch
der Dichter sich in seinem Streben zum
Höchsten verkannt, und manche Äuße¬
rung des Meisters, dessen Urbild zu des
jungen Wildenbruch Frankfurter Freun¬
den gehörte, ist uns als künstlerisches
Selbstbekenntnis von Wert. Eindring¬
licher als in der „Haubenlerche“ wir
hier ein soziales Problem behandelt: das
Verhältnis 'zwischen dem Kunstharz
werk und der es verdrängenden Fabrik-
Doch ist der „Balzer“ nicht so sehr Mi
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INDIANA UNfVERSITY
1445 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1446
lieustück wie die „Haubenlerche“, son¬
dern zugleich in hohem Grade ein Cha¬
rakterdrama und insofern einigermaßen
Otto Ludwigs „Erbförster“ verwandt
Ungefähr in die gleiche Zeit fällt das
„Heilige Lachen“,ein „Märchenschwank“,
der im Gewände einer weitschichtigen,
oft recht fadenscheinigen Allegorie uncl
mit den groben Mitteln einer ins Platte
sinkenden Komik satirisch den Berliner
Zeitgeist an den Pranger stellt
In des Dichters letzte Zeit gehören
endlich die „Hauskomödie“ vom „Un¬
sterblichen Felix“ und die „Lieder des
Euripides“. Das erste Stuck ist aber¬
mals ein bürgerliches Drama, ein fades
Machwerk, in dem sich rührselige und
possenhafte Züge unangenehm mischen,
das andere gleichfalls eine bloße Zwi¬
schenarbeit, aber menschlich wenigstens
wieder erfreulicher und wiederum ein.
Bekenntnis der eigenen Dichterseele.
Zwischen den geschichtlich-heroischen
Dramen und den kleinbürgerlichen Fa¬
milienstücken steht endlich der „Chri¬
stoph Marlowe“, eine Künstlertragödie,
die zumal in ihrem ersten Akt zu des
Dichters gelungensten und besten Lei¬
stungen zählt, in ihrem weiteren Ver¬
lauf aber leider zerbröckelt und ent¬
täuscht.
Es ist ein UnheiL daß bei uns in
Deutschland künstlerische Richtungen
so oft zur Parteisache gemacht werden,
daß die jeweilig herrschende Klique die¬
jenige Art zu dichten, der sie zustimmt,
mit lautem Kampfgeschrei und unduld¬
samer Herabsetzung jeder anderen für
die einzig „maßgebende“, die alleinselig¬
machende erklärt. Statt: sowohl — als
auch, sagt man: entweder — oder; an¬
statt sich zu freuen, daß im Garten deut¬
scher Art und Kunst die verschieden¬
sten Blumen nebeneinander gedeihen,
sucht man die eine üm der anderen wil¬
len auszurotten. Damit tut man der
freien Fülle deutschen Lebens Gewalt an
und unterbindet verheißungsvolle Ent¬
wicklungsmöglichkeiten. Oft hat erst
eine unbefangene geschichtliche Betrach¬
tung und sachliche Nachprüfung der in¬
zwischen vergilbten Akten solches Un¬
recht an Dichter und Literatur gesühnt
und von den Zeitgenossen Verkanntes, Er¬
sticktes oder Totgeschwiegenes zu ver¬
späteter Wirkung ans Licht des Tages
gezogen. Der Schaffende darf, ja muß
wohl einseitig sein und keine anderen
Götter kennen oder gelten lassen neben
dem, der ihm selbst gebietet; die Kritik
hat ein solches Recht auf Einseitigkeit
keineswegs.
War die Klique Wildenbruch gegen¬
über befangen und intolerant* er selbst
war es der Dichtung anderer gegenüber
nicht weniger. Namentlich in der dra¬
matischen Kunst vertrat er mit großer
Schärfe eine eigenwillige Doktrin. Wahr¬
haft große Dramatiker sind ihm eigent¬
lich nur Äschylos und Richard Wagner.
Nur sfe passen ihm zu seiner Definition:
„Die Linie ist die Seele des Dramas.
Führung der Linie ist dramatische
Kunst. Linie ist die Fabel; darum ist
die Fabel die Hauptsache im Drama,
nicht der Charakter der Figur.“ Auch!
Schiller läßt er gelten, aber selbst Shake¬
speare zeigt ihm schon zu wenig von
der „typischen Grandiosität der Figu¬
rengestaltung“, die das antike Drama
über jedes andere stelle; er ist ihm zu
novellistisch, mit anderen Worten, er
verwendet ihm zu viel psychologische
Arbeit auf die Individualisierung seiner
Figuren. Daß einer solchen Auffassung
Heinrich von Kleist (dessen „Penthesi¬
lea“ Wildenbruch indessen in seinem Al¬
tersroman ,,,Lukrezia“ eine bewundernde
Analyse von großer Feinfühligkeit wid¬
met) überschätzt erscheint, kann nicht
wundemehmen; er habe an die Stelle
46 *
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Original frem
[ND1ANA UNfVERSITY
1447 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1448
der Einfachheit, der großen einfachen
Leidenschaft „ein dem Drama völlig
fremdes Element eingesetzt, das Inter¬
essante.“ Auch för Hebbel ist hier kein
Raum, und das Drama seiner eigenen
Zeit sieht Wildenbruch erst recht auf
verhängnisvollen Abwegen. Ibsen war
sein vollkommener GegenfQßler, er war
nach seiner Ansicht der wahre Verderber
und Verführer. Die beiden Zeitgenossen,
die so oft abwechselnd auf denselben
Brettern zum Wort kamen und die sich
auch einmal persönlich getroffen haben,
konnten sich gegenseitig nicht verstehen.
Wildenbruch erkannte lediglich die
„technische Kraft“ des großen Norwe¬
gers an, im übrigen aber bekämpfte er
sein Wesen mit einer leidenschaftlichen
ästhetisch-sittlichen Entrüstung, die uns
sehr verfehlt anmutet. Er erblickt bei
ihm nichts weiter als „die Dramatisie¬
rung der seelentötenden, materialisti¬
schen Weltanschauung, die das Drama
mit einem Schlag aus dem Gebiet des
geistigen Lebens in das des leiblichen
verpflanzt, die an Stelle von Seelen¬
kämpfen und Seelenentwicklung physi¬
sches Leiden und einen physiologischen
Krankheitsprozeß stellt“. „Während alle
großen Menschheitsfragen immer nur
von dem ganzen Menschen, immer nur
mit Kopf und Herz zugleich gelöst wer¬
den, geschieht dies bei den Ibsenschen
Menschen immer nur durch den Kopf.
Die Stimme der Empfindung ist bei ihm so
zurückgedrängt, daß man den Eindruck
erhält, als hätten seine Menschen nur
ein Gehirn, sonst aber keine edlen Or¬
gane, und an Stelle des Herzens eine al¬
gebraische Formel.“ Dazu nahm Wil¬
denbruch natürlich den stärksten An¬
stoß an der Führung der Ibsenschen
Handlung; er fand fast überall nur dra¬
matisierte Epiloge zu einer vor dem ei¬
gentlichen Stücke liegenden Handlung,
und die bloße Zustandsschilderung und
Umweltdarstellung ist ihm nun einmal
schlechterdings undramatisch. Daß er
den „mit wirklich dichterischer Größe
entworfenen, mit dramatischer Gewalt
ausgeführten „Kronprätendenten“ eine
rühmliche Ausnahmestellung zugestand,
begreift sich leicht; sie entsprachen am
meisten seiner eigenen Theorie, die frei¬
lich ein gleichwertiges Werk niemals zu¬
stande gebracht hat
Es ist ein bezeichnendes, ein program¬
matisches Wort, das der junge Wilden¬
bruch einmal im Hinblick auf Asmus
Carstens’ Kompositionen aussprach: „Ich
hatte die Empfindung, daß wenn ick
statt zu dichten malte, ich nur in der
Weise malen könnte.“ Er hat die großzü¬
gige Freskotechnik, die nur der großem
Linie nachfragt und alle Kleinpsycho¬
logie als ablenkend verschmäht, auf das
Drama übertragen. Daß sie ihr Daseins¬
recht hat, beweisen Stücke wie Schil¬
lers „Braut von Messina“, die kein Goe-
thesches Seelendrama, oder „Wilhelm
Teil“, der letztlich nur ein Festspiel ho¬
hen Stils ist. Aber in unseres Vaters
Hause sind nun einmal gottlob viele
Wohnungen. Wir grüßen in den feindli¬
chen Brüdern Hauptmann und WUden-
bruch die Vertreter zweier Seelen- und
Kunsttypen, die sich schön ergänzen und
erst gemeinsam die deutsche Welt um¬
spannen. Der eine ist uns teuer durch
seine deutsche Innerlichkeit, die bei ihm
freilich nur auf engem Raum und in
einer etwas dicken Luft erblüht, der an¬
dere durch seinen Zug ins Weite, auf
die Höhe, zu deutscher Größe Wir fol¬
gen dem einen freudig und dankbar,
wenn er uns voll tiefer mitleidsvoller
Liebe in den kleinen Alitagsmenschen
und Enterbten unsere Brüder keimen
lehrt, dem anderen, wenn er uns in geho¬
benen Feierstunden — um mit Schiller
zu, reden — „der Menschheit große Ge¬
genstände“ begeisternd vor die Seele
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Go^ 'gle
Original frurn
INDIANA UNtVERSITY
1440 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1450
stellt. Aber verlassen sie die ihnen durch
ihre Natur gesteckten Schranken und
wollen einer in des anderen Gebiet über¬
greifen, so versagen sie; das hat Haupt-
mann mit seinem »Festspiel“, Wilden-
bruch mit der „Haubenlerche“ be¬
zeugt.
Die großen Vorzüge und die nicht
minder großen Schwächen der Wilden-
bruchschen Dramatik liegen offen am
Tage, und jede neue Aufführung seiner
Werke erweist sie aufs neue. „Das
Grundgefühl seiner Poesie ist“ — so be¬
tonte Wilhelm Dilthey am Sarge des
Freundes —, „daß die Leidenschaft die
Mutter aller großen Dinge sei.... Der
Ausdrude wahrer Leidenschaft aber war
ihm die beständig fortschreitende Akti¬
vität. . . . Das war mm das Entschei¬
dende: alle Leidenschaften und alle Ak¬
tivität finden für ihn den Spielraum ihrer
Kraft nur in dem Schaffen im Lichte der
Öffentlichkeit, nur im Aufgehen in die
großen Objekte,, welche die Seele erwei¬
tern und vom Persönlichen erlösen —
zu allerhöchst aber im Leben für die
Nation und für den Staat.“ Der Atem
der Leidenschaft und das mächtige,
fortreißende Temperament, das Pathos
des Herzens und das Feuer der Rede,
das war es, was neben den allgemein -
dichterischen Gaben der reich sprudeln¬
den Phantasie, der lebhaften Einbil-
dungs-, Erfindungs- und Veranschauli¬
chungskraft 'den Dramatiker machte. Sie
setzten sich künstlerisch um in den kräf¬
tigen Puls und Rhythmus der Handlungs¬
führung, in das, was er als die große
Linie so hoch gewertet hat Sie in atem¬
losem Ablauf der Geschehnisse klar und
rein herauszuarbeiten, wüßte er große,
unübersichtliche Stoffmassen meister¬
haft zu innerlichen Zusammenhängen
von einfacher Gliederung zu verdichten
und in leben- und farbensprühende Büh¬
nenbilder zu fassen, verstand er, mit dem
Rechte des dramatischen Dichters, in doch
nicht vergewaltigender Selbstherrlichkeit
mit der Geschichte zu walten, die Haupt¬
sachen herauszuheben, die Nebensachen
zusammenzuballen oder ganz unter den
Tisch zu wischen und so vom Berge zu
Bergen hinüber zu schreiten. Man nehme
die „Quitzows“ oder die ersten Auf¬
züge von „Heinrich und Heinrichs Ge¬
schlecht“, um bewundernd zu erkennen,
wie der Dichter, die triebhafte Sicher¬
heit der dramatischen Technik mit schar¬
fer Erkenntnis und zielsicherem Wollen
vereinigend, danach strebt, ein Ganzes
wirkungsvoll aufzubauen und es span¬
nend zu steigern, Höhepunkte eindrucks¬
voll zu betonen und in retardierenden
Auftritten die gewaltig angesammelte
Flut wieder verebben zu lassen, Kon¬
trastszenen zu gestalten, in denen die
Geister der Zeiten und Richtungen klir¬
rend aufeinander prallen, in packenden
Aktschlüssen große Handlungszusam¬
menhänge oder gesättigte Gefühlsge¬
halte eindringlich zu symbolisieren und
schließlich die ganze Wucht ungehemm¬
ter Tragik uns erschüttern zu lassen.
Volles Gelingen ward ihm allerdings
nur in seinen besten Stunden beschie-
den, und wie selten bei einem Künstler
stoßen wir allenthalben auch auf die
Fehler seiner Tugenden. Oft gibt Wil¬
denbruchs leidenschaftlich dahinstür¬
mende dramatische Kraft sich zu früh
aus und reicht infolgedessen zur Bewäl¬
tigung der ganzen Masse nicht zu; sie
erlahmt vor der Zeit und läßt das Werk
als Ganzes versanden. Vortrefflich fügt
sich dem Dichter in der Regel die stei¬
gende Handlung, und vor allem ist er ein
Meister der ersten Akte, der Exposition.
Nicht selten aber — und da sei noch¬
mals der „Christoph Marlowe“ als Bei¬
spiel genannt — bleibt die fallende
Handlung schuldig, was der Aufstieg
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v Google
Original from
1451 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1452
versprach, und entscheidet den drama¬
tischen Kampf zu ungunsten des Dich¬
ters. Oder es fehlt zwischen den einzel¬
nen Akten die feste Vernietung, wir ver¬
missen notwendige Zwischenglieder und
Verzahnungen im Getriebe, empfindliche
Lücken klaffen, und das Drama zerfällt
schließlich in eine bloße Folge lose an¬
einander gereihter lebender Bilder. Zu
solchen Temperamentfehlern des Dich¬
ters gehört ganz besonders auch das
Überhitzte und Sichüberschreien, das ihn
die künstlerische Wahrheit verlieren, die
feine Grenzlinie des ästhetisch Zulässi¬
gen überschreiten läßt. Wildenbruch
mag wie der junge Schiller unter Stamp¬
fen und Heulen gedichtet haben und
hat den Stürmer und Dränger in sich
niemals ganz überwunden. Als Dra¬
matiker, äußerte er einmal, müsse er
brutal sein. Daher das Grelle, Knal¬
lige und Maßlose bei ihm; in seinem
Orchester sind Pauken, Bässe und Schlag¬
zeuge doppelt und dreifach besetzt.
Fontane nannte, allerdings viel zu sehr
verallgemeinernd, gelegentlich sein dra¬
matisches Talent eine dreimal überheizte
Lokomotive, die bremsenlos über ein Ge¬
leise mit falscher Weichenstellung da¬
hinjagt. Entgleisungen sind denn in der
Tat keineswegs ausgeblieben. Wilden-
bruch bietet oft Breite statt Tiefe, Laut-,
heit statt Eindringlichkeit, hohle Wort¬
schälle und äußerlich deklamierende
Rhetorik statt der mitreißenden Sprache
des ursprünglich quillenden Gefühls. Oft
überredet er, wo er überzeugen müßte,
und erzielt nur augenblickliche Wirkun¬
gen statt nachhaltiger. Manches dröhnt
blechern und verklingt am Ende restlos,
während uns eine feine, leise Musik be¬
gleitend im Ohre bleiben sollte. Auch
in Einzelheiten werden wir, was freilich
selbst bei Kleist und anderen Größeren
begegnet, durch ästhetische Geschmack¬
losigkeiten verletzt. Wildenbruchs Spra¬
che, die einer starken Eigenart erman¬
gelt, läßt auch nach dieser Richtung hin
zu wünschen übrig. Nicht minder leidet
sein Vers an Härten und Gewaltsamkei¬
ten, und der „deutsche Vers", den er sich
für den „Generalfeldoberst" erfand,
kann wohl schwerlich als wertvolle Be¬
reicherung unserer Metrik angesehen
werden.
In anerkennenswerter Weise besitzt
WiJdenbruch dafür die Schillersche
Gabe, die Massen auf der Bühne zu be¬
leben und zu meistern. Seit „Väter und
Söhne" hat er mit Glück frische Volks¬
szenen geschaffen, die sich durch einen
gesunden Wirklichkeitssinn und kernig¬
drastischen Humor, auch durch derbere
Komik und eine wirksame Verwendung
der treffsicheren 'und schlagkräftigen
Berliner Mundart auszeichnen. Aber in
weit höherem Maße noch als Schiller
neigt er auch zu bloßer Theatralik, zu
äußerlicher Effekthascherei.
Gleich Schiller möchte auch WiJden¬
bruch in seinen historischen Dramen der
Geschichte ihren innersten Sinn abfragen.
Der Historiker sucht im Buch der Ge¬
schichte die Zeilen,
Zwischen den Zeilen den Sinn liest und
erklärt der Poet
So lautet das Motto der „Karolinger“,
die übrigens Ranke als eine Karikatur
der wahren Geschichte bezeichnet hat.
Aber durchaus nicht immer ist dem Dich¬
ter das gelungen. Nur zu oft bleibt er im
Rohstofflichen, im Gewirr äußerer Tat¬
sächlichkeiten stecken und vermag nicht,
wie Schiller, Geschichtlich-Politisches
uns auch menschlich nahezubringen. So
hat der „Fürst von Verona“ etwas von
der alten hohlen Haupt- und Staatsaktion,
die „Rabensteinerin" etwas vom alten
polternden Ritterstück. Der Grund liegt
in des Dichters verhängnisvollerTheorie
vom Wesen des Dramas, in der Gering¬
schätzung psychologischer Charakteri-
% -453 Harry Maync, Emst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1454*
sierung. Er begnügt sich, seine Menschen
mit wenigen Strichen nur umrißmüßig
zu zeichnen, so daß sie uns nicht inner¬
lich glaubhaft und wahrhaft lebendig
worden. Sie sind immer wiederkeh-
rende Typen und Schablonenmenschen,
Schachfiguren, die auf dem Brett der
Handlung willkürlich hin- und herge¬
schoben werden. Und vor allem sind
es meist schon fertige, abgestempelte
Charaktere, die er uns vorführt; sie er¬
leben nicht vor unseren Augen und
Ohren im Drama selbst eine Entwick¬
lung, der wir anteilvoll folgen. Erst spät
ist der Dichter da fortgeschritten, so
in „Heinrich und Heinrichs Geschlecht“;
die früheren Darsteller Heinrichs IV., er¬
läuterte er seiner Frau, hätten es alle
falsch angefangen, Indem sie ihn aus
den Ereignissen konstruiert hätten:
„aber die Ereignisse sind so geworden,
weil Heinrich so war, wie er war. Das
muß man schaffen können, dieses Wer¬
den Heinrichs!“ Zum Teil wenigstens
hat er das denn auch erreicht, in vielen
anderen Fällen bleibt bei Wildenbruch
die Charakterisierung der Bühnenmen¬
schen sprunghaft, dürftig und mithin im¬
befriedigend.
Lücken und Oberflächlichkeiten der
Motivierung begegnen aber nicht nur in¬
nerhalb der einzelnen Charaktere, son¬
dern auch an entscheidenden Stellen im
Gesamtgefüge dbr Dramen. Oft fehlen
für die dargestellten Ergebnisse die psy¬
chologischen Voraussetzungen, oft wer¬
den uns unbegreifliche Unwahrschein¬
lichkeiten zugemutet. Ich erwähne die
äußerliche Art, wie im „Harold“ das Bild
der schönen Adele zu einem Haupthebel
der ganzen Handlung gemacht wird, und
die zu des Helden ernster und schwerer
Natur so gar nicht passende Leichtfer¬
tigkeit, mit der er den gleißenden, ab¬
sichtlich ungenau Umschriebenen Eid
schwört, der ihm und seinem Volke zum
furchtbaren Verhängnis wird. Nicht min¬
der unwahrscheinlich ist im „Mennoni-
ten“ das Verhältnis der Personen zuein¬
ander und die Darstellung der Gemein¬
deverfassung, in „Väter und Söhne“ die
einzig die ganze Handlung ermögli¬
chende Voraussetzung, daß von dem Ge¬
schick des älteren Sohnes zwischen dem
alten Bergmann und Heinrich während
zwanzig Jahren nie mit einem Wort die
Rede gewesen ist, in den „Karolingern“
der Umstand, daß der Graf von Barze-
lona gerade seinen natürlichen Todfeind
Abdallah zum Vertrauten seiner verbre¬
cherischen Anschläge macht Und wie
Wildenbruch seine Dramen zuweilen
durch ein Zuwenig an Motivierung
schädigt, so gefährdet er sie anderseits
auch wohl durch ein Zuviel, indem er
eine verwirrende Fülle begründungsun¬
kräftiger Nebenmotive häuft anstatt ein
überzeugendes Hauptmotiv kräftig und
einheitlich durchzuführen.
Richtig ist, daß hinter Wildenbruchs
Dramen nicht wie hinter dem Hebbel -
sehen und auch den Grillparzerschem,
eine große und tiefe Weltanschauung
sichtbar wird, daß sein Weltbild einfach
und eng, seine Lebensansicht ein wenig
persönlich gefärbter Idealismus ist.
Aber dennoch, man darf ihm weder die
eigene Note noch die überragende allge¬
meine Auffassung der Geschehnisse ab¬
sprechen. Der Dichter von Heroendrja-
men war selbst eine heroische Natur, das
Leben seines Volkes sein eigenes Leben,
das geschichtliche Heldentum für ihn*
wie Dilthey richtig aussprach, die höchste
Form des Lebens, und überall hat er hin¬
ter den historischen Tatsachen die deut¬
sche Volksseele gesucht und gedeutet.
Gerade an seinen zumeist angegriffenen
vaterländischen Dramen darf dieses
Graben in die Tiefe nicht verkannt wer¬
den. Nicht allein um ihrer selbst willen,
als bloße Einzelwesen, hat er seine deut-
1455 Harry Maync, Emst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zelt 1456
sehen Fürstengestalten erschaut und er¬
schaffen, sondern als Träger und Ver¬
treter der Volksseele. In diesem Sinne
läßt der sterbende Kaiser Heinrich den
Seinen das segnende Vermächtnis:
„Heinrich war Deutschland — Deutsch¬
land ist Heinrich — Ewigkeit bindet den
BuntL — Wenn der Frühling rauscht
über Täler und Höhn, dann springt Kind
Heinrich im grünenden Wald — wenn
Rheinlands Beige schwellen vom Wein
— das ist Heinrichs Seele, die in euch
glüht/ 1 Und ganz von dieser Auffas¬
sung getragen wird des Dichters letztes
Drama „Der deutsche König“. Anläßlich
der „Tochter des Erasmus“ hat Karl
Frenzei ausdrücklich betont: „Die sym¬
bolische Kunst, welche die modernen
Dichter seit dem Ebben der naturalisti¬
schen Hochflut plötzlich als neues Lo¬
sungswort verkündigen, hat in diesem
Drama Wildenbruchs einen Triumph ge¬
feiert: das ist hier bedeutsames Symbol
und zugleich volle Menschlichkeit, eine
Welt der Vorstellungen und Ideen und
zugleich inneres farbiges Leben und
tragisches Schicksal.“ Im „Willehalm“
freilich werden wir, ähnlich wie in dem
Goetheschen Festspiel „Des Epimeni-
des Erwachen“ statt mit tiefer und war¬
mer Symbolik nur mit kahler und kalter
Allegorik abgespeist, aber im ganzen ist
doch der Vorwurf, Wildenbruchs Dra¬
men entbehrten der über die Einzelhand¬
lung hinausweisenden Bedeutsamkeit,
zum mindesten erheblich einzuschränken.
Und dann: wieviel künstlerisches
Selbsterlebnis steckt in den auch psycho¬
logisch wohlbegründeten Konflikten des
„Christoph Marlowe“, des „Meister Bal-
zer“! Wie sehr war der wiederholt in
den Mittelpunkt gerückte Kampf zwi¬
schen den einander fremden Genera¬
tionen, die sich nicht verstehen wollen,
noch können — „Der Mennonit“, „Väter
und Söhne“, „Heinrich und Heinrichs Ge¬
schlecht“ — ein tragisches Ureriebni*
des Dichters selbst! Und die beiden,
meist in eine und dieselbe Gestalt ge¬
legten und leider nicht immer fest genug
miteinander verkitteten dramatischer
Hauptprobleme Wildenbruchs, Männer*
kämpf und Frauenliebe, wie sehr waren
sie die überragenden Lebensformen sei¬
ner ganzen heißblütigen und leiden-
schaftdurchpulsten Persönlichkeit!
Die große Zahl seiner Dramen und die
erwähnte Oberflächlichkeit der Motivie¬
rung in ihnen könnte auf die Vermutung
führen, der Dichter habe sich seine Ar¬
beit zu leicht gemacht. Dem ist nicht sa
Wir können jetzt studieren, wie oft er
im einzelnen Fall und besonders in der
Erstlimgsdramen, in bessernder Absicht
Fertiges wieder ein- und um geschmol¬
zen und sich der ausgleichenden Fair
bedient hat. Der sehr fleißige und rasche
Arbeiter warf seine Schöpfungen wohJ
leicht, aber doch nicht leichtfertig hin.
Immerhin wäre, wenn wir die Gesamt¬
heit seiner Dramen überschauen, weniger
mehr. Er gibt früh sein Bestes b» i ist
dann nicht in der Lage, sich immertok«
zu steigern, das frühere Werk durch ca
späteres zu überbieten. Nachdem er sau
eigentliches Feld entdeckt hat erobert
er kein weiteres mehr, und die Mannis*
faltigkeit seiner Schöpfungen ist nur
scheinbar so groß. Die Aufgabe, die er
sich gestellt hatte, wucJls nicht mit sei¬
nem Leben, und sein Leben vertiefte sich
zu wenig im fortschreitenden Verlauf.
Seine Dramen sind, von den paar episo¬
denhaften Zwischenstücken abgesehen,
im großen und ganzen immer wieder¬
holte Würfe nach dem gleichen Ziel und
weisen keine kräftige Entwicklung* iinie
nach oben auf.
3.
Das weitverbreitete und bequeme Ein-
schachtelungsverfahren, das einen Dich-
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1459
narry iviaync, nrnsi v. wnaenürucn im L.icnie seiner una unserer ^eit
1400
rechtigung, als Romane betitelt: „Eifern¬
de Liebe“, „Schwester-Seele“, „Das
schwarze Holz“ und „Lukrezia“. Die
Zahl der übrigen, die sich teilweis, wie
das „Wandernde Licht“ oder die „Semi-
ramis“, an Umfang dem Roman nähern,
beträgt achtundzwanzig. Mit gutem
Grunde wählte Wildenbruch für sie als
Untertitel häufiger die allgemeine Be¬
zeichnung Erzählung oder Geschichte
als die Bezeichnung Novelle, denn die
Novelle setzt eine straffere Kunstform
voraus, als er zu bieten hat. Auch hin¬
sichtlich der von der Movelle zu ver¬
langenden künstlerisch gepflegten
Sprachbehandlung läßt er zu wünschen
übrig, ja seine Prosa ist sogar von Ver¬
fehlungen gegen die Formenlehre und
die Regeln vom Satzbau nicht ganz frei.
Nach der technisch-formalen Seite kann
er demnach mit Novellenmeistern wie
Storm, Heyse, Keller und Meyer nicht
in Wettbewerb treten; doch ist seine
Form immer noch geschlossener als
etwa die Wilhelm Raabes oder Fon¬
tanes.
Seit Wildenbruchs erzählerischen An¬
fängen haben sich oft Stimmen erhoben,
die, im Sinne FredaNöhrings, den Prosa¬
epiker dem Bühnendichter entschieden
überordneten. Lit’zmann schließt sich
ihnen nicht an, und Richard M. Meyer
erklärt sogar in seiner „Deutschen Li¬
teratur des neunzehnten Jahrhunderts“,
Wildenbruch sei als Erzähler am
schwächsten. Ich möchte beides nicht
unterschreiben. Die Sache scheint mir
vielmehr so zu liegen: die größere ge¬
schichtliche Bedeutung des Dichters ist
sicherlich im Drama zu suchen, den fei¬
neren Künstler aber finden wir doch
wohl in seinen Erzählungen. Die Zeit
der unmittelbaren Wirkung des Drama¬
tikers ist vielleicht bald ganz vorbei,
seine historische Mission erfüllt. Aber
es ist möglich, daß man zu einer Zeit,
die sein Drama nicht mehr aufführt un:
noch weniger liest, bei dem Epiker Ein¬
kehr halten wird, daß Wildenbruch ge¬
rade als solcher seinem Volke noch eine
vertrautere Gestalt werden kann.
Eine innere Notwendigkeit für Wil¬
denbruch, zugleich auch die epische Ga*,
tung zu pflegen, finde ich in seiner ea-
gen und schiefen Ansicht von Weser
und Aufgabe des Dramas begründe»
Infolge seiner Überzeugung, daß kr
Drama die Fabel und die Link
Hauptsache, der Charakter der Figure:
Nebensache sei, hat er die in Deutsch
land geltende dramaturgische Auffas¬
sung, die das Theater verachte und nur
von seelischem Inhalt wissen wolle, die
Handlung unterschätze und die Zeich¬
nung der Charaktere überschätze^ für
.grundfalsch“ erklärt; sie habe, ohne es
zu wissen, die Gesetze der Novellist^
zum Gesetz des Dramas gemacht; so gv
wie alle nachgriechischen Dramen, selbst
die Shakespeareschen nicht ausgenom¬
men, seien nur mehr oder weniger*/^
logisierte Romane.
Nun war aber Wildenbruch selbsteutf
zu ausgeprägte Persönlichkeit, um ate
Dichter auf die eingehende Darstellung
menschlicher Charaktere in dem Maße
zu verzichten, wie seine Dramentheorie
es von ihm verlangte. So mußte er sich
naturgemäß auf einem anderen Gebiete
schadlos zu halten suchen, und das war
eben die Erzählung. Derselbe Dichter,
der im Drama vor allem große Gemein¬
schaftsgefühle vertrat und verkörperte,
war doch zugleich der Mann eines tief-
persönlichen Innenlebens. Er bedurfte,
um sich auch als solcher auszusprechen,
der minder objektiven und minder stren¬
gen, auf behagKiche Breite der Ausma¬
lung angelegten Epik. In ihr konnte er
sich selbst in Bekenntnis- und Aus¬
drucksdichtungen individueller geben
als dort, und in ihr durfte er auch sei-
461 Harry Maync, Emst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1462
nem psychologischen Bedürfnis nach
"Wiedergabe anderer individueller Cha-
araktere Genüge tun. Er war ja auch nicht
~fc>loß der Hohenzollernsproß, sondern
zugleich schlichter deutscher Bürger auf
bescheidener Lebensstufe, nicht bloß He-
roiker und Pathetiker, sondern zugleich
«ln warm empfindender, alles Rein-
menschliche mit nachfühlendem Sinn und
liebevollem Herzen umfassender Mensch
des gewöhnlichen Lebens und der re¬
alen Gegenwart, und sah sich daher ge¬
nötigt, auch den Forderungen des All¬
tags, des Durchschnitts, des Kleinlebens
als Dichter Rechnung zu tragen. Er wäre
ja überhaupt kein Dichter, hätte nicht
die psychologische Analyse und die
künstlerische Abschilderung der Um¬
welt einen Reiz auf ihn ausgeübt.
Das sind die psychologischen Grund¬
lagen der Wildenbruchschen Erzäh¬
lungskunst und ihrer Besonderheit. Sie
erklären es, daß er uns in ihr persön¬
licher und menschlicher, wärmer und
intimer entgegentritt als in seinen Dra¬
men. Gab sich der Bühnendichter bür¬
gerlich, so verirrte er sich; wo er das
Gebiet des großen geschichtlichen Dra¬
mas verläßt, erscheint er leer und dürf¬
tig. In der bürgerlichen Erzählung da¬
gegen gelangte er zu künstlerischen Er¬
folgen.
Man sollte nun erwarten, daß auch
der Epiker vor allem das historische
oder halbhistorische Feld bebaut habe.
Der Versepiker seiner Anfänge ist in den
Heldengedichten „Vionville“ und „Se¬
dan“ allerdings von ihm ausgegangen,
bed dem Prosaerzähler indessen ist das
selten der Fall, und den vaterländischen
Ton liater als solcher überhaupt nicht an-
geschliagen. Geschichtlichen Hintergrund
weisen der,^Meister vonTanagra“, die bei¬
den Märtyrer-Legenden „Claudias Gar-
ten“und der„Zauberer Cyprianus“und die
ün deutsch-französischen Kriege spie¬
lende „Danaide“ auf, eine vortreffliche
Erzählung, die Paul Heyse mit Recht in
die Mustersammlung seines „Deutschen
Novellenschatzes“ eingereiht hat. In an¬
dere Geschichten wie die „Waidfrau“
spielt Historisches wenigstens hinein.
Ferner hat Wildenbruch, offenbar unter
dem Einfluß von Riehl, Dahn und Ebers,
manchen seinen Erzählungen, so dem
„Riechbüchschen“ und dem „Liebes¬
trank“, einen kulturhistorischen Ein¬
schlag gegeben. Aber in weit überwie¬
gendem Maße sind seine Stoffe modern- •
bürgerlicher Natur. Wollte der Drama¬
tiker eine große Vergangenheit wieder¬
beleben, so schrieb der Epiker seine Ro¬
mane und Novellen aus der Gegenwart
um in ihnen allgemeinmenschliche und*
persönliche Probleme abzuhandeln und
moderne Zeittypen und Richtungen ab-
zuschildern.
All das Zarte und Tiefe der Wilden¬
bruchschen Natur, das in seinen Dra¬
men nur selten durchbricht hat in den
epischen Prosadichtungen einen Nie¬
derschlag gefunden. Hier quillt war¬
mes Gefühl und inniges Gemüt, spricht
eine weiche Seele, der nichts Mensch¬
liches fremd ist. Haben wir es in seinen
laut dahinbrausenden Dramen mit ei¬
sernen Rittergestalten zu tun, deren
menschlicher Kern oft kaum spürbar
wird, so lernen wir hier vielfach Men¬
schen der Stille kennen, deren Leben in
ihrem Innern verläuft. Ihrer seelischen
Struktur und ihren psychologischen Ent¬
wicklungen feinfühlig nachzugehen, läßt
sich mit liebevollem Nachempfinden und
Verstehen derselbe Dichter angelegen
sein, der in seinen Dramen dafür keinen
Raum findet. Denn R. M. Meyer hat un¬
recht, wenn er auch dem Erzähler Wil¬
denbruch vorwirft, er habe nie Zeit
und sei daher zum Epiker verdorben.
Im Gegenteil, dem Erzähler kann man
Hast und Mangel an psychologischer Ein-
1463 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1464
dringlichkeit durchaus nicht nachsagen; schuldig bleibt seelische Vertiefung und
er motiviert sorgfältig, wenn auch ge- individuelle Entwicklungen. Gerade sein
wiß nicht immer unanfechtbar, bis ins Streben, eigenartige Probleme zu er-
kleinste, und viele seiner Erzählungen fassen und darzulegen, erhebt seine
sind im Hinblick auf die gewählten sprachkünstlerisch wenig eigenartige
Stoffe und Probleme eher zu lang als zu Novellistik über die bloße landläufige
kurz geraten. Hier haben wir die Seelen- Unterhaltungsliteratur.
handlung, die dort hinter der Theater- Ähnlich wie Theodor Storni bevorzug!
handlung zurücksteht; stoßen wir uns der Erzähler Wildenbruch erotische Prc-
dort oft an einem unnatürlichen und ver- bleme, die den sinnlichen Mann auch
stiegenen Pathos, so finden wir hier rein menschlich zu allen Zeiten beschäf-
schlichte und wahrhafte Natur; verletzt tigt und bedrängt haben. Bezeichnend
uns dort häufig das schrille Sichüber- sind die häufigen Entkleidungsszenea
schlagen der Stimme, der das Trommel- und die Beschreibungen weiblicher Reize,
feil erschütternde dröhnende Posaunen- was aber bei ihm nicht weichlicher Lö¬
schall, so dürfen wir uns hier des rei- sternheit, sondern starker Männlichkeit
nen Goldklangs einer feinabgestimmten entspringt und darum nur selten an*
und künstlerisch behandelten Flöte er- Peinliche und Verletzende streift. Der
freuen. Versteigt sich der Dramatiker zwischen den Geschlechtern anhängige
nicht selten in idealistische Unwahr- große Prozeß, um mit Hebbel zu reden,
scheinljchkeiten, so greift der Erzähler ist sein Hauptthema, und fast stets liegt
mit frischem Realismus ins volle Men- bei seiner Wiedergabe der Hauptnacb-
schenleben hinein, läßt impressionistisch druck auf der weiblichen Seite. Unter
Tatsachen und Zustände der Wirklich- den verschiedenen weiblichen Typen
keit ruhig auf sich einwirken und ist Wildenbruchs heben sich besonder die
ernstlich bemüht, sie unverstellt wieder- ganz triebhafte, ungebrochene Frauen¬
zugeben. natnr hervor und ihr WiderspieL ä*
~~~ nach irgendeiner Richtung hin aus ihrer
Die Vorzüge der Wildenbmchschen Bahn getretene, die emanzipierte und da-
Erzählungskunst sind nicht gering. Seine mit unnatürlich gewordene, als eine An
gute Erfindungsgabe gibt ihm eine Fülle männerfeindlicher Amazone oder Wai-
verschiedenartiger Stoffe an die Hand, küre sich gebärende Frau. In man-
Er weiß — und da unterstützt ihn der cherlei Spielarten behandelt er das
Dramatiker — die Handlung wirksam abnorme Überwiegen entweder des Ani-
anzulegen und aufzubauen, sie in gu- malischen oder des Intellektuellen im
tem Fluß zu erhalten und belebend ab- Weibe, der Sinnlichkeit oder derUnsinn-
zutönen. Er liebt es, eindrucksvolle Si- lichkeit, zeigt namentlich gern Ober-
tuationen oder interessante Konflikte gänge und Wandlungen von dem einen
scharf herauszuarbeiten und gibt damit Extrem in das andere. Ein von ihm be-
das, was Paul Heyse im Hinblick auf sonders einläßlich dargestelltes Problem
Boccaccios neunte Novelle des fünften dieser Art ist das der geschlechtlichen
Tages den Falken nennt, das prägnante Liebe sich annähernde Gefühl für den
Thema, das in jedem Beispiel dieser Gat- Bruder, das tragische Möglichkeiten
tung deutlich sichtbar werden müsse, durchmacht, wenn dieser nach langem
Vor allem aber bietet, wie gesagt, der innigen Zusammenleben mit der Schwe-
Erzähler.was der Dramatiker so vielfach ster plötzlich eine Ehe eingeht und jene
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1467 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1468
heit des Herzens offenbart deT Dichter
einen ganz entschiedenen Zug zu stren¬
ger Herbheit und erbarmungsloser Tra¬
gik, gerade in seinen besten Geschichten
wie im „Schwarzen Holz“ und in der
„Danaide“, und gerade wie bei Storm,
bei dem das Sinnig-Weiche immer mehr
hinter dem Herben zurücktritt, je mehr
der Dichter sich als Künstler zur Voll¬
endung auswächst.
An Storm gemahnt Wildeubruch auch
in einer anderen Beziehung, die gleich¬
zeitig technischer Art ist. Wie bei je¬
nem ist auch bei ihm ein großer Teil sei¬
ner Erzählungen Erinnerungsnovellistik.
„Wenn der Mensch sich erinnert, dann
dichtet er", heißt es im „Edlen Blut“. Na¬
mentlich Jugenderlebnisse werden aus
der ungeschwächten Erinnerung hervor¬
geholt. Damit hängt der sehr ausgespro¬
chene selbstbiographische Charakter
dieser Erzählungen zusammen, ihr au¬
ßerordentlich großer persönlicher Ge¬
halt, der sie zum Schlüssel für die Er¬
kenntnis der Seele ihres Dichters macht.
Was wir aus den Dramen nur selten
herauslesen können, das tiefere persön¬
liche Leben ihres Schöpfers, hier wird
es in befreiender Aussprache und
Beichte künstlerisch vor uns ausgebrei¬
tet. „Ein Blatt vom Lebensbaum“ halt
Wildenbruch eine dieser Geschichten,
„Archambauld", im Untertitel genannt
Sie alle könnten so heißen, und auch
das C. F. Meyersche Motto „aus allen
Augenblicken meines Lebens“ paßt auf
sie. Wenn Marie v. Bunsen Wilden¬
bruch aufforderte, seine Selbstbiogra¬
phie zu schreiben, pflegte er zu er¬
widern: „Nein ( wer sich dafür inter¬
essiert, kann alles, was in meinem Leben
Von Bedeutung war, in meinen Ro¬
manen und Erzählungen finden.“ Die
glücklichen Kinderjahre, die der Di¬
plomatensohn in Athen und namentlich
in Amautköi am Bosporus verlebte, die
gedrückten Schul- und Kadettenjahre
und, die Oase in ihrer Wüste, die Ferien¬
aufenthalte auf dem Graf Yorckschen
Familiengute Klein-Öls, ferner die so un¬
befriedigende Leutnantszeit, die quä¬
lende Dumpfheit der Übergangsjahre;
die einsame Vorbereitung auf den neuen
Beruf im stillen Burg, dann vor allem
und immer wieder die Jahre von Frank¬
furt a. O., Wildenbruchs glücklichsteZeit.
in welcher der dichtende Referendar
langsam die Puppenhülle abstreift und
plötzlich als gefeierter Dramatiker da¬
steht, die Kriege von 1866 und 1870/71.
die er als Offizier mitmacht, aber auch
weiterhin noch Erlebnisse der folgenden
Berliner Zeit, Reiseeindrücke aus Italien
— alles das und manches andere noch
spiegelt sich in den Erzählungen wieder.
Auffallend wenig das Landschaftliche;
des Dichters Naturgefühl ist gering. Mit
Heimatkunst haben alle seine in
der Mark oder in Thüringen spielenden
Geschichten nichts gemein; der Nach¬
druck liegt immer auf dem Menschli¬
chen. So sind auch die Menschen, die
das Leben ihm gesellt, in ihnen wieder¬
zufinden : die über alles geliebte, bedeu¬
tende Mutter, die ihm nur allzu früh
entrissen wurde, und der charaktervoll¬
strenge Vater, der für den verträumten
jungen Sohn in seinen Entwicklungs¬
kämpfen trotz treuestem Willen nicht
immer das nötige Verständnis aufzu¬
bringen vermochte. Ferner die Freunde
und die Frauen, die seinen Weg kreuz¬
ten, ja auch ganz flüchtig vor ihm aufge¬
tauchte Menschen, die ihn einmal inner¬
lich beschäftigt haben, sie alle haben
Eingang gefunden in seine Erzählungen,
und zwar zum Teil mit einer Deutlich¬
keit der Wiedergabe, die dem Verfasser
oft heftige Vorwürfe eingetragen und
ihn Wiederholt zu interessanten Ausfüh¬
rungen über das Recht des Poeten an
seine menschliche Umwelt veranlaßt hat.
Digiti
«4k
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1471 Harry Maync, Emst v. Wildenbruch im Lichte seiner und unserer Zeit 1472
im „Bertram Vogetwaid“ verleiten las¬
sen — nicht mit überlegenem Humor,
sondern mit erbittertem Haß. Diese Er¬
zählungen sind in ihrer Tendenz den,
.nachromantischen Novellen Tiecks zu
vergleichen, in denen die jungdeutsche
„Moderne" gleich scharf abgekanzelt
wird. Wo aber der satirische Einschlag
fehh, sind auch diese Berliner Erzäh¬
lungen reizvoll, z. B. die Hinterhausge¬
schichte „Das Wunder" oder die „Heilige
Frau“, die Geschichte eines „Verhält¬
nisses“, etwa Fontanes *Stine“ an die
Seite zu stellen. Den Titel dankt diese
Erzählung der Rauchs chen Königin
Luise im Charlottenburger Mausoleum;
auch im „Meister von Tanagra", im
„Riechbüchschen", in der „Franzeska
von Rimini", im „Neid“ knüpft der
Dichter so an Werke der bildenden
Kunst an.
Neben den Hauptvorzügen haben wir
auch die Hauptmängel der Wildenbruch-
sehen Novellistik bereits hervorgehoben
und erkannt, daß sie denen des Drama¬
tikers im allgemeinen entsprechen. Wir
finden bei vielem Großartigen und Er¬
greifenden auch farblose Schablone und
Konvention, Theatralik und Verirrung.
Wie der Dichter spät noch selbst gegen
regelrechten Kitsch nicht gefeit ist,
zeigt z. B. sein letzter Roman „Lukre-
zia“, der an Süßlichkeit in der Schilderung
von weiblichen Reizen kaum hinter Clau-
ren und Hauffs „Mann im Monde“ zu¬
rückbleibt. Wildenbruch ist oft vortreff¬
lich im Zuge, da überkommt ihn mit ei¬
nem Male der Dämon unkünstlerischen
Auftragens und Verzerren s. Das gilt so¬
wohl von der Führung der Handlung
und ihrer Begründung wie von der
sprachlichen Darstellung. Wir stoßen
also auch bei dem Erzähler auf die
Schattenseiten seines starken Tempera¬
ments. Gleich Liliencron dankt auch
Wildenbruch die Hauptwirkungen die¬
sem Temperament, und wie jener ver¬
sagt er leicht, wenn er sich in geistrei¬
chen Betrachtungen versucht Das tut
er aber, zumal an seinen größeren Er¬
zählungen, nur zu oft. Diese eingestreu¬
ten Reflexionen sind manchmal nicht nur
bei den Haaren herbeigezogen, um die
Erzählung vermeintlich zu vertiefen und
ihre innere Bedeutsamkeit zu erhöhen,
sondern sie sind auch noch ihrem Gehalt
nach nicht selten flach, und das fällt
bei ihrer übermäßigen Breite doppelt
störend auf.
Was endlich noch den Lyriker Wtl-
denbruch anbetrifft, so hat er sich zwar
auch auf diesem Boden vielfach betä¬
tigt indessen der Geschichte der deut¬
schen Lyrik keinen neuen großen Namen
zugeführt. Sein subjektives Fühlen und
seine stillen Stimmungen hat er weniger
in Gedichten als in den Erzählungen
niedergelegt. An seinen zahlreichen und
vielfach zu umfangreichen Balladen mit
ihrem Trieb zum Theatralisch-Lauten, zu
großen Gesten und krassen Effekten hat
der Dramatiker erheblichen Anteil; das
beweist unter anderem das durch Schil¬
lings Begleitmusik so bekannt gewor¬
dene „Hexenlied". Außer der Ballade
pflegt der an naiver Ursprünglichkeit
nicht reiche, mehr zu Reflexion und Rhe¬
torik neigende sentimentalische Lyriker,
ähnlich wie Theodor Fontane, mit Glück
das festliche Gelegenheitsgedicht hohen
Stils. Bei bedeutungsvollen vaterländi¬
schen Anlässen, beim Hinscheiden gro¬
ßer Persönlichkeiten wie Richard Wag¬
ner hat er feurig und befeuernd in die
Leier des Barden gegriffen. Wie im
Drama steht er auch hier am höchsten
wenn er, wie in seinen Gedichten auf
den Burenkrieg, im Namen seiner großen
Volksgemeinschaft reden kann. Einmal
ist es ihm und Fontane gelungen, mit
dem Ausdruck persönlichen Fühlen» zu-
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147-6 Harry Maync, Ernst v. Wildenbruch im Lichte seiuer und ünserer Zeit
Fall noch weit verwickelter. Vielleicht
ist es auch die ungewöhnliche fürstlich-
bürgerliche Blutmischung, die so manche
Unausgeglichenheit in seiner Wesensart
erklärt, so manche künstlerische Stfl-
losigkeit bei ihm mitbedingt. Denn es ist
gewiß kein kleines Mißverhältnis: durch
das Blut zu den bewunderteil Herrschern
seines mächtigen Vaterlandes zu gehö¬
ren und im äußeren Leben ein unbeach¬
teter, bescheidener Hilfsarbeiter in einer
Behörde zu sein. Er war gleichzeitig ein
Edelmann mit dem Zug zum Heroentum
und ein einfacher Bürger mit jener Por¬
tion von Philistrosität, die nach WiL
heim Raabe nun einmal zum deutschen
Dichter gehört. Bei Theodor Fontane er¬
scheinen die vornehme, zum Aristokra-
tentum hingezogene Natur und der
Bourgeois viel glücklicher gemischt.
Von dem „Sinn für Feierlichkeit**, den
Fontane sich abspricht, besaß Wilden-
brudh eine wohl zu reichliche Gabe, und
der schlicht natürliche Durchschnitts¬
mensch findet sich ja im allgemeinen
leichter auf den Höhen des Lebens zu¬
recht als der Pathetiker — auch da sei
auf Klöpstock hingewiesen — im Alltäg¬
lichen. Solche Ursachen mögen mit zur
Erklärung der inneren Unsicherheit und
der Kritiklosigkeit sich selbst gegenüber
dienen, die wir bei Wildenbruch zuwei¬
len antreffen. So ist er ein Mensch mit
seinem Widerspruch, aber gerade darum
auch menschlich fesselnd. Vor allem
aber, und da gibt es bei ihm keinen Wank
und Schatten, ist er eine männliche,
durch und durch lautere, im schönsten
und allgemeinsten Sinne adlige Natur,
ein Ritter ohne Furcht und Tadel. Als
Dichter beseelte ihn die höchste Auffas¬
sung von seinem Beruf und Amt, in dem
er kein Spiel, sondern ein Werk erblickte.
In rastlosem Eifer, mit glühender Seele
hat er gerungen um den Schleier der
Dichtung, solange es Tag, und erreicht,
was ihm zti erreichen beschleden war.
Darum hat er vollen Anspiuch äuf sei¬
nes ganzen Volkes und jedes elMfclneh
Deutschen tiefen Dank und aufrichtige
Ehrerbietung.
Tn der Geschichte unserer Natiö'nk!-
literatur nimmt er einen festen Platz ein
Wenn mau dereinst, wie man eine Dich
tungsepoche des achtzehnten Jahrhun¬
derts nach Friedrich dem Großen be
zeichnet hat, eine sölche des neunzehn¬
ten nach Bismarck benennt, so Wird zii
ihren ausgeprägtesten Vertretern nicht
etwa der viel größere Künstler Gerhart
Hauptmann gezählt werden, sondern ne¬
ben Detlev von Lilieucron Ernst von
Wildenbruch. Diese beiden sind, obwohl
sie erst Jahre nachher hervortraten, die
eigentlichen Dichters des Krieges und
Sieges von 1870/71, nicht etwa die
übergehend noch einmal in die Saßs
greifenden, einem älteren Geschlechts
gehörenden Geibel und FreiligrathöüVr
gar der Volkspoet des Kutschke-Wf-
Und sie sind es nicht allein
einmal in erster Linie durch dieÄ’
tantenritte“ und die Heldengesfc?
„Vionville“ und „Sedan“; in ihrem gan¬
zen Schaffen vielmehr sind sie diebfr^
fenen Vertreter der Generation, &
durch diese großen Geschehnisse ent¬
scheidend beeinflußt worden ist. WB* j
denbruch wurde nach Diltheys Wort i
„der Dichter dieses tatenfrohen, kriege¬
rischen Geschlechts, wie Treitschke sein
Geschichtsschreiber**.
Hat der früher gestorbene Lilienchxi
schon vor Jahren in den Herzen derbrei*
teren Maße, vor allem der Jugend, Bo¬
den gefunden, so hat WiLdenbructe
Stunde erst in dem jetzigen Weltkriege
geschlagen, den er mit schwerster vater¬
ländischer Sorge längst vorausgesehe.
mit ungehörten Kassandrarufen angr
kündigt hat. Und nicht nur für seinen
genen Ruhm ist er, über den so viel*
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477
Eduard Spranger, Shaftesbury und wir
1478
chon zur Tagesordnung übergegangen
varen, in einer großen und würdigen
Vusgabe seiner Werke 1 ) zur rechten
Stunde wieder auferstanden, sondern
or allem auch für sein Volk, das Man¬
ier wie ihn niemals nötiger gehabt hat
ils eben jetzt in den Schicksalsjahren,
La es heißt: alles oder nichts. Es lernt
der von neuem seinen getreuen Eckart
tennen und kann das Unrecht das es
:u seinen Lebzeiten an ihm begangen
lat, einigermaßen wieder gutmaöhen.
Deutschland steht in einer Zeit der
sleubesinnung. Das idealistische Land
ler Dichter und Denker hat endlich auch
‘in politisch-praktisches Weltgefühl in
eine Lebensanschauung aufgenommen,
is hat Geschichte und Gegenwart Ro-
1) Diese Ausgabe, seit 1911 im Erschei-
len begriffen, wird von der G. Groteschen
/erlagsbuchhandlung in Berlin verlegt und
iron Berthold Litzmann herausgegeben. Ihr
und der von dem gleichen Verfasser stam¬
menden inhaltreichen, aber von Über¬
schätzung nicht freien Wildenbruch-Biogra-
shie desselben Verlages (2 Bände, 1913 und
1916) ist auch die vorliegende Studie ver¬
pflichtet.
mantik und Realismus, Geistesfreiheit
und Staatszucht, cs hat den unverlier¬
baren Geist Goethes und Kants mit dem
Geiste Bismarcks zu einer neuen höheren
Einheit organisch verschmolzen. Preu¬
ßen geht fortan, noch mehr als bisher,
in Deutschland auf. Das heißt, Potsdam
und Weimar sind nicht mehr Gegensätze,
sondern die schönste und notwendigste
Ergänzung. Symbolisch tritt sie uns in
Wildenbruch vor Augen. Der feurigste
vaterländische Dichter im Zeitalter der
beiden Wilhelm, war, obwohl durch
eine Ironie der Weltgeschichte in Syrien
geboren, Preuße bis in die Knochen.
In Potsdam hat er als Gardeleutnant
Dienst getan und in der Reichshaupt-
stadt den Großteil seines Lebens ver¬
bracht. Aber er hat zugleich im klas¬
sischen Weimar sich früh eine zweite
Heimat und später auch ein eigenes
Haus „Ithaka“ begründet, und in der¬
selben geweihten Erde, die Goethes und
Schillers Asche birgt, hat dieses „edlen
Dulders“ müder Leib die letzte Ruhe¬
statt gefunden.
Shaftesbury und wir.
Von Eduard Spranger.
Von dem philosophischen Eros des
Plato über das religiös-ästhetische
Schauen des Plotin und die Ekstase des
Augustinus bis zur mittelalterlichen My¬
stik, von der Mystik bis zu dem heroi¬
schen Affekt des Giordano Bruno und
dem Enthusiasmus Shaftesburys herrscht
eine verborgene Kontinuität. Die Linie
beginnt in der heiteren griechischen
Sinnlichkeit und steigt hinauf in die
übersinnlichen Höhen einer gestaltlosen
Verschmelzung mit Gott; darauf senkt
sie sich von neuem zur Erde und endet
in einem verjüngten Schönheitskult, in
| dem die religiöse Verzückung der vor¬
angegangenen Ekstase noch nachzittert.
So geben die weltumspannenden Sym-
| bole Piatos der wechselnden Sehnsucht
| der Menschheit immer wieder die Form,
| in der sie sich den Gehalt einer meta¬
physischen Lebensglut vergegenständ¬
licht. Auch der deutsche Idealismus von
Leibniz bis Hegel ist tief von neuplato¬
nischen Anschauungen durchzogen. Die
Forscher der letzten Jahrzehnte, beson¬
ders Dilthey und Walzel, haben auf den
Grafen Shaftesbury als den lebendig¬
sten Quell dieses feuertrunkenen Em-
47*
1479
Eduard Spranger, Shaftesbury und wir
14&
thusiasmus wieder und wieder hingewie¬
sen. Ein abschließendes Werk aber, das
den Ethiker und Ästhetiker, den Neuhu¬
manisten und Apostel der Sympathie,
den Staatsmann und den Gelehrten schil¬
derte, hat uns bisher gefehlt.
Mitten in der blutigen Auseinander¬
setzung zwischen dem englischen und
dem deutschen Volke schenkt uns nun
Christian Friedrich Weiser ein
Buch über den Grafen Shaftesbury, das
in jeder Hinsicht mehr ist, als wir er¬
hofften. 1 ) Denn es macht sich — ob¬
wohl der geplante zweite Teil noch fehlt
— schon in dem vollendeten Bande eine
Auseinandersetzung zwischen dem deut¬
schen Geistesleben und der Philosophie
Shaftesburys, ja dem englischen Geist
überhaupt zur Aufgabe. Das Bild des
liebenswürdigen und feinen Denkers ge¬
rät dabei, wie wir sogleich sagen wol¬
len, in allen Teilen überlebensgroß, und
zwar aus doppeltem Grunde. In dem
gestaltenden Geiste, der es auffängt,
sind schon alle die Entwicklungen und
Vertiefungen gegenwärtig, die die zar¬
ten Keime der Philosophie des Englän¬
ders unter deutscher Pflege erfuhren;
so finden wir gelegentlich in das Quell¬
gebiet zurückverlegt, was erst beiSchel-
ling und Hegel (196). bei W. v. Hum¬
boldt (193 ff.), bei Fichte (296), Schleier¬
macher (521) und Schopenhauer (192)
sich zur sichtbaren Stromlinie heraus¬
rang. Zugleich aber hat hier ein Mann
das ganze Resultat jahrelangen einsa¬
men Denkens, eine ganze Lebensweis¬
heit an einem historischen Gegenstän¬
de aufleuchten lassen. Es sind nicht
strenge Begriffsanalysen, die ihn in er-
1) Shaftesbury und das deutsche Geistes¬
leben. Leipzig-Berlin 1916, B. G. Teubner.
564 S. 8°. Um das Auffinden der Stellen,
auf die ich mich beziehe, in dem umfang¬
reichen Werke zu erleichtern, füge ich im
Text die wichtigsten Seitenzahlen ein.
ster Linie interessieren, obwohl er
von ihnen, zumal in der ersten Hälh;
bedeutende Proben ablegt. Was er skl
zur Aufgabe setzt und weis nicht, sprkft
er irgendwo im Vorübergehen mit Wes¬
ten aus, die festgehalten zu werdenve:
dienen: „Eigenartigberührt es, wenn
Dialektiker ohne jede Lebenstiefe mü
den Begriffen eines großen System
zu denen ein gewaltiger Geist sid
aus der untersten, aus der einsa¬
men Tiefe seiner Seele zu der Ober¬
fläche der Gemeinsamkeit emporgerur
gen, spielen sieht wie mit den Figu^
eines Schachbretts, ohne eine Ahnu^
zu haben, welche Gewichte an diesen Fi¬
guren, diesen Begriffen hängen, wievej
eigenen Erlebens es bedarf, um ihm
Sinn, ihre Wahrheit zu spuren.“ (91.)
Eine Auseinandersetzung mit ein?:
solchen Buch kann daher kein Rer
ten über Einzelheiten sein, sondern ne
eine Begegnung zwischen M easdi twe
Mensch, und es versteht sich, daß mje¬
dem Nein, zu dem es dabei fo/nrat ein
Unterton von Ehrfurcht mitktoagt
Zwei Hauptprobleme greifen «über¬
aus, um die sich alles übrige gruppier,
die Idee der inneren Form als wehge
stabendes Prinzip und ihre Übertragt
auf die Politik Wenn jene erste, wie
sich zeigen wird, aus spezifisch ästheti¬
schem Geist geboren ist, so wird dam:
zugleich ein Streiflicht auf eine ästhr
tisch verinnerlichte Staatsauffassung fal
len, die für den deutschen Geist bezeiöi
nend ist. Denn in die Tiefen des deu
sehen Geistes möchte uns der Verfasse
durch sein Buch über den Engländers,
letzt zurückführen.
I.
„Das Erlebnis der Metaphysik Plofc
war für Shaftesbury das fruchtbare ge
stige Ereignis.“ (406.) Hatte sidi PI 2
to durch den Eros von der durchschim
mernden Schönheit der Erscheinung*
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1483
Eduard Spranger, Shaftesbury und wir
1444
höher steht jenes Prinzip, das auch le¬
bende Formen, Organismen erzeugt, und
in dessen wesenhaftes Wollen die Eitn-
zelseele sich einstellt: „the Divine Ar-
tificer, the Sovereign Artist or universal
Plastic Nature“. (248.) Die innere See-
lenform und die Weltform sind in der
Wurzel identisch. So erklärt es sich, daß
Weiser den «weltfreudigen, naturbegei¬
sterten Shaftesbury als Mystiker, als
Philosophen der Innerlichkeit bezeich¬
nen und doch zugleich behaupten kann,
sein Denken habe einen ausgesprochen
kosmischen Charakter. Seine Mystik ist
eben weltbejahend, und seine Persönlich¬
keitslehre ruht auf stark metaphysi¬
schem Grunde. In wiederholten Ansät¬
zen hat sein Interpret ausgeführt, wie
sich der Universalismus der Stoa und
die Gefühlsmystik des Neuplatonismus
in seinem Geiste eigentümlich verfloch¬
ten haben (besonders 388 ff.).
Daher ist nun auch der Lebensaffekt,
der aus den vollen Tiefen der Seele
kommt, ein metaphysisches Grundge¬
fühl. Was für Plaito der Eros, für die
Mystiker die Ekstase war, das ist für
Shaftesbury der Enthusiasmus: „die
aus der Totalität der Seele geborene und
auf Totalität gerichtete innere Erhe¬
bung“. (129, 334.) Dieser Pantheismus
erfährt im Gefühl gleichsam den Mittel¬
punkt der Welt, wenn auch für ihn Gott
als der Umfasser immer ein „mystisches
Plus“ behält. (533.) —
Weiser brauchte uns nicht zu ver¬
sichern, daß für Shaftesbury das Wert¬
problem über dem Erkenntnisproblem
stand. (61,103.) Denn ohne Zweifel ist
es die einheitgebende Kraft des Gefühls,
die diese Intuitionen ztisarnmenhält, nicht
die unterscheidende und gleichsetzende
Kritik. Der Philosoph atmet in der Har¬
monie der Welten, er strahlt seine innere
Harmonie aus in das Chaos ringsum —
dieser wahrhaft formgebende Geistes¬
prozeß beherrscht das Denken Shaltes
burys. Ja, noch mehr: Weiser hätte be-
seiner Neigung, spätere Standpunkte im
unentwickelten Stadium zu ahnen, ge
radezu von einem Primat der äs the
tischen Vernunft bei seinem Pbik
sophen reden können. Denn in Wahrbe'
ist es das ästhetische Motiv, das all*:
übrigen Lebensorgane in seinen Banr
zwingt. In ihm ruhen ungeschieden alle
Funktionen, die wir sonst am Geiste zu
unterscheiden pflegen. Der Sinn für
Wahrheit wird zum Bück für das Ty¬
pische, in dem Besonderes und Allge¬
meines sich durchdringen; und wie Im
Kunstwerk das Typische herrscht, sobe
deutet es auch die Wahrheit in der Struk
tur des Universums — also eine ästheti
sehe Wahrheit. (264 ff.) Der Sinn für
das Gute fällt für Shaftesbury zusam
men mit dem ästhetischen Geschmad
der Tugendhafte ist der Virtuose, de
Lebenskünstler, wie es schon Gradar
angedeutet hatte und (so fügen wir trotz
S. 321 hinzu) bei Cicero vorgebihtet tft
Die Persönlichkeit ist ein asfhetisches
Phänomen (260, 274*). Wie diesfcuävtf-
sal-ästhetische Auffassung auf das po\\-
t i s che Gebiet übertragen wurde, werden
wir im zweiten Teil noch eingehend te
leuchten. Endlich rückt auch das R e I i g i •
öse unter den Gesichtspunkt desÄsthe
tischen, wenn Gott als der ursprünglich
Künstler begriffen wird, während derir
dische Künstler nur ein Prometheus ist
der das belebende Feuer (nämlich die
Formkraft) von Zeus geraubt hat
Vgl. die geistvollen Untersuchungen vor
Walzel über das Prometheussymbol
von Shaftesbury zu Goethe.) Umgekehr
aber breitet sich auch über das Ästheti
sehe als das Höchste im Leben unver
meidlich ein religiöses Licht. Der groß*
Künstler ist der große Mensch; die
ästhetischeStimmung steigert sich zur he
roisdhem (336); die Ästhetik wird, wie
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1488
1487
Eduard Spranger, Shaftesbury und wir
Form als Prototyp aller Geistesformen
überhaupt anzusehen. Ein Beispiel hier¬
für ist die Art, wie er die Politik seines
Helden versteht und auf unsere Tage
anwendet. 2 )
II.
Über die Grenzen seiner wissenschaft¬
lich-historischen Aufgabe hinaus möch¬
te Weiser den Nachweis führen, daß in
Shaftesburys Philosophie der germani¬
sche, ja der deutsche Geist seinen reinen
Ausdruck gefunden habe. Innerlichkeit,
Erleben und Schaffen aus dem Zentrum
der Seele heraus, statt Abhängigkeit von
Welt und Schicksal — das ist nach ihm
der Grundzug des deutschen Typus. Im
Innern ist ein Universum auch, und zwar
das All der Werte, die aus dem schöpfe¬
rischen Tun der Persönlichkeit stammen.
„Unaufhaltbar ist der germanische Drang
zur absoluten Autonomie des geistigen
und sittlichen Lebens.“ Die Idee der
Freiheit ist allein bei den Deutschen zu
dem gestaltenden Prinzip einer nationa¬
len Kultur geworden. (516.)
Und noch mehr: Der Beruf zur gei¬
stigen Weltvollendung ist mit diesem
Prinzip dem deutschen Geiste anver¬
traut. Er soll seinen inneren Typus zur
Kraft des Ideals gestalten. (2.) Denn der
Fortschritt aller Kultur besteht nach
Weisers Überzeugung darin, daß die Äu¬
ßere Obmacht der drei großen Objektivi¬
täten Natur, Staat und Kirche ge¬
brochen und in ein inneres Verhältnis
2) Auch Ernst Cassirer geht in seinem
hochbedeutenden Werk »Freiheit und Form
in der deutschen Geistesgeschichte“, be¬
sonders in dem Abschnitt Ober Goethe,
mehr auf die einheitliche Wurzel aller
erzeugenden Geistesgesetze zurfick als auf
die allihählich zum Bewußtsein kommende
Eigenart jedes einzelnen und die besonde¬
ren Verflechtungen, die sich in jeder Gei¬
stesepoche neu bilden. Nur gibt er zugleich
(s. S. 337) entscheidende kritische Gründi
für diese letzte Einheit, die für den Neu¬
platonismus Intuition bleibt.
der Freiheit umgewandelt werde. Die
zunehmende Selbsttätigkeit, die steigen¬
de Verselbständigung der einzelnen ist
das Merkzeichen des Kulturfortschrittes.
(314 387, 397.) Das System der abso¬
luten Kirche hat die Reformation gebro¬
chen, vor allem der humanistisch beein¬
flußte Kalvinismus imGegensatzzu dem
konservativ-unterwürfigen Luthertum.
Das System der Natur hat schon Baco
mit dem wissenschaftlichen Prinzip des
„naturam vincere“ seiner objektiven
Übermacht entkleidet: Shaftesbury setzt
in seinem Gefühlspantheismus dieses
Werk fort, insofern er die Natur gleich¬
sam in das Gemüt hineinzieht und ihre
wesenhafte Verwandtschaft mit der See¬
le ahnt. Aber auch zum Überwinder des
Absolutismus im Staate möchte Weiser
seinen Helden stempeln, den Enkel des
Lordkanzlers Shaftesbury, der mit der
Habeasoorpusakte 1679 der Idee der
Freiheit zum ersten Durchbruch verhall,
den Schüler des Philosophen Lotte der
die politische Theorie des Konstitutio-
nalismus schuf. So weit die sasualisti-
sehe Theorie dieses Mannes vondetU -
bensstimmung seines Schülers entfernt
ist, so scharf sich das Immanenzgeidbl
Shaftesburys gegenüber Lockes tran¬
szendenten Hoffnungen gerade in du"
Lebenstestament des Grafen (305) aus¬
spricht: im Politischen gingen sie ver¬
wandte Wege: den Weg der Freiheit
und der neuen Zeit. Ja, Weiser schätzt
die politischen Interessen des feinsinni¬
gen Ästhetikers, dem seine schwache Ge¬
sundheit eine aktiv politische Laufbahr
versagte, so hoch ein, daß er ihn ge¬
radezu als den „Theoretiker des
Kulturstaates" bezeichnet. (493.)
Diese” werdende Liberalismus hatzur
Gegensatz den Absolutismus Ludwig
XIV. Und die Spannung zwischen bei¬
den ist nach Ansicht des Verfassers m
der Abglanz eines tieferen Gegensatz
1489
Eduard Spranger, Shaftesbury und wir
1490
zwischen zwei geistigen Weltprinzipien:
dem Germanismus und Romanismus. An
diesem Punkte verliert man die sichere
Unterscheidung zwischen dem, was Shaf¬
tesbury als Engländer und liberaler Po¬
litiker erstrebte, und was seinen Biogra¬
phen als Ideal bewegt. Autor und Held
führen gleichsam einen gemeinsamen
Kampf gegen den Absolutismus und sei¬
nen klassischen Vertreter: Ludwig XIV.,
der zugleich das Symbol für das Prinzip
des Romanismus abzugeben hat.
Nach dieser Auffassung hat die Re¬
formation das Mittelalter nicht völlig
überwunden, sondern der mittelalterli¬
che Geist ist noch einmal im Zeitalter
Ludwigs XIV. zu furchtbarer Herrschaft
erwacht, insofern die Heteronomie über
die Autonomie, der regimentale römi¬
sche Gedanke über das deutsche Ideal
der Freiheit siegte. (27.) „Ein größerer
Kämpe des Romanismus, ein konsequen¬
terer Vorkämpfer für eine mechanisti¬
sche Weltanschauung, in der Absolutis¬
mus, Zentralisation, Uniformität und He¬
teronomie identische oder sich bedingen¬
de Begriffe sind, ist nicht wieder auf-
gestanden.“ (30.) Ihm gegenüber erhebt
sich in Shaftesbury, der die von Frank¬
reich für ganz Europa drohende Gefahr
erkannte, das germanische Prinzip der
Aktivität und die neue Weltanschauung
des deutschen Individualismus.
Freilich, zwei Einschränkungen muß
sich hier Weiser selbst machen. Auch
in England hat der Absolutismus einen
schroffen Theoretiker gefunden, in dem
Philosophen Hobbes, der wie kein an¬
derer die Idee des souveränen Staates,
des „Leviathan“, über alle kirchliche und
weltliche Fronde erhob. Und auch in
England hat die frühe Entfaltung freier
Staatsformen nach innen die Entstehung
einer rücksichtslosen, im bürgerlichen
Sinne unmoralischen Weltpolitik nach
außen nicht verhindert; Die Folgerungen
für das System unsres Autors ergeben
sich von selbst: Hobbes muß mit seiner
ganzen Weltanschauung als Vertreter
des Romanismus gelten, nicht nur, weiter
die Lehren des Machiavelli übertreibt,
sondern auch, weil er einen seelenfrem¬
den Sensualismus und Materialismus
predigt. England aber, das seit den Ta¬
gen Cromwells die Idee der britischen
Expansion mit einem religiös fundierten,
rücksichtslosen Machtwillen betreibt, ist
insofern vom echten deutschen Geiste
abgefallen. Es ist auf immer für die Ent¬
faltung des tieferen deutschen Geistes
verloren gegangen. „Und so sehen wir
in der Tat durch das englische Volk jene
freiheitlichen politischen Institutio¬
nen ausgebildet, die der ganzen
Welt zum Muster dienten, und
zugleich bewahrte und bewähr¬
te der englische Staat seinen Charakter
des ,Leviathan' durch eine Politik, die
gegenüber andern Staaten und Völkern
den Staatsvorteil prinzipiell und absolut
über alle sittlichen Erwägungen stellt,
und zwar nicht allein in Fragen natio¬
naler Sicherheit, sondern vor allem zum
Zwecke der Weltausbeutung.“ (444.)
Shaftesbury selbst hat diesen Abfall der
englischen Nation von ihren höchsten
Idealen am Ende seines Lebens schmerz¬
voll empfunden. Und Weiser zieht hier¬
aus die Folgerung, daß Shaftesbury dem
englischen Volke nur seiner Geburt, nicht
aber seinem geistigen Typus nach ange¬
hörte. (48.) Hieraus entnimmt er den
Anlaß, den Denker, der allerdings
in England, hauptsächlich wegen sei¬
ner Freigeisterei, niemals eine hohe
Schätzung genossen hat, ganz für das
deutsche Geistesleben zurtickzufordem.
Der Satz: „Right or wrong, my country“
zerbricht die Brücken. Einer Politik des
Imperialismus, die für ihn gleichbedeu¬
tend mit Immoralismus war, hätte Shaf¬
tesbury niemals zugestimmt. Er unter-
1191
Eduard Spranger, Shäftesbury und wU
1492
schätzte den Staat als Hort der Innenkul¬
tur nicht. Aber aus seinem Ideal der
Freiheit konnte niemals der Anspruch
auf Weltherrschaft folgen. Er war Welt¬
bürger im Staate; seine Vaterlandsliebe
war ins Religiöse erhöht. (490.) Zu¬
gleich ruhte sie auf den Traditionen des
kalvinistisch gefärbten Humanismus, für
den das Ideal der europäischen Freiheit
und Kultur zu einer weltgestaltenden
Kraft wurde. —
Wir verkennen das Richtige in die¬
sen Gedanken nicht. Es ist ein Verdienst
unsres Buches, daß es zum ersten Male
den Politiker Shaftesbury hervortreten
läßt. Aber das alles ist doch in Konstruk¬
tionen hineingezogen, die vor unbefan¬
gener geschichtlicher Prüfung nicht
standhalten. Sie sind nicht aus der Stim¬
mung des Krieges geboren — denn das
Buch ist mehrere Jahre vor dem Kriege
geschrieben —; aber sie haben ein poli¬
tisches Gegenwartsbekenntnis zur Vor¬
aussetzung. Und will man diesen Stand¬
punkt für eine wissenschaftlich-histori¬
sche Untersuchung überhaupt gelten las¬
sen, $o scheinen mir die Linien zur Ge¬
genwart nicht richtig gezogen. Denn die
große Frage, worin der Unterschied zwi¬
schen deutscher und englischer Freiheit
besteht, wird hier von Gesichtspunkten
aus beantwortet, die unsres Erachtens
nicht haltbar sind.
Zunächst die Volksgeisttheorie. In be¬
zug auf sie gehören wir allerdings zu
den Mißtrauischen, von denen der Ver¬
fasser auf der ersten Seite seines Buches
sagt: „Jeder Versuch, Volksarten und
Geschichtsepochen gegeneinander zu
kennzeichnen, hat bei den Heutigen ein
alsbald erwachendes Mißtrauen zu ge¬
wärtigen. 4 * Nicht die Abgrenzung und
nicht die Typisierung als solche macht
uns mißtrauisch, sondern die Art der
Durchführung, die an Chamberlains ras¬
sentheoretische Spekulationen erinnert.
Es ist eine Willensentscheidung, die aus
einem fertigen politischen Wertbewußt:
sein und nicht aus objektiver Erkenntnis¬
haltung stammt, wenn der ganze Abso¬
lutismus als romanisch, der Uberalisraus
als germanisch, aber in seiner staatsbe¬
wußten Vollendung nicht als englisch,
sondern als zpezifisch deutsch angespro¬
chen wird. Gewiß möchten wir, daß
alles Deutsche echt und edel sei, und es
ist auch deutsche Art, wie das Beispiel
lehrt, altes Echte und Edle selbst ira
Auslande als deutsch zu empfinden- Wir
können aber nicht über Spannungen de*
Gegenwart die bleibende wissenschaft¬
liche Wahrheit vergessen, die eine der
grundlegenden Einsichten der Ranke¬
schen Geschichtschreibung ist, daß sich
die germanisch-romanischen Völker ic
dauernderKulturgemeinschaft entwickelt
haben und daß zwischen ihnen ein un¬
ablässiges Geben und Nehmen gewaltet
hat. Das ist ja — infolge der einfachen
Notwendigkeit des Lebens — noch beuae
mitten im Kriege so. Fast auf je¬
der Seite gibt das Buch von Hei^r
neue Belege hierzu. In der grofe«
Tradition, die vori der griechisch-rö¬
mischen Stoa und vom Neuplatonis-
mus herstammt, begegnen uns Italiener
wie Giordano und Campania, Deut¬
sche wie Böhme und Alstedt, Franzosen
wie Montaigne und Bodinus, Engländer
wie Herbert und Cudworth. Der Abso¬
lutismus ist keineswegs eine französische
Erfindung, die dje ändern nachgeahmt
haben, sondern eine notwendige Dprch-
gangsstufe politischer Entwicklung, 4k
in Italien beginnt, in England kurzeZeit
— in den Tagen der Stuarts und des
Hobbes — zu bemerken ist, in Rußland
mit Peter dem Großen abendländische
Kulturformen annimmt und in Deutsch¬
land von den kleinsten Höfen bis empor
zu dem glorreichen Friedrich geherrscht
hat Will man das Romanismus neppen.
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[ND1ANA UNfVERSITY
1493
Eduard Spranger, Shaftesbury und wir
1404
so sind wir im Norden teilweise roma¬
nischer gewesen als die Romanen.
Oberhaupt scheint mir der Absolutis¬
mus in Weisers Darstellung historisch
nicht richtig bewertet zu sein. Daß Shaf-
tesbury und seine Zeit, die mitten im
Kampfe standen, ihn verabscheuten* ist
zu begreifen. Mit dem Wachstum der
liberalen Bewegung ist dann eine popu¬
läre Auffassung vom absoluten Regi¬
ment, vom sog. Despotismus entstanden,
die sein Bild aus lauter Schändlichkeiten
zusammensetzt und an dem Roi Soleil
nichts als Schattenseiten entdeckt. Nie¬
mand von uns will in diese Epoche zu¬
rück. Aber als Historiker müssen wir
doch fragen, wie sie den Bedingungen
ihrer Zeit genügte, und da hat uns ob¬
jektive Forschung anzuerkennen gelehrt,
daß der Absolutismus nichts anderes ist
als die Farm, in der sich auf dem Fest¬
lande die Konsolidierung der Gro߬
staaten überhaupt vollzogen hat. Beam¬
tentum, stehendes Heer, geschlossene
Volkswirtschaft, Steuer- und Finanzwe¬
sen sind nur möglich gewesen durch eine
solche Zentralisation, die ja noch gar
nicht das freiheitsstrebendS, sittliche In¬
dividuum sich gegenüber fand, sondern
die Anarchie der ständischen Sonderin¬
teressen. Taine hat für Frankreich ge¬
zeigt, wieviel von den Einrichtungen
des Ancien rGgime die Revolution über¬
dauert hat. Schmoller und Hintze ha¬
ben in den Acta Borussica dem preußi¬
schen Absolutismus aus seinen eignen
Taten Denkmäler gesetzt, die noch heut
- die höchste Bewunderung verdienen.
Hierfür fehlt Weiser (trotz gelegentli¬
cher Selbstein wände wie S. 12, 18,
480) der gerechte Blick. Das Merkan¬
tilsystem (dessen nachwirkenden Se¬
gen wir eben jetzt erfahren) ist für
ihn nur ein gewaltsames, unifor-
mistisch-romanistisches Prinzip. (37.)
Ludwig XIV. erscheint wieder und
wieder in der Rolle des schwarzen Man¬
nes, während von seinem glänzenden
Ministem gar nkht die Rede ist. Und die¬
ses Buch, das* vorausgreifend, fast je¬
dem Geiste des 18. Jahrhunderts Ver¬
ehrung zollt, streift nur mit einem Zitat
aus der Rheinsberger Zeit Friedrich den
Großen, der doch wohl auch ein Deut¬
scher war. Aber wie der Verfasser zu
dieser großen Kulturepoche steht, zeigt
die gelegentliche Bemerkung, daß „wir
heute als Deutsche mit zäher Entschlos¬
senheit für das politische Prinzip der
Selbstverwaltung eintreten gegen die
zentralistisch-absolutistische Tendenz in
der preußischen Staatsidee“. Man mag
über den Sinn der politischen Gegen¬
wart noch so verschieden denken: in die¬
sem Satz stimmt nicht das „Heute“ —
denn mit Stein-Hardenberg, 1848 und der
preußischen Kreisverfassung dürfte die¬
se Bewegung, die übrigens immer aus
englischen Quellen schöpfte, ihre bren¬
nende Aktualität verloren haben; es
stimmt nicht die einseitige Betonung der
Dezentralisation, da wir auf vielen Ge¬
bieten gerade den Reichsgedanken her¬
ausarbeiten wollen; und es befremdet
der Ausfall gegen die preußische
Staatsidee, deren Gutes sich in allen
Einzelstaaten durchgesetzt und uns zu¬
nächst einmal gerettet hat. Denn die tö¬
richte Rede des Auslandes vom ma߬
losen preußischen Militarismus wollen
wir doch wohl nicht mitmachen: sie ist
eine spezifische Erfindung des engli¬
schen Marinismus, die die andern nur
nachbeten, während Frankreich vordem
Kriege an der Spitze der militaristischen
Anstrengungen marschierte.
Im Politischen muß man historisch und
nicht nach ewigen Normen denken. Der
Absolutismus hat Ordnung und Recht
geschaffen. Er hat den Rechtsstaat lang¬
sam realisiert und den Nationalstaat vor¬
bereitet. Er war eine Notwendigkeit und
1495
Eduard Spranger, Shaftesbury und wir
1490
ein Segen im Leben der Völker. Was er
positiv geleistet hat, können weder die
lettres de cachet noch Geschichten über
die Leiden des jungen Schiller auslö¬
schen. Jede Staatsform hat die Schat¬
tenseiten ihrer Lichtseiten: wie sich Pla¬
to, der doch gewiB kein unfreier Geist
war, über die Demokratie geäußert hat.
wird Weiser nicht vergessen haben. Und
so möchte ich geradezu behaupten: Je¬
des Volk ist in demselben Grade poli¬
tisch gut erzogen, als es in seiner po¬
litischen Werdezeit durch einen guten
Absolutismus hindurchgegangen ist:
denn der pflichtbewußte Absolutismus
ist das Erziehungssystem der Völker auf
die politische Reife hin. Kants Ethik der
Autonomie hat ihr konkretes Vorbild an
der freien Pflichterfüllung des Fürsten,
der der erste Diener seines Staates sein
wollte, desselben Mannes, der für die
andern noch glauben mußte, daß der
wohl verstandene Egoimus jedes Stan¬
des als Staatsgesinnung eben recht sei.
Erst kommt die Autorität, dann die
Autonomie: so ist es im Einzelleben, so
im Völkerleben. Das autonome Frei¬
heitsbewußtsein ist genau so viel wert,
wie es in der Jugend gelernt hat, sich
einem großen Ganzen widerspruchslos
unterzuordnen. Die bloße Freiheit ist
noch gar nichts Ethisches, und Kant
wußte wohl, warum er sein Prinzip der
Autonomie zuletzt doch an den Gesichts¬
punkt einer „allgemeinen“ Gesetzge¬
bung band.
England bekanntlich ist das einzige
Land Europas, das nur eine kurze
Epoche hindurch einen sehr schwachent¬
wickelten Absolutismus gehabt hat. Man
sagt, es habe ihn wegen seiner Klein¬
heit und seiner insularen Lage nicht ge¬
braucht: Nun — wer nicht früh lernt,
muß spät lernen. W i r haben, als wir da¬
zu reif waren, von England die Selbst¬
verwaltung und das modifizierte Parla¬
ment übernommen. England hat mit*
ten im Kriege nachholen müssen, was es
nicht hatte: die allgemeine Wehrpflicht
und die Belebung des Willens zur Orga¬
nisation, der unter der langen Herrschaft
des Manchestertums und des politischen
Liberalismus nicht voll zur Entwicklung
gekommen war. Hätten wir es mit Eng¬
land allein zu tun, so wäre ja wohl schon
heute kein Zweifel, welches System die
größere Widerstandsfähigkeit bewiesen
hat.
Aber wir haben keine Veranlassung,
in dieser Stunde vor der fremden Tür
zu kehren. Weiser empfiehlt uns das Sy¬
stem der inneren Politik Englands, von
dem wir längst aufgenommen haben,
was wir uns assimilieren konnten; er
warnt uns vor 'dem System der äußeren
Politik des britischen Imperialismus. Ge¬
wiß — wir wollen weder die Ziele noch
die Mittel nachahmen; denn beide sind
dem deutschen Volke fremd. Aber hier
liegen doch Tatsachen: ein Einfluß Ei¬
lands über die Welt, dem wir in dieser
Form nicht nach streben. Nur das wird
ja wohl noch in den Grenzen politisä&x
Sittlichkeit sein, ihm da entgegen za
streben, wo er uns erdrückt und uns die
Luft abschnürt. Jeder Erfolg, auch wenn
man ihn nicht billigt, verdient, daß man
seinen geheimen Wegen nachspüre, und
wäre es auch nur, um die gefährlichen
Mittel zu erkennen, durch die es zu ihm
kam. *
Mit andern Worten: fegen wir vor
unsrer Tür! Meine Absicht kann nicht
sein, Weisere historisches Urteil zu be¬
richtigen oder ihm Lücken in der Kennt¬
nis der Geschichte nachzuweisen. Son¬
dern — wie sein Buch sich als aktuelles
gibt —, so beschäftigt mich die aktuelle
Frage, was unsrer deutschen Staatsauf¬
fassung wohl fehlt, um im vollen Sinne
politisch zu sein. Auf sie aber gibt ge¬
rade unser Buch die beste Antwort, weil
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Go», igle
Original fram
INDIANA UNIVERSITY
1497
Eduard Spranger, Shaftesbury und wir
1498
es in reinster Kultur zeigt, was dem Li¬
beralismus des gebildeten Deutschen
noch immer die eigentümliche Farbe
gibt: die ästhetische Staatsauf¬
fassung, die den Staat gleichsam nur
aus der Innerlichkeit der Person heraus¬
wachsen läßt.
In diesem Buche sehen wir es in vol¬
ler Klarheit vor uns, wie wenig bei uns
die ästhetische Form des Lebens und die
politische Form auseinandergehalten
werden. Die Grenzen zwischen dem
Schriftsteller und dem echten Tatenmen¬
schen, zwischen ästhetischem und he¬
roischem Affekt verschwimmeil völlig.
Durch eine unerlaubt weite Fassung des
Begriffes der ästhetischen Form wird al¬
les, was das geistige Leben enthält, in
den Umkreis von Geschmack und Künst¬
lertum hineingezogen. Auch der Staat
erscheint als Produkt der Formkraft;
aber diese staatliche Form darf nicht
von außen bestimmt sein und dem Men¬
schen ais heteronome Zwangsgewalt
entgegentreten — das wäre Romanismus
(172. 292) —, sondern sie muß von innen
aus dem schöpferischen Grunde der Per¬
sönlichkeit kommen, als Autonomie
im Sinne des deutschen Idealismus.
Gegen diese Fassung wäre nichts ein¬
zuwenden, wenn nicht die Form, die hier
als sittlicher Sinn des Staates bezeich¬
net wird, bis zur Identität nahe mit der
ästhetischen Form zusammenfiele, wo¬
bei der Gedanke des Organischen die
Vermittlung abgibt. „Über das sittliche
erhob sich für Shaftesbury das ästheti¬
sche Erlebnis des Staates als ein Erlebnis
der Einheit in der Freiheit, so daß wir
von einem ästhetischen Staate
sprechen mögen, der über dem ethischen
stehe, während der vorauf gehen de Staat
der Not wohl schon als der dynamische
bezeichnet wurde/' (489.) Die nahe
Verwandtschaft mit Gedanken Schillers
klingt uns schon aus den Worten ent¬
gegen. Zu Unrecht scheint mir Weiser
dem deutschen Neuhumanismus vorzu¬
werfen, daß er unpolitisch gedacht und
die Verschmelzung von Nationalstaat
und Kulturstaat noch nicht vollzogen
habe. (469.) In dieser Politik vielmehr
stimmen Shaftesbury, die deutschen
Klassiker und der ganze ältere deutsche
Liberalismus überein, daß sie den Staat
nur als den letzten Ausläufer der Humani¬
tät ansehen. 3 ) Wir verehren diese hohe,
aristokratische Geistigkeit, für die der
Wille zum Staat aus der Autonomie des
Individuums in organischer Schönheit
herauswächst: die Formel der deutschen
spekulativen Philosophie, daß Freiheit
und Notwendigkeit im Staate zusammen-
fallen, wird hier im Sinne einer ästhe¬
tischen Harmonie, weniger einer sitt¬
lichen Willensgesetzlichkeit verstanden.
Aber wir fragen uns zugleich, ob diese
humanistische Staatsauffassung aus ei¬
nem sicheren Blick für das Eigengesetz
politischer Form hervorgegangen ist,
oder ob nur ästhetische Zusammenschau
hier zweierlei verknüpft, was nie ganz
im identischen Sinne wirken kann: äs¬
thetischen Bildungstrieb und nationalen
Willen zu Macht und Recht? Gewiß
mag das Erlebnis des Schönen eine ei¬
nigende „sozialisierende“ Macht entfal¬
ten, mag die nationale Kultur ihr letz¬
tes Geheimnis in ästhetischen Symbo¬
len aussprechen. Aber Staatsbildung
ist und bleibt etwas andres als ästheti¬
sche Schöpfung. Sie folgt ihrem eige¬
nen Gesetz: dem politischen, derMacht-
und Rechtsordnung. Daß diese Sonder¬
gesetze für die einzelnen Gebiete, näm¬
lich für Wissenschaft und Kunst und
Religion, für Wirtschaft, Gesellschaft
3) Hierauf habe ich schon hingewiesen
in meiner Rede: »Das humanistische und
das politische Bildungsideal im heutigen
Deutschland*. Deutsche Abende des Zen¬
tralinstituts, Berlin 1916.
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INDIANA UNfVERSITY
1409
Eduard Spranger, Shaftesbury und wir
und Staat von Weiser nicht herausgear-»
beitet sind, daß er sie mit Shaftesbury
nur durch ein mystisches Lebensgesetz
gebunden fühlt, darin fanden wir die
größte Einseitigkeit und die begriffliche
Schwäche des hervorragenden Werkes.
Diese Mängel aber sind, wenn wir
nun einmal nationale Typen bilden dür¬
fen, spezifisch deutsch. Die Schule
des Krieges mag uns inzwischen erzogen
haben. Vor dem Kriege nahm der ge¬
bildete Deutsche, wenn er liberal dach¬
te, was er in der Regel tat, den Staat
mit dem Gefühl — halb ästhetisch, halb
religiös begeistert —, aber nicht mitdem
Verstand, mit dem nun einmal auch das
Höchste auf Erden angesehen werden
will. Daß alle politischen Fragen nicht
nur Rechtsfragen, sondern in erster Li¬
nie Macht fragen sind, daran wollten
wir nicht heran, als ob Macht ihrer Na¬
tur nach etwas Unmoralisches wäre und
notwendig zur Tyrannei über Volk und
Völker führte. Statt dessen sprach man
von „Freiheit“, die entweder ein leerer
metaphysischer Name oder auch ein
Machtbegriff ist, Macht angewendet auf
das Individuum. Aber mit der bloßen
Freiheitsidee ist kein Staat zu errich¬
ten und keine Politik zu treiben. Der
Staat mag sich noch so tief mit Recht
und Sittlichkeit und humanem Geist er¬
füllen — er bleibt seinen Gliedern ge¬
genüber immer ein Stück äußerer Auto¬
rität, weil kein Individuum einfach im
Staate aufzugehen vermag, und nach
außen hin bleibt er Macht, weil ein gro¬
ßes Volk auch einen großen Lebenswil¬
len hat. Der Staat ist nun einmal ein
überindividuelles Gebilde; die alte Hoff¬
nung, ihn aus der sittlichen Autonomie
des Individuums allein abzuleiten, ist
mit der klassischen Epoche des Indivi¬
dualismus dahin. Ein Kollektivum ist
immer objektive Sittlichkeit: der einzel¬
ne kann sie in seinen Busen aufnehmen
1500
und sie dann schöpferisch weiterbilden;
er kann sie aber nidit aus den Hefen
seines Einzelwesens in ihrem Gesamt-
bestand erzeugen. —
Ob Shaftesbury, dessen Schriften nicht
einmal im England des 18. Jahrhunderts
einen nennenswerten politischen Einfluß
geübt haben, uns in allen diesen Fragen
hent zum Führer werden kann, ist mehr
als zweifelhaft. Vielleicht könnte man
diesen Abschnitten des gedankentieien
Buches von Weisereine geringere Bedeu¬
tung beilegen, wenn nidht tatsächlich aus
ihnen eine brennende Aufgabe für das
Leben und die Wissenschaft der Qegen-
wart herausspränge: Es muß Klarheit
geschaffen werden über denlln-
terschied von englischer Frei¬
heit und deutscher Fr ei heit, eng¬
lischem Individualismus und
deutschem Individualismus, ja
ganz al 1 gemein über den Gegen¬
satz von deutscher und engli¬
scher Staatsauffassung ü! |fr '
haupt. Der Verfasser unsres Weites
versucht, diesem großen WeltpioWem
durch eine philosophisch-metaphysische
Konstruktion aus dem Unterschied der
Volksgeister und von einer beherr¬
schenden Persönlichkeit aus beizukom¬
men. Dieser Weg wird nie zum Ziele
führen. Man lernt einen Charakter ntdu
anders in seinen Tiefen kennen als aus
seiner ganzen Lebensgeschichte und den
Stufen seines Werdens. Nur am Gan¬
zen der politisch-geistigen Geschichte
Deutschlands und Englands kann der
Unterschied beider Weltprinzipien stu¬
diert werden.
Die englische Freiheit empfängt ihre
eigentümliche Farbe durch das friH^
Mitregierungsrecht einer breiten Adels¬
schicht und durch alle Institutionen lo¬
kaler Selbstverwaltung, durch die in den
Glaubenskämpfen errungene Idee der
persönlichen Gewissensfreiheit, durdi
1501
1502
Eduard Spranger, Shaftesbury und wir
die lange Herrschaft desjenigen Indivi¬
dual Ismus, der aus dem ökonomischen
Püh.zip und der Freihandeislehre folgt.
Politischer und wirtschaftlicher Libera¬
lismus hängen in England innerlich zu¬
sammen. Zugleich hat dieses Land als
Seemacht von früh auf einen imperiali¬
stischen Drang entwickeln können, wie
er für Binnenländer gar nicht in Betracht
kam. Das alles hat die eigentümliche
Mischung von starkem Nafionalbewußt-
sein und Machtwillen mit zentrifugalen
Tendenzen im Innern erzeugt, die wir im
Laufe des Krieges beobachtet haben.
Wenn im Gegensatz hierzu die deut¬
sche Freiheit immer in engster Verbin¬
dung: mit dem Pflichtgedanken auftrat,
so beruht dies nicht nur auf einer philo¬
sophischen Konstruktion aus demWesen
der praktischen Vernunft, sondern dar¬
auf, daß der deutsche Liberalismus in
ständiger Auseinandersetzung mit dem
Vorgefundenen absoluten Staat groß ge¬
worden ist. Die werdende freie Persön¬
lichkeit war und blieb hier gebunden in
einem festen Zusammenhang staatlicher
Formen. Der sittliche Geist dieser uber-
individuellen Wesenheit ist in einem ei¬
gentümlichen Erziehungsprozeß erst in
die einzelnen hineingebildet und in ihnen
zu persönlichem Leben erweckt worden.
Deshalb hat die deutsche Freiheit immer
diesen Bezug auf ein überlegenes Ganze,
das im Gedanken der echten Persönlich¬
keit mitgedacht wird: Neben der Freiheit
steht unmittelbar der Imperativ, neben
der Autonomie die Pflicht, und beide
Seiten stammen für deutsche Auffassung
aus der gleichen metaphysischen Wur¬
zel. Es versteht sich von serbst, daß
das englische Parlament auf diesen
Boden nicht verpflanzt werden konnte,
ohne tiefgehende Veränderungen zu er¬
fahren, daß die englische Selbstverwal¬
tung bei uns eine andere wurde, weil
sie ein anderes Staatsgebilde sich gegen¬
überfand, titid daß das Prinzip der öko¬
nomischen Freiheit in dieser geistigen
Umgebung nie so ungesunde Formen an¬
nehmen konnte wie im Lande unbe¬
grenzter wirtschaftlicher Expansion über
See, Sondern sehr bald in einer neuen
Sozialethik sein Gegengewicht finden
mußte.
Aber das sind nur wenige, willkürlich
herausgegriffene Züge. Wer den gan¬
zen großen Zusammenhang untersuchen
will, der begegnet natürlich auch dem
ästhetischen Humanismus der Persön¬
lichkeit und muß notgedrungen auf seine
Wurzeln in Shaftesbury zurückgehen.
Nur bleibt es unmöglich, umgekehrt aas
diesem einen Geiste (noch dazu einem
geborenen Engländer) das politische Ide¬
al der neuen deutschen Zeit heraaszu-
komstruieren, die doch unter so unzähli¬
gen realen und geistigen Bedingungen
groß geworden ist, Bedingungen, von
denen Shaftesbury nichts wußte und
nichts ahnen konnte. In dem Reigen der
Geister, die das deutsche Wesen schon
früh auf einen Ausdruck gebracht ha¬
ben, werden auch für den Hlstorrkeran-
dere Männer voranstehen als gerade der
ästhetische englische Graf, und für die
deutsche Staatsauffassüng sind Kant,.
Fichte, Hegel zu schöpferisch gewesen,
als daß män in ihm ernstlich ihren Mei¬
ster sehen dürfte. —
Die schicksalsschwere Bedeutung der
Stunde, in der dej deutsche und der eng¬
lische Geist miteinander ihre Kräfte
messen, lenkt unvermeidlich den Blick
auf die politischen Fragen, die in dem
Weiserschen Buch selbst einen großen
Raum beanspruchen. Und gewiß: wenn
jetzt über die Weltgeltung der Völker
entschieden wird, so steht zugleich alles
Innerlichste, Tiefste, Geistigste mit im
Kampfe und empfängt den gewaltigen
Richterspruch der Geschichte. In dem¬
selben Augenblick, in dem wir die ganze
1503
Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1504
gesammelte Kraft der Nation nach au¬
ßen zu wenden gezwungen sind, ringen
wir noch mit ernstester Glut um das
Selbstverständnis unsres Wesens. Das
ist selbst ein Zeichen der Echtheit und
der Stärke, wenn man in der Erschütte¬
rung der Völker den reinen festen Wil¬
len zur Objektivität behält. Und daß ein
Mann, der einen großen Teil seines Le¬
bens in Amerika gelebt und die Vorbo¬
ten des Aufeinanderprallens anglische:
und deutscher Art beobachtet hat, mit¬
ten im Kriege ein solches Werk in stfl-
ler Sammlung und aus reifem Lebens¬
verständnisvollenden konnte, das jeden¬
falls ist deutsch, wie man auch sonst
den Namen deute.
Ein antiker Dichter im Kriege.
Von Max Pohlenz.
Wir stehen jetzt im vierten Jahre des
Krieges, und unendlich langerscheint uns
seine Dauer, unendlich groß und zahl¬
reich sind die Eindrücke, die wir in die¬
ser Zeit in uns aufgenommen haben. Da
liegt es für den klassischen Philolögen
nahe, sich einmal darüber klar zu wer¬
den, was für eine Wirkung auf die
Geister im alten Griechenland ein Krieg
wie der Peloponnesische ausgeübt hat,
der fast ein Menschenalter währte, der
einem Beobachter wie Thukydides als
das bedeutendste Ereignis der Weltge¬
schichte galt, der den Athenern verhält¬
nismäßig noch viel mehr Menschenopfer
kostete, ihr Land viel stärker in Mitlei¬
denschaft zog, auch das innerpolitische
Leben noch viel stärker aufwühlte, als
dies bei uns im jetzigen Weltkriege der
Fall ist.
Wir kennen eine ganze Anzahl bedeu¬
tender Männer, die deft Peloponnesischen
Krieg von Anfang bis zu Ende miter¬
lebt haben, und bei einem sind wir in
der Lage, den Einfluß, den der Krieg
auf seine Stimmung und sein Schaffen
geübt hat, fast während dieser ganzen
Zeit zu verfolgen.
Euripides war etwa fünfzig Jahre
alt, als der Krieg ausbrach. Kurz vor dem
Untergang der Vaterstadt ist er 407/6
gestorben. Von den 22 Tetralogien, die
das Altertum von ihm kannte, gehören
mindestens 16, von den 18 ans erhal¬
tenen Stücken alle mit Ausnahme von
einem der Zeit seit 431 an; bei einer
Reihe von diesen steht die Aufführung*
zeit durch urkundliche Angaben fest, d#
andern können wir durch innere oder
äußere Indizien wenigstens annäher:
zeitlich festlegen.
Dabei ist Euripides ein Dichter, der
in viel stärkerem Maße als etwa So¬
phokles die Zeitereignisse unmittelbar in
seinen Werken widerspiegelt
Zeitgenossen empfanden es ja als cter
rakteristisch für ihn, daß er der Dichte;
der Moderne sei, daß die Heroenwelt
in der nach der Tradition seine Stücke
spielten, ihm nur die Szene böten, in
die er ganz moderne Stimmungen, ak¬
tuelle Probleme hineintrage. Befördert
wurde diese Tendenz noch durch die
ganze Auffassung, die er von seiner
Kunst hegte. Man konnte Euripides nicht
ärger mißverstehen, als wenn man anneh¬
men wollte, er tobe ausschließlich eine
ästhetische Wirkung auf seine Zuschauer
angestrebt. Tatsächlich hat er wie kein
anderer athenischer Dichter das Be¬
wußtsein, daß er am heiligen Feste von
heiliger Stätte zu seinem Volke spricht
Der Lehrer seines Volkes will er sein,
es sittlich aufrütteln so gut wie Sokra-
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INDIANA UNfVERSITY
1505
Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1506
tes, ihm mahnend und ratend zur Seite
stehen, aber auch wo er seine Stim>-
mungen und patriotischen Gefühle teilt,
deren Dolmetsch nach außen hin werden.
Am augenfälligsten tritt uns dieser
Zug entgegen, wenn er seinen Personen
unbekümmert Äußerungen in den Mund
legt, die zu ihrem Charakter gar nicht
passen, dafür aber dem Publikum sa¬
gen, was der Dichter auf dem Herzen
hat. Aber auch in der ganzen Fabel, in
der Gestaltung des Stoffes, mit dem Eu¬
ripides völlig frei schaltet, spürt man
oft genug, wie er durch ganz aktuelle
Stimmungen und Absichten, durch Zeit¬
ereignisse und Zeitströmungen be¬
stimmt ist.
Daß bei einem solchen Manne der
Krieg starken Widerhall in seinen Wer¬
ken findet, ist von vornherein selbstver¬
ständlich und im einzelnen auch schon
vielfach beobachtet. Doch vermag uns*
eine zusammenfassende Betrachtung,
glaube ich, noch manches zu lehren.
Als Euripides im Frühling 431 die
Medea aufführen ließ, legte er ein Lied
auf Attika ein (824ff.), das gottgeseg¬
nete Land, wo die Luft so leicht ist und
der Himmel so klar, wo nimmer die Ro¬
sen aufhören zu blühen, wo aber auch*
Wissenschaft und Kunst gedeihen und
reichbegabte Menschen nach den höch¬
sten Zielen streben. Mit Betonung nennt
er es das heilige, das nie vom Feinde
verheerte Land. Das war in einem
Augenblick, wo das Aufgebot des Pe-
loponnesischen Bundes sich bereits zum
Einfall in Attika rüstete, und wenige
Wochen darauf mußten mit Ingrimm die
attischen Bauern sehen, wie ihre Gär¬
ten und Weinberge vom Feinde verwü¬
stet wurden.
Nur ein Teil von Attika blieb bei die¬
sem wie bei den nächsten Einfällen ver¬
schont. Das war die Gegend von Ma-
Intemationalc Monatsschrift
rathon, die sogenannte Tetrapolis. Hier
war in edler Kriegsleidenschaft ein Ge¬
fühlsmoment wirksam. Es gab nämlich
die Sage, nach dem Tode des Herakles
seien seine Kinder von Eurystheus ver¬
folgt worden und hätten nur in Mara¬
thon Zuflucht gefunden. Ausdrücklich
berichtet Ephoros (bei Diodor XII, 45),
die Erinnerung an diese Hilfe habe die
Spartaner, deren Könige sich ja von
den Herakliden ableiteten, veranlaßt, die
Tetrapolis zu schonen (vgl. auch Herod.
IX, 73). Erst 427 wurden diese Gefühls¬
momente durch die militärischen Erwä¬
gungen überwunden und ganz Attika
verwüstet (Thuk. III, 26).
Die Rettung der Herakliden gehörte
zu den Ruhmestiteln der attischen Ge¬
schichte, und bei den Epitaphien ver¬
säumte nicht leicht ein Redner sie zu
erwähnen. Besonders aber im Anfang*
des Peloponnesischen Krieges hatten die
Athener Anlaß darauf hinzuweisen, wie .
sie sich von jeher uneigennützig der
Schwachen und Bedrückten angenom¬
men hätten. Djenn der Schutz der
Schwachen und Kleinen vor der Tyran¬
nei Athens war das Schlagwort, mit dem
derPeloponnesische Bund für sich Stim¬
mung zu machen suchte.
So griff auch Euripides jetzt diesen
Stoff auf und bearbeitete ihn in den
Herakliden. Drohend prophezeit er
am Schluß den Nachkommen der Hera¬
kliden eine Niederlage, wenn sie jemals
die Dankespflicht vergessen und die Te¬
trapolis angreifen sollten. Das kann er
nur vor 427 getan haben, und in die er¬
ste Zeit des Krieges weist uns die ganze
Stimmung des Stückes.
Den Inhalt bildet die einfache Ge¬
schichte, wie Athens König Demophon,
der zugleich als Herrscher der Tetrapo¬
lis gedacht wird, die Herakliden gegen
das brutale Verlangen des Eurystheus
auf Auslieferung in Schutz nimmt, wie
48
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INDIANA UNfVERSITY
1507
Max Pohlenz. Ein antiker Dichter im Kriege
1508
Eurystheus im Kampf besiegt und von
der ganz als Megäre gezeichneten Alk¬
mene getötet wird. Daß dies von der
Böoterin im Widerspruch mit der athe¬
nischen Sitte geschieht, die einen Kriegs¬
gefangenen zu töten verbietet, wird sehr
stark hervorgehoben im Gegensatz zu
den Peloponnesiem, die im Anfang des
Krieges sogar jeden athenischen Kauf¬
mann, der ihnen in die Hände fiel, nie-
dermadhten.
Die Herakliden sind ein Drama, in
dem die Charaktere, die dramatische
Entwicklung nichts bedeuten, die pa¬
triotische Tendenz alles. Das ganze
Stück durchweht der Stolz auf Athen,
das im innerpolitischen Leben Recht und
Freiheit zum Prinzip hat und auch nach
außen hin für die Gerechtigkeit eintritt,
die Verfolgten unterstützt, auch wenn
dadurch Feinde erwachsen.
In einem Chorlied (371) heißt es:
„Wohl lieb’ ich den Frieden,
doch sinnst du mir Böses,
so sag’ ich dir eins:
Versuchst du den Angriff,
so wird es nicht gehen,
wie du es dir träumst!
Auch ich führ’ die Lanze,
auch ich trag’ am Arme
den ehernen Schild.
Drum dämpf’ deine Kriegslust,
steck das Schwert in die Scheide,
und stör’ nicht meine Heimat,
wo’s so wohlig sich lebt! Gib nach!“
Hier hat gewiß das Publikum nicht
an Demophon und Eurystheus gedacht,
sondern an die eigne Zeit. Noch mehr,
wenn Demophon die Antwort an Eu¬
rystheus mit den Worten abschließt:
„Habt ihr Beschwerden gegen diese Frem¬
den hier,
verlangt ein Schiedsgericht! Sonst führt ihr
sie nicht fort.“
Denn Perikies hatte noch am Schluß der
diplomatischen Verhandlungen den Pe-
loponnesiem angebotein, entsprechend
den bestehenden Verträgen die Be¬
schwerdepunkte durch ein Schiedsge*
rieht zu beseitigen —* bei Thuk. I, 140
stehen in der Rede des Perikies diesel¬
ben Ausdrücke wie bei Euripides —. und
die Spartaner haben sich lange Gewis¬
sensbisse gemacht, daß sie durch Ab¬
lehnung des Angebots sich ins Unrecht
gesetzt hätten.
Um so stärker war dank Perikies
kluger Politik bei den Athenern das Ge¬
fühl: „Wir sind die Angegriffenen, die
Feinde sind im Unrecht.“
So klingt es auch bei Euripides: Wohl
sind mächtig und tapfer die Feinde, die
gegen Athen heranziehen, aber
„Zeus ist mein Schutz; ich fürchte mich nicht
Zeus will mir wohl, denn ich schützte das
Recht.
Niemals aber glaub’ ich daran,
daß ein Gott den Sterblichen weiche* (796-
„Nein, unterliegen, das kann Pailas
nicht“, heißt es an anderer Stelle (3521
Deutlich spricht sich dabei aus, cai
mit der patriotischen Begeisterung
Aufschwung des religiösen Gefühls a-
sammengeht Nie wieder hat Eun/aäte
so warme religiöse Töne angesebiageff
wie in diesem Stück. „Von Sinnei müh*
sein“, führt er in einem andern
aus (901 ff.), „wer Athen tadeln wollte,
daß es so gottesfürchtig ist. So deui-
lich haben die Götter uns geholfen, de&
Übermut der Feinde gedämpft.“ Das ist
offenbar die Stimmung der allererster!
Zeit, wo der Einfall der Peloponnesier
wirkungslos verpufft war. Nachdem die
Götter durch die Pest ihre schwere Hand
auf Athen gelegt hatten, würde Euripi¬
des diese Stelle kaum so gedichtet
haben.
Aus der Stimmung der ersten Kriegs¬
zeit erklärt sich endlich auch eine Szene,
an der man Anstoß genommen hat. Als
der Kampf bevorsteht, läßt sich der ur¬
alte Begleiter der Herakleskinder, Iolaos.
der Waffengenoß ihres Vaters, nicht haJ-
ten und zieht in den Kampf, obwohl er
zu schwach ist die Waffen zu tragen und
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[ND1ANA UNfVERSITY
1509
Max P oh lenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1510
geführt werden muß* um nicht zu strau¬
cheln.
Dem Preislied auf Athen tritt der
Haßgesang gegen die Feinde zur Seite,
ln der Andromache geht Euripides
von der epischen Erzählung aus, nach
der Achills Sohn Neoptolemos Hektors
Gattin Andromache als Beuteanteil er¬
halten und als Kebsweib in seine Heimat
mitgenommen hat. Er kombiniert damit
eine andre Version, wonach Neoptole¬
mos Menelaos’ Tochter Hermione hei¬
ratet, und baut darauf eine freie Erfin¬
dung: Hermione benützt eine Abwesen¬
heit ihres Gemahls, um mit Hilfe ihres
Vaters die unbequeme Nebenbuhlerin zu
beseitigen. Alles Licht fällt dabei auf die
unglückliche Andromache, die auch im
Sklavenlos ihre Würde wahrt, jeder Z'oll
eine Königin, während das verwöhnte
Prinzeßchen Hermione und ihr willfäh¬
riger Vater als gemeinste Kreaturen ge¬
schildert werden, die mit feiger Hinter¬
list die Unglückliche um ihr Kind und
um ihr Leben zu bringen suchen. Wie
Euripides zu dieser gehässigen Zeich¬
nung gekommen ist, die an der Sage gar
keinen Anhalt hat, das tritt am deutlich¬
sten in den Worten hervor, in denen An¬
dromache ihrer Empörung Luft macht
(445 ff.):
„O ihr Spartaner, aller Welt seid ihr verhaßt!
Voll List und Tücke seid ihr und verschlag¬
nen Sinns,
ohn’ Treu und Glauben; krumme Wege geht
ihr stets.
Mit Unrecht steht so mächtig ihr in Hellas da.
Was sagt man euch mit Fug nicht nach?
nicht Blut und Mord,
nicht Habgier, Doppelzüngigkeit? Ich fluche
euch.“
Andre Ausfälle kommen hinzu auf
Sparta, das nur auf seinen Kriegsruhm
pocht (754);, auf die zuchtlosen Spartane-
rinnen, die schon als Mädchen nicht sitt¬
sam im Hause weilen, sondern in leich¬
tem Tumanzug an den Übungen der
Jünglinge teilnehmen (596). Kein Zwei¬
fel, daß die antiken Erklärer recht haben,
wenn sie zur ersten Stelle bemerken:
„Andromache ist hier dem Dichter nur
Vorwand. Es sind Vorwürfe, die Euri¬
pides selbst aus dem aktuellen Anlaß
des Krieges gegen die Spartaner erhebt.
Denn sie hatten den Friedensvertrag mit
Athen gebrochen, wie Philochonos beh
riditet. Genau läßt sich die Zeit des Dra¬
mas nun freilich nicht feststellen; denn
es steht nicht in den Aufführungsurkun¬
den Athens. ... Doch ist es klar, daß es
im Anfang des Peloponnesischen Krie¬
ges geschrieben sein muß/ 4
Der letzte Schluß geht wohl auch auf
Philochoros zurück, den besonnenen at¬
tischen Lokalhistoriker, der auch sonst
aktuelle Anspielungen bei Euripides ver¬
folgt hat. Sicher ist der Schluß nicht.
Denn die Klagen überdas perfide Sparta
waren in Athen so häufig wie bei uns die
über Albion und sind während des gan¬
zen Krieges erhoben worden, auch von
Euripides selber (Hik. 187). Aber für
diesen Zeitansatz spricht eine andere
Änderung der Sage, die der Dichter in
unserm Stück vorgenommen hat.
Neoptolemos’ Abwesenheit ist durch
eine Reise nach Delphi motiviert, und
der zweite Teil des Stückes handelt da¬
von, wie er auf dieser von Orest, der alte
Ansprüche auf Hermione nicht ver¬
schmerzen kann^ im Heiligtum von
Delphi ermordet wird. Eine Neuerung
des Euripides liegt hier vor, wenn er
auch den Neffen des Menelaos in schlech¬
testem Lichte zeigt, ihn zum hinterlistigen
Meuchelmörder macht. Aber schwerer
wiegt etwas andres. Der Tod des Neopto¬
lemos in Delphi war durch die Überliefe¬
rung gegeben. Aber diese erklärte ihn da¬
mit, daß Neoptolemos ein Frevler gewe¬
sen und nach Delphi gekommen sei, um
den Tod seines Vaters Achill an Apollio
zu rächen oder jedenfalls von dem Gott
48*
1511
M ax Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1512
für diese Tat Rechenschaft zu verlan¬
gen. Diesen Zug behält Euripides zwar
bei, erfindet aber eine zweite Reise des
Necptolemos nach Delphi und läßt erst
auf dieser Neoptolemos erschlagen wer¬
den. Diese zweite Reise ist aber eine
Bußfahrt, die der Held unternimmt, um
für sein verblendetes Beginnen den Gott
um Verzeihung zu bitten. Trotzdem
wird er mit Apollos Zustimmung in des¬
sen Heiligtum ermordet. Und diese
Erfindung benutzt der Dichter zu einem
unerhört scharfen Angriff auf Delphi
und auf den Gott. Eine ewige Schmach
für Delphi nennt er am Schluß das Grab
des Neoptolemos im heiligen Bezirk*
und der Bote, der von der Untat berich¬
tet, schließt sogar mit den Worten ab:
„Das tat der Gott, der für die andern Wei¬
sung gibt,
der allen Menschen zeigt, was recht, was
unrecht ist;
das tat er, als Achilles' Sohn Verzeihung bat.
Er tat, was bei üns Menschen schlecht und
ehrlos heißt,
trug alten Streit nach. Und das ist ein wei¬
ser Gott?“ (1161.)
Wir müssen hier daran denken, wie
bei Beginn des Peioponnesischen Krie¬
ges der delphische Gott den Spartanern
auf eine Anfrage geantwortet hatte, sie
sollten nur den Krieg mit voller Tatkraft
führen, dann sei ihnen der Sieg sicher,
und er selbst werde ihnen beistehen, ge¬
rufen und ungerufen (Thuk. I, 118). Im
Euripides’ Angriff hallt die Empörung,
wider, die inAthen diese Parteinahme der
höchsten religiösen Instanz von Hellas
ausgelöst hatte.
Fast noch mehr als die Spartaner wa¬
ren den Athenern die thebanischen
Nachbarn verhaßt, die man zudem noch
als kulturell tiefstehend verachtete. Be¬
sonders flammte der Haß auf, als im
Jahre 424 nach der Niederlage am De-
lioa die Athener um die Auslieferung
der Toten baten und die Thebaner diese
nur gegen militärische Zugeständnisse
gewähren wollten. 1 ) Denn die Bestat¬
tung der Toten gehörte zu den heilig¬
sten Pflichten, die Verweigerung der
Auslieferung der Leichen galt als gröb¬
ste Verletzung hellenischer Sitte. Die
Thebaner hatten allerdings diese Sitte
niemals bedingungslos anerkannt, und
ihre Haltung hatte schon lange ihren
Niederschlag in einer attischen Sage
gefunden, wonach beim Zuge des
Polyneikes die Thebaner sich geweigert
hätten, die Leichen der Gefallenen her¬
auszugeben, und erst von den Athenern
mit Güte oder Gewalt dazu bestimmt
worden seien. Diese Sage gehörte eben¬
so wie die von der Unterstützung der
Herakliden zu den festen Ruhmestiteln
Athens und war bereits von Aischylos
in diesem Sinne behandelt. Jetzt drängte
sie sich Euripides lebendig vor die Seele.
Und andre Momente kamen hinzu, die
ihn zu einer Neubearbeitung des Stoffes
reizten. Im Jahre 420 lief der dreißig¬
jährige Friede zwischen Argos und
Sparta ab, und schon Jahre vorher setzte
ein ränkevolles Diplomatenspiei ein,um
die bisher neutrale Großmacht auf die
eine oder die andre Seite zu ziehen. Da
war es wieder am Platze, an die Wohl¬
taten, die einst Theseus Adrast und den
Seinen erwiesen hatte, und an die Dan¬
kesschuld, die seitdem auf den Argivern
lastete, zu erinnern.
Aber das eigentlich Bestimmende war
offenbar für Euripides, daß dieser Stoff
ihm noch mehr als die Herakliden Ge¬
legenheit bot, seinem patriotischen Hoch¬
gefühl Ausdruck zu verleihen. Einen
Lobeshymnus auf Athen hat schon Ari-
stophanes von Byzanz die Hiketiden
1) Zum Folgenden vgl. besonders Wila-
mowitz’ Einleitung zu seiner Übersetzung
der Hiketiden („Der Mütter Bittgang“). Auch
die Übersetzungen selbst habe ich bei die¬
sem Stück mit kleinen Änderungen von
Wilamowitz übernommen.
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Co gle
Original frnm
1513
Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1514
genannt. Tatsächlich ist auch hier die
äußere Handlung, die sich ganz ähnlich
wie in den Herakliden abspielt, Neben¬
sache. Sie liefert nur den Rahmen für
da?, glänzende Bild, das der Dichter von
seinem Vaterland entwirft. Athen ist der
einzige Staat in Hellas, bei dem die
Schwachen Zuflucht erwarten* dürfen,
weil es im Gegensatz zu Sparta und den
Kleinstaaten äußere Macht und ideale
Gesinnung verbindet (187). Wenn es da¬
bei seinem Gefühl nachgibt und für die
Bedrückten eintritt, so tut es das nicht
aus sentimentalem Mitleid — das schärft
der Zeitgenosse desThukydides den Hö¬
rem ausdrücklichein — sondern im wohl¬
verstandenen eigenen Interesse, im Be¬
wußtsein seiner stolzen Überlieferungen,
in der Konsequenz seiner Vormachtstel¬
lung, die es ihm zur Pflicht macht, dem
Frevel zu wehren und die Rechte von
ganz Hellas zu schirmen (334 ff. 538 ff.).
Aber der Dichter geht noch weiter. Wie
einst Perikies am Ende des Samischen
Krieges in seiner Leichenrede dem Volke
die ganze Herrlichkeit des Vaterlandes
vor Augen gestellt hatte, für die es wert
gewesen sei die schwersten Opfer zu
bringen, so benützt jetzt am Schluß des
Archidamischen Krieges Euripides sein
Stück dazu, um mit Hilfe lose eingefüg¬
ter Debatten im Spiegel der Heroenzeit
das äußerlich machtvolle, innerlich kräf¬
tige Athen zu zeigen, wo Freiheit und
Gleichheit herrschen, wo dem Tüchtigen
freie Bahn verstattet ist und unbeengt
durch äußere Hemmnisse jedes Talent
sich voll zumWohle der Gesamtheit ent¬
falten kann.
Es sind perikleische Gedanken, die
hier nachkiingen. Das lehrt uns ein Ver¬
gleich mit Thukydides. Aber so wenig
wie der Geschichtschreiber verkennt
der Dichter, daß die Demokratie seiner
Zeit die perikleischen Erwartungen nur
zum Teil erfüllt. Mit Bestimmtheit lehnt
Euripides zwar die Plutokratie ab, in der
die unersättlichen Geldsäcke dasRegiment
führen, aber ebenso bestimmt die radi¬
kale Herrschaft der Masse. Und er
knüpft daran programmatische Worte,
in denen er wie die besten Köpfe seiner
Zeit den alten solonischen Staatsgedan¬
ken vertritt, der dem besitzenden Mit¬
telstand die ausschlaggebende Rolle zu¬
weist. Mit einer für uns recht befremd¬
lichen Modernisierung schildert er dar¬
aufhin die gefallenen Heroen als Bürger¬
typen, wie sie ihm als wünschenswert für
den Staat erscheinen. In scharfen Worten
brandmarkt er dafür die jungen politi¬
schen Streber, die den Staat in waghal¬
sige Unternehmungen stürzen, die ge¬
wissenlosen eigensüchtigen Demagogen,
denen jedes Mittel recht ist, um sich in
der Gunst der Menge zu erhalten.
Scharfe Worte fallen aber auch gegen
die begehrliche, vom Augenblick be¬
stimmte Masse. Hier nimmt aber die Kri¬
tik eine ganz bestimmte Richtung an:
Wir hören die Mahnung (726):
„Ja, solchen Feldherrn soll ein Volk sich
wählen,
der in dej Stunde der Entscheidung Mut
bewährt und doch den Übermut des Pöbels
verachtet, welcher sich im Glück vermißt,
die allerhöchsten Stufen zu erklimmen,
und so verscherzt, was er gewinnen konnte.“
Noch deutlicher wird der Dichter,
wenn er gleich darauf wie auch an an¬
dern Stellen als abschreckendes Beispiel
Theben charakterisiert, das wie ein
reicher Emporkömmling durch sein
Glück übermütig geworden sei und alles
Gewonnene wieder verloren habe, und
wenn er im Anschluß daran von der Ver¬
blendung der Völker spricht, die statt
durch Verhandlungen lieber durch Blut¬
vergießen ihre Händel schlichten. Es
sind Töne, die uns wohlbekannt sind; es
sind die Gedanken, die seit 425 in Athen
von den Gemäßigten immer wieder gel¬
tend gemacht wurden, als die Radikalen
1515
Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1516
unter Kleons Führung, durch den Augen¬
blickserfolg von Sphakteria übermütig
gemacht, sich schon Herren von Hellas
dünkten und selbst günstige Friedensan¬
gebote Spartas kurzerhand abwiesen. Im
Sinne dieser Gemäßigten will Euripides
wirken, wenn er die Segnungen des Frie¬
dens preist, wo Wohlstand und die
Werke der Musen gedeihen und ein
kräftiges junges Geschlecht heranwädhst
(488), und wenn er einer billigen Ver¬
ständigung das Wort redet, bei der man
auf die Entscheidung der Waffen ver¬
zichtet und selbst ein kleines Unrecht
gelassen hinnimmt (748, 556, 949).
Man empfindet eine starke Änderung
des Tones, wenn man von den sonst so eng
verwandten Herakliden herkommt: Dort
die flammende Kriegsbegeisterung, hier
die eindringliche Friedensmahnung.
Aber das bedeutet doch keinen Bruch in
der Grundanschauung des Dichters.
Auch in den Herakliden war es ja nicht
der Krieg als solcher gewesen, für den
er sich begeistert hatte, und schon in
einem Drama, das mehrere Jahre vor
den Hiketiden etwa in der Mitte des Ar-
chidamischen Krieges aufgeführt sein
muß, dem Kresphontes, stand ein Chor¬
lied, in dem der allmählich alternde
Dichter seiner Friedenssehnsucht ergrei¬
fend Ausdruck verlieh(fr. 453):
„Holder Friede, du Spender des Reichtums,
schönster der seligen Götter!
Stille mein Sehnen! Wo weilst du so lange?
Soll ich des Alters Beschwerden erliegen,
ehe ich deine Wonnen geschaut,
liebliche Reigen, festliche Lieder,
fröhliche Züge mit Kränzen geschmückt?
Friede, komm in mein Land zurück!“’)
2) Das Original hat sein besondres Ethos
dadurch, daß für den Griechen Eirene die
weibliche Gottheit ist. Was das bedeutet,
lehrt besser noch als etwa Kephisodots
Statue der Eirene mit dem Plutoskinde das
wundervolle, heute uns besonders ein¬
dringliche Beiwort, das Eirene zwar mit
anderen Göttinnen teilt, aber doch in ganz
Andrerseits ist es auch in den Hike¬
tiden nicht etwa ein Friede um jeden
Preis, dem er das Wort redet. Immer
wieder weist der Dichter darauf hin, daß
Athen ein großes Erbe der Väter zu
wahren hat. Und noch etwas andres ist
ihm bewußt. Thukydides legt einmal den
Korinthern eine Rede in den Mund, in
der diese mit dem Scharfblick des Has¬
ses den Lebhaften tatendurstigen Cha¬
rakter des athenischen Volkes schildern,
der immer zu einer Aktionspolitik
drängt, dem eigenen Lande wie den
Nachbarn keine Ruhe gönnt. „Mühen
und Gefahren haben sie davon ihr Leben
lang. Aber eine tatenlose Muße wird
ihnen ebenso schwer wie. die mühe¬
vollste Tätigkeit.“ (I, 70.) Dasselbe Bild
seines Volkes schwebt Euripides vor
Auch für ihn gehören Tatendrang und
Unternehmungslust zum Wesen des
athenischen Volkes, und wenn die
Feinde daraus Athen einen Vorwurf ma¬
chen oder auch wohlmeinende Freunde
vor den Gefahren und Mühen warnen.
die daraus erwachsen, und daraufhin
Athen eine matte Kleinstaatpolitik zu-
muten (576. 952), so antwortet er: „Groß
ist die Mühe, groß ist auch der Lohn!“
(577) und prägt für sein Land die stolzen
Worte (321):
„Du siehst ja, wie dein Vaterland Athen,
wenn sie es als leichtsinnig höhnen wollen,
den Hohn mit stolzem Auge niederblitzt.
Athen wächst in Gefahren. Nein, es ist kein
Staat,
der träge Ruhe pflegt, im Dunkel wohl sich
fühlt,
den Blick nicht frei zum hellen Tageslicht
erhebt.“
Es ist auch nicht die Last und Not
besonderem Sinne erhält (auch bei Euripi¬
des Bakch. 420): Sie heißt Kurotrophos, die
Göttin, die für das Gedeihen des heran-
wachsenden Geschlechtes sorgt. Schön und
tief hat über Eirene Bruno KeU in der letzten
Abhandlung seines Lebens gesprochen
(Sitzb. d. Sächs. Ges. 1916).
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Original from
5 17
Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1518
les Krieges, die den Dichter andre Töne
lanschlagen läßt. Neben der Sehnsucht
ia<rh der Arbeit und der Muße des Frie¬
dens, die wir ihm nur zu gut nach-
fühlen, ist es die Überzeugung, der
Zweck des Krieges sei erreicht, Athens
Existenz und Machtstellung, die es in
gerechtem Streite zu verteidigen galt,
seien jetzt gesichert und könnten durch
die maßlose Kriegspolitik der Radikalen
nur neu gefährdet werden .
Die Hiketiden sind sicher gegen Ende
des Archidamischen Krieges aufgeführt
worden. Wahrscheinlich gehörten sie
zur selben Tetralogie wie der Erech-
theus, der 421 unmittelbar vor der for¬
mellen Unterzeichnung des Friedens
über die Bühne ging. Denn dieses Stück
zeigt ganz die nämliche Stimmung und
Tendenz. Auch hier haben wir den
Preis Athens, des schönsten Vaterlandes,
das der Mensch sich wünschen kann,
(fr. 360,5). Auch hier einen Stoff aus der
Urgeschichte Athens. Von übermächti¬
gen Feinden angegriffen gibt auf Wei¬
sung eines Orakels der attische König
Erechtheus seine Tochter freiwillig als
Opfer für die Rettung des Landes hin.
Ob Euripides die Sage in dieser Form
schon vorgefunden oder das Opfermo¬
tiv von einem andern Athener auf Erech¬
theus übertragen hat, sei dahingestellt
Sicher ihm selber gehört ein charakte¬
ristischer Zug in der Ausführung. Wie
in den Hiketiden Theseus’ Mutter es ist,
die bei aller Sorge um den geliebten
Sohn ihn doch als erste mahnt, im Ver¬
trauen auf die gerechte Sache den
Kampf zu bestehen, so findet auch hier
auf die Kunde vom Orakel die Mutter
zuerst die freudige Entschlossenheit,
dem Vaterlande, das sich in gerechter
Abwehr befindet, ihr Kind zu opfern.
„SoU denn das Wohl des einen Hauses
höher stehn als das der Stadt? Hätte ich
Söhne und wäre das Vaterland vom
Brande des Krieges umloht, so zögerte
ich keinen Augenblick sie in den Kampf
zu schicken, nähme es ruhig hin, wenn
siemit tausend andern dein Tod fänden. ..
Jetzt kann ein Leben Haus und Land
erretten, kann meine Tochter ewi¬
gen Ruhm erwerben. Da sollt’ ich zau¬
dern sie als Opfer darzubringen?
„Der Mutter Tränen sind ein schlecht Ge¬
leit zur Schlacht,
und manchem ward’s beim Abschied da¬
durch weich ums Herz.
Verhaßt ist mir die Frau, die höher als die
Pflicht
des Kindes Leben einschätzt und zur Feig¬
heit rät.“
Der Dichter, der die Frauenseele für
die Tragödie entdeckte, hat hier auch der
Opferwilligkeit der Frau im Kriege ein
würdiges Denkmal gesetzt.
Das Ziel des Krieges aber ist der
Friede, und lauter noch als in den Hike¬
tiden tönt uns hier die Sehnsucht ent¬
gegen nach einem dauernden Frieden,
wo die Spinnen ihre Netze über die Lan¬
zen weben, wo man statt der Waffen das
Buch in die Hand nimmt und der Dichter
seine Tage in Muße beschließen kann
(fr. 369).
Die Hoffnung sollte sich nicht er¬
füllen. Es kamen die Jahre, die Thuky-
dides ausdrücklich in den Krieg einrech¬
net und die jedenfalls bei niemand das
behagliche Gefühl des gesicherten Frie¬
dens aufkommen ließen. In Athen ge¬
wannen die EroberungspLäne der Radi¬
kalen eine ganz andere Bedeutung, als
sich der Ehrgeiz des genialen Alkibi-
ades ihrer bemächtigte. Leider wissen
wir nicht sicher, ob zu diesem Euripides
in einem persönlichen Verhältnis ge¬
standen hat. Es gab im Altertum frei¬
lich ein Festlied auf den glänzenden
Wagensieg, den Alkibiades im Jahre 416
in Olympia errungen hatte, und dieses
legte man Euripides bei. Aber die Zwei¬
fel, die schon von manchen antiken Ge-
1519
Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1520
lehrten geäußert wurden, sind jetzt von
Wilamowitz mit gutem Grunde wieder-
au [genommen. Es ist wirklich nicht
glaublich, daß der Dichter damals noch
den Mann so feierte, dessen politische
Pläne er wenige Monate später aufs lei¬
denschaftlichste verwarf.
Im Frühjahr 415 fanden die entschei¬
denden Verhandlungen über die sizilische
Expedition statt. In dieser Zeit sind Eu-
ripides’ Troerinnen aufgeführt. In
den Hiketiden hatte der Dichter den Ge¬
danken ausgesprochen: „Es müßte bei
der Abstimmung über Krieg und Frie¬
den in der Volksversammlung nur jeder
sich den eignen Tod vor Augen halten,
dann würde nicht so leicht ein Krieg
beschlossen“ (484). Jetzt stand die Ab¬
stimmung über einen Eroberungszug be¬
vor, der nach seiner Überzeugung heller
Wahnsinn war und Athen ins Verderben
stürzen mußte. Da sollten wenigstens
auf der Bühne die Athener alle
Schrecknisse des Krieges sehen. In einer
Reihe von Szenen erlebt der Zuschauer
das grenzenlose Elend der Besiegten
mit. Aber in den Jammer der gefangenen
Troerinnen mischt sich gleich im Prolog
ein andrer Ton, der auch schon am
Schluß des in der Tetralogie vorange¬
henden Stückes angeklungen war. Die
Griechen haben ihr nächstes Ziel er¬
reicht. Troja liegt in Trümmern. Aber
bei der Eroberung haben sie Athena
durch einen Frevel erzürnt, und die
Göttin, auf deren Hilfe sie bisher ge¬
baut haben, will jetzt ihr Verderben.
Von der stolzesten Flotte, die je die Welt
gesehen, werden nur klägliche Reste die
Heimat erreichen. Wir wissen, wie man
in Athen damals geneigt war, überall
Vorzeichen für das Unternehmen, das
alle Gemüter erregte, zu sehen. Da hat
man gewiß verstanden, was Euripides mit
dem Los der Griechenflotte andeuten
wollte. Aber noch unmittelbarer wendet
sich der Dichter an seine Athener. Er
legt Kassandra eine Rede in den Mund,
die ganz aus dem Stück herausfällt und,
wie die Seherin selbst bemerkt, mit
ihren nüchternen Betrachtungen auch
zu dem Charakter der ekstatischen Pro¬
phetin wenig stimmt (366). Da stellt sie
dem Los der Besiegten das der Griechen
gegenüber, die nicht für die bedrohten
Altäre, nicht für Weib und Kind, son¬
dern für ein sinnloses Ziel ihr Blut ver¬
gossen, die jahrelang ihren Lieben fern
waren, bis die meisten von ihnen in der
Fremde einen einsamen Tod, ein von
keinem Angehörigen gepflegtes Grab
fanden, während in der Heimat die Gat¬
tin als Witwe verkümmern sollte, die
alten Eltern ihrer einzigen Stütze be¬
raubt wurden. Das ist die Stelle, die
Schiller die Würdigung des für seine
Hausaltäre kämpfenden Hektör eingege¬
ben hat. Euripides wollte noch etwas
andres: er wollte den Athenern das
Los vor Augen stellen, das selbst beim
Gelingen des zwecklosen Eroberung-
zuges die Besten von ihnen treffen
mußte.
Des Dichters Warnung verhallte un-
gehört wie die der besonnenen Staats¬
männer in der Volksversammlung Und
zwei Jahre darauf preßte die Sorge um
das vor Syrakus liegende Heer Euripi¬
des einen Angstruf ab, den er am Schluß
der Elektra den göttlichen Rettern aus
Seenot, den Dioskuren, in den Mund legt:
„Uns zieht es jetzt nach Siziliens Meer:
zu retten gilt es die Flotte.
So eilen wir durch die LOfte dorthin;
wir hören nicht auf des Frevlers Gebet,
doch wer immer fromm und redlich gelem
den retten wir aus den Gefahren.“
Aber kein Gott half den Athenern
mehr. Und ehe das Jahr zur Neige ging'
erhielt Euripides vom Staate den Auf¬
trag, für das Kenotaphion der unzäh
ligen vor Syrakus Gefallenen die Au:
1521
Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1522
schrift zu dichten. Plutarch hat uns die
Verse bewahrt (NÜk. 17):
„Das sind die Männer, die achtmal die Syra-
kusaner bezwangen,
als noch der Gottheit Gunst gleich stand
für Freund und für Feind.“
Noch zehn Jahre hat sich Athen nach
der sizilischen Katastrophe gehalten,
mehr als einmal noch große Erfolge er¬
zielt, und die Zähigkeit, die es bewies,
hat einem Manne wie Thukydides Be¬
wunderung entlockt. Bei Euripides spü¬
ren wir in dieser Zeit ein einziges Mal
stolze Freude, wenn er in den Phoenissen
v. 854 ganz unmotiviert einen Hinweis
auf einen herrlichen Sieg der Athener
einlegt. Gewiß hat er da nicht an eine
mythische Großtat, sondern an den gro¬
ßen Seesieg von Kyzikos gedacht, der
wenige Wochen vorher errungen war.
Aber das war für ihn doch nur ein
Augenblickserfolg, und im ganzen ist er
in einer trüben, ja verzweifelten Stim¬
mung. In den Hiketiden hatte er aus¬
drücklich eine Predigt gegen die pessi¬
mistische Weitauffassung eingeflochten.
Jetzt ist er selber dieser vollkommen
verfallen. Mannigfache Umstände haben
dabei zusammengewirkt; am wichtig¬
sten aber war das Erlebnis des Krieges.
Und wenn früher ain die Stelle der ersten
Kriegsbegeisterung die Sehnsucht nach
dem Frieden getreten war, so wird dar¬
aus jetzt eine Abscheu vor dem Kriege,
in dem er allmählich so wenig Sinn izu
entdecken vermochte wie im Weltlauf
überhaupt
Zum Friedensanwalt war er durch
den Gegensatz gegen die Eroberungs-
piänc der Radikalen geworden. Jetzt be¬
herrschte ihn die Stimmung, Athen habe
alles Unheil seliber durch seine Aben¬
teurerpolitik heraufbeschworen, und
diese Überzeugung erhielt immer wie¬
der neue' Nahrung durch die Verblen¬
dung, mit der dieselben Fanatiker auch
jetzt noch mehrfach billige Friedensvor-
schläge der Gegner von der Hand wie¬
sen. Die Erbitterung über dieses Trei¬
ben der herrschenden Partei und den
Terrorismus, den sie ausübte, komm!
am stärksten zum Ausdruck im Orest,
wo der Dichter die Schilderung einer
Volksversammlung ednlegt, in der die
Stimme der Vernunft ungehört verhallt
und eine urteilslose Menge blindlings
den Worten gewissenloser Hetzer folgt.
Schon die antiken Erklärer wußten den
Demagogen zu nennen, dessen Bild Eu¬
ripides dabei an den Pranger stellen
wollte. Es war der größte Gegner des
Friedens, Kleophon (schol. Ort. 903).
Patriotische Dramen werden wir in
einer solchen Zeit nicht vom Dichter er¬
warten. Noch nach dem Nikiasfrieden
hatte er den I o n geschaffen, in dem er
vor aller Welf für Athen das Erslgeburts*
recht unter den hellenischen Stämmen;
in Anspruch nahm und im Sinne der
Reichspolitik den Ioniern einschärfte,
Athen sei ihr Mutterland, mit dem sie
nicht nur staatsrechtlich, sondern auch
durch verwandtschaftliche und religiöse
Bande verbunden seien. Seit der sizi¬
lischen Expedition finden wir solche
Tendenzen nicht mehr. Aber wie bei
Plato so spürt man auch bei Euripides
gerade in den Werken, in denen er die
tiefste Unzufriedenheit mit den heimi¬
schen Zuständen verrät, die heiße Liebe,
mit der er an seinem Vaterlande hängt.
Finden wir doch auch in den Troerinnen
mitten in der bitteren Kritik an Athens
Politik ein Chorlied, das ein starkes Be¬
kenntnis zu dem heiligen, glanzvollen
Vaterlande bringt (800 ff.).
Unter allen Gefahren, die Athen be¬
drohten, war die schlimmste die innere
Zwietracht, die im Jahre 411 zur Revo¬
lution führte und für einige Monate die
Oligarchen ans Ruder brachte. Dann
folgte eine Übergangszeit, in der die ge-
1523
Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1524
mäßigten Elemente von der Richtung
des Theramenes den maßgebenden Ein¬
fluß hatten; aber bald machte diese der
radikalen Demokratie wieder Platz. Eu-<
ripides hat an der aktiven Politik keinen
Anteil genommen. Aber seine Sym¬
pathie gehörte notwendig den Gemäßig¬
ten, und wenn nach der Restauration die
waschechten Radikalen sich als die al¬
leinigen Patrioten gebärdeten, so über¬
wog bei ihm das andre Gefühl, daß so
mancher von denen, die jetzt draußen
in der Verbannung lebten oder womög¬
lich gar im Lager der Feinde standen,
ihr Vaterland im Grunde ebenso lieb¬
ten wie die Kleophon und Genossen und
nur durch den Parteifanatismus hinaus¬
getrieben waren. Und sein Dichtergemüt
empfand lebendig nach, was diese Männer
draußen innerlich durchleben mußten.
Von da aus müssen wir die Phoe-
nissen zu verstehen suchen, die wahr¬
scheinlich im Frühjahr nach der Revo¬
lution, spätestens aber 409 über die
Bühne gingen. Der Stoff des Stückes
war schon von Aischylos in seinen Sie¬
ben gegen Theben behandelt, und Eu-
ripides hat sein Drama bewußt als Ge¬
genstück zu diesem gestaltet. Aischylos’
Sieben waren von einem berufenen Beur¬
teiler (Gorgias B24, vgl. Aristoph. Frösche
1021) ein dpc/i« ’^gecog usotöv ge¬
nannt worden, das jeden Zuschauer mit
kriegerischer Begeisterung erfüllte. Für
Euripides war diese Tendenz innerlich
unmöglich. Auch er stellt in die Mitte
des Stückes ein Lied auf Ares (783).
Aber es ist der JtoXvfiox&os'^grjs, den er
anruft, der Bringer alles Elends, der Ge¬
nosse furchtbarer Zwietracht.
Aischylos hatte seine einheitliche Wir¬
kung erzielt, indem er den Bruderkrieg
ganz von der Seite der Verteidiger der
Vaterstadt schilderte und Eteokles nur
mit innerem Widerstreben in den Kampf
gegen den angreifenden Bruder gehen
ließ. Das konnte Euripides nicht brau¬
chen. So hat er es gewagt, in schärf¬
stem Gegensatz zur Sage Eteokles, den
„Träger des wahren Ruhms“, zum Schul¬
digen zu machen, Polyneikes, den schon
sein Name als Händelsucher brand¬
markte, als den ft,echtheischenden vor¬
zuführen, der zum Vaterlandsfeinde nur
wird, weil sein Bruder ihm den recht¬
mäßig ihm zukommenden Teil der Herr¬
schaft vorenthält. Durdh die glückliche
Erfindung eines Vermittlungsversuchs
der Mutter gewinnt Euripides die Mög¬
lichkeit, uns einen Einblick in das
Seelenleben des Polyneikes zu geben
Scheu betritt er die Straßen der Vater¬
stadt, jedes Geräusch schreckt ihn auf
trotz des zugesicherten Geleits. Jedes
Haus, jeder Altar erweckt in ihm Er¬
innerungen, entlockt ihm Tränen. Rührend
ist das Wiedersehen mit der Mutter. Sein
erstes Wort ist das Bekenntnis (358).
.Es ist nun einmal so:
Die Heimat liebt ein jeder, und wer anders
spricht,
der spielt mit Worten, folgt dem Zug des
Herzens nicht“
Leidenschaftlich klagt er ihr dann über
das bittere Los des Verbannten, seine
Entbehrungen und Demütigungen, sein
Heimweh.
.So ist denn also doch die Heimat wohl
das Liebste, was es für den Menschen gibt 1 ’
fragt die Mutter, und er antwortet;
„Wie lieb sie ist, das sagt kein Mund dir
aus“ (405.6).
Gegenwartsempfindungen mußte und
sollte diese Szene bei den Athenern aus-
lösen. Als direkten Appell aber mußten
sie Iokastes Mahnung auf fassen: „Wenn
entzweite Freunde sich versöhnen wol¬
len, so gilt es zunächst alles Vergangene
zu vergessen. Denn die Worte xaxd»
de r&v Jt glv ^tjöevbg yLvstav e%tiv (4641
sind bewußt im Anklang an den staats¬
rechtlichen Terminus der Amnestie (/»>,
jivrjoixaxelv) gewählt, die seit 411 ein
1525
1526
Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
ständiges Thema in den politischen De¬
batten bildete.
Der Appell bleibt im Stück wirkungs¬
los. Eteokles bekennt offen sein Un¬
recht; aber ehe er auf die Süßigkeit des
Herrschens verzichtet oder auch nur sie
mit seinem Bruder teilt, mag lieber das
ganze Haus, der ganze Staat in Trüm¬
mer zerfallen. Auch hier brauchte der
Zeitgenosse des Euripides nur für den
leiblichen Bruder den Volksgenossen,
den Mitbürger einzusetzen, um im Spie¬
gel der Heroenzeit nur zu gut sein
eigenes Athen wiederzuerkennen.
Schonungslos deckt hier Euripides die
letzte Ursache all der unseligen inneren
Zwietracht auf. Und er stellt ihr ein
anderes Bild gegenüber. Der Sohn des
Kreon, Menoikeus, halb Knabe noch halb
Jüngling, gibt sich, um ein Orakel zu er¬
füllen, für die Vaterstadt freiwillig den
Tod. Das Motiv, das der Dichter frei in
die Sage fügt, ist uns ähnlich schon im
Erechtheus begegnet. Ganz gewiß hat
es Euripides nicht bloß um des dramati¬
schen Effektes willen wiederholt. Wenn
Herrschsucht und Parteifanatismus die
reifen Männer dazu treibt, ihre egoisti¬
schen Ziele allein zu verfolgen, mag ein
unverdorbenes Jünglingsgemüt mahnen,
das Vaterland über alles zu stellen,
auch über das eigene Leben.
„Ja, täte jeder, was in seinen Kräften steht,
und brächte das dem Vaterland als Opfer
dar,
so bliebe wohl dem Staate manches Leid
erspart
und groß und glücklich ständ’ er für die
Zukunft da“ (1015).
Aus der Stimmung dieser Jahre her¬
aus werden wir endlich auch das Stück
besser verstehen, das in neuerer Zeit
herbsten Tadel erfahren hat, den 408
aufgeführten Orest. Den Mutteflmord
des Orest hatte Euripides schon fünf
Jahre vorher in der Elektra behandelt,
in der bestimmten Tendenz, an der Sage
Kritik zu üben, die ohne weiteres den
Gott eine so gräßliche Tat gebieten
läßt. Jetzt zeigt er uns Orest wenige
Tage nach dem Morde von furchtbaren
Gewissensqualen gepeinigt, die sich bis
zu Wahnsinnsanfällen steigern, die
treue Schwester ihm zur Seite. Es ist
die Szene, die in Goethes Iphigenie nach¬
wirkt. Kommen wir von unserm Dich¬
ter her, so erwarten wjr unwillkürlich
auch bei Euripides die Läuterung und
Entsühnung des Täters als den Inhalt
des Stückes. Statt dessen wird Orest vor
äußere Aufgaben gestellt. Die Argiver
sind keineswegs gesonnen, die Ermor¬
dung ihres Königspaares Klytämnestra
und Aegisth ruhig hinzunehmen. Eine
Volksversammlung beschließt den Tod
der Geschwister, und der einzige, der
sie retten könnte, ihr Oheim Menelaos*
erweist sich als ein Schurke, der nur
auf den Tod des Neffen lauert, um sein
Erbe anzutreten. So gilt es für Orest,
mit äußerster Kraftanspannung für sein
und seiner Schwester Leben zu kämpfen.
Darüber treten die inneren Qualen vor¬
läufig zurück'. Das ist psychologisch
vollkommen begründet, und Euripides
hat oft genug dargestellt, wie stark der
Selbsterhaltungstrieb wirkt, hat auch,
den Personen, die in der Verfolgung
eines hohen Zieles diesen Lebensinstinkt
überwinden, gerade durch die Betonung
der Schwere ihres Opfers eine Lebens¬
wahrheit gegeben, die wir bei Wielands
Alkestis vermissen. Aber der Orest bie¬
tet freilich etwas Merkwürdiges. Audi
hier wird der Lebensdrang selber schlie߬
lich durch ein stärkeres Motiv überwun¬
den, aber nicht durch ein sittliches Stre¬
ben, sondern durch Blutgier (und Rach¬
sucht. Es gelingt den Geschwistern, Mer
nelaos’ Tochter Hermaone in ihre Gewalt
zu bekommen. Damit ist Menelaos sel¬
ber gezwungen, nach ihrem Willen zu
handeln, sie sind gerettet. Allein um
1527
Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1528
seine Rachsucht zu befriedigen, setzt
Orest jetzt sein Leben aufs Spiel, indem*
er sein Schwert gegen Hermione zückt*
und Phoibos muß erscheinen, um eine
Aussöhnung he rbeizu führen. Jakob
Burckhardt hat gemeint, Euripides habe
keine Ahnung davon, daß er den Ge¬
schwistern mit dieser Rachsucht einen
Charakterflecken anhefte (Gr. Kultg*. II,
347); andere Moderne sprechen von den
Banditen Orest und Elektra. Schwerer
würde noch der Vorwurf einer Verzeich¬
nung der Charaktere wiegen. Aber so¬
viel ist jedenfalls sicher: Euripides hat
Orest mit vollem Bewußtsein so gezeich¬
net, daß die Blutgier den Sieg selbst
über den Lebensdrang davonträgt, und*
er gibt uns auch deutliche Fingerzeige
zum Verständnis seiner Absichten. Für
den Plan Helena zu töten wird Orest da¬
durch gewonnen, daß Pylades ihm in
Aussicht stellt, er könne sich von dem
Mutterblute reinwaschen mit dem Blute
der Helena, die das Blut so vieler Grie¬
chen auf dem Gewissen habe (1140). Die
Frevlerinnen zu töten wolle er niemals
müde werden, rühmt er sich selbst gegen
den Schluß (1590), und mjt besondrer
Betonung und absichtlicher Wiederho¬
lung der Worte wird er dort mehrmals
der Muttermörder genannt der Blut auf
Blut vergießt (1587. 1579),. Schon im He¬
rakles hatte Euripides gezeigt, wie der
Blutdunst die Sinne umnebelt. Blut
zeugt Blut und wer es einmal vergossen;
hat wird mit fast magischer Gewalt von
einer Bluttat zur andern getrieben. Wer
glauben kann, daß ein Gott einen Mut-
termord gebietet der mag sich auch sa¬
gen, daß durch eine solche Tat der
Mensch zum blutdürstigen Tiere wird,
das nur durch einen Gott selber wieder
zur Besinnung gebracht werden könnte.
Wie aber Euripides dazu gekommen
ist, diesen Gedanken durchzuführem, das
wird uns deutlicher vielleicht durch edj-
nen Vers (525), der ausdrücklich besagt
daß die tierische Blutgier es immer ist
die auch Land und Völker ins Verder¬
ben zieht. Hier ist nicht nur an die
staatsgefährdende Wirkung der indivi¬
duellen Blutrache zu denken. Vielmehr
schwebt derselbe Gedanke vor, den wir
auch schon in einem Chorlied der weni¬
ge Jahre vorher aufgeführten Helena
finden (1151 ff.): „Ihr Toren, die ihr nur
mit der Waffe euch durchzusetzen
sucht! Wie leicht wäre es gewesen, den
Streit um Helena durch Verhandlungen
zu schlichten! Aber wenn erst einmal
d!e blutige Entscheidung angerufen ist
so wird niemals der Kampf aus dem
Leben der Völker verschwinden.“
Blut zeugt Blut, das gilt für das Leben
der Individuen wie der Völker — daß
dieser Gedanke Euripides im Orest vor¬
schwebt, darauf deuten auch die Schlu߬
worte, die Apollo an die Streitenden rich¬
tet: „Ehret der Gottheiten schönste, ehret
den Frieden!“ Hätte derDichter nur an die
Versöhnung der Individuen gedacht, hätte
er schwerlich das Wort „Friede“ gebraucht.
Es ist die bedeutungsvolle Schluß-
mahnung, die der Dichter den Zuschan-
em mitgibt. Es ist auch das Abschieds¬
wort, das er an sein Volk richtet. Kurz
darauf hat er die Vaterstadt verlassen
und ist einer Einladung des Königs Ar¬
chelaos von Makedonien gefolgt. Arche-
Jaos .ist der Herrscher, der die wirtschaft¬
lichen und militärischen Grundlagen für
die Größe Makedoniens gelegt hat. Er
hatte aber auch wie verschiedene andre
Fürsten namentlich der nächsten Gene¬
ration den Wunsch in seinem Lan¬
de ein Kulturzentrum zu schaffen, sein
Volk auf eine höhere Stufe zu erbe¬
ben. So richtete er nicht bloß musische
Spiele ein, er zog auch bedeutende
Geister aus ganz Hellas an seinen Hof.
Euripides hat sich in def neuen Umge¬
bung offenbar sehr wohl gefühlt und
hat dort so frische Dramen geschaffen
wie die Bakchen. San letztes Werk
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[ND1ANA UNfVERSITY
1529
Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1530
■war die Iphigenie in Aulls, die er
unvollendet hinterließ. Sie wurde nach
seinem Tode auf der athenischen Bühne,
für die sie sicher bestimmt war, aufge-
führt, und es ehrt die Athener, daß sie
dem im Leben so viel an gefeindeten
Dichter wenigstens im Tode noch den
ersten Preis zuerkannten.
Die Sage von der Opferung der un¬
schuldigen Iphigenie hatte auf Euripides
immer abstoßend gewirtet. Wenn er sich
jetzt zu ihrer Bearbeitung entschloß, so
heißt das, daß er sie aus bestimmten
Motiven innerlich umzugestalten ge¬
dachte. Nach dem Bilde des Menoikeus
schuf er aus dem willenlosen Opfer¬
lamm die von Schiller so bewundert
Gestalt der blühenden Fürstentochter,
die sich aus eigenem Entschlüsse für das
Ganze hingibt. Und schärfer noch als
in den Phoenissem läßt er die aktuelle
Tendenz durchblicken, wenn Iphigenie
erklärt: „Nicht dir allein, nein allen Grie¬
chen, Mutter, hast du mjch geboren.
Sieh auf die Tausende von Männern,
die jetzt bereit sind zu Lande wie
zur See den Tod fürs Vaterland zu ster¬
ben! Da sollte ich zurückstehen, wenn
ich als einzelne ganz Helllas retten kann ?
Wo bliebe da die Gerechtigkeit? Nein,
ich weihe Hellas meinen Leib, freudig
geh’ ich in den Tod. Und keine Tränen
sollst du, Mutter, um mich weinen, kein
schwarzes Kleid sollen die Schwestern’
tragen. Mir ist ein glücklich Los gefal¬
len, ew’ger Ruhm wird mein Teil.“
Soll aber Iphigenien^ Selbstaufopfe¬
rung uns befriedigen, dann muß auch
die Sache, für die sie stirbt, uns groß
und heilig sein. Deshalb rückt jetzt der
Trcjazug in ganz andre Beleuchtung. In
den Jahrzehnten des Krieges erscheint
er sonst bei Euripides immer als Typus
eines sinnlosen Unternehmens, durch ei¬
nen nichtigen Anlaß oder durch Zeus’
Willkür entfacht. Jetzt kehrt der Dichter
zu einer Betrachtungsweise zurück, die.
aus der Stimmung nach den Perserkrie¬
gen erwachsen und durch gewisse all-
hellenische Tendenzen der perikleischen
Zeit genährt, uns auch bei Euripides
selbst in Dramen der dreißiger Jahre be¬
gegnet. Der Trojazug wird ihm wieder
wie den Männern, denen Herodot im Ein¬
gang seines Geschichtswerkes folgt, zum
ersten Zusammenstoß zwischen Grie¬
chen und Barbaren. Der Raub der He- *
lena hat Sicherheit und Ehre von Hellas
verletzt, einen Rachezug, eine Züchti¬
gung der Barbaren notwendig gemacht
(1274. 1379). Aber dieser Gedanke er¬
fährt jetzt noch eine merkwürdige Stei¬
gerung. „Laß mich doch Hellas Rettung
bringen, wenn ich’s kann“, sagt Iphigenie
auf Achills Warnung (1421); „ich geh’
und bringe Hellas Rettung durch den
Sieg“, ruft sie beim Abschied. „Ob Hellas
frei bleibt oder nicht, das steht bei dir“,
mahnt ihr Vater (1273), und sie nimmt
den Gedanken auf (1383): „Mir wird der
sel’ge Ruhm, daß Hellas ich befreit.“ Ver¬
geblich wäre es, wollte man diese Worte
aus der Situation des Trojazuges erklä¬
ren. Der war auch in den Augen der eu-
ripideischen Zeit, wie z. B. Herod. L 4
zeigt, ein Angriffskrieg, bei dem die
Freiheit oder gar die Existenz der Grie¬
chen gewiß nicht in Gefahr war. Euri¬
pides selber hatte freilich schon 433 in
seinem Telephos einem Griechen bei Be¬
ratungen über denZ'ug die Worte in den
Mund gelegt: „Solln wir Hellenen der
Barbaren Knechte sein ?“ Aber das kann
nur eine beiläufige Äußerung gewesen
sein, in der auf die möglichen Folgen einer
Unterlassung des Strafzuges hingewie¬
sen wurde. Denn sonst wurde gerade
auch in diesem Stücke der Charakter des
Argriffskrieges scharf betont. Weit
gehi aber auch selbst über diesen Gedan¬
ken Iphigenie hinaus, wenn sie ihre
Rede mit der dem Standpunkt des alten
Epos ganz fernliegenden Sentenz ab¬
schließt (1400):
1531
Max Pohlenz, Ein antiker Dichter im Kriege
1532
.Mutter, herrsdien muß der Grieche, der
Barbare sei sein Knecht,
den schuf die Natur zum Sklaven, doch den
Griechen schuf sie frei“.
Das ist eine programmatische Erklä¬
rung, die schon Aristoteles in der Poli¬
tik (1,2) als solche eingesch&tzt hat, eine
Erklärung, die Euripides an seine Zeit¬
genossen richtet. Damals mochte frei¬
lich Existenz und Freiheit von Hellas
auch nicht unmittelbar bedroht erschei¬
nen. Aber wir haben aus derselben Zeit
so manche Stimmen Tiefblickender, die
uns die bange Sorge zeigen, die unselige
gegenseitige Zerfleischung der Griechen
müsse mit ihrer politischen Vernichtung
enden, und die warnend auf die aus¬
schlaggebende Holle hinwiesen, die Per¬
sien im dekeleischen Kriege wieder zu
spielen begann. Grade aus dem unsäg¬
lichen Elend des Bruderkrieges sog der
Panhellenismus neue Kraft, und als ein¬
zige Rettung der Hellenen erschien es
vielen, wenn sie sich auf ihre nationale
Einheit, auf die gemeinsamen Aufgaben,
die vom Erbfeind drohenden Gefahren,
besännen. Nirgends aber war ein besserer
Nährboden für solche Ideen als am Hofe
des Makedonenkönigs, wo sich Männer
der verschiedensten Griechenstämme zu¬
sammenfanden, wo man in einem halb-
barbarischen Volke lebte, der König sel¬
ber aber darauf Wert legte, als Hellene
zu gelten. Bei Archelaos ist es auch sehr
wohl denkbar, daß er bewußt diese
Ideen förderte. Auch wenn er sich noch
nicht mit Plänen trug, wie sie Philipp
und Alexander bewegten, konnten ihm
bei der Lage seines Reiches perserfeind¬
liche Tendenzen in Griechenland nur will¬
kommen sein. Bei dem ersten Versuche
einer Einmischung in hellenische Angele¬
genheiten mußteersichfreilich selbstgefal¬
len lassen, unter Hinweis auf den vorhin
angeführten Vers aus Euripides’ Teleph’os
als Barbar zurückgewiesen zu werden.
Jedenfalls- ist es kein Zufall, daß
grade auf diesem Boden, in dieser Zeit
Euripides’ Iphigenie entstanden ist. Wir
haben gesehen, wie Ln den vorhergehen¬
den Jahren er bei jeder Gelegenheit sei¬
nen Abscheu vor dem Kriege zum Aus¬
druck bringt. Aber es war doch nicht
mattherziges Erliegen unter der Lastund
Not des Krieges, was ihn zu der unbe¬
dingten Verurteilung führte, sondernder
Schmerz über diesen Krieg, den unseli¬
gen Bruderkrieg. So konnte es kommen,
daß auch er schließlich den Ausweg sah
im Zusammenschluß gegen die dro¬
hende Gefahr, im Kampfe gegen den
Erbfeind.
Bald ist dann das panhellenische Ge¬
fühl so weit erstarkt, daß es als politi¬
scher Faktor von Bedeutung wurde,
Als nach einem Jahrzehnt Agesilaos den
Zug gegen Persien antrat, wollte er als
Führer des gesamten Hellenentums ge¬
gen die Barbaren, als neuer Agamemnon
gelten, und es war vielleicht nicht oßne
den Einfluß des Euripides, wennerdies
äußerlich durch ein Opfer in Aulis do¬
kumentierte. Der nächsten General
ist die Auffassung des Trojazuges als des
typischen Krieges gegen die Barbaren
ganz geläufig, der Zusammenschluß der
Hellenen gegen den Erbfeind ein weit¬
verbreitetes politisches. Programm. Feru
war freilich noch die Zeit, wo dieses tat¬
sächlich verwirklicht werden sollte, wo
Alexander auf Achills Grabhügel in der
Troas den Kranz niederlegte. Aber ein
schöner, ein versöhnlicher Abschluß für
Euripides’ Leben ist es doch, daß unmit¬
telbar vor dem Zusammenbruch seiner
engeren Heimat er aus den Nöten und
der Verbitterung der letzten Kriegsjahre
sich hindurchrajig zu dem freudigen
Glauben an die Größe seines weiteren
Vaterlandes, an den Weltberuf des Hel-
lenentiums.
533
Nachrichten und Mitteilungen
1534
Nachrichten und Mitteilungen.
Die Dichterin der neuen Türkei.
Die politische Erneuerung der Türkei hat
iidi auch für das geistige Leben der Türken
ils eine befreiende Macht erwiesen. Vor
tllem der Literatur, die bis dahin ganz
unter dem Zwange fremder, persischer oder
französischer, Einwirkungen stand, hat sie
neues Leben gebracht. Eine Fülle starker,
■künstlerisch sehr achtbarer Talente sind
seit Beginn des neuen Jahrhunderts in der
Türkei hervorgetreten. Unter ihnen ge-
bührt weitaus der erste Platz einer edlen
Frau, Chalide Edib Hanym. Was sie
als Dichterin den Türken bedeutet, hat ein
literaturkundiger und gelehrter Landsmann
von ihr in dem schönen Worte gesagt:
„Nehmt Chalide Hanym weg, und ihr könnt
nicht von türkischer Literatur der neuesten
Zeit sprechen.“
Chalide Edib ist 1883 in Konstantinopel
als Tochter eines höheren Regierungsbe¬
amten geboren. Ihr Bildungsgang war un¬
gewöhnlich und hat sie bei ihrer leiden¬
schaftlichen Wißbegier außerordentlich be¬
reichert. Zunächst hatte sie englische Er¬
zieherinnen, dann besuchte sie das ameri¬
kanische Frauen-College in Skutari, endlich
gab sie sich unter Leitung von Privatleh¬
rern mit brennendem Eifer mathematischen,
philosophischen und soziologischen Studien
hin, für die in der heutigen Türkei sehr
viel Interesse besteht. Als mit der Ver¬
fassung auch eine freie Bewegung der
Geister anbrach, da trat diese von Glauben
und Mut erfüllte Natur in die erste Reihe
der Kämpfer für Reform und Freiheit. Zu¬
nächst aber war es nicht die Politik, die
ihr Schaffen bestimmte. Sie trat als Künst¬
lerin hervor; was ihr Leben umgab und
bewegte, das wurde ihr seelisches Erlebnis
und gestaltete sich ihr zu echten Kunst¬
werken. Und ihre Seele ist ein sehr fein
gestimmtes Werk. Leise Berührung genügt
schon, um es tönen zu lassen. Sie hat ein
starkes Temperament, eine erstaunliche see¬
lische Spannkraft und ein tiefes Empfinden.
Schon die ersten Stücke im Tanin — „Zer¬
störte Heiligtümer“ und „Ra’iks Mütterchen“
— verrieten ihre Begabung. Und bald fand ihr
Genius den völlig gereiften Ausdruck in dem
Roman „Chandan“, einem Meisterwerk.
Wohl bieten hier auch die äußeren Er¬
lebnisse ein höchst fesselndes Bild des Le¬
bens; aber Chalide ist es nur um die Schil¬
derung des seelischen Erlebens zu tun, der
Roman ist deshalb in Briefform angelegt. In
der Tat besteht die Stärke des Werkes nicht
so sehr in der Erzählung als in der Charak¬
terschilderung. In der Gestalt der Chandan
selbst liegt der hohe Reiz des Buches.
Wie diese geniale, stolze Frau sich von
einem geistig tief unter ihr stehenden Mann
nicht loszureißen vermag, ist mit meister¬
hafter Seelenkenntnis geschildert.
Dann wurde Chalide von der nationalen
Bewegung tief ergriffen, die zu einer Neu¬
gestaltung der Türkei führte. Ihre Ziele
schildert sie in dem politischen Roman
„Das neue Turan“ (Deutsche Überset¬
zung von Friedrich Schräder: „Deutsche
Orientbücherei VI“). Auch hier steht eine
Frau, die Kaja, im Mittelpunkt, eine Ge¬
stalt von herber Größe, die um der Ver¬
wirklichung des politischen Ideales willen
eine unglücklich verlaufende Ehe eingeht,
während der begeisterte Reformator, dem
ihre Liebe gilt, dem politischen Morde zum
Opfer fällt. Es ist eine Dichtung von tra¬
gischer Wucht; das Ringen idealer Mächte
um ihren Sieg in der harten Wirklichkeit
und der Untergang ihrer Träger bilden das
Thema. Aber sieghaft bleibt die Idee, die
sich in den ausführlichen politischen Reden
des Werkes entfaltet. Es ist das kulturelle
und politische Ideal, das nach diesem Ro¬
man seinen Namen erhalten hat: das neue
Turan. Unter Turan verstand man früher
die innerasiatischen Steppenländer, in denen
die Heimat der Türken zu suchen ist.
Wiederherstellung und neue Kräftigung
des alttürkisdien Wesens, Rückkehr zum
echten, ursprünglichen Volkstum ist die
Grundforderung der Neu-Turaner. Sie sind
türkisch-nationale Romantiker. Ihre poli¬
tische Forderung beansprucht Selbstver¬
waltung der Provinzen und völlige Gleich¬
berechtigung aller Nationen des türkischen
Reiches. In der Kultur aber sollen die Tür¬
ken im Anschluß an die alt-seldschukische
Kultur des 12. und 13. Jahrh. in Sprache
und Dichtung, in Musik und Tracht, in
Architektur und Kunstgewerbe das rein-
türkische Wesen zur Darstellung bringen.
Durch diese Zeitideen hat der Roman der
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INDIANA UNfVERSITY
1535
Nachrichten und Mitteilungen
1536
großen Dichterin wie eine politische Pro-
grammschrift und wie eine stolze Ver¬
heißung gewirkt, ln der Tat findet hier die
nationale Reformbewegung der Türkei nach
der kulturellen wie' der politischen Seite
hin ihren klassischen Ausdruck. Das Große
des Werkes aber ist, daß es trotz dieser
tendenziösen Züge eine echte Dichtung
bleibt. Es ist zugleich ein Werk, in das die
Dichterin nach eigner Mitteilung sehr viel
persönliches Erleben und das Wertvollste
ihres Innenlebens hineingelegt hat. Als Prie¬
sterin und Förderin des neuen Ideals tritt
sie uns hier entgegen. In dem herben Stolze
der Kaja und in ihrer opferfreudigen Hin¬
gabe an die Idee des erneuten Vater¬
landes dürfen wir gewiß persönliche Züge
der Dichterin erkennen. Dabei ist auch ihr
Stil durchaus persönlich und wirkt durch
seine hinreißende Ursprünglichkeit. So ur¬
teilen literarisch gebildete Kreise der Tür¬
kei. Es sind Einwände gegen die Zeich¬
nung der Kaja geltend gemacht worden;
von Türken wird behauptet, sie sei un¬
möglich. Und ebenso ist aus dem gegneri¬
schen Lager Widerspruch gegen die politi¬
sche Tendenz erhoben. Aber die Schilderung
<ler Zukunft, die Chalide gibt, ist mehr als
eine Phantasie, sie bedeutet ein Programm,
das heute eine starke Macht ist. Es war
nicht die Aufgabe der Dichterin, in die¬
ser großartigen Zukunftsphantasie — sie
ist ins Jahr 1925 verlegt — die politischen
Mittel und den Gang der Entwicklung im
einzelnen zu zeigen; sie sieht das erreichte
Ziel und schildert es in künstlerischer
Weise. Von programmatischem Wert ist
in ihrer Schilderung der tatkräftige und
lebhafte Anteil der türkischen Frauen an
der Arbeit für das Gemeinwohl. Tatsäch¬
lich regt sich heute in den türkischen
Frauen eine starke Energie, die in der Mit¬
arbeit zur Erziehung wirksam werden kann.
Durch die Fesselung der Frau in einem
inhaltlosen Dasein waren der Nation leider
eine Fülle wertvoller Kräfte verloren; daß
eine neue Lebenslage der türkischen Frau
die freudig ergriffene Mitarbeit am Leben
gestattet, ist zum Teil eine Wirkung des
„Neuen Turan“. Es gibt keinen am öffent¬
lichen Leben teilnehmenden Türken, der
das Buch nicht gelesen hat. Teile aus ihm
sind* oft in den Zeitungen und Sonder¬
drucken verbreitet worden. Fast die Be¬
deutung einer Nationalhymne hat das Lied
gewonnen, in dem die Dichterin der Sehn¬
sucht nach Erneuerung des Türkentunis
klassischen Ausdruck gegeben hat:
„O neues Turan, geliebtes Land!
Wem ist der Weg zu dir bekannt?
Sechshundert Jahre sind vollbracht.
Heimatlos hat uns das Schicksal gemacht.
Auf staubigen Straßen, durch traurige
Länder,
Durch Berge ohne Quellen und Schatten¬
spender,
Durch endlose Wüsten zogen wir fort
Und sind wie verblühte Blumen verdorrt.
Wo leuchtet das Ufer am silbernen Fluß?
Wo klingt uns der Heimat vergessener
Gruß?
O neues Turan, geliebtes Land!
Ist keinem der Weg zu dir bekannt?*
Daß die hochbegabte Dichterin aus einem
reichen, gesteigerten und überaus feinen
Innenleben gestaltet, empfindet der Leser
sofort. Sie soll fast gar nicht lesen; aber
sie ist eine tiefe Kennerin des Lebens, be¬
sonders die Seele der türkischen Frau ist
ihr genau bekannt.
Im „Neuen Turan“ überwiegt das Poli¬
tische. Es scheint, daß Chalide Hanvm
nicht die Absicht hat, auf dieser Bahn «ei¬
terzuschreiten. Es ist für sie auch wohl
eine innere Unmöglichkeit, eine neue poli¬
tisch-nationale Dichtung zu schaffen, die
zugleich reines Kunstwerk ist. Chalide aber
ist durchaus Künstlerin. Seither hat sie ein
neues Werk veröffentlicht, mit dem sie
ganz in das Reich der Kunst zurückkehrt,
betitelt „Sein letztes Werk“. Es behandelt
die Liebe eines Malers zu einer Frau, deren
Bild er malt. Wir dürfen hoffen, daß es
nicht ihr letztes Werk ist, und daß die Dich¬
terin ihre reiche Kraft noch durch tiefste
Erfassung des wirklichen Lebens im Kunst¬
werk zum Ausdruck bringt. Dadurch würde
sie der geistigen und sittlichen Entwicklung
ihres Volkes neue mitarbeitende und weiter¬
strebende Kräfte wecken.
Professor Dr. R. St übe.